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Hochwasser-Marke.

Wenn die Fluth vom Dedlow-Sumpf zurückgetreten war, sprang die Trostlosigkeit seiner weitgedehnten Fläche in die Augen. Seine schwammige, tiefliegende Oberfläche, seine dickflüssigen, tintenschwarzen Pfuhle und seine gewundenen Pfützen, die sich aalgleich durch den Schlamm nach der offnen Bucht hinschlängelten, waren lauter schlimme Thatsachen. Ebenso stand es mit den wenigen grünen Grasbüscheln mit ihren dürftigen Halmen, ihrem amphibienhaften Geruche und ihrer unangenehmen Feuchtigkeit. Und wenn man Lust hatte, sich seiner Phantasie zu überlassen – wozu die flache Eintönigkeit des Dedlow-Sumpfs allerdings nicht anregte – so ließ die wellenförmige Linie umhergestreuten Treibholzes die unerfreuliche Vorstellung entstehen, wie viel Wasser hier verschwendet war, und machte die sichere Wiederkehr der Fluth zu einer düstern Betrachtung, die kein gegenwärtig über die Stelle ausgegossner Sonnenschein beseitigen konnte. Das grünere Wiesenland schien von dieser Idee niedergeschlagen zu sein und machte keinen entschiednen Versuch zur Vegetation, bis das Werk der Wiedergewinnung vollendet wäre. In der bittern Frucht der niedrigen Moosbeerbüsche konnte man eine von Natur der Süße zugeneigte Art zu entdecken glauben, die aber durch einen unüberlegten regelmäßig wiederkehrenden Gebrauch von zu viel kaltem Wasser geronnen und sauer geworden sei.

Auch die Stimmen, mit denen der Dedlow-Sumpf sein Wesen ausdrückte, waren schwermüthig und niederschlagend. Die dumpfe Grabesstimme der Rohrdommel, das Kreischen des Kibitzes, das Schnattern der vorüberfliegenden Rothgans, das Keifen der zanksüchtigen Kriekente, der scharfe weinerliche Einspruch des aufgeschreckten Kranichs und die in Sylben abgetheilte Wehklage des Killdeer-Regenpfeifers waren der Art, daß sie sich schriftlich nicht ausdrücken lassen. Auch war das Aussehen dieser trübseligen Vögel durchaus nicht der Art, daß es heiter und lebendig stimmte. Sicherlich wenigstens das des blauen Reihers nicht, der bis in die Mitte der Beine im Wasser stand und in leichtsinniger Nichtbeachtung von kalten Füßen und deren Folgen sich eine Erkältung zuzuziehen im Begriff war, oder das des trübseligen Kibitzes, des niedergeschlagnen Regenpfeifers oder der mißlaunigen Schnepfe, die es für passend hielten, sich ihm in seinen selbstmörderischen Betrachtungen anzuschließen, oder das des theilnahmlosen Eisvogels – eines ornithologischen Marius – der die öde Gegend überschaute, oder das des schwarzen Raben, der über die Fläche des Sumpfes unablässig hin- und herflog, aber offenbar sich nicht klar werden konnte, ob das Wasser sich verlaufen habe, und sich durch den Gedanken verdrießlich gestimmt fühlte, daß er nach all dieser Mühe nicht im Stande sein werde, eine endgültige Antwort zu geben.

Im Gegentheil, es lag auf der Hand, daß die trübselige Fläche des Dedlow-Sumpfes auf die Vögel unangenehm wirkte, und daß der Jahreszeit der Wanderung von den Ausgewachsenen mit einem Gefühl der Erleichterung und Genugthuung, von der noch nicht flüggen Brut mit ausschweifender Erwartung entgegengesehen wurde.

