Gerhart Hauptmann
Und Pippa tanzt!
Gerhart Hauptmann

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Dritter Akt

Im Innern einer verschneiten Baude auf dem Kamm des Gebirges. Man blickt in ein niedriges, großes und freundliches Zimmer mit Balkendecke, von Balkenwänden umschlossen. Drei kleine, wohlverwahrte Doppelfensterchen sind an der Wand links; darunter hin läuft eine befestigte Bank. Die Rückwand ist von einer kleinen Tür durchbrochen, die zum Hausflur führt. Buntbemalte Bauernschränke bilden links einen wohnlichen Winkel. Sauber geordnetes Küchengerät und bunte Teller schmücken die obere offene Hälfte des einen Schrankes. Rechts von der Tür ist der übliche große Kachelofen mit Bank. Das Feuer knackt darin lebhaft. Die Ofenbank geht in die feste Bank der rechten Wand über. In dem so gebildeten Winkel steht ein massiver, brauner und großer Bauerntisch: darüber hängt eine Lampe, buntbemalte Holzstühle umgeben ihn. Eine große Schwarzwälder Uhr bewegt ihren Messingpendel langsam neben der Tür. Soweit zeigt der Raum einen Charakter, wie er den Wohnungen des bessergestellten Gebirglers eigen ist. Ungewöhnlich ist ein Tisch vorn links mit einem Lesepult, einem alten, aufgeschlagenen Buche darauf, und mit mancherlei anderen Büchern und seltsamen Gegenständen bedeckt, als da sind: eine Lampe zwischen Schusterkugeln, eine Glasbläserlampe mit Glasröhren, alte Apothekerflaschen, ein ausgestopfter Eisvogel usw.; ferner eine Anzahl Ausgrabungsobjekte, Steinmesser, Hämmer und Speerspitzen der sogenannten Steinzeit, an den Wänden, und eine Sammlung gewöhnlicher Hämmer zu geologischen Zwecken. Ungewöhnlicher noch ist ein fein gearbeitetes venezianisches Gondelmodell, das vor dem Lesepult auf einem Gestell ruht, sowie andere altertümliche, mittelalterliche und moderne Schiffsmodelle der See- und Flußschiffahrt, die von der Decke herabhängen – und ein großes Fernrohr mit Stativ. Auf der Diele liegen edle orientalische Teppiche. Die Fensterchen des Zimmers glühen vom Licht der untergehenden Sonne, das auch die Gegenstände im Innern grell und phantastisch zur Erscheinung bringt. In der rechten Wand eine Tür.

Jonathan, ein stummer, struppiger Kerl von etwa dreißig Jahren, spült Teller in einem Holzschäffchen ab, das auf zwei Schemeln nahe dem Ofen steht.

Es wird mehrmals an die Flurtür geklopft. Der Stumme kehrt sich nicht daran, und so wird die Tür geöffnet, und der Direktor, in einer gebirgsmäßigen Vermummung, das Gewehr übergeworfen, Schneeschuhe unterm Arm, erscheint.

Direktor. Jonathan! ist dein Herr im Hause? Jonathan! Lümmel, antworte mir! Hol' euch der Teufel, wenn er nicht zu Hause ist! Was? Ist er vielleicht Eisblümchen pflücken gegangen? oder weiße Motten fangen mit dem Schmetterlingsnetz? brr! es ist eine hundsgemeine Kälte draußen! Jonathan!

Jonathan wendet sich, schlägt vor Freude und Schreck die Hände überm Kopf zusammen, trocknet sie in die blaue Schürze und küßt die Rechte des Direktors. Ist der Alte zu Hause, Jonathan? der alte Wann? Jonathan gibt Laute von sich und macht Gesten. Blöde Kanallje, drücke dich deutlicher aus! Jonathan gibt sich größere Mühe, zeigt leidenschaftlich durch das Fenster, zum Zeichen, daß sein Herr ausgegangen sei, läuft dann zur Uhr, die auf dreiviertel fünf zeigt, deutet mit dem Finger an, daß sein Herr um halb fünf hätte wollen zurück sein, zuckt verwundert die Achseln darüber, daß er noch nicht heimgekehrt sei, eilt zum Fenster zurück, drückt die Nase daran, beschattet die Augen mit der Hand und hält Umschau. Also gut, ich habe kapiert: er ist auswärts und wird gleich wiederkommen! sollte eigentlich bereits wieder zurück sein! Der Stumme ahmt mit wau, wau, wau einen Hund nach. Richtig, er hat seine beiden Bernhardiner mitgenommen. Begriffen! schön! will sich und den Hunden ein bißchen Motion schaffen! – Putze mich ab, Schuft, ich bleibe hier! Da er völlig wie ein Schneemann aussieht, tritt er in den Flur zurück, tritt und schlägt sich ab, wobei ihm der Stumme eifrig behilflich ist. Mittlerweile kommt fast lautlos ein alter, ehrwürdiger Mann durch die Tür rechts herein. Er ist hoch, breitschultrig, und sein mächtiges Haupt umgibt lang wallendes weißes Haar. Sein bartloses, strenges Gesicht ist gleichsam mit Runen überdeckt. Buschige Wimpern überschatten die großen, hervortretenden Augen. Der Mann scheint neunzig und mehr Jahre alt zu sein, aber so, als wenn Alter potenzierte Kraft, Schönheit und Jugend wäre. Seine Kleidung ist ein Kittel aus grober Leinwand mit weiten Ärmeln und bis unter die Knie reichend. Er trägt runde, rotwollene Schnürschuhe und einen Ledergurt um die Lenden. In diesem Gurt ruht, als er eintritt, seine große, edelgeformte rechte Hand. Es ist Wann.

Wann richtet einen aufmerksamen und lächelnden Blick in den Flur, schreitet ruhig durchs Zimmer und läßt sich hinter dem Tisch am Lesepult nieder. Er stützt sich auf, mit den Fingern sinnend das Haar durchwühlend, dessen weiße Locken den offenen Folianten überfließen, auf den er die Augen gerichtet hält. Aus seinem Überzeug geschält, tritt der Direktor wieder ein. Er gewahrt Wann zuerst nicht.

