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Der Winter war gekommen und mit ihm wieder stillere, daher gemütlichere Tage. Herr Dr. Thorn war wieder ganz Museumsdirektor. Wenn der Sturm die Schneeflocken wirbelnd ans Fenster trieb und im weißen Tonofen lustig das Feuer brannte, dann saß er behaglich bei seinen prähistorischen Schätzen, die ein günstiger Zufall noch um ein prächtiges Stück, den vollständigen Unterkiefer eines Höhlenbären, vermehrt hatte. Der Herr Förster war gerade dazugekommen, als das Wertobjekt von einem Arbeiter aus der Lehmgrube, in der er es ausgegraben hatte, mißmutig hinausgefeuert wurde. Die Riesendimensionen der Knochen waren ihm aufgefallen; er hatte sofort erkannt, daß solches Gebein keinem derzeitigen Wildbret angehöre, und hatte den Arbeiter beauftragt, sämtliche Knochen, die er noch auffinden werde, dem Dr. Thorn zu bringen, der ihm einen ausgiebigen Finderlohn bezahlen werde. Der Arbeiter hatte erst mißtrauisch den Kopf geschüttelt, denn der Förster war als Spaßvogel weit und breit bekannt und unterhielt sich gern auf Kosten anderer Leute. Als ihm aber der Förster eine Krone gab, kam es ihm in den Sinn, daß diesmal nicht er, sondern wohl der Dr. Thorn das Opfer sein sollte, und als ihm der Herr Förster noch eine Karte mitgab, mit der er sich selbst als den Absender bekannte, schwanden alle seine Bedenken; er packte alles zusammen auf seinen Schiebkarren, um es auftragsgemäß zu Dr. Thorn zu führen.
Als aber die schwarzbraunen, häßlichen Knochen im Haufen auf dem Karren lagen, erfaßten ihn starke Zweifel, und er sprach die Vermutung aus, daß ihn der Doktor wohl hinauswerfen werde, wenn er mit seiner Fuhre anlange. Dem Förster blieb nichts anderes übrig, als die prähistorische Fracht zu begleiten.
Der Herr Doktor war ganz närrisch vor Freude, als er die mächtigen Knochen sah. Unter Assistenz des Herrn Försters wurden die Knochen mit großer Sorgfalt in das Haus getragen und auf dem großen Tisch im Museum niedergelegt. Der Lehmgräber war ganz außer sich vor Erstaunen, als man ihm zumutete, all den Schmutz und das ganze greuliche Gebein in dem Zimmer unterzubringen.
Als die Fracht geborgen war, überreichte ihm der Doktor einen funkelnagelneuen Zwanzigkronenschein zur Belohnung seiner die Wissenschaft in so hohem Maße unterstützenden Tätigkeit. Verwundert hielt er lange Zeit die Banknote in der Hand, und es bedurfte einer höchst energischen Ansprache seitens des Försters, daß er sie endlich in einer Tasche seines alten, löcherigen Rockes verwahrte. Er bedankte sich höflich, ging kopfschüttelnd zu seinem Schiebkarren und fuhr davon.
»Was sich der jetzt von uns denkt, sind lauter Ehrenbeleidigungen«, sagte der Förster, »der hält uns beide für ausgemachte Narren.«
Dieser Fund war seit langer Zeit die erste Freude, die dem Dr. Thorn bereitet wurde. Sein Lebensabend hatte sich in den letzten Wochen durchaus nicht so freundlich, gestaltet, als er sich's einst erhofft hatte.
Gleich nach der Abreise der Nichte war von seinem Bruder ein Brief angekommen, in dem sich dieser in sehr ironischer Weise für alles Gute und Liebe, das seiner armen Tochter bei ihm widerfahren war, bedankte. In harten Worten sprach er den Entschluß aus, keinem seiner Kinder jemals mehr zu erlauben, den Onkel zu besuchen. Sein Sohn sei mit Mühe und Not mehreren Lebensgefahren entronnen, die Tochter sei seelisch zerrüttet zurückgekommen und gehe nur mit verweintem Gesicht umher.