Aber wenn der Dedlow-Sumpf bei nachlassender Ebbe freudlos war, so hätte man ihn sehen sollen, wenn die Fluth stark und voll darauf stand. Wenn die feuchte Luft fröstelnd über die kalte, glitzernde Fläche hinwehte und denen, die seewärts blickten, wie eine zweite Fluth ins Gesicht kam, wenn ein stahlblauer Schimmer die tiefen Senkungen und die gewundene Linie der Pfützen bezeichnete, wenn die mit Muscheln überzogenen Stämme gefallner Bäume sich wieder erhoben und ihre traurigen, ziellosen Irrfahrten fortsetzten, hierhin und dorthin trieben, aber bei Eintritt der Ebbe oder Sinken der Sonne an kein anderes Ziel gelangten als der ewige Jude in der Sage, wenn die weißglänzenden Enten sich schweigend aufschwangen und weder eine kleine Welle noch eine Furche auf der schimmernden Oberfläche hervorriefen, wenn der Nebel mit der Fluth hereinwallte und droben die Bläue abschloß, gerade wie unten das Grün verwischt worden war, wenn Bootsleute, die sich in diesem Nebel verirrt hatten und hoffnungslos herumruderten, über ein Etwas erschraken, das wie das Anstreifen der Finger von Meergeistern erschien, oder vor den Grasfasern zurückfuhren, die sich wie das fluthende Haar eines Leichnams ausbreiteten, und dann wußten, daß sie sich auf den Dedlow-Sumpf verirrt und daß sie eine Nacht hier zubringen müßten und zwar eine düstere Nacht – dann ungefähr wußte man, was der Dedlow-Sumpf bei Hochwasser war.

Lasse man mich an eine Geschichte erinnern, die mit diesem letzteren Anblick in Verbindung steht, und die während meiner langen Jagdausflüge im Dedlow-Sumpfe niemals verfehlte, sich meinem Gemüthe wieder aufzudrängen. Obschon das Ereigniß in der Zeitung der Grafschaft kurz berichtet wurde, hatte ich doch die Geschichte mit all ihren beredten Einzelnheiten von den Lippen der Hauptbetheiligten. Ich kann nicht hoffen, die wechselnde Emphase und die eigenthümliche Färbung weiblicher Beschreibung zu treffen, denn mein Bericht stammt aus Frauenmund; aber ich werde versuchen, wenigstens das Wesentliche zu geben.

Sie wohnte in der Mitte zwischen der großen Pfütze des Dedlow-Sumpfes und einem ziemlich großen Flusse, welcher vier Meilen davon in einen Busen des Stillen Meeres mündete, auf der langen sandigen Halbinsel, welche die südwestliche Grenze einer stolzen Bucht bildete. Das Haus, in welchem sie lebte, war eine kleine Breterhütte, die sich auf dicken Pfählen ein paar Fuß über den Sumpf erhob und drei Meilen von den Niederlassungen am Flusse entfernt war. Ihr Mann war ein Holzfäller, ein einträgliches Geschäft in einem Landstriche, wo die Hauptbeschäftigung in der Herrichtung von Bauholz bestand.

Es war die Zeit von Frühlingsanfang, als ihr Mann mit der Ebbe auf einem Floß von Baumstämmen abfuhr, die er wie gewöhnlich nach dem untern Ende der Bucht schaffen wollte. Als sie bei der Abfahrt der Reisenden an der Thür der kleinen Hütte stand, bemerkte sie, daß es am südöstlichen Himmel wie Kälte aussah, und sie erinnerte sich, daß sie gehört, wie ihr Mann zu seinen Gefährten gesagt habe, sie müßten sich bemühen, ihre Fahrt vor dem südwestlichen Sturme zu vollenden, den er heranziehen sähe. Und diese Nacht begann es härter zu stürmen und zu wehen, als je zuvor nach ihrer Erfahrung, im Walde bei dem Flusse fielen mehrere große Bäume, und das Haus schaukelte wie die Wiege ihres Säuglings.

Aber wie sehr auch der Sturm um die kleine Hütte brüllte, sie wußte, daß Einer, dem sie vertraute, Pflock und Querriegel mit eigener starker Hand hineingetrieben hatte, und daß er, wenn er für sie gefürchtet, sie nicht verlassen haben würde. Dies und ihre häuslichen Pflichten und die Sorge für ihr kleines kränkliches Kind halfen ihr, ihr Gemüth von längerer Beschäftigung mit dem Wetter fernzuhalten, wobei natürlich von ihrer Hoffnung abgesehen ist, daß er mit den Stämmen glücklich in der traurigen Entfernung von Utopia geborgen sein werde. Aber als sie diesen Tag hinausging, um die Hühner zu füttern und nach der Kuh zu sehen, bemerkte sie, daß die Fluth bis an den kleinen Zaun ihres Gartenfleckchens gestiegen war, und deutlich konnte sie das Gebrüll der Brandung am Südgestade hören, obwohl es Meilen weit entfernt war. Und sie begann zu denken, daß sie doch gern jemand haben würde, mit dem sie die Sache besprechen könnte, und sie glaubte, wenn es nicht so weit weg und so stürmisch gewesen wäre und der Weg so unpassirbar, so würde sie das Kind genommen haben und zu Rykmans, den nächsten Nachbarn, gegangen sein. Dann aber, sehen Sie, hätte er in dem Sturm zurückkehren können, ganz naß, mit niemand, der nach ihm gesehen hätte, und das Kind, welches den Keuchhusten hatte und kränkelte, mußte der Kälte zu lange ausgesetzt werden.

