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Am 15. August 1885 war ich mit dem Dampfer nach Petersburg gefahren. Hier steigt man in den Eisenbahnzug, der südostwärts über Moskau geht, und vier ganze Tage lang sitzt man ruhig in seinem Kupee und läßt den Blick über die endlosen russischen Steppen hinschweifen. Stunde um Stunde rollt der Zug dahin, er qualmt aus dem Schornstein, er keucht und stöhnt über all die schweren Wagen, die seine Lokomotive schleppen muß. Schrilles Pfeifen durchschneidet die Luft, wenn eine Bahnstation kommt, und soeben gellend läutet die Glocke ein-, zwei- und dreimal, wenn die Wagen wieder auf das ebene Land hinausgleiten. In sausender Fahrt eilen wir an unzähligen Dörfern vorüber, in deren Mitte gewöhnlich eine weißgetünchte Kirche ihre zwiebelförmigen, grüngedeckten Türme emporreckt. Landgüter und Straßen, Flüsse und Bäche, fruchtbare Felder und Heumieten, Windmühlen mit sich drehenden Flügeln, Karren und Wanderer, alles verschwindet hinter uns, und viermal hüllen Dämmerung und Nacht das gewaltige Rußland in ihre dunkeln Schleier.
Endlich tauchen die himmelhohen Berge des Kaukasus wie eine hellblaue Wand vor uns auf. Die ganze Bergkette schwebt noch fast in der Luft; kaum läßt sich glauben, daß man schon am nächsten Tag seine Täler hinauffahren soll und über die Höhen hinweg, deren Gipfel sich bis über 5000 Meter erheben! Die Entfernung ist noch groß, aber mitten in dem Blau glänzt schon der silberweiße Kegel des Kasbek, eines der höchsten Berge des Kaukasus.
Endlich sind wir an der Endstation der Eisenbahn angelangt. Die Straße über das Hochgebirge ist 200 Kilometer lang. Meine Reisegesellschaft mietet einen Wagen, und auf jeder Poststation werden die Pferde gewechselt. Ich, der neue Hauslehrer, muß auf dem Bock sitzen. Eiligst geht es vorwärts, die Pferde berühren fast mit dem Bauche den Boden, so strecken sie die Beine, und an den Wegbiegungen heißt es sich festhalten, um nicht herab- und in einen Abgrund geschleudert zu werden. Welch ein Genuß für mich! Ich war ja zum erstenmal in meinem Leben in der Fremde!
Unaufhörlich begegnen uns Landleute mit Eseln oder Hirten mit Schaf- und Ziegenherden. Dort kommen kaukasische Reiter in schwarzen Schafpelzen, bis an die Zähne bewaffnet, hier die Postkutsche, mit Reisenden vollgepfropft; da wieder ein Heuwagen, den Ochsen oder graue Büffel ziehen.
Je höher wir dringen, desto schöner und wilder wird das Gebirge. Manchmal ist der Weg in die senkrechte Felswand eingesprengt; dann hängen schwere Felsmassen wie ein gewölbtes Dach über uns. Auf gefährlichen, steilen Abhängen, wo im Frühling Lawinen die Straße bedrohen, läuft sie durch gemauerte Tunnel, die die Lawine überspringt, wenn sie in sausender Geschwindigkeit den Berg hinabstürzt.
Nun ist der höchste Punkt der Straße erreicht, und Hals über Kopf geht es wieder abwärts. Nach achtundzwanzigstündiger Fahrt sind wir in Tiflis, der größten Stadt in Kaukasien, und einer der seltsamsten Städte, die ich je gesehen. Wie aneinandergeklebte Schwalbennester hängen die Häuser an den steilen Ufern des Kuraflusses, und auf den engen, schmutzigen Straßen wimmelt ein buntes Gemisch der fünfzig verschiedenen Völkerschaften, die Kaukasien bewohnen.