»Der Himmel möge an Dir strafen«, schloß der Brief, »was Du mir angetan hast. Du hast mir sogar die Herzen meiner Kinder entfremdet. Denn trotz alldem, was ihnen bei Dir geschehen ist, reden sie den ganzen Tag von nichts anderem als von Dir, und haben keinen anderen Wunsch, als zu Dir zu fahren. Merke Dir's – Du bist mein Bruder gewesen; von nun an bist Du für mich tot und vergessen!«
»Sehr hübsch«, sagte Dr. Thorn, nachdem er den Brief gelesen hatte. »Er hat übrigens gar nicht so Unrecht. Die Kinder haben entschieden Pech, wenn sie zu mir kommen. Eugen wird erst von hinten aufgespießt und fällt dann ins Wasser. Lisel verliert hier sogar ihr Herz, ist also noch viel schlechter daran als Eugen,« bei dem nur ein weit weniger edler Teil verletzt wurde.«
Mit der nächsten Post kamen zwei weitere Briefe an, einer von Lise, der andere von Eugen. Beide Briefe hatten annähernd den gleichen Inhalt. Die Kinder baten in aufgeregten Worten, den Brief ihres Erzeugers nicht ernst zu nehmen und ihnen nicht böse zu sein und vielleicht gar sein Haus zu verschließen. Der Brief des frechen Eugen war sogar mit einem Zitat aus dem Evangelium geschmückt: »Onkel, vergib ihm, denn er weiß nicht was er tut!« – Thorn mußte auflachen.
»So ein Lausbub, aufs Maul gefallen ist er nicht!« sagte er befriedigt.
»Mich dauern die Kinder, die werden glauben, du bist böse auf sie; da muß etwas geschehen«, sagte Pauline.
»Wenn ich ihnen einen Brief schreibe, so ist der Bruder imstande und gibt ihnen diesen nicht einmal. Halt, ich hab's; ich schreib der Lisel in die Bank hinein!«
Und er führte den schönen Vorsatz sofort aus:
»Liebe Lisel und lieber Eugen!
Ihr braucht Euch gar nicht zu fürchten, daß ich böse auf Euch bin. Es kann ja niemand etwas dafür, daß Euch all dies Unglück passiert ist. Es wird wieder alles gut werden. Ich kenne Euren Vater bekanntlich weit länger, als Ihr ihn kennt. Er ist weit besser als seine Worte. ›Es wird sich schon wieder setzen‹, hat mein gottseliger Großvater, der Euer Urgroßvater ist, immer gesagt, wenn etwas Unangenehmes passiert ist. Sagt Euch dieses altertümliche Wort auch öfters vor, es ist ein gutes Arkanum gegen Ärger und wirkt ungemein beruhigend auf das Gemüt. Mein Haus steht Euch jederzeit offen, und ich ahne, daß Ihr wohl weit früher wieder durch seine Pforten schreiten werdet, als Ihr heute glaubt. Seid's nur recht brav!
Tante läßt Euch schön grüßen. Ich will nicht Öl ins Feuer gießen und sende daher meinem geliebten Bruder, Eurem Vater, keinen Gruß.
Euer Euch höchst wohlgewogener Onkel
Dr. Gustav Thorn.
NB. Eugen soll nicht so frech sein und nicht die Worte des heiligen Evangeliums in solcher Weise anwenden, wie er es in seinem Brief getan hat.«
*
Die Antwort auf das Schreiben des Onkels erfolgte umgehend. Zwei Jubelbriefe der Kinder langten ein, in denen wieder übereinstimmend Onkel Gustav als weitaus der beste, herrlichste Mensch gepriesen wurde, der derzeit durch dieses irdische Jammertal wandle. Eugen teilte mit, daß er bereits einer der hervorragendsten Gelehrten seiner Klasse sei und ihm bei der letzten Zensur ein fulminantes Lob ausgesprochen wurde. Gleichzeitig erinnerte er schüchtern den Onkel an das versprochene Jagdgewehr.