Aber diese Nacht war ihr, sie konnte nicht sagen, warum, gar nicht wie Schlafen oder auch nur Niederlegen zu Muthe. Der Sturm hatte etwas nachgelassen, aber sie »saß und saß« noch immer und versuchte sogar zu lesen. Ich weiß nicht, ob es eine Bibel oder irgend ein profanes Magazin war, was diese arme Frau las, aber sehr wahrscheinlich das Letztere; denn die Worte flossen alle durcheinander und wurden zu einem solchen traurigen Unsinn, daß sie zuletzt genöthigt war, das Buch hinzulegen und sich jenem lieberen Büchlein zuzuwenden, welches mit seinem weißen, noch unbeschmutzten Titelblatt vor ihr in der Wiege lag, und den Versuch zu machen, in seine geheimnißvolle Zukunft zu blicken. Und indem sie die Wiege schaukelte, dachte sie an allerhand und jedermann, war aber immer noch so wach wie jemals.

Es war beinahe zwölf Uhr, als sie sich zuletzt in ihren Kleidern niederlegte. Wie lange sie geschlafen, konnte sie sich nicht entsinnen, aber sie erwachte mit einem furchtbaren Athemstocken in ihrer Kehle und sah sich am ganzen Leibe zitternd, das Kind in ihre Arme geschlossen, mitten in der Stube stehen, und sie »sagte was«. Das Kind schrie und schluchzte, und sie ging auf und ab, um es zu beruhigen, da hörte sie plötzlich ein Kratzen an der Thür. Sie öffnete sie furchtsam und war froh, als sie sah, daß es nur der alte Peter, ihr Hund, war, welcher vom Wasser triefend in die Stube kroch. Sie hätte gern hinausgeblickt, nicht in der schwachen Hoffnung, ihr Mann möchte kommen, sondern um zu sehen, wie es stünde; aber der Wind rüttelte an der Thür so grimmig, daß sie sie kaum festhalten konnte. Dann setzte sie sich ein Weilchen, und dann schritt sie ein Weilchen auf und ab, und dann legte sie sich wieder ein Weilchen nieder. Da sie dicht an der Wand der kleinen Hütte lag, kam es ihr ein paar Mal vor, als ob sie etwas langsam an den äußern Bretern hinstreifen hörte, wie das Anstreichen von Zweigen. Dann gab's einen leisen gurgelnden Ton, »wie es das Kleine macht, wenn es schluckt«, dann »ging 'was Klick, Klick und Gluck, Gluck«, so daß sie sich im Bette aufsetzte. Als sie dies that, wurde sie auf etwas Anderes aufmerksam, das von der Hinterthür nach der Mitte der Stube hinkroch. Es war nicht breiter als ihr kleiner Finger, aber bald schwoll es zur Breite ihrer Hand und begann sich über die ganze Diele auszudehnen. Es war Wasser.

Sie lief nach der Vorderthür und stieß sie weit auf und sah nichts als Wasser. Sie lief nach der Hinterthür und stieß sie auf und sah nichts als Wasser. Sie lief nach dem Seitenfenster, und als sie es aufstieß, sah sie nichts als Wasser. Dann erinnerte sie sich, daß sie ein Mal gehört, wie ihr Mann gesagt habe, mit der Fluth hätte es keine Gefahr; denn die fiele regelmäßig, und die Leute könnten darauf rechnen, und er wollte lieber nahe an der Bucht als am Flusse wohnen, dessen Ufer zu jeder Zeit überschwemmt werden könnten. Aber war es denn die Fluth? So lief sie wieder nach der Hinterthür und warf ein Stück Holz hinaus. Es trieb hinweg nach der Bucht. Sie schöpfte etwas von dem Wasser und brachte es hastig an ihre Lippen. Es war frisch und süß. Es war der Fluß und nicht die Fluth!