Direktor. Oh, ihr Gazellen! süße Zwillinge! – So! jetzt wollen wir's uns bei dem alten Pfiffikus einstweilen so gemütlich als möglich machen!

Wann. Das denk' ich auch! und dazu wollen wir schwarzen Falerner trinken!

Direktor, überrascht. Verdammt! wo kommen denn Sie plötzlich her?

Wann, lächelnd. Ja, wer das nur so genau wüßte, Direktor! – Willkommen im Grünen! – Jonathan!

Direktor. Jawoll! es wird einem grün und blau vor den Augen, wenn man so seine vier Stunden gerutscht und gekraxelt ist! ich hatte 'ne schwarze Brille auf! aber trotzdem kommt mir mein Sehorgan vor wie ein Teich, auf dessen Grund ich gesunken bin und über den oben fortwährend farbige Inselchen schwimmen!

Wann. Und Sie möchten gerne auf eine hinauf? soll ich vielleicht eine Angel hervorsuchen?

Direktor. Wieso?

Wann. Na, es schoß mir nur eben so durch den Kopf. – Jedenfalls sind Sie ein Meister im Schneeschuhlaufen und so waghalsig, wie es zum Beispiel ein Hirsch meistens nur im November ist und der Sperber nur dann, wenn er in der Verfolgung einer Beute begriffen ist und seine Jagdwut ihn gegen alle Gefahren blind und taub gemacht hat; das fiel mir auf, als ich Sie vogelartig von der Spitze der Sturmhaube niedergleiten sah! Und da Sie ein Mensch sind, riet ich auf eine dritte menschliche Möglichkeit: Sie möchten vielleicht irgendwas Krankhaftes ausschwitzen.

Direktor. Auf was der Mensch nicht alles verfällt, wenn er in aller Welt nichts mehr zu tun hat, als Sommer und Winter bei jedem Wetter auf der Milchstraße spazierenzugehen!

Wann, lachend. Ich gebe zu, daß ich mein Steckenpferd oftmals ein bißchen hoch hinaus spazierenreite und daß ich dadurch etwas fernsichtig geworden bin; aber ich sehe auch noch in der Nähe ganz gut! – Zum Beispiel dies liebliche Kind von Murano hier und den schönen Kristall voll schwarzen Weins, den Jonathan uns zum Troste bringt! Jonathan hat zwei edle, alte, große venezianische Kelchgläser und eine geschliffene Karaffe voll Wein auf einem großen Silbertablett hereingebracht und auf den Tisch gestellt. Wann schenkt die Gläser vorsichtig selbst voll. Jeder der Männer ergreift eines und hebt es andächtig gegen die noch matt glimmenden Fenster.

Direktor. Montes chrysocreos fecerunt nos dominos! Wissen Sie, wie Sie mir manchmal vorkommen, Wann? wie einer von jenen sagenhaften Goldsucherkerlen, die das sauerkrautfressende, schweinsborstenrüdige Rüpelgesindel in unsern Bergen Walen nennt.

Wann. So?! wie wäre denn das, bester Direktor?

Direktor. Wie einer, der in Venedig mitten im Wasser einen arabischen Feenpalast aus Gold und Jaspis besitzt, der sich aber bei uns hier anstellt und tut, als könnte er nicht auf dreie zählen, und jede verschimmelte Brotkruste frißt.

Wann. Salute! darauf trinken wir, liebster Direktor! Sie trinken einander zu und lachen dann herzlich. Also für so etwas halten Sie mich! die Brotkrusten übrigens abgerechnet, denn dieser Heuchelei bin ich mir nicht bewußt, ist vielleicht sogar ein Gran Wahrheit in der Vermutung! Wenn ich auch nicht geradezu eins von jenen zaubermächtigen Venezianermännerchen bin, die den Holzfällern und anderen Phantasten zuweilen erscheinen und die Goldhöhlen, Grotten und Schlösser im Innern der Erde besitzen, so leugne ich nicht, daß mir diese Berge auf eine gewisse Weise wirklich goldhaltig sind!

Direktor. Ach, wer doch auch so stillvergnügt in Schnee und Eis resignieren könnte wie Sie, Meister Wann! Keine Nahrungssorgen, kein Geschäft, keine Frau – über allerlei Torheiten weit hinaus, die unsereinem noch Kopfschmerzen machen, und in gelehrte Studien so vertieft, daß man den Wald vor Bäumen nicht sieht: das ist wirklich ein idealer Zustand!

Wann. Ich sehe, mein Charakterbild schwankt einstweilen in Ihrer direktorialen Seele noch. Erst bin ich Ihnen eine sagenhafte Persönlichkeit, die ein Haus in Venedig hat, dann wieder ein alter Major a. D., der harmlos seine Altersrenten verzehrt.

Direktor. Ja, es ist eben weiß Gott nicht leicht, sich von Ihnen den rechten Begriff zu machen!

Wann. Jonathan, zünde die Lampen an! Hoffentlich durchschauen Sie mich bei Licht etwas besser!

Eine kurze Pause tritt ein, die Unruhe des Direktors steigt.

Direktor. Auf was warten Sie eigentlich jahraus, jahrein hier oben, Wann?

Wann. Auf mancherlei!

Direktor. Das wäre zum Beispiel?

Wann. Alles, was die Windrose bringt: Gewölke, Düfte, Kristalle von Eis! auf die lautlosen Doppelblitze der großen Panfeuer! auf die kleine Flamme, die aus dem Herde schlägt! auf die Gesänge der Toten im Wasserfall! auf mein seliges Ende! auf den neuen Anfang und Eintritt in eine andere musikalisch-kosmische Brüderschaft.

Direktor. Und wird Ihnen das nicht mitunter langweilig, so allein?