Lises Brief war, ihrem Seelenzustand entsprechend, Grau in Grau gefärbt. Im ersten Teil sprach sie die Sehnsucht aus, recht bald auf irgendeine passende Weise dieses Jammertal zu verlassen, im zweiten Teil teilte sie mit, daß sie es gar nicht erwarten könne, wieder zum Onkel zu kommen.
»Es waren doch himmlisch schöne Tage, die ich bei Dir verbrachte!«
»O du Veronika!« brummte der Herr Onkel vor sich hin. »Mich strudelt sie da an und den Herrn Ulrich meint sie!«
Aber er war doch herzlich erfreut über die beiden Briefe.
»Weißt du«, sagte er zu Pauline, »daß mich die zwei Briefe eigentlich recht wehmütig stimmen! Wie ich jetzt sehe, hätte ich vielleicht recht viel Glück gehabt als Pater familias. Mir ist das Glück versagt geblieben.«
»Als Familienvater härtest du Glück gehabt?« fragte zweifelnd Frau Pauline. »Du? Als Familienvater! Wo du nur hin denkst!«
»Warum denn nicht?« fragte er erstaunt.
»Du hättest mit dem dir eigenen Übermaß von Güte und Liebe all deine Kinder verzogen!«
»Auch möglich!« sagte kurz Herr Gustav und ging hinüber in das Museum.
Auch das Glück des Stammtisches war in sehr erheblicher Weise gestört. Der Herr Bürgermeister war seit dem schönen Feste dem Tische ferngeblieben. Auf verschiedene Anfragen ob der Ursachen dieser Vernachlässigung hatte er stets sehr ausweichend geantwortet. Er ließ nur durchblicken, daß es jetzt im Orte Leute gebe, die nichts anderes im Sinne hätten, als den Frieden in alten erbgesessenen Familien zu stören. Man könne es ihm als Vater nicht verargen, daß er einen Tisch meide, an dem ein Mann sitze, der den Zwist in sein Haus getragen habe.
»Laßt's 'n gehn, den narrischen Toni«, hatte der Förster gesagt, als diese Nachricht am Tische besprochen wurde. »Es wird sich schon wieder setzen«, sagte Dr. Thorn mit den Worten seines Großvaters. Er dachte nämlich nicht im entferntesten daran, daß der Herr Bürgermeister mit der den Haus- und Familienfrieden störenden Persönlichkeit vielleicht gar ihn gemeint haben könne. Er hatte den Doktor im Verdacht, der es bei keiner Gelegenheit unterlassen konnte, die weltliche Obrigkeit bloßzustellen.
Im Orte hielt sich hartnäckig das Gerücht, daß der Sohn des Herrn Bürgermeisters, wie der rauhe Forstmann sagte, aus der Kutte springen wolle. Dieses Gerücht erhielt eine Nahrung, als kurz vor Weihnachten Herr Ulrich im Orte erschien.
Herr Dr. Thorn saß eben im Museum und war eifrig mit dem Präparieren des Schädels des Höhlenbären beschäftigt: da wurde ihm der Besuch des Herrn Kirchmaier junior gemeldet.
»Herr Ulrich?« fragte er erstaunt.
»Ja, ja«, sagte Frau Pauline, »er sieht sehr schlecht aus.«
»Warum führst du ihn denn nicht gleich herein?« fragte Gustav.
Pauline verschwand und erschien in wenigen Sekunden mit dem jungen Herrn.
»Bitte, Herr Doktor, hätten Sie einige Augenblicke Zeit für mich?« fragte er.
Frau Pauline verschwand respektvollst, als sie die ernsten Worte vernahm.
»Bitte, nur Platz zu nehmen!«
Dr. Thorn rückte dem Gast einen Sessel hin.
»Fräulein Lise ist ja längst nicht mehr da«, begann er, »und so habe ich mir die Freiheit genommen, wieder Ihr Haus aufzusuchen.«
»Sie scheinen noch immer böse auf mich zu sein, Herr Ulrich.«
»Herr Doktor, ich war nie Löse ... ich hab es ja eingesehen, daß Sie damals vollkommen recht hatten. Ich bin gekommen, mir in meiner jetzigen recht schweren Lebenslage Ihren Rat zu erbitten. Ich habe bereits alle Schritte unternommen, um aus dem Priesterhaus auszutreten.«
»Pardon, Herr Ulrich, wie komme ich dazu, Ihnen in dieser Sache einen Rat zu erteilen. Da würde ich direkt einen Keil zwischen Sie und Ihren Vater treiben, das kann ich, das darf ich nicht tun!«
Ulrich sah schweigend vor sich hin.
