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47. Der Fall Chartums und Gordons Ende.

Nach der Absendung des Tagebuchs senkt sich auf die letzten Wochen Chartums undurchdringliche Nacht herab. Von Gordons Hand haben wir keine Zeile mehr, und keine Nachforschungen werden imstande sein, vollständiges Licht über seinen letzten Kampf zu bringen.

Durch Überläufer aber haben sich noch einige wenige Nachrichten erhalten. Während der vierzig Tage, die sich die Stadt noch nach dem 14. Dezember hielt, wurden 15 000 Einwohner in das Lager des Mahdi geschickt, um sie vor dem Tode zu retten. Daher reichte der Proviant für die Zurückbleibenden länger, als man berechnet hatte. Der Rest von 14 000 Bürgern und Soldaten wurde auf halbe Rationen gesetzt; der Entsatz mußte ja jetzt nahe sein! Omdurman, ein Fort am linken Ufer des Weißen Nils, das schon länger von der Stadt abgeschnitten war, fiel, und die Truppen des Mahdi drangen nun von allen Seiten heran. Entflohene Sklaven haben berichtet, die ägyptischen Offiziere hätten kapitulieren wollen, aber Gordon habe seine Zustimmung unter keiner Bedingung gegeben. Er hatte seine Rechnung mit der Welt abgeschlossen, und solange er am Leben war, wollte er die Flagge nicht streichen, auch wenn ihn alle verließen. Als aller Proviant verzehrt war, lebte man von Ratten und Mäusen, Häuten und Leder, und entrindete die Stämme der Palmen, um die weichen Fasern in ihrem Innern zu essen. Trotz alledem stand der weiße Pascha noch immer erhobenen Hauptes und mit unbewölkter Stirn vornan im Feuer, um seine Leute zu heldenmütiger Verteidigung anzufeuern.

Inzwischen rückte die Entsatzkolonne südwärts und erreichte am 20. Januar 1885 Metemma, 160 Kilometer von Chartum. Hier stieß sie auf Gordons Dampfer, die schon seit vier Monaten vergeblich gewartet hatten. Vier Tage später gingen zwei der Dampfer nach Chartum ab.

Warum wartete man ganze vier Tage, wo doch jede Stunde Gordon das Leben kosten konnte? Vor kaum einem Monat war ein Bote Gordons bei dem Heere eingetroffen und hatte einen Zettel mit den Worten gebracht: »In Chartum alles wohl, kann mich noch jahrelang halten.« Daraus schloß man, die Lage könne noch nicht gefährlich sein. Erst später ist man darauf gekommen, den Sinn dieser Worte Gordons richtig zu deuten. Er wußte, daß der Bote dem Mahdi in die Hände geraten würde, und der Mahdi wußte, daß die Stadt jeden Tag fallen konnte. Gordon wollte daher den Boten vor Gefangenschaft und Tod bewahren; der Mahdi mußte ja den Mann mit Vergnügen laufen lassen, denn seine Botschaft war nur dazu angetan, den Marsch des Entsatzheeres zu verlangsamen.

Am 24. Januar erst fuhren die beiden Dampfer aus Metemma ab; auf halbem Wege mußten sie über einen Katarakt hinüber und verloren dadurch wieder zwei Tage. Erst am 28. hatten sie die Wasserfälle hinter sich, und die Mittagssonne schien hell, als die englischen Offiziere Chartum auf der Landspitze zwischen dem Weißen und dem Blauen Nil vor sich liegen sahen. Alle Ferngläser richteten sich auf den hohen Palast; man wagte nicht zu sprechen, kaum zu atmen. Da stand der Palast Gordons, aber – die Flagge war gestrichen!

Dennoch fuhren die Dampfer weiter. Aber kein Freudengeschrei begrüßte die Besatzung als heißersehnte Befreiung. Als sie in Schußweite waren, begannen die Derwische auf sie zu feuern, siegestrunkene, wilde Scharen sammelten sich am Ufer, Chartum war in der Gewalt des Mahdi – die Hilfe kam achtundvierzig Stunden zu spät!

Zwei Tage vorher, am 26. Januar, hatten die Derwische, zur äußersten Wut gereizt durch den hartnäckigen Widerstand, ihre beständigen Verluste und den unerschöpflichen Kugelregen aus Chartum, sich zu einem letzten Sturmlauf gesammelt. Der Angriff geschah während der dunkelsten Nachtstunden nach Untergang des Mondes. Die Verteidiger wurden überrascht, obendrein waren sie erschöpft und infolge der Hungersqual gleichgültig gegen ihr Schicksal. Sie leisteten kaum mehr Widerstand, als die Derwische in die Stadt einbrachen und ihr wildes Geheul in den Straßen und Gassen erscholl.