Wann. Wieso: Se tu sarai solo, tu sarai tutto tuo. Und Langeweile ist, wo Gott nicht ist!

Direktor. Das würde mir nicht genügen, Meister! Ich brauche immer den äußeren Reiz.

Wann. Nun, was die Wollust der großen Ehrfurcht in Schwingungen hält, das, denk' ich, ist auch einer.

Direktor. Ja, ja, schon gut! bei mir indessen, so alt wie ich bin, muß immer wieder was Junges, Lustiges, Lebend'ges im Spiele sein.

Wann. Wie zum Beispiel hier diese Marienkäferchen. Den ganzen Winter durch hab' ich sie hier auf dem Tisch, zwischen allerlei Spielzeug, zur Gesellschaft. Sehen Sie sich so ein Tierchen mal an. Wenn ich es tue – so höre ich förmlich die Sphären donnern! Trifft es euch, so seid ihr taub.

Direktor. Diese Wendung verstehe ich nicht.

Wann. Ganz einfach: das Tierchen auf meinem Finger ahnt mich nicht und ahnt Sie nicht. Und doch sind wir da und die Welt um uns her, die es, eingeschränkt in sein Bereich, nicht zu fassen vermag. Unsere Welt liegt außerhalb seiner Sinne. Bedenken Sie, was jenseit der unsern liegt! – Vermöchte Ihnen zum Beispiel das Auge zu sagen, wie der Bach rauscht und die Wolke grollt? daß es so ist, würden Sie nie erfahren, hätten Sie nicht den Sinn des Gehörs. Und hätten Sie wieder das feinste Gehör: Sie wüßten doch von den herrlichen Lichtausbrüchen am Firmamente in Ewigkeit nichts!

Direktor. Danke fürs Privatissimum! lieber ein anderes Mal! habe heute kein Sitzefleisch. Ich spielte auf ganz was anderes an . . .

Wann hebt sein Glas. Auf das liebliche Kind von Murano wahrscheinlich!

Direktor. Meinethalben! woher wissen Sie das?

Wann. Wofür hat man sein tausend Meter hohes mitteldeutsches Observatorium? wofür hat man ein Fernglas mit der selbstverfertigten Linse darin? soll man nicht manchmal auf die alte sublunarische Welt runtergucken und den Kindern auf die Finger sehen? Und wen schließlich der Schuh nicht drückt, der kommt nicht zum Schuster!

Direktor. Gut! wenn Sie wirklich ein so verteufelter Physiker sind – Ihre Schusterei einstweilen beiseite! ich gebe zu, daß mich der Schuh an mehreren Stellen drückt –, so sagen Sie mir doch gefälligst mal: was ist heute nacht in der Schenke des alten Wende geschehn? Wann blättert im Buch auf dem Lesepult.

Wann. Man hat einen Italiener erstochen!

Direktor. Warum schlagen Sie denn im Buche nach?

Wann. Einen Registrator braucht man doch schließlich!

Direktor. Und ist auch das Nähere darin notiert?

Wann. Vorläufig: nein.

Direktor. Nun, dann ist es mit Ihrem Fernrohr und Ihrem protzigen Folianten nichts! – Ich verzeihe mir diese Geschichte nicht! warum hab' ich nicht besser aufgepaßt! Ich wollte sie zehnmal dem Hunde abkaufen . . .! . . . So kommt's, wenn man wirklich mal zartfühlend ist! Er springt auf und geht sehr erregt im Zimmer umher; endlich bleibt er hinter dem Fernrohr stehen, dreht es auf dem Stativ und richtet es nacheinander auf die verschiedenen nachtschwarzen Fenster. Der Wind pfeift. Toll, wie einem hier oben bei Ihnen immer wie in einer Schiffskabine zumute wird! im Sturm auf dem großen Ozean!

Wann. Und drückt das nicht auch die Situation am richtigsten aus, in die wir hineingeboren sind?

Direktor. Das mag sein! aber mit Phrasen von dieser Art läßt sich nichts anfangen. Aus meiner besonderen Klemme reißt mich das nicht! Anders wär's, wenn man durch Ihr Fernrohr was sehen könnte! leider aber merk' ich, daß das auch Vorspiegelung falscher Tatsachen ist.

Wann. Es ist ja doch stockfinstere Nacht, Direktor!

Direktor. Bei Tage brauch' ich so'n Dings doch nicht! Er läßt ab von dem Fernrohr, geht wieder hin und her und bleibt schließlich vor Wann stehen.

Wann. Nun heraus mit der Sprache: wen suchen Sie denn?

Direktor. Sie.

Wann. Sie ist Ihnen demnach verlorengegangen?

Direktor. Ich jage ihr nach und finde sie nicht! – Ich habe den Unsinn satt, Meister Wann! ziehen Sie mir den Stachel heraus, wenn Sie so'n toller Quacksalber sind! ich kann nicht leben und kann nicht sterben. Nehmen Sie ein Skalpell in die Hand, und suchen Sie die vergiftete Pfeilspitze, die mir irgendwo im Kadaver sitzt und mit jeder Minute tiefer dringt. Ich habe die Angst und das Jucken satt, den schlechten Schlaf und den schlechten Appetit; meinethalben: ich will päpstlicher Sänger werden, nur um den verzweifelten Schmacht, der mich plagt, für eine Minute los zu sein. Er ist schwer atmend auf einen Stuhl gesunken und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Wann erhebt sich mit einiger Umständlichkeit.

Wann. Und es ist Ihnen wahrhaft ernst mit der Kur? Sie wollen sich wirklich in meine Hand geben?

Direktor. Natürlich! ja! wozu käme ich denn!?

Wann. Und auch dann stillhalten, wenn es notwendig ist, das böse Gewächs mit dem ganzen, bis in die Zehenspitzen verzweigten Wurzelsystem mit einem Ruck aus der Seele zu reißen?

Direktor. Und wenn es eine Pferdekur ist!