»Ich habe auf Ihre Güte, auf Ihr Wohlwollen gerechnet«, sagte er, »ich will Sie nicht zum Gesandten an den Vater erbitten, die Sache mache ich schon allein aus. Heute teile ich ihm meinen unabänderlichen Entschluß mit. Etwas anderes ist es, das ich mir von Ihnen erbitte. Ich gedenke die Laufbahn des Beamten einzuschlagen und habe gehört, daß Sie von Ihrer eigenen Amtstätigkeit her noch großen Einfluß in den Kreisen der höheren Beamtenschaft besitzen. Man hat mir gesagt, ein gutes Wort, das Sie für mich einlegen, würde es mir sehr erleichtern, den neuen Lebensweg einzuschlagen, den Weg hinaus in die Freiheit, den Weg zum eigenen Leben. Und um dieses Wort Sie zu bitten, Herr Doktor, bin ich hergekommen.«
»Sie stellen mir eine schwere Aufgabe, ich kenne wohl viele Leute, die Ihnen auf mein Wort hin in der gewünschten Weise behilflich sein würden, aber es ist mir jetzt eine Unmöglichkeit, Ihnen eine Zusage zu machen. Sagen Sie mir, wie sind Sie überhaupt auf den Gedanken gekommen sich gerade an mich zu wenden?«
»Das weiß ich fast selbst nicht«, sagte verlegen Ulrich, »es war mir zumute, als müßte ich gerade zu dem kommen, in dessen Haus ich den Mut zum Glück gefunden habe.«
Thorn sah in seiner gewohnten Art lange schweigend vor sich hin.
»Wenn ich das gewußt hätte, daß dieses Mädel mir solche Ungelegenheiten bereiten würde, ich hätte die Krabbe wirklich, nicht eingeladen«, sagte er und schüttelte kummervoll sein weises Haupt.
»Da ist doch Fräulein Lise nicht schuld daran«, erwiderte eifrig Herr Ulrich. »Den Gedanken, dem mir aufgezwungenen Beruf zu entrinnen, trug ich längst in mir: es zu tun, dazu fand ich erst den Mut, als ich Ihre Nichte kennenlernte!«
»Wenn Sie dann Hofrat geworden sind, werden Sie Lise heiraten – selbstverständlich – das scheint mir in der ganzen Affäre die Hauptsache zu sein!«
Herr Ulrich zeigte in diesem Moment wieder die bekannte, gesunde Gesichtsfarbe.
»Ich will sie sogar etwas früher heiraten, will aber mein Bestes daransetzen, sie früher oder später zur Frau Hofrätin zu machen«, sagte er dann. »Aber das ist ja eine Sache, an die heute noch gar nicht zu denken ist.«
Nachdem Herr Dr. Thorn einen längeren Spaziergang in der Museumshalle gemacht hatte, blieb er plötzlich vor Ulrich stehen.