Da war es, wo sie – o Gott sei gepriesen für seine Güte! – weder ohnmächtig wurde noch fiel. Da war es – gelobt sei der Heiland, denn es war seine gnadenvolle Hand, die sie in diesem furchtbaren Augenblicke berührte und stärkte – daß die Furcht von ihr fiel wie ein Gewand und ihr Zittern aufhörte. Da war es und nachher, daß sie in all den Prüfungen dieser Schreckensnacht niemals ihre Selbstbeherrschung verlor.

Sie zog die Bettstelle nach der Mitte der Stube und stellte einen Tisch darauf, und auf diesen hob sie die Wiege. Das Wasser auf der Diele ging ihr bereits bis über die Fußknöchel, und das Haus bewegte sich ein oder zwei Mal so merklich und schien so ausgereckt zu sein, daß die geschlossenen Thüren alle aufflogen. Dann hörte sie dasselbe Raspeln und Anpuffen an die Wand wie vorher, und als sie hinausblickte, sah sie, daß ein großer entwurzelter Baum, welcher nahe bei der Straße am obern Ende der Weide gelegen hatte, nach dem Hause herabgeschwommen war. Glücklicherweise schleppten seine langen Wurzeln am Boden nach und verhüteten, daß er sich so rasch wie die Strömung bewegte; denn hätte er das Haus in vollem Schusse getroffen, so würden selbst die starken Nägel und Bolzen in den Grundpfählen dem Stoße nicht widerstanden haben. Der Hund war auf seine knotige Oberfläche gesprungen und kauerte zitternd und winselnd in der Nähe der Wurzeln. Ein Hoffnungsstrahl blitzte durch ihr Gemüth. Sie zog eine schwere Wolldecke aus dem Bette, wickelte das Kind hinein und watete durch die tiefer werdenden Wasser nach der Thür. Als der Baum sich mit seiner breiten Seite wieder dem Hause zudrehte, daß die kleine Hütte quietschte und erbebte, sprang sie auf seinen Stamm. Durch Gottes Barmherzigkeit glückte es ihr, auf seiner schlüpfrigen Oberfläche festen Fuß zu fassen, und indem sie den einen Arm um seine Wurzeln schlang, hielt sie im andern ihr ächzendes Kind. Dann prasselte etwas an dem Vordache, und die ganze Vorderseite des Hauses, welches sie soeben verlassen hatte, fiel nach vorn, just wie das Vieh auf die Knie fällt, bevor es sich niederlegt, und in demselben Augenblicke schwang der große Rothholzbaum sich herum und trieb mit seiner lebenden Fracht hinweg in die schwarze Nacht.

Bei all ihrer Aufregung und Gefahr, bei all der Mühe, die ihr die Beruhigung des schreienden Kindes machte, bei allem Pfeifen des Windes, bei aller Ungewißheit ihrer Lage wendete sie sich doch zu einem Blick auf die verlassene und vom Wasser weggeschwemmte Hütte um. Sie erinnerte sich dann sogar, und sie wunderte sich jetzt, wie thöricht sie war, in dieser Zeit daran zu denken, daß sie wünschte, sie hätte ein anderes Kleid und dem Kinde seine besten Sachen angezogen, und sie betete fortwährend, daß das Haus verschont bleiben möchte, damit er, wenn er zurückkehrte, etwas hätte, wohin er kommen könnte, und es nicht ganz so öde wäre, und – wie konnte er je erfahren, was aus ihr und ihrem kleinen Kinde geworden wäre? Und bei dem Gedanken wurde ihr schwindelig und schwach zu Muthe. Aber sie hatte mehr zu thun als sich zu härmen; denn sobald die langen Wurzeln ihrer Arche auf Widerstand stießen, machte der ganze Stamm eine halbe Umdrehung, und zwei Mal tauchte er sie leicht in das schwarze Wasser. Der Hund, welcher sie fortwährend durch Hinundherlaufen auf dem Baume und Heulen verwirrt, fiel zuletzt bei einem dieser Zusammenstöße hinunter. Er schwamm eine Zeit lang neben ihr her, und sie versuchte, dem armen Thiere auf den Baum zu helfen, aber er »benahm sich einfältig« und wild, und zuletzt verlor sie ihn für immer aus dem Gesicht.