Wann. Nun, dann geben Sie freundlichst acht, lieber Direktor. – Jetzt klatsch' ich das erste Mal in die Hand! Er tut es. Wenn der Greis nicht mehr könnte als der Mann, was wäre dann wohl der Sinn des Alters? Er zieht ein langes seidenes Tuch hervor. Jetzt klatsch' ich das zweite Mal in die Hand! Er tut es. Hernach binde ich mir dies Tuch vor den Mund, wie der Parse es beim Gebete tut . . .

Direktor, ungeduldig. Und dann werde ich meiner Wege gehen, denn ich merke, Sie uzen mich, Meister Wann!

Wann . . . und dann: incipit vita nova, Direktor! Er schiebt die Binde vor den Mund und klatscht stark in die Hände. Sogleich stürzt, wie durch Zauber gerufen, Pippa halb erfroren und nach Atem ringend herein; eine Nebelwolke dringt hinter ihr her.

Pippa, hervorstoßend, heiser schreiend. Rettet, rettet! – Ihr Männer, helft! dreißig Schritt von hier stirbt der Michel im Schnee! er liegt und erstickt! er kann sich nicht aufrichten! bringt Licht! er erfriert! er kann nicht weiter! die Nacht ist furchtbar! kommt mit, kommt mit!

Direktor starrt in grenzenloser Betroffenheit bald Pippa, bald seinen Gastgeber an. Was! sind Sie der Teufel selber, Wann?

Wann. Die Kur beginnt. Keine Müdigkeit vorschützen! – Ein Seil! Binde das Ende hier fest, Jonathan!

Pippa hat Wann bei der Hand gefaßt und zerrt ihn hinaus. Der Direktor folgt wie betäubt. Das Zimmer ist leer, der Sturm braust durch den Hausflur, Schneewolken hindurchfegend. Plötzlich wird der Kopf des alten Huhn in der Flurtür sichtbar. Nachdem sich der Alte vergewissert hat, daß niemand im Zimmer ist, schleicht er sich ein. Er beglotzt die Gegenstände im Zimmer, und als die Stimme des wiederkehrenden Wann hörbar wird, verbirgt er sich hinterm Ofen.

Wann, noch im Hausflur, am Seil die andern nach sich ziehend. Verwahre die Türen fest, Jonathan! –

Nun wird, von Wann und dem Direktor gestützt, der halberfrorene Michel Hellriegel sichtbar. Man bringt ihn ins Zimmer, legt ihn auf die Ofenbank; Pippa zieht ihm die Schuhe aus, und der Direktor reibt ihm die Brust.

Wann, zu Jonathan. Einen Tassenkopf voll heißen schwarzen Kaffees, mit Kognak vermischt!

Direktor. Donner und Hagel! das Maul friert einem ja zu! – das sticht ja da draußen mit Nadeln und Schlachtermessern!

Wann. Ja, es ist was! Man weiß wenigstens, wenn man in diesen schwarzen Hadesbränden nach Atem schnappt, daß man ein Kämpfer und noch weit entfernt von den Paradiesen des Lichtes ist. – Nur ein Fünkchen daraus hat den Weg gefunden! – wacker, Kleine, hast du dich durchgekämpft!

Pippa. Der Michel, signore, der Michel, ich nicht.

Wann. Wie ist Ihnen denn zumute, Direktor?

Direktor. Was Sie für einer sind, weiß ich nicht, aber sonst geht's mir galgenmäßig vergnügt! Es ist schließlich ebenso wunderbar, wenn eine Fliege auf meinen Hemdkragen schmitzt, als daß Sie oder sonst wer solche Geschichten machen.

Wann. Statt eines sind ihrer zweie geworden!

Direktor. Danke! so weit reicht mein Grips eben noch! – Meine Vermutung ging zwar auf Huhn, was weiter? statt dessen ist es ein Gimpel! – Jonathan, meine Schneeschuhe, fix!

Wann. Schon fort?

Direktor. Zwei sind genug. Der dritte zuviel. – Es ist mir zwar einigermaßen neu, Edelmut in der höchsten Potenz exekutieren, aber auf Dauer ist das doch kein rechter Beruf für mich! – meinst du nicht auch, kleine Pippa?

Pippa, die leise weinend Michels Füße mit ihrem Haar trocknet und reibt. Cosa, signore?

Direktor. Du kennst mich doch noch? Pippa schüttelt verneinend den Kopf. Hast du mich nicht irgendwo mal gesehen? Pippa schüttelt abermals verneinend den Kopf. Brachte dir nicht irgendein guter Onkel während drei, vier Jahren Zuckerzeug, hübsche Korallen und seidene Bänderchen mit? Pippa verneint überzeugt durch Kopfschütteln. Bravo, so hab' ich mir's gedacht! – Hast du nicht einen Vater gehabt, der gestorben ist? Pippa verneint.

Wann. Merken Sie was, Direktor?

Direktor. Und ob ich was merke!

Wann. . . . was für ein alter, mächtiger Zauberer hier im Spiele ist?

Direktor. Versteht sich am Rande, ganz gewiß! Fideles Vexierspiel in der Welt! – Mit dem dritten Finger auf Michels Stirn klopfend. Du, wenn du aufwachst, klopf doch mal an den Himmel, vielleicht sagt der liebe Herrgott: Herein! – Adieu! Reiben Sie Michel ins Dasein zurück! Schon im Flur. Wünsche allerseits wohl zu speisen! es hat geholfen! ich bin kuriert! – Juhu! Jockele, schließe den Abgrund auf! Man hört die Haustür öffnen und im Freien noch mehrmals das Juhu des Direktors.

Hellriegel schlägt die Augen auf, springt in die Höhe und ruft ebenfalls. Juhu! juhu, da haben wir's, kleine Pippa!

Wann tritt erstaunt und belustigt zurück. Ei! was, wenn ich fragen darf, haben wir denn?

Hellriegel. Ach so, kleine Pippa, wir sind nicht allein! Sag mal, woher kommt der Alte so plötzlich?