»Heute kann ich Ihnen, junger Freund, in der besprochenen Angelegenheit gar nichts sagen. Erst wenn Sie mit Ihrem Herrn Vater sich endgültig darüber auseinandergesetzt haben, können Sie zu mir kommen. Und dann ist es auch noch recht ungewiß, ob das, was ich für Sie unternehmen werde, irgendeinen Erfolg haben wird! ... Und dann, wovon wollen Sie leben – in den ersten Jahren Ihrer Anstellung bekommen Sie ja keinen Kreuzer Gehalt – der Staat macht's eben nicht billiger –, was tun Sie, wenn Ihnen Ihr Herr Vater allen Zuschuß entzieht?«
»Von meiner Mutter her besitze ich einige tausend Kronen; ich hoffe, sie werden mir für die Zeit genügen!«
»Also gut, mein verehrter junger Herr. Trachten Sie zuerst so gut als möglich mit Ihrem Herrn Vater auseinander zu kommen, früher rühre ich keine Hand! Und eines bitte ich mir noch aus: Sie dürfen unter keiner Bedingung Ihrem Herrn Vater gegenüber erwähnen, daß Sie an mir eine Stütze finden würden. Erst, wenn Sie das alles geordnet haben, dürfen Sie wieder zu mir kommen! Wann soll die Auseinandersetzung zwischen Ihnen beiden stattfinden?«
»Noch heute abends! Ich habe vorher noch einen Weg, der mir recht schwer fällt, den Weg zum Herrn Pfarrer. Als ich. noch ins Gymnasium ging, hat er sich redlich mit mir Mühe gegeben, und wenn ich in den klassischen Sprachen, wie meine Lehrer behaupteten, Ausgezeichnetes geleistet habe, so ist dies zum großen Teil auch sein Verdienst, ich erachte es als meine Pflicht, auch ihn von meinem Vorhaben in Kenntnis zu setzen!«
»Richtig, sehr richtig«, bestätigte Herr Dr. Thorn, »er wird Ihnen auch ein besserer Gewissensrat sein, als ich es kann!«
Herr Ulrich ging. Als Frau Pauline hörte, wie er sich im Flur von dem Bruder empfahl, kam sie heraus, um sich! mit einigen liebenswürdigen, aber recht respektablen Worten von dem jungen Herrn zu empfehlen.
»Das wird einmal ein hübscher Pfarrer werden«, sagte sie, als Herr Ulrich das Haus verlassen hatte.
»Glaub' nicht«, meinte kurz Herr Dr. Thorn und ging in sein geliebtes Museum.
»Nette Geschichten das«, brummte er vor sich hin. »Da wird noch eine schöne Pastete daraus werden. Lisel, Lisel, was hast du mir angetan!«
Der Herr Pfarrer war sehr erstaunt, als Herr Ulrich sein Zimmer betrat.
»Das ist etwas Seltsames, Ulrich«, sagte freundlich der alte Herr. »Schön, daß Sie Ihren alten Lehrer nicht vergessen!«
»Ich sollte Sie vergessen, Herr Pfarrer ... meinen einstigen Lehrer? Ich komm zu Ihnen, so wie damals, da ich noch ein grüner Junge war«, sagte Ulrich.
»Auch gut, werde sofort meinen alten Cicero heraussuchen, Ulrich.«
»Nein, Herr Pfarrer, heute brauch ich eine andere Unterweisung.«
»Ich kann auch mit Griechisch dienen, lesen wir einen Gesang aus der Odyssee; sehr passend wäre die Heimkehr des Helden Ulysses nach Ithaka«, schlug der joviale alte Herr vor.
Die ausgezeichnete Stimmung des alten, gütigen Herrn berührte Ulrich äußerst peinlich; sie schien ihm eine höchst unpassende Einleitung zu der nachfolgenden ernsthaften Szene zu sein.
»Herr Pfarrer, die Erinnerung an jene Stunden, da Sie sich mit mir dummen Jungen immer in den Ferien abmühten, ist mir jetzt recht, recht peinlich!«
»So, so? ... Ah ... warum denn?«
»Ich stehe heut als Undankbarer vor Ihnen«, sagte Ulrich.
»So? Ja ... was soll das heißen ... was meinen Sie damit, mein Bester?«
»Herr Pfarrer ... seien Sie mir nicht böse ... aber ich kann nicht anders ... ich kann nicht Priester werden. Bevor ich den letzten entscheidenden Schritt tue, mußte ich zu Ihnen kommen! ...«
Der Pfarrer sah dem Jüngling lange in das schmerzbewegte Antlitz.
»Also, du kommst zu mir ... mein Junge ... als Undankbarer! Du entschuldigst; aber wenn man jemand ordentlich seine Meinung sagen will, so geht das mit dem Du-Wort entschieden leichter. Aber vorerst eine Frage: Glaubst du mir damit eine Neuigkeit mitzuteilen?«
Ulrich sah verwundert auf den alten Herrn.