Während die rasende Meute der blutgierigen Derwische sich dem Palast Gordons zuwälzte, lauschte im Lager des Mahdi ein zweiter Europäer mit fieberhafter Spannung auf jeden Ton, der von den Befestigungswerken Chartums herüberdrang. Mit vierzehn Meter langen, schweren Ketten, mit Hals- und Fußeisen gefesselt lag er vor seinem Zelt und bedurfte seiner ganzen bewundernswerten Energie, um den lauernden Wächtern nicht seine Erregung zu verraten. Auf den Wällen der bedrängten Stadt fiel wahrscheinlich auch für ihn die Entscheidung über Leben und Tod!

Dieser Gefangene des Mahdi war ein früherer österreichischer Offizier namens Rudolf Slatin. Er war Ende 1878, dem Rufe Gordons folgend, in den Dienst der ägyptischen Regierung getreten, und dank seiner Gewandtheit und Tapferkeit herrschte er binnen wenigen Jahren als Gouverneur und Militärkommandant über die ägyptische Provinz Darfur. Hier war es seine Aufgabe, die nomadisierenden und räuberischen Araber im Zaum zu halten, und seiner unerschrockenen Energie gelang es, nach und nach eine Reihe aufrührerischer Stämme mit starker Hand niederzuwerfen. Als aber der Mahdi die Fahne des Propheten erhob und die Völker des Sudans zum heiligen Krieg aufrief, fielen auch die bisher treuen Vasallen der ägyptischen Regierung ab, und nach wenigen Wochen stand Slatin mit seinen spärlichen und obendrein unzuverlässigen Truppen mitten im Herd des Aufruhrs, der außerdem noch von persönlichem Haß und Rachedurst gegen den strengen Gouverneur geschürt wurde. Ein Entrinnen gab es nicht mehr, und nach tapferer Verteidigung mußte sich Slatin im Dezember 1883 mit dem Rest seiner Soldaten der siegreichen Übermacht des Mahdi ergeben.

Zuerst hielt der schlaue Mahdi ihn in erträglicher Gefangenschaft; dieser hohe Beamte der ägyptischen Regierung, den man außerdem für den Neffen Gordons hielt, war ihm eine zu wertvolle Geißel. In überlegener Kriegslist hatte sich Slatin schon als Gouverneur, um über seine eingeborenen Truppen stärkere Macht zu haben, äußerlich zum Islam bekannt; der Fanatismus der Mahdisten hatte daher keinen Grund mehr, diesen »Christenhund« wie so viele andere gewaltsam beiseite zu schaffen.

Slatin hatte sich in der Hoffnung ergeben, bei der Belagerung Chartums zu Gordon entfliehen zu können. Aber der Mahdi durchschaute ihn und hatte ihn vor Chartum in Eisen legen und aufs schärfste bewachen lassen, um jeden Fluchtversuch und jede Verbindung mit Gordon unmöglich zu machen. So war dieser Gefangene der einzige überlebende Europäer, der die Belagerung Chartums aus nächster Nähe und mit voller Übersicht über die Kräfte der kämpfenden Parteien miterlebte. Was an schriftlichen Botschaften Gordons in die Hände der Derwische fiel, wurde ihm vorgelegt, denn im Lager des Mahdi war er allein imstande, Gordons Briefe und Rapporte zu lesen. Nur seine ungewöhnliche Geistesgegenwart und erstaunliche dialektische Gewandtheit beschützten ihn vor dem Schicksal, zur eigenen Rettung durch Übersetzung jener Briefe Verrat an den Seinen üben zu müssen. Der Mahdi war ja auch durch Überläufer und durch Nachrichten geheimer Anhänger in Chartum selbst vollauf über den unhaltbaren Zustand der belagerten Stadt unterrichtet. Aber ebenso genau kannte nun Slatin die Lage Gordons, und als am 26. Januar 1885 das Heer des Mahdi unter dem Schutz der finstern Nacht und so lautlos wie möglich zum Sturm auf Chartum ausrückte, bemächtigte sich des zurückbleibenden Gefangenen, der bis dahin Fesseln und Hunger, Verachtung und Spott seiner Peiniger mit stoischem Gleichmut ertragen hatte, eine von Stunde zu Stunde wachsende Aufregung.