Pippa, schüchtern, leise. Ach, ich wußte mir keinen andern Rat!

Hellriegel. Aber war es nicht herrlich! freust du dich nicht, so durch Sturm und Winter aufwärtszuklettern? so lustig vorwärts und Hand in Hand?

Wann. Wohin reist ihr denn, wenn man fragen darf?

Hellriegel. Ei, Alter! wer wird so neugierig sein? Frag' denn ich dich, warum du hier oben muffelst, dich wärmst und gebratene Äpfel ißt? –

Wann. Da hast du ja einen Tausendsassa, liebes Kind!

Hellriegel. Immer wandern und an das Ziel nicht denken! Man schätzt es zu nah oder schätzt es zu weit. – Übrigens fühle ich doch meine Knochen summen.

Pippa, ängstlich. Michel, könnten wir nicht dem alten freundlichen Mann gegenüber vielleicht doch ein bißchen dankbar sein? oder meinst du nicht?

Hellriegel. Wieso?

Pippa. Er hat uns doch vor dem Erfrieren gerettet!

Hellriegel. Erfrieren? das tut jetzt der Michel beileibe nicht! – Hätten wir just das Asyl hier verfehlt, nun, so wären wir jetzt gute zehn Meilen weiter. Denke, Pippa, zehn Meilen näher am Ziel! Wenn einer den Wunderknäuel besitzt und unzweideutige höhere Winke in großer Menge bekommen hat, daß er zu etwas berufen ist . . . mindestens knetbares Glas zu erfinden!

Wann. Du lachst, meine Kleine: glaubst du ihm das? – Pippa sieht gläubig zu Wann auf und nickt entschieden bejahend mit dem Kopfe. So!? allerdings, er spricht recht vertrauenerweckend! – Nun, sprecht euch nur aus, ich geniere euch nicht! Er nimmt hinter seinem Büchertische Platz, doch die beiden verstohlen beobachtend; dabei blättert er in dem großen Buch.

Pippa, geheimnisvoll. Sieh dich mal um, Michel, wo wir sind!

Hellriegel. Ganz am rechten Platz, wie mir eben jetzt einfällt! Ganz recht hat das Garn uns geleitet. Merktest du nicht, wie es uns immer vorwärts und heraus aus dem Unwetter zog?

Pippa. Das war ja das Seil des Alten, Michel!

Hellriegel. I, wie du dir das denkst, Kleinchen, ist es nicht! Hier zunächst mußten wir jedenfalls hin. Erstlich sah ich im Steigen immer das Licht. Hätt' ich aber das Licht auch nicht gesehen, es zog und sog eine unwiderstehliche Kraft in mir nach diesem schützenden Dache hin!

Pippa. Ich bin so froh, daß wir sicher sind, und doch: ich fürchte mich noch immer ein bißchen!

Hellriegel. Vor was fürchtest du dich?

Pippa. Ich weiß nicht, vor was! – ob die Türen fest zu sind?

Wann, der es gehört hat. Sind fest verschlossen!

Pippa, einfach und unschuldig auf Wann zu. Ach, Herr, Ihr seid gut, man sieht's Euch an! aber dennoch, gelt, Michel, wir müssen wohl weiter?

Wann. Warum denn? wer ist denn auf eurer Spur?

Hellriegel. Niemand! keiner wenigstens, der uns Sorgen macht! aber wenn du fortwillst, so komm, kleine Pippa!

Wann. Meint ihr wirklich, ich ließe euch fort?

Hellriegel. Allerdings! womit wolltet Ihr uns denn festhalten?

Wann. An solchen Mitteln fehlt es mir nicht! – Ich frage dich nicht, wohin du gehst! wohin du mit dieser kleinen gescheuchten Motte, die an meine Lampe geflogen ist, unterwegens bist! aber die Nacht hindurch werdet ihr hierbleiben!

Hellriegel, breitbeinig in der Mitte des Zimmers aufgepflanzt. Holla! holla! hier ist auch noch einer!

Wann. Wer weiß, was du für ein Vogel bist! vielleicht einer, der auszog, das Gruseln zu lernen: dann hab' nur Geduld, du lernst es schon noch!

Hellriegel. Immer gemütlich, Onkelchen, das Haus steht noch! wie mein Mutterchen sagt. Ob wir aber gehn oder bleiben, ist unsere Sache!

Wann. Du hast wohl sehr große Rosinen im Sack!

Hellriegel. So? seh' ich so aus, als ob ich welche im Sack hätte! das is wohl auch möglich, denke mal an! – Nun, Punktum! mein Ranzen tut sich so ziemlich, wenn es auch andere Dinge als gerade nur lump'ge Rosinen sind. Falls mir also die Kappe so sitzt, dann gehen wir! und dann kannst du uns ebensowenig zurückhalten wie zwei Schwäne, die unter dem Lämmergewölkchen hinreisen und wie zwei Punkte gen Süden ziehn!

Wann. Das geb' ich dir zu, junger Wolkenmann! – Doch gelingt es mir zuweilen einmal, solche Vögel an meine Tröglein zu locken, und das hab' ich zum Beispiel mit euch getan,

Jonathan bestellt die Tafel neben dem Ofen mit Südfrüchten, dampfendem Wein und Gebäck.

Hellriegel. Was, Tröglein! wir sind nicht hungrig, wir essen nicht! auf so was ist Michel nicht angewiesen!

Wann. Seit wann denn nicht mehr?

Hellriegel. Seit . . . seit er das Freigold im Schlamme fand!

Wann, zu Pippa. Und du?

Pippa. Ich bin auch nicht hungrig!

Wann. Nein?

Pippa, leise zu Michel. Du hast ja dein Tischlein-deck-dich!

Wann. So wollt ihr mir nicht die Ehre antun?