»Das hab ich längst kommen sehen. Sag mir, Ulrich, nur eines vorher, bevor wir weiterreden. Hand aufs Herz, hab ich dich jemals gedrängt, Priester zu werden?«
»Nein, Herr Pfarrer ... niemals ... niemals! Einzig und allein der Vater war's!«
»Dann ist's recht ...! Und warum kommst du gerade zu mir, Ulrich ... Hast du es dem Vater bereits gesagt?«
»Heut sag ich's ihm ... ich weiß ... er wird mich wieder hinausjagen wie damals ... aber, Herr Pfarrer, ich kann nicht anders ... Aber ich mußte zu Ihnen kommen ... Hundert- und hundertmal hab ich mir die Frage vorgelegt, ob das auch recht ist, was ich nun tue, und ich hab nur eine Antwort auf all diese Fragen gehabt: ... ja ... ja ... denn du hast ein Recht auf dich selbst ... Ich bitte, Herr Pfarrer, ich bitte meinen Lehrer um ein gütiges Wort ... um trostreichen Zuspruch in meiner argen Herzensnot.«
Der alte Herr saß beim Tische und sah zum Fenster hinaus. Noch immer trieb der Sturm wirbelnd die weißen Flocken ans Fenster, und in dem großen Kachelofen in der Ecke knackten die Fichtenscheite, sang und pfiff der wilde Wintersturm.
Draußen Schnee und Eiswinter überall, und da hier ein junges Menschenherz, das der Frühlings stürm des Lebens durchtobte.
Und in dem Summen und Träumen, das ihn erfüllte, fiel ihm eine Geschichte aus der eigenen, so lange vergangenen Jugendzeit ein. Und wie aus weiter, ewigweiter Ferne stieg ein schönes, einst so heiß geliebtes Bild vor ihm empor. und er erinnerte sich an die tausend und abertausend Tränen, die er in jener schweren Zeit geweint, und an die große, feierliche Stunde seiner ersten Messe, da sie mit Lichterglanz, angetan mit goldschimmernden Gewändern, und unter Pauken- und Trompetenschall seine erste und einzige Liebe begruben.
»Ulrich«, sagte er aufstehend, und seine Stimme klang so sonderbar weich, es war als ob der alte Herr mühsam kämpfe, mächtig hervordrängende Tränen zurückzuhalten, »ich bin mir selber unklar, was ich dir da raten soll. Aber ich meine selbst, es ist besser für dich und für deinen Beruf, wenn du zur rechten Zeit gehst, eh' dich seine Fesseln untrennbar binden. Es kann der Fall sein, daß du dein ganzes Lebensglück dahingibst, um vielleicht ein schlechter Priester zu werden. Gottes Wege sind viel verschlungen, vielleicht ist dein überquellendes Gefühl ein Wegweiser, den dir der Hebe Gott ins Herz gestellt hat, damit du zur rechten Zeit noch den Weg hinaus zu dem Glück findest, das du suchst, und das vielleicht von Gott dir vom Anbeginn bereitet ist.«
Er reichte Ulrich die Hände hin.
»Dank, tausend Dank«, sagte Ulrich und bedeckte die beiden alten feinen Hände mit vielen Küssen.
»Und wenn dein Herr Vater allzusehr zu toben anfängt, dann werde ich mit ihm reden«, tröstete der alte gütige Herr.
Ulrich wollte Abschied nehmen, er brachte kein Wort hervor.
»Nur ruhig, ruhig, Ulrich«, sagte der Herr Pfarrer. »Wenn du auch just kein Priester wirst, so vertraue doch allerwege auf Gott, der dich zu deinem Besten leiten und führen wird.«
Es lag eine wunderbare Milde und Güte in den Worten des alten Herrn.
»Jetzt mußt du aber noch ein Viertelstündchen dableiben, Ulrich, mit diesem Gesiebt kannst du nicht fortgehen; du siebst ja aus wie ein Gymnasiast, der bei der Prüfung durchgefallen ist und der nun die schrecklichsten Selbstmordideen hat.«
Er ging zur Kredenz und entnahm dem alten Kasten eine Flasche nebst zwei sehr fein geschliffenen Gläschen.