Als er gegen Morgengrauen vor Abspannung ein wenig eingeschlafen war, wurde er plötzlich durch das Geknatter der Gewehre und die ersten Kanonenschüsse aufgeschreckt. Zu sehen war in der Dämmerung noch nichts. Nach einigen Salven fielen nur noch vereinzelte Schüsse – dann wurde alles wieder ruhig. Das konnte doch unmöglich der Sturm auf Chartum sein?

Die Sonne stieg empor, ringsum alles still – die Wächter hatte die Neugier fortgetrieben. Da plötzlich Geschrei und Jubelrufe, die Wächter kamen zurück mit der Nachricht: Chartum ist erstürmt und in den Händen der Mahdisten.

Diese Hiobspost trieb Slatin aus seinem Zelt. Eine große Menschenmenge hatte sich vor den Quartieren des Mahdi und seiner Kalifas angesammelt. Sie schien sich in Bewegung zu setzen und sich dem Verhau zu nähern, mit dem Slatins Zelt umgeben war. Und wirklich nahm sie jetzt die Richtung auf Slatins Zelt. Voran schritten drei Negersoldaten, von denen einer ein blutiges Bündel in den Händen trug. Hinter ihnen drängte sich die heulende Menge. Die Sklaven traten in die Umzäunung ein, blieben mit grinsender Miene vor Slatin stehen, der eine schlug das Tuch auseinander und zeigte dem entsetzten Gefangenen – das Haupt General Gordons!

siehe Bildunterschrift

Mahdisten überbringen dem gefangenen Slatin Pascha Gordons Haupt.

siehe Bildunterschrift

Nilpferdfang am Ngami-See

Das Blut schoß Slatin zu Kopfe, sein Atem stockte; mit äußerster Anstrengung behielt er aber so viel Selbstbeherrschung, ruhig in das fahle Antlitz zu sehen. Die blauen Augen waren halb geöffnet, der Mund hatte seine natürliche Form behalten, das Gesicht war ruhig, die Züge nicht verzerrt; das Kopfhaar und der kleine Backenbart waren beinahe weiß.

»Ist das nicht der Ungläubige, dein Onkel?« fragte der Sklave, den Kopf emporhaltend.

»Und was weiter?« antwortete Slatin ruhig. »Jedenfalls ein tapferer Soldat, der auf seinem Posten gefallen ist und ausgelitten hat. Wohl ihm!«

»Du lobst den Ungläubigen noch! Du wirst die Folgen schon erfahren«, murrte der Sklave und entfernte sich langsam mit dem schrecklichen Wahrzeichen des Triumphes des Mahdi. Die Menge wälzte sich heulend hinter ihm drein.

Slatin schleppte sich in sein Zelt zurück und warf sich zum Sterben matt auf den Boden. Chartum gefallen! Gordon tot! Das also war das Ende des Mannes, der seinen Posten mit solchem Heldenmut verteidigt hatte, eines Mannes, der von vielen vielleicht zu hoch emporgehoben und vergöttert, von vielen verkannt und verlästert, durch seine außerordentlichen Eigenschaften die Welt aber mit seinem Ruhme erfüllt hatte! Was nützte jetzt die siegreiche Avantgarde, was die ganze englische Armee?

Durch Freunde, die sich Slatin durch seine Freigebigkeit auch im Lager der Feinde zu gewinnen gewußt hatte, erfuhr er dann nach und nach alle Einzelheiten der schrecklichen Nacht. Der Überfall hatte Gordon nicht unvorbereitet gefunden; aber er schien nicht erwartet zu haben, daß der Sturm so rasch und am frühesten Morgen unternommen werden würde. Zur Täuschung des Feindes und zur Ergötzung seiner Mannschaft ließ er noch am Abend vorher ein Feuerwerk abbrennen, und gerade als der Mahdi den Sturm vorbereitete, stiegen die ersten Raketen über Chartum in buntem Farbenspiel zum Himmel empor, und die Musik spielte lustige Weisen, um die niedergebeugten Gemüter etwas aufzurichten.

Das Feuerwerk war abgebrannt, die Musik schwieg, und die Verteidiger Chartums schliefen. Aber die Feinde waren nur allzu wach! Sie kannten die Befestigung, wußten genau, wo sie stark und mit regulären Truppen besetzt, wo sie schwach und nur von den Stadtbewohnern verteidigt war. Gegen diese schwachen Stellen der Befestigung, hauptsächlich am Weißen Nil, richteten sie beim ersten Morgengrauen den Hauptangriff. Die Verteidiger flohen, und als die Soldaten auf der Befestigungsmauer die Mahdisten in ihrem Rücken in die Stadt eindringen sahen, verließen auch sie ihren Posten und ergaben sich meist freiwillig und ohne Kampf.