Hellriegel. Ich merke, du bist wieder mal einer, der nicht die leiseste Ahnung davon hat, wer Michel Hellriegel ist. Was geht's mich an! und was hülfe es auch, es dir auseinanderzusetzen. Zwar weißt du, daß der Erzengel Michael ein Held und Drachenbezwinger ist: daran zweifelst du nicht. Ich brauche nun aber bloß weiterzugehn und meinethalben zehn Schwüre zu leisten, daß ich seit gestern Wunder auf Wunder erlebt und ein Abenteuer sieghaft bestanden habe, das ebenso ungeheuer ist, so wirst du sagen: warum denn nicht? das ist einer, der Okarina spielt. – Ich brauche von meinem Ranzen erzählen . . .

Wann. Oh, Michel, du köstliches Gotteskind, hätt' ich geahnt, daß du es bist, den ich heute seit Tagesanbruch mit meinem Fernrohr verfolgt und an meine Seelenfutternäpfchen voll heißen Blutes gelockt habe: ich hätte die Hütte festlich geschmückt und dich – damit du siehst, daß ich auch so was wie ein Musikante bin – und dich mit Quintetten und Rosen empfangen! – Sei friedlich, Michel, vertrage dich! Und ich rate dir, iß eine Kleinigkeit! So gesättigt himmelblau du auch sein magst, davon kann nur die Seele, kein Körper satt werden eines langen Lümmels, wie du einer bist!

Hellriegel tritt an den Tisch, nimmt einen Teller herauf, ißt eifrig und spricht leise und grimmig zu Pippa. Der Fraß widersteht mir, ich mag ihn nicht! bloß um mit guter Art loszukommen . . .

Wann. Iß, iß, Michel, räsoniere nicht! Es nutzt nichts, mit deinem Herrgott zu hadern, weil du atmen und schlingen und schlucken mußt! dann schwebt sich's und schaukelt sich's um so schöner!

Pippa hat sich zu Wann geschlichen, während Michel ins Essen vertieft ist, und flüstert ihm zu in voller Freude. Ich freu' mich so, daß der Michel ißt!

Wann. Er wandelt nacht, also weck ihn nicht! sonst läßt er Gabel und Messer fallen, stürzt tausend Meter hoch in die Luft und bricht sich womöglich Hals und Beine.

Er nimmt sorgfältig mit zwei Händen ein venezianisches Gondelmodell vom Tisch.

Wann. Kannst du mir sagen, was das vorstellt?

Pippa. Nein.

Wann. Denk nach! ist niemals durch deinen Traum ein schwarzes Fahrzeug wie dieses geglitten?

Pippa, schnell. Ja, früher, ganz früher, erinnre ich mich!

Wann. Weißt du auch, was für ein mächtiges Werkzeug es eigentlich ist?

Pippa, nachdenklich. Ich weiß nur, daß ich nachts einmal zwischen Häusern auf einer solchen Barke geglitten bin.

Wann. So ist es! – Zu Michel hinüber. Nun, meinethalb spitze auch du deine Ohren, damit du nach und nach zur Erkenntnis gelangst, daß auch hier einer sitzt, der sich etwas auf Aeronautik und manches andere versteht.

Hellriegel. Immer raus mit der Zicke auf den Markt!

Wann. Also dies kleine Fahrzeug hier hat die Märchenstadt zwischen zwei Himmeln geschaffen, nämlich jene, darin auch du, gutes Kind, ans Herz der Erde geboren bist. – Denn du bist aus dem Märchen und willst wieder hinein.

Hellriegel. Hopp! da kommt was geflogen! Hopp! wieder ein ander Bild! eine Ratte! ein Salzhering, ein Mädchen! ein Wunder! immer auffangen! eine Okarina! immer hopp, hopp, hopp! – Sosehr ich, als ich von Mutter fort auf die Walze ging, auf allerlei Hokuspokus gefaßt war und ihm hüpfend vor Freude entgegengegangen bin, tritt mir jetzt doch manchmal kalter Schweiß auf die Stirne. Er starrt, Gabel und Messer in den Fäusten, tiefsinnig vor sich hin. Also Er kennt die Stadt, wo wir hinwollen!

Wann. Freilich kenne ich sie, und – sofern ihr Vertrauen zu mir faßt, könnte ich etwas übriges tun und euch mit Rat und Wink den Weg dorthin weisen. Am Ende, wer weiß, noch etwas mehr als das! – Denn, offen gestanden, wenn man euch ganz genau betrachtet, so kommen einem doch Zweifel an, ob ihr wirklich so sicher und hoch und zielbewußt durch den Himmel schwebt! Ihr habt etwas an euch, wie soll ich sagen, von aus der Flugbahn geschleuderten Vögeln, die hilflos irgendwohin an den Nordpol verschlagen sind. Sozusagen auf Gnade und Ungnade! – Michel, fahre nicht auf! ereifre dich nicht! Du willst es nicht Wort haben, daß du entsetzlich mürbe und müde bist, und auch nicht die unbestimmte Angst, das Grauen, das euch mitunter noch anpackt, obgleich ihr den Schauern der winternächtigen Flucht doch einigermaßen entronnen seid. Bei Erwähnung der Flucht und Angst ist Hellriegel aufgesprungen, und Pippa und er haben einander ängstlich angesehen. Jetzt bewegt er sich unruhig an die Stubentür und horcht in den Flur hinaus.

Hellriegel. Nur ruhig, Michel! es käme drauf an! – Ich nehme doch an, daß die Türen genügend verwahrt und verriegelt sind? – Dann haben wir jedenfalls nichts zu fürchten! – Er kommt zurück. Meinethalben! es kann ja sein, daß Ihr vielleicht etwas Rares seid – wir werden zwar sowieso in der schönen Wasser- und Glasmacherstadt, wo das Wasser zu gläsernen Blumen sprießt und von der ich zeit meines Lebens ganz genau jedes Brückchen, Treppchen und Gäßchen geträumt habe . . . zwar sowieso . . . morgen nachmittag Apfelsinen essen, aber meinethalb: wie weit ist's noch dahin?