»Es ist eine ausgezeichnete Herzstärkung, Ulrich, ich gebrauche sie auch dann und wann. Uralter Kognak, ein Geschenk, mit dem ein alter und sehr vermögender Herr, nämlich dein verehrter Herr Papa, mir zu meinem Namenstag seine Anerkennung für mein hierörtliches Wirken ausdrückte. Trinke, Ulrich!«
Ulrich trank.
»Du wirst einen schweren, harten Kampf mit deinem Vater bestehen müssen; bedenke aber mein Junge auch bei seinen härtesten Worten, daß er ja doch dein Vater ist, und daß du ihm eine Freude, vielleicht seine schönste Lebenshoffnung zerstörst, wenn du nicht Priester wirst!«
Der Herr Pfarrer versorgte die Kognakflasche im Schranke. In diesem Moment erschütterte ein arger Windstoß fast das ganze Haus. Der Pfarrer trat zum Fenster, die Flocken wirbelten so dicht draußen im Garten, daß man nicht drei Schritte weit sehen konnte.
»Na, heut geht's wild zu«, sagte er, »Sturm, draußen und Sturm im Herzen ... nicht wahr Ulrich? Aber weißt du, Junge, was mir eingefallen ist? Wenn der Frühling gekommen sein wird, und im hellen Sonnenschein alles hier blüht und grünt, so werden wir es uns gar nicht vorstellen können, daß es vor wenigen Monaten da so wild zugegangen ist! Und wir werden fröhlich im Herzen durch die Wege des Gartens gehen und uns freuen, wenn der Kirschbaum seine weißen Blüten uns auf Kopf und Schultern fallen läßt. Merk dir's, Ulrich, im Menschenlehen und in der Natur da draußen gilt das gleiche Gesetz. Es muß erst Winter werden, ehe der Frühling kommen kann. Und so ein rechter Herzensfrühling kann auch nur gedeihen, wenn vorher wilde Stürme übers Herz gegangen sind!«
Es war eine wunderbar milde, eindringliche Predigt, die der alte Herr Pfarrer hielt.
Ulrich stand auf und küßte wie in den jungen Tagen dem alten Herrn die Hand.
»Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer«, sagte Ulrich, »wollte Gott, ich könnte zu meinem Vater so kommen, wie ich zu Ihnen gekommen bin, und dann von ihm so gehen, getröstet und voll froher Zuversicht, wie ich jetzt von Ihnen gehe!«
Der Pfarrer begleitete ihn bis vor das Haustor hinaus.
»Also sei gescheit, denk immer, er ist dein Vater, den du ehren mußt nach Gottes Gebot, und wenn du hinaus gehst in das Leben und dir den neuen Weg zum Glück suchst, dann bleib brav, und der liebe Gott wird dich auch auf diesem anderen Weg segnen!«
Er reichte ihm die Hand zum Abschied hin; trotzdem drüben auf der Straße Leute gingen, küßte Ulrich die Hand mit heißem Dank. Dann wendete er sich schweigend um und ging. Der Pfarrer sah ihm noch lange nach.
Als Ulrich nach Hause kam, fand er den Vater oben im großen Zimmer. Ulrich grüßte, er dankte ihm nicht einmal.
»Was hast du bei Dr. Thorn zu tun gehabt?« fragte er dann plötzlich, »man hat dich aus seinem Hause herausgehen sehen.«
»Ich hab ihn gebeten, er möge für mich sorgen, daß ich bald irgendeine Anstellung beim Staat erhalte!«
»Und er hat es dir natürlich sofort zugesagt – läßt sich ja denken! Demi wenn der mir etwas antun kann, so tut er's!«
»Das hab ich nicht gefunden. Er will vorläufig überhaupt nichts für mich tun, erst dann, wenn ich mit dir ins reine gekommen bin!«
»So gehst du also wirklich aus dem Priester haus hinaus – es ist das letzte Mal, daß ich dich frage.«
»Ja, ich gehe ...«
»Und was wirst du jetzt tun?«
»Ich muß mich auf meinen neuen Beruf vorbereiten, denn von dem, was ich bis jetzt gelernt habe, werde ich nicht viel brauchen können!«
»So geh ... geh nur! Und merk dir's: Zu mir darfst du nicht mehr zurückkommen! Mein Haus ist dir für immer verschlossen. Und schau, daß du bald hinauskommst! Was suchst du denn überhaupt noch da?«
Der Alte war zornrot im Gesichte geworden und wies drohend mit der ausgestreckten Hand zur Tür.