Jetzt waren sie und ihr Kindchen allein. Das Licht, welches ein paar Minuten in der verlassenen Hütte fortgebrannt hatte, erlosch plötzlich. Sie konnte jetzt noch nicht sagen, wohin sie trieb. Die Umrisse der weißen Dünen auf der Halbinsel zeigten sich matt vor ihr, und sie meinte, daß der Baum sich in einer Linie mit dem Flusse fortbewegte. Es mußte um die Zeit zwischen Ebbe und Fluth sein, und sie hatte wahrscheinlich den Strudel erreicht, den das Zusammenfließen der Fluth und der Ueberschwemmungswasser des Flusses bildete. Wenn die Fluth nicht bald sank, so lief sie Gefahr, in den Kanal des Flusses hineinzugerathen und entweder in die See hinaus geführt oder von dem fluthenden Treibholz zerquetscht zu werden. War diese Gefahr abgewendet, so konnte sie, wenn sie auf der Ebbe in die Bucht getragen wurde, auf eines der bewaldeten Vorgebirge der Halbinsel zu stoßen und dort bis Tagesanbruch zu bleiben hoffen. Manchmal dachte sie, sie höre Stimmen und Rufe vom Flusse, das Gebrüll von Rindern und das Geblök von Schafen. Dann wieder klang ihr nur das Klopfen ihres Herzens in den Ohren. Sie fand in dieser Zeit, daß sie in ihrer krampfhaften Anklammerung so durchfroren und steif geworden war, daß sie sich kaum regen konnte, und das Kleine schrie, wenn sie es an ihre Brust legte, so sehr, daß sie bemerkte, wie die Milch nicht mehr fließen wollte, und sie war darüber so erschrocken, daß sie ihren Kopf unter ihr Umschlagtuch steckte und zum ersten Male bitterlich weinte.

Als sie ihren Kopf wieder erhob, war der dumpfe Donner der Brandung hinter ihr, und sie wußte, daß ihre Arche sich wieder herumgeschwungen hatte. Sie schöpfte mit der Hand ein wenig Wasser, um ihre vertrockneten Lippen zu kühlen, und fand, daß es so salzig war wie ihre Thränen. Das war doch ein Trost; denn durch dieses Zeichen wurde sie inne, daß sie mit der Fluth trieb. Jetzt legte sich der Wind, und das große und schauerliche Schweigen bedrückte sie. Kaum eine kleine Welle schlug gegen die gefurchten Seiten des großen Baumstamms, auf dem sie ruhte, und um sie herum war Alles schwarze Finsterniß und Stille. Sie sprach zu dem Kinde, just, um sich selbst sprechen zu hören und zu erfahren, ob sie nicht ihre Stimme verloren habe. Sie dachte dann – es war wunderlich, aber sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren – wie schrecklich die Nacht gewesen sein möchte, wo das große Schiff sich über dem asiatischen Berge drehte und die Laute der Schöpfung von der Welt ausgetilgt wurden. Sie dachte auch an Seeleute, die sich an Raaen angeklammert, und an arme Frauen, die, an Flöße gebunden, von der grausamen See todt gepeitscht wurden. Sie versuchte, Gott zu danken, daß sie auf diese Art verschont geblieben, und erhob ihre Augen von dem Kleinen, der in einen unruhigen Schlaf gefallen. Plötzlich erhob sich fern im Süden ein großes Licht aus der düstern Nacht und blitzte und flammte und flammte und blitzte abermals auf. Ihr Herz pochte rasch gegen die kalte Wange ihres Kleinen. Es war der Leuchtthurm am Eingang der Bucht. Als sie sich noch verwundert fragte, rollte der Baum plötzlich ein wenig, schleppte ein wenig und schien dann ruhig und still zu liegen. Sie streckte ihre Hand hinab, und die Strömung gurgelte dagegen. Der Baumstamm war auf den Grund gerathen und zwar nach der Richtung des Lichts und dem Geräusch der Brandung im Dedlow-Sumpf auf den Grund gerathen.