War die Straße über das Gebirge von hinreißender Schönheit, so kann man sich kaum ein öderes Land denken, als die Ebene, die wir, nun wieder auf der Eisenbahn, zwischen Tiflis und Baku durchqueren: unendlich weite Steppen und Wüsteneien, öde und graugelb; nur selten zeigt sich ein Zug langsam einherschreitender Kamele. Als wir uns dem Meere näherten, erhob sich ein heftiger Sturm. Der Staub wirbelte in Wolken auf und drang durch alle Ritzen in das Kupee hinein, die Luft war dick, schwer und erstickend heiß, draußen sah man nichts als einen grauen, undurchdringlichen Nebeldunst. Und das Schlimmste von allem: der Sturm kam von der Seite, und schließlich war die Lokomotive nicht mehr imstande, die Wagen vorwärtszubringen. Zweimal mußten wir halten, und bei einer Steigung der Bahn rollte der Zug sogar eine Strecke wieder zurück.
Trotz alledem erreichten wir endlich die Küste des Kaspischen Meeres, dessen klare, grüne Wellen sich haushoch erhoben und gegen das Ufer donnerten, und eines Abends langten wir in Baku an. 15 Kilometer weiter liegt Balakhani, das für sieben Monate zu meinem freiwilligen Verbannungsort bestimmt war.
Denn hier sollte ich einen Knaben unterrichten, der dieselbe Schule besucht hatte, an der ich wenige Wochen vorher mein Abiturientenexamen bestanden. Ich erhielt freie Station und sechshundert Kronen Gehalt! Wir studierten tapfer und fochten viel, faulenzten aber noch mehr. Was konnte man auch von einem Schüler verlangen, wenn der Lehrer weit lieber zu Pferde die Dörfer der Tataren ringsum aufsuchte, als dem Schüler die Aufgaben überhörte! Kurz, es war eine Prüfungszeit für uns beide, und wir betrachteten einander auch als Unglückskameraden. Meine Gedanken waren ganz anderswo, als bei schwedischer Geschichte, französischen Verben usw., und doch – bei der Rückkehr nach Stockholm bestand mein Zögling sein Examen! Der Schuldirektor war wohl ein sehr nachsichtiger Herr!
Ich erinnere mich jener Zeit noch so genau, als sei es erst gestern gewesen. Hoffnungslos quälte ich mich mit der russischen Grammatik, machte aber große Fortschritte im Persischen und lernte ohne alle Mühe tatarisch sprechen. Dabei brütete ich über dem Plan einer großen Reise nach Persien. Woher das Geld dazu kommen sollte, war mir freilich dunkel, denn ich besaß nur geringes Vermögen. Aber durch Persien mußte ich ziehen, und sollte ich mich als Tagelöhner verdingen und anderer Leute Esel über die Landstraßen treiben; das wußte ich!
Das Klima in Baku und Balakhani ist nicht das beste, der Sommer glutheiß und der Winter bitterkalt. Die Nordwinde fahren vom Meere aus über die Küste hin, und rheumatische Erkrankungen sind sehr häufig. Auch ich bekam einen gehörigen Gelenkrheumatismus, der mich einen Monat hindurch ans Bett fesselte. Ich war so krank, daß meine Mutter mir schon nachreisen wollte. Meine Knie schwollen an und schmerzten entsetzlich. Tag und Nacht wachte ein Arzt an meinem Bett und tat alles, um meine Schmerzen zu lindern. Dieser Arzt war ein alter polnischer Jude. Durch meine nächtlichen Fieberträume hindurch sah ich ihn im Zimmer umhergehen, still und schweigend, armselig gekleidet, ein Bild der Treue und Ergebenheit. Und als er seine Aufgabe beendet hatte, weigerte er sich, eine Entschädigung für seine Mühe anzunehmen! Ich solle das Geld lieber den Armen geben, meinte er. Noch heute steht der Alte deutlich vor mir mit seinem gefurchten Antlitz, seiner großen krummen Nase und den lang herabbaumelnden Schraubenzieherlocken an den Ohren; ich sehe noch seinen langen Rock, der einst schwarz gewesen, nun aber an den Nähten grün geworden und voller Mottenlöcher war. Jetzt ist er, glaube ich, tot, mein alter Jude, aber er gehört zu denen, die ich nie vergessen werde!