Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

41. Am Gestade der Gläubigen.

Vor Tau und Tag, wenn die nächtliche Dämmerung sich eben erst im Osten zu lichten beginnt, bin ich schon am Uferkai von Benares, miete mir ein Boot, das vier Männer mit Ruderstangen vorwärtsstoßen, und lasse mich aus dem Kajütendach in einen Korbstuhl nieder. Langsam den Kai entlangfahrend habe ich eine treffliche Aussicht auf diese seltsame Stadt, die sich am linken Gangesufer hinzieht, eine langgestreckte Masse zusammengeballter Gebäude, Häuser, Mauern und Altane und dazwischen zahllose Pagoden, Hindutempel mit hohen Türmen und überladener Architektur.

Von dem 30 Meter hohen Ufer führen breite Treppen zum Fluß hinunter, und Steindämme ragen gleich Brücken ins Wasser hinein. Zwischen ihnen stehen Holzgerüste über dem Wasserspiegel, die mit Strohdächern und großen Sonnenschirmen überdacht sind.

Hier ist der Versammlungsort der Gläubigen. Aus dem Innern der Stadt kommen sie zum heiligen Fluß hinunter, um die aufgehende Sonne zu begrüßen, braune, halbnackte Gestalten, und ihre leichten Kleidungsstücke, oft nur ein Lendentuch, schreien in grellbunten Farben. Ein ungeheures Menschengewühl entfaltet sich längs des Flusses; der Uferteil allein, den ich übersehen kann, trägt mindestens fünfzigtausend.

Ich lasse das Boot stillstehen, denn dieses Schauspiel ist gar zu seltsam.

Auf einem der steinernen Dämme kommt ein Brahmine heran und hockt sich nieder. Sein Kopf ist glattrasiert, nur im Nacken steht noch ein Büschel Haare. Er schöpft mit der Hand Wasser aus dem heiligen Fluß, schlürft es auf, spült sich damit den Mund und speit es wieder aus. Ganga, die Tochter Wischnus, ruft er an und bittet sie, die Unreinheit der Geburt und der Sünde von ihm zu nehmen und ihn bis zum Tode zu schützen. Dann sagt er Wischnus vierundzwanzig Namen her, erhebt sich und ruft die heilige Silbe »Om«, die Brahma, Wischnu und Siwa umfaßt. Schließlich wendet er sich noch an Erde, Luft, Sonne, Mond und Sterne und gießt sich Wasser über den Scheitel.

Jetzt wird über dem Dschungel am rechten Gangesufer der Rand der Sonne sichtbar. Ihr Aufgang wird von diesen Tausenden frommer Pilger mit Wasseropfern begrüßt. Man spritzt mit den Händen Wasser in die Luft der Sonne zu und watet auf dem langsam abfallenden Ufergrund in den Fluß hinein. Der Brahmine hat sich wieder niedergekauert und macht nun mit Händen und Fingern die rätselhaftesten Bewegungen. Bald fährt er damit über seinen Scheitel, bald legt er sie auf Augenlider, Stirn, Nase, Ohren und gegen die Brust, alles um Wischnus einhundertundacht verschiedene Offenbarungen sinnbildlich darzustellen. Vergißt er auch nur eine einzige dieser unzähligen Handbewegungen, dann war der ganze Gottesdienst, der eine bis zwei Stunden in Anspruch nimmt, vergeblich! Nach dem Mittagessen und am Abend wiederholt sich die gleiche Zeremonie. In der Zwischenzeit hat der Brahmine im Tempel andere religiöse Pflichten zu erfüllen.

Langsam gleitet mein Boot wieder den Ganges hinab. Da liegt auf Lumpen ein Greis ausgestreckt; er ist so mager, daß die Haut sich über die Rippen strafft, und ebenso braun wie die anderen Gläubigen, aber sein Bart ist schneeweiß. Er ist nach Benares gewandert, um am heiligen Ganges, der dem Fuße Wischnus entströmt, zu sterben. Dort ist ein Aussätziger, ein Mann in mittlerem Alter, dessen Lebenskraft seine Wunden verzehren; er sucht Heilung am Ganges, an den Quellen des Lebens. Hier steigt eine junge Frau graziös die steinerne Treppe herunter, den Wasserkrug zierlich auf dem Kopfe tragend. Sie watet in den Fluß hinein bis das Wasser ihr an die Hüfte reicht; dann trinkt sie aus der hohlen Hand, spritzt Wasser zur Sonne hin, gießt sich die Tropfen übers Haar, füllt ihren Krug und geht langsam wieder zurück, während die heilige Flut von dem roten Schleier herabrinnt, der ihren Körper umhüllt. Andere sitzen in Gruppen stundenlang am Ufer und gehen gemeinsam wieder heim.

In der unendlichen Kette des Daseins ist diese kurze Morgenstunde nur eine Sekunde der Ewigkeit. Und alle diese Tausende, die mit dem Wasseropfer aus den heiligen Fluten der Sonne huldigen, sind überzeugt, daß jedem, der nach Benares pilgert und in seinen Mauern stirbt, Vergebung aller Sünden werde. Benares sehen und dann sterben! Das genügt.