Wann. Das kommt darauf an, Michel, wie man reist.

Hellriegel. Auf praktische Weise, will ich mal sagen.

Wann, lächelnd. Dann kommst du wahrscheinlich niemals hin. Aber wenn du mit diesem Schiffchen reist, mit dem schon die ersten Pfahlbauern in die Lagunen hinausfuhren und aus dem, wie aus einer schwimmenden Räucherschale, phantastischer Rauch: der Künstlertraum Venedig quoll, daraus sich die prunkende, steinerne Stadt, wie der Kristall aus der Lauge, niederschlug . . . ja, wenn du mit diesem Schiffchen reist und mittels des Wunders, das dir geworden ist, so kannst du mit einemmal alles erblicken, wonach deine schmachtende Seele strebt.

Hellriegel. Halt! ich will mal erst eine stille und in mich gekehrte Überlegung anstellen. – Gebt mir doch mal das Ding in die Hand! Er nimmt und hält das Schiffchen. So? mit diesem Nußschälchen soll ich reisen? – ach! was doch der alte Herbergsvater klug und der Michel ein Esel ist! – Wie macht man das bloß, hier einzusteigen? – O bitte! ich bin kein Spaßverderber! jetzt leuchtet mir die Geschichte ein: ich fürchte nur, ich verlaufe mich in dem Schiffchen! Wenn es wirklich sein muß, so nehm' ich doch lieber meine zwei Schwestern, meine sechs älteren Brüder, meine Onkels und meine sonstigen Anverwandten, die Gott sei Dank alle Schneider sind, mit.

Wann. Mut, Michel! wenn einer aus dem Hafen ist, so gilt kein Zurück: er muß in die hohen Wogen hinaus. Und du – zu Pippa – gib ihm den Zauberwind in die Segel!

Hellriegel. Das gefällt mir, das wird eine schnurrige Fahrt!

Wann indem er Pippas Fingerchen um den Rand eines venezianischen Glases führt
Fahre hin, fahre hin, kleines Gondelschiffchen! –
Sprich nach.

Pippa
Fahre hin, fahre hin, kleines Gondelschiffchen!

Wann
Aus Winternacht und aus Schnee und Eis,
aus sturmgerüttelter Hütte Kreis –

Pippa lachend
Aus Winternacht und aus Schnee und Eis,
aus sturmgerüttelter Hütte Kreis –

Wann
Fahre hin, fahre hin, kleines Gondelschiffchen!

Aus dem Glase, dessen Rand Pippa reibt, dringt ein leiser Ton, der stärker und stärker wird, bis sich ihm Töne zu Harmonien angliedern, die schwellend zu einem kurzen, aber mächtigen musikalischen Sturm anwachsen, der jäh zurückebbt und verstummt. Michel Hellriegel verfällt offenen Auges in einen hypnotischen Schlaf.

Wann
Jetzt reist der Michel einsam über Wolken hin,
stumm ist die Reise, denn in jener Region
erstirbt der Schall. Er findet keinen Widerstand.
Wo bist du?

Hellriegel           Herrlich fahr' ich her durchs Morgenrot!

Wann
Was alles siehst du?

Hellriegel                         Oh, ich habe mehr gesehn,
als eines Menschen Seele je erfassen kann,
und über hyazinthene Meere geht mein Flug!

Wann
Jetzt aber senkt dein Schiff sich nieder! – oder nicht?

Hellriegel
Ich weiß es nicht. Nur steigt das Erdgebirge mir
entgegen. Riesenmäßig türmt die Welt sich auf.

Wann
Und nun?

Hellriegel       Nun hab' ich lautlos mich hinabgesenkt,
und zwischen Gärten rauscht mein Nachen still dahin.

Wann
Du nennst es Gärten, was du siehst?

Hellriegel                                                   Ja! doch von Stein.
In blauen Fluten spiegeln Marmorblumen sich,
und weiße Säulen zittern im smaragdnen Grund.

Wann
Halt inne, Fährmann. – Und du sage, wo du bist!

Hellriegel
Auf Stufen setz' ich meinen Fuß, auf Teppiche,
und eine Halle aus Korallen nimmt mich auf!
An eine goldne Pforte poch' ich dreimal nun!

Wann
Und auf dem Klopfer, welche Worte liesest du?

Hellriegel
Montes chrysocreos fecerunt nos dominos!

Wann
Und was geschieht, nachdem des Klopfens Laut verhallt?

Michel Hellriegel antwortet nicht und beginnt vielmehr, wie unterm Alpdruck, zu ächzen.

Pippa
Weck ihn, ach weck ihn, lieber alter weiser Mann!

Wann indem er Micheln das Schiffchen aus den Händen nimmt
Genug! In die verlorne Hütte wiederum
zu den Verbannten, Schneeverwehten kehre heim
und rüttle dich und schüttle goldnes Reisegut
in unsren Schoß, dieweil wir schlimm verschmachtet sind.

Michel Hellriegel erwacht, blickt bestürzt um sich und sucht sich zu besinnen.

Hellriegel. Hallo! – warum steht der alte, verteufelte Grunzochs Huhn vor der Pforte und droht und läßt mich nicht eintreten? Pippa! so steck doch den goldnen Schlüssel zum Gitter heraus! ich schleiche mich durch ein Seitentürchen! – Wo? – Pippa! – Verflucht! nein! wo bin ich denn? – Entschuldige, Alter! man soll lieber nicht fluchen, wenn man so etwas einmal . . . wenn man auch zuletzt der Gefoppte ist! – In was für ein verwünschtes Futteral ist man denn gerutscht?! – Donnerwetter noch mal, was geht hier vor? – Wo ist Pippa? – hast du den goldnen Schlüssel noch bei dir? – Her! gib ihn her! wir wollen schnell aufmachen!

Pippa. Wache doch auf, Michel! Du träumst doch! besinne dich!