Ulrich wollte schon antworten – aber ihm kam die Bitte des Herrn Pfarrers in den Sinn: »Bedenke, daß er dein Vater ist«, er unterdrückte das harte Wort, das auf seinen Lippen lag, und sagte mit wunderbarer Ruhe:
»Daß du mich hinauswerfen wirst, wenn ich in der Sache zu dir komme, habe ich längst gewußt. Ich hoffe, daß einmal die Zeit kommen wird, wo du froh und stolz sein wirst, wenn dein Sohn wieder zu dir zurückkehrt!«
»Niemals ... schau nur, daß du bald weiterkommst ...« schrie Kirchmaier, »oder ich werfe dich die Stiege hinab«, und hob wütend die geballte Faust.
Ulrich stand ruhig vor seinem Vater: »Dem Herrn Pfarrer habe ich es heut versprochen, immer daran zu denken, daß du mein Vater bist. Mach es mir nicht gar so schwer, mein Versprechen zu halten. Ich will mir nur einige Sachen mitnehmen, die mir wert und lieb sind, da sie von der Mutter stammen. Sie sind mein Eigentum.«
»Also mit dem Herrn Pfarrer hast du gesprochen, und der hat dich nicht auch gleich hinausgeworfen?« fragte Herr Kirchmaier.
Ulrich gab keine Antwort darauf, er ging in seine Stube hinüber und raffte in seine Tasche zusammen, was an teuren Angedenken an die verstorbene Mutter noch vorhanden war.
Da waren Ringe, eine alte, goldene Spindeluhr, und zuletzt ein Päckchen vergilbter Briefe. Sie waren nach dem Datum geordnet und er konnte es sich nicht versagen, den letzten durchzulesen.
»Es wird mir der Gedanke an das Sterben recht schwer, leichter würd' ich dahingehen, wenn du schon aus allem draußen wärst. Und der ewige Streit mit dem Vater liegt mir schwer auf dem Herzen. Ich will ja selber nicht, daß du ein Geistlicher wirst, wenn du nicht Lust zu dem Berufe hast, denn ich glaube immer, in unseren Herzen hat Gott selber einen Wegweiser aufgerichtet, der uns sagt, welchen Weg wir gehen sollen!«
Er faltete den Brief zusammen und legte ihn in die Tasche zu den anderen. Wenn die gute, stille Frau noch lebte, dann würde jetzt vieles, vieles anders sein.
Als er mit dem Packen fertig war, überlegte er, ob er noch einmal vom Vater Abschied nehmen sollte. Er erinnerte sich der Worte des Pfarrers und ging hinüber in die große Staatsstube. Er fand sie leer. Er winkte noch einmal tiefbewegt zum Bilde der toten Mutter empor, das dort am Ehrenplatze über dem Diwan hing. Dann schritt er leise zur Tür.
Auf einmal fiel ihm ein: »Wirst doch nicht wie ein Dieb aus dem Vaterhause schleichen«, und mit festen Schritten ging er durch den Gang und hinunter über die Stiege.
»Wann werd' ich einmal den Weg zurückfinden in die Heimat?« fragte er sich bekümmert. Und da stieg mit schimmernder Pracht das Bild des schönen Mädchens in ihm empor: leichteren Schrittes als vorher ging er weiter, ihm war zumute, als eile er jetzt dem großen schönen Glück entgegen.
Verborgen in einer dicht verschneiten Hecke des Hausgartens stand Herr Kirchmaier. Mit finsteren Blicken sah er dem Jüngling nach, der so fest und sicher dahinschritt, und es tat ihm das Herz darüber weh, daß sich der Sohn so leicht vom Vaterhaus löse.