Gleich den Buddhisten glauben auch die Hindus an Seelenwanderung. Die Seele eines Hindu muß mehr als acht Millionen Tiergestalten durchwandern und in den späteren Daseinsformen die Sünden abbüßen, die sie früher beging. Daher die Opfer an Götter und Brahminen, um von diesem ewigen Wandern baldigst erlöst zu werden und in den Himmel der Götter eingehen zu dürfen. –

Am Abend, wenn die heißesten Stunden des Tages vorüber sind, fahre ich wiederum langsam an den steinernen Ufertreppen der Stadt vorüber. Trübschmutzig und grau strömt jetzt der heilige Fluß lautlos in seinem Bett dahin. Welche Masse Unreinlichkeit und Verwesung enthält dieses seligmachende Wasser! Ganze Bündel zertretener übelriechender Ringelblumen treiben vorüber, Abfälle, Lumpen, Späne, Blasen und Schaum.

Aus einer steilen Gasse nähert sich unter schauderhafter Musikbegleitung in schnellem Takt ein Leichenzug dem Ufer. Lärmende Trommelwirbel hallen von den Mauern der Pagoden wider. Auf der Bahre unter einem weißen Tuch liegt der Tote, gerade ausgestreckt, braun und mager, und Leute aus der Kaste der Leichenverbrenner legen ihn auf den am Ufer aufgeschichteten Scheiterhaufen. Bald sprüht und knistert es, und dicke Rauchwolken steigen empor. Der Geruch verbrannten Fleisches dringt bis zu mir hin, und ich lasse das Boot weiter fortrudern. Mit dem Brennholz sind die Totengräber aber nicht allzu verschwenderisch. Wenn der Holzhaufen heruntergebrannt ist, liegt der verkohlte schwarze Körper noch in der glühenden Asche und wird dann in den Fluß geworfen!

Im Ganges wohnen Götter, nicht nur unsichtbare, die mit dem segensreichen Wasser Leben und Kraft aus den Feldern der Hindus hervorlocken, sondern auch sichtbare. Dem Hindu ist ja fast die ganze Natur die Offenbarung einer Gottheit, und ein Gott ist auch das Krokodil. Man darf es nicht stören oder gar töten. Unbehindert kriecht es das Ufer hinauf, greift mit seinen scharfgezähnten Kiefern kleine spielende Kinder und verschwindet mit seiner Beute im Strom. Vater und Mutter trauern wohl, aber niemals denken sie an Rache, sondern betrachten das Krokodil jetzt vielleicht noch mit größerer Ehrfurcht als bisher. »Auf der Erde ist nicht seinesgleichen. Es ist ein König über alle Raubtiere«, heißt es in der Bibel.

Früher warf man am Ganges die Toten auch unverbrannt in den Fluß. Infolge der daraus entstehenden Pestgefahr haben die Engländer diese Sitte verboten, doch soll sie in einigen entlegenen Gegenden immer noch herrschen. Man legt die Toten auf ein kleines Floß und läßt sie von den Wellen des Ganges langsam durch die stille Nacht forttragen. Einmal sah ich solch einen toten Pilger, der mitten im Fluß auf einer Sandbank hängengeblieben war. Ich würde ihn gar nicht bemerkt haben, hätten nicht die Geier bei seinen Resten Leichenwache gehalten. –

Nun gießt der Vollmond sein Licht über Fluß und Dschungel, und die tiefe märchenhafte Stimmung einer Mainacht breitet sich über das Gangesufer. Das Wasser rauscht leise um einen festgefahrenen Baumstamm, und es raschelt in den schwarzen Verstecken des Dschungels. Ein Panther schleicht umher auf Beute; seine gelben Augen glühen wie Lampen im Dickicht. Die Affen sind an den Lianen emporgeklettert und sitzen schlafend unter den Kronen der Bäume. Ein schlaftrunkener, aus seinen Träumen aufgeschreckter Papagei läßt seine Stimme wie eine schrille Pfeife über den Wald hin ertönen, aber niemand achtet seiner, nicht einmal der Panther wendet sich um. Im Wasser zeigt sich eine leise Bewegung. Ein Krokodil hebt den Kopf langsam heraus und kriecht auf den Baumstamm hinauf. Das Mondlicht glänzt auf seinen nassen Rückenschildern. Es horcht angestrengt umher und wartet einige Zeit auf Beute. Bald aber zieht es sich wieder zurück, biegt den Schwanz wie eine Stahlfeder und verschwindet in der Tiefe.

Da plötzlich erschüttert ein Ton die Luft, der ringsum Schrecken verbreitet. Wie heiserer, klagender Donner rollt es durch das Dschungel. Der Tiger ist erwacht und sehnt sich nach Blut! Wer einmal das Todesurteil gehört hat, das in dem Warnungsgeheul des Tigers liegt, vergißt es nie wieder!


 << zurück weiter >>