Hellriegel. Da will ich doch lieber ein Träumer sein, als auf eine so niederträchtige Weise aufwachen, vierzehn Meilen tief in der Patsche drin. Man sieht ja nicht mehr die Hand vor den Augen! Was heißt das? wer drückt mir den Daumen in die Gurgel? wer quetscht mir mit einer Berglast von Angst das Glück aus der Brust?

Wann. Keine Angst! nur keine Angst, bester Michel! es ist alles in diesem Hause in meiner Gewalt! und nichts ist drin, was dir schaden kann.

Hellriegel. Ach, Meister, warum riefst du mich denn so schnell in diese Grabeshöhle zurück? warum ließ mich das alte, wilde zerlumpte Tier nicht in mein Wasser- und Zauberschlößchen hinein! es war ja das, was ich mir immer gewünscht habe! es war ja dasselbe! ich hab' es ja ganz genau wiedererkannt, was ich mir, vor dem Ofenloch sitzend, als kleiner Knabe erträumt habe! und Pippa guckte zum Fenster heraus! und das Wasser spielte wie Flötenläufe wohlig unter ihr um die Mauer herum! Laß uns die Reise noch einmal tun! schenke uns dein entzückendes Gondelchen, und ich stehe nicht an . . . ich biete dir hier mein ganzes Ränzel mit seinem gesamten köstlichen Inhalt dafür!

Wann. Nein, Michel, noch nicht! gedulde dich! du bist mir fürs erste noch viel zu hitzig! Und ich bitt' euch beide, beruhigt doch eure klopfenden Herzen und ängstet euch nicht. Laßt gut sein: morgen ist auch noch ein Tag! In meinem Hause sind viele Gastkammern! verziehet, ich bitt' euch, bis morgen bei mir! – Eine Nacht durch vergönnt mir, die Hoffnung, die volle, die junge, zu beherbergen! – Morgen fahret denn weiter, mit Gott! Jonathan, führe den Fremden hinauf!

Hellriegel. Wir gehören zusammen, wir trennen uns nicht!

Wann. Wende dich, wie du willst oder magst, braver Michel: immer nimmt sie der Schlaf dir aus der Hand, und du mußt sie dem Schicksal und Gott überlassen!

Hellriegel hat Pippa in die Arme genommen. Er betrachtet sie und gewahrt, daß sie vor großer Übermüdung fast bewußtlos ist: so läßt er die Entschlummerte auf die Wandbank gleiten.

Hellriegel. Und bürgst du für sie?

Wann. Mit Mund und Hand!

Hellriegel küßt Pippa auf die Stirn. Bis morgen also!

Wann. Schlaf wohl! gute Nacht! – und fern in der Adria träumt ein Haus, das wartet auf neue und junge Gäste.

Jonathan steht in der Tür mit Licht; Hellriegel reißt sich los und verschwindet im Hausflur.

Wann betrachtet Pippa eine Weile tief und nachdenklich; alsdann sagt er
In meine Winterhütte brach der Zauber ein.
Der Weisheit Eiswall räuberisch durchbrach er mir,
der Goldgelockte. Obdach hab' ich ihm gewährt
aus väterlicher Seele, alter Tücke voll.
Wer ist der Fant, daß er dies Kind besitzen will,
das göttliche, das meine Schiffe segeln macht! –
Sie knacken, knistern, schaukeln leise hin und her,
die alten Rümpfe, antiquarisch aufgehängt! –
Warum denn setz' ich diesen Michel in mein Schiff,
anstatt mit ganzer Flottenmacht aussegelnd mir,
und im Triumph, verlaßne Himmel wiederum
zu unterwerfen, und als Galeone sie voran.
O Eis auf meinem Scheitel, Eis in meinem Blut!
Du taust hinweg vor einem jähen Hauch des Glücks.
Du heiliger Hauch, o zünde nicht in meiner Brust
die Feuersbrunst der Gier und wilden Lüste auf,
daß ich, Saturn gleich, nicht die eignen Kinder schlucken muß.
Schlaft! euren Schlaf bewach' ich und bewahre euch das,
was flüchtig ist. Als Bilder schwebet mir vorbei,
solang noch Bild, nicht Wesen, meine Seele ist,
nicht klares, unsichtbares Element allein.
Modert, ihr Rümpfe! und nach neuen Fahrten dürst' ich nicht.

Er hat die Schlafende erhoben, gestützt und langsam mit väterlicher Sorgfalt in die Kammer rechts geführt. Während er und Pippa verschwunden sind, kommt Huhn hinterm Ofen hervor und bleibt, stieren Blicks auf die Kammertür glotzend, mitten im Zimmer stehen. Wann kommt rückwärts aus der Kammer, zieht die Tür nach sich ins Schloß und spricht, ohne Huhn zu bemerken. Er hat sich nach den Schiffsmodellen umgewendet und erblickt dabei Huhn. Zunächst an der Wirklichkeit der Erscheinung zweifelnd, hält er forschend die Hand über die Augen; dann läßt er sie sinken, jede Muskel strafft sich an ihm, und beide Männer messen einander voll Haß.

Wann, langsam, bebend. Hier – geht – kein – Weg! –

Huhn, ebenso. Hie – gilt – kee Wort! –

Wann. Komm an! Huhn dringt an, und sie stehen einander in Kämpferstellung gegenüber.

Huhn. Das is oall's meins! – oall's meins, oall's meins, oall's meins.

Wann
Du schwarzes Bündel Mordsucht! Nachtgeborner Klumpen Gier,
keuchst du nun doch noch etwas, das wie Worte klingt!
Der alte Huhn hat ihn angefallen, und sie ringen miteinander; dabei stößt plötzlich der alte Huhn einen furchtbaren Schrei aus und hängt gleich darauf wehrlos in Wanns Armen. Wann läßt den Röchelnden leise niedergleiten.
So muß es kommen, ungeschlachter Riese!
Krankes, starkes, wildes Tier! –
Brich du in Ställe! Raubtierfraß
birgt diese eingeschneite Hütte Gottes nicht!

 


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