Wäre ihr Kleiner nicht gewesen, der kränklich war und hustete, wäre das plötzliche Vertrocknen jener fühlbaren Quelle nicht gewesen, so würde sie sich sicher und getröstet gefühlt haben. Vielleicht war es dies, wenn alle ihre Eindrücke eine trübselige und düstere Färbung annahmen. Als die Ebbe rasch fiel, flatterte bei ihr ein großer Zug schwarzer Brandgänse krächzend und schreiend vorüber. Dann flogen die Regenpfeifer auf und piepten schwermüthig, als sie um den Stamm schwenkten und sich zuletzt wie eine graue Wolke furchtlos auf ihn niederließen. Dann flog der Reiher über und um sie, kreischend und zankend, und senkte zuletzt seine dürren Gliedmaßen auf eine Stelle wenige Schritte von ihr entfernt. Aber, das Seltsamste von Allem, ein hübscher weißer Vogel, größer als eine Taube – wie ein Pelikan, aber kein Pelikan – kreiste um sie und um sie. Endlich ließ er sich auf eine Wurzelfaser des Baumes gerade über ihrer Schulter nieder. Sie streckte ihre Hand aus und streichelte seinen schönen weißen Hals, und er schien sich durchaus nicht zu rühren. Er blieb so lange da, daß sie dachte, sie wollte doch das Kleine in die Höhe halten, daß es ihn auch sähe, und versuchen, seine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Aber als sie dies that, war das Kind so durchfroren und kalt, und hatte einen solchen blauen Schein unter den kleinen Augenlidern, die es gar nicht aufthat, daß sie laut aufschrie, der Vogel wegflog und sie in Ohnmacht fiel.

Nun, das war das Schlimmste in der Geschichte, und vielleicht war es bei Lichte besehen für niemand so schlimm als für sie selbst. Denn als sie wieder zu Sinne kam, war es heller Tag und tiefste Ebbe. Um sie herum herrschte ein wirrer Lärm von Kehllauten, und eine alte Squaw sang ein indianisches Wiegenlied und wiegte sich selbst von einer Seite nach der andern vor einem auf dem Sumpfe angezündeten Feuer, vor welchem sie, die gerettete Gattin und Mutter, schwach und matt lag. Ihr erster Gedanke war ihr Kleines, und sie wollte eben sprechen, als eine junge Squaw, die selbst Mutter gewesen sein muß, ihren Gedanken errieth und ihr den »Mauitsch«, bleich, aber lebend, in einer solchen komischen kleinen Weidenzweigwiege, ganz zusammengebunden just wie der Squaw ihr Kleines, brachte, daß sie zugleich lachte und weinte, und die junge Squaw und die alte Squaw zeigten ihre großen weißen Zähne und funkelten mit ihren schwarzen Augen und sagten: »Sehr gut befinden Skina Mauitsch. Watschi-Mann viel bald kommen,« und sie hätte ihre braunen Gesichter vor Freude küssen können. Und dann fand sie, daß sie in ihren wunderlichen komischen Körben Beeren im Sumpfe gesammelt und ihren Rock von Weitem auf dem Baumstamm hatten flattern sehen, und daß die alte Squaw der Versuchung nicht hatte widerstehen können, sich ein neues Kleidungsstück zu verschaffen, und daß sie heruntergekommen waren und das »Wadschi-Weib« sammt dem Kinde entdeckt hatten. Und natürlich gab sie der alten Squaw das Kleidungsstück, wie man sich denken kann, und als zuletzt er kam und auf sie losstürzte und in seiner Angst etwa zehn Jahre älter aussah, fühlte sie sich wieder so schwach, daß man sie nach dem Canoe tragen mußte. Denn, sehen Sie, er wußte nichts von der Ueberschwemmung, bis er die Indianer in Utopia traf und an den Zeichen sah, daß das arme Weib seine Frau war. Und bei der nächsten Hochfluth schleppte er den Baum an einem Tau nach Hause zurück, obwohl er der Mühe nicht werth war, und baute ein andres Haus, wobei er den alten Baum als Grundlage und Stütze benutzte, und nannte es nach ihr »Mariens Arche«! Aber Sie werden errathen, daß das neue Haus über der Hochwasser-Marke erbaut wurde. Und damit Punctum.

Nicht viel am Ende, wenn man die böswillige Eigenschaft des Dedlow-Sumpfs in Betracht zieht. Aber Sie müssen einmal bei niedrigem Wasser über ihn hinpatschen, oder bei hoher Fluth über ihn hinwegrudern, oder sich ein paar Mal bei Nebel in ihm verlaufen, wie ich das gethan habe, dann werden Sie Marys Abenteuer gehörig begreifen und die Wohlthat, die darin liegt, wenn man über der Hochwasser-Marke wohnt, gebührend würdigen.


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