Die Mahdisten trachteten vor allem, die Kirche und das Palais zu erreichen, weil man dort Schätze und in dem letztern vor allem Gordon Pascha zu finden hoffte. Die im Erdgeschoß befindlichen Diener des Generals wurden niedergemetzelt. Er selbst erwartete die Feinde auf den obersten Stufen der zu seinen Gemächern führenden Treppe. Ohne sich um seinen Gruß zu kümmern, stieß ihm der erste der Angreifer, die Stufen emporspringend, die Lanze in den Leib. Gordon fiel mit dem Gesicht nach vorn lautlos auf die Treppe und wurde von seinen Mördern bis vor den Eingang des Palais geschleppt. Hier wurde mit einem Messer sein Haupt vom Rumpf getrennt und an den Mahdi gesandt, der es Slatin zu zeigen befahl; der Rumpf wurde den Fanatikern preisgegeben, und Hunderte dieser Unmenschen versuchten die Spitzen ihrer Lanzen und die Schärfe ihrer Schwerter an dem gefallenen Helden, der in wenigen Minuten einer unkenntlichen blutigen Masse glich.

Lange Zeit nachher noch waren die Spuren dieser blutigen Tat vor dem Palais sichtbar, und die schwarzen Blutflecke auf der Treppe des Palastes kennzeichneten den Ort, wo man Gordon gemordet; sie wurden erst entfernt, als der Nachfolger des Mahdi, der Kalifa, das Regierungspalais zur Wohnung seiner Weiber einrichten ließ.

Als man dem Mahdi den Kopf des Generals Gordon brachte, erklärte der Heuchler, es wäre ihm lieber gewesen, wenn man Gordon lebendig gefangen genommen hätte, da er ihn »nach seiner Bekehrung« gegen gefangene Derwische habe austauschen wollen. Aber wenn er wirklich befohlen hätte, Gordon zu schonen, würde niemand von seinen Scharen gewagt haben, seinem Befehl zuwiderzuhandeln.

Die Greueltaten der Derwische in der eroberten Stadt spotten jeder Beschreibung. In den ersten Tagen, in denen der Mahdi Chartum der Plünderung überließ, wurden nur Sklaven und Sklavinnen und die hübschen Frauen und Mädchen der freien Stämme verschont, alle andern hatten es nur einem außerordentlichen Zufall zu verdanken, wenn sie mit dem Leben davonkamen. Viele der Einwohner verschmähten es noch weiterzuleben; noch viel mehr wurden von ihren eigenen Dienern und ehemaligen Freunden hingemordet oder fielen unter dem Schwert von Verrätern, die der raub- und mordlustigen Horde als Führer dienten.

Es würde Bände füllen, versichert Slatin Pascha selbst, wollte man im einzelnen die grauenhaften Mordtaten erzählen, die in der wehrlosen Stadt verübt wurden. Auch die Überlebenden gingen keinem glücklichen Los entgegen. Nachdem alle Häuser besetzt waren, fing man an, nach den verborgenen Vermögen zu forschen; da galt kein Leugnen, keine Beteuerung; wer im leisesten Verdacht stand, etwas zu besitzen und verborgen zu halten – und wer stand nicht unter diesem Verdacht – wurde so lange gemartert, bis er das Versteck angegeben oder, wenn er wirklich nichts zu gestehen hatte, bis er unter den Händen seiner Peiniger starb oder bis diese ermüdeten.

Und die englisch-ägyptische Entsatzexpedition, deren Schiffe bereits im Angesicht Chartums lagen? Mit dem Fall Chartums und Gordons Tod war ihre Aufgabe beendet, und unter der einheimischen Bedienungsmannschaft der Dampfer waren so viele Verräter, daß die englische Bemannung genug mit sich zu tun hatte, um einer Umzingelung durch die siegestrunkenen Mahdisten zu entgehen, deren Übermacht die Entsatztruppen nicht annähernd gewachsen waren. Sie machten daher schleunigst wieder kehrt und überließen den Sudan damit endgültig dem Mahdi, der Omdurman nunmehr zur Hauptstadt seines von der ägyptischen Regierung nicht mehr gefährdeten Reichs erwählte.


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