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Nach den Schrecken des Unglücks, der Aufhebung der Brautschaft und der erzwungenen Abreise Röbis, die wie ein Gewitter über den Freihof gegangen waren, kam eine stillere Zeit. Die Genesung Balthasars schritt langsam, doch stetig vor sich. Der Friedensrichter ließ Gertrud in der Pflege des Kranken gewähren, bewunderte im stillen ihre große Tapferkeit, erwähnte die schweren Ereignisse kaum mehr, pflügte mit Wälti die Äcker und schritt als Sämann über die sich in Frühlingssonne und Frühlingsregen lockernden Schollen. Wenn er mit einem Landstück fertig geworden war, sprach er: »Gott gesegn' es!« und freute sich an der Birn-, namentlich aber an der Apfelblüte, die mit ihrem Weiß und Rot durch die Landschaft schimmerte, nach seinem Sinn das schönste Wunder des Lenzes.
Wälti mußte manchmal aber doch erstaunt nach seinem Herrn sehen. Der Freihöfler stand mitten in der Arbeit still, sann vor sich hin und vergaß sie, oder schaute, wenn er eine Furche gepflügt hatte, ins weite Land hinaus und half das Gespann nicht wenden.
»Gertrud ist so grüblerisch geworden.« entschuldigte er sich bei Wälti.
Er selber grübelte tiefer als je zuvor.
Gertrud aber sah wie eine Mutter zu Balz.
Ein paarmal jeden Tag brachte sie ihm ein Glas Milch, und er trank sie in langsamen Zügen.
»Woher habt Ihr so viel Güte für mich, Fräulein Freihofer?« fragte er weich.
»Wir haben doch vor dem Osterritt Freundschaft geschlossen. Nennt mich einfach Gertrud!« Und sie ließ die Augen leuchten.
Wie aus einem Traum horchte Balz empor –lächelte -, dann aber entflogen ihm die Gedanken. Er war doch noch sehr schwach.
Gertrud setzte sich mit einer Arbeit neben ihn, und sie genossen schweigend die Sonne.
In ihrer aufmerksamen Pflege gelangte er wieder zu einigen Kräften, aber die Sorge um sein Leben blieb. Doktor Heuscher, der ihn von Zeit zu Zeit untersuchte, fand die Narben in der Brust schlecht geheilt, was wohl mit dem früheren geringen Lebensunterhalt des armen Gesellen zusammenhing, und er befürchtete, schon ein starker Hustenanfall oder eine unvorsichtige Bewegung könne die Wunden wieder aufreißen, daß er verblute.
»Ich habe es längst erkannt, der stößt den Hobel nie wieder!« knurrte der Freihöfler. »Ich möchte jetzt noch nicht Röbi sein!«
Ein Stich ging durch die Brust Gertruds. Wohl hatte ihr Röbi einmal einen größeren Brief geschrieben, damals, als sie ihm in tiefster Erschöpfung gemeldet hatte, daß die unmittelbare Lebensgefahr für Balz vorüber sei. Seither aber hatte sie nichts mehr von ihm gehört, ja er unterließ sogar die selbstverständliche Pflicht, sich dann und wann nach dem Ergehen Balthasars zu erkundigen. War er krank oder war sein Schweigen einfach Leichtsinn? –Die Sorge um ihn quälte sie, und sie suchte die Frage nach ihm zu vergessen, indem sie sich, soviel in ihren Kräften lag, um Balz mühte und ihn in dem frohen Glauben bestärkte, daß er wieder völlig genesen werde.
Sie war in allen Dingen seine verstehende Freundin, die nie mit ihm darüber sprach, aber es tief im Bewußtsein trug, daß sie mit ihrer Hingabe und Güte eine Gewissensschuld sühne.
Darin verstand sie auch der Freihöfler, der den stillen Gast wohlwollend duldete. Einmal aber wurde ihm des Entgegenkommens zu viel. »Seit wann stehst du denn mit Balz Du auf Du?«
»Wer weiß, wie lange er lebt? –Ich will ihm so viel Liebes tun, wie ich kann!«
Der Freihöfler schüttelte den Kopf, aber gegen ihre selbstverständliche Art war nicht leicht aufzukommen.
Zwischen ihr und Balz wuchs je länger desto mehr eine Freundschaft auf, die einer Liebe glich, einer stillen, sanften Liebe. Sie waren sich so gut, daß sie es fast als eine Störung empfanden, wenn Besuch kam, hin und wieder die Gespielinnen, und alle vierzehn Tage einmal Pfarrer Geißmann.
Balz sagte es ihr stets wieder, er sei am liebsten mit ihr allein.
Die brennenden Blicke, mit denen er sie früher oft erzürnt hatte, ereigneten sich nicht mehr. In seinen glänzenden braunen Augen lag das Genügen, strahlte die Seligkeit. Und manchmal kam er in ein wonniges Plaudern. Er pries die Güte Gottes, die Schönheit der Welt und die wunderbare Fügung seines Schicksals: »Gertrud, du weißt, was ich für ein verlassener und verstoßener Junge war. Als ich unter den Schnapsweibern im Armenhaus von Gerhardszell aufwuchs, da lief ich ihnen manchmal davon, hinauf auf einen Hügel, warf mich ins Gras und betete: Lieber Gott! Wenn du mir doch eine rechte Mutter geben wolltest wie den anderen Kindern! Und wie arm die Buben des halbverrückten Schreiners Guntli waren, ich beneidete sie: –sie hatten eine Schwester. Ich niemand! Auch nie eine rechte Freundin, nie eine rechte Liebe! –Nun habe ich in dir, Gertrud, alles: Mutter, Schwester, Freundin –du bist meine Liebe, so hoch und herrlich, wie ich sie nie erträumen durfte. Und dafür danke ich dir, danke ich Gott und jener unbekannten Mutter, die mir das Leben geschenkt hat!«
Die Erschütterung des Glücks übermannte den blassen Balz.
»Bring mir die Ziehharmonika,« bat er. »Ich kann mit ihren Tönen vieles besser sagen als mit Worten.«
Getragen und feierlich zogen seine Melodien durch den weichen Abend. Da kam er an das Lied: »Zu Augsburg steht ein hohes Haus.«
Die Augen Gertruds füllten sich mit Tränen.
Erschrocken hielt er inne.
»Ich denke an jenen Abend, da ich mit Röbi das Lied von dir gehört habe,« erzählte sie. »Wir waren so unendlich glücklich beisammen, er sang mir leise die Worte des Liedes vor; auch die: ›Zur Nonne weiht mich arme Maid, stirb, Lieb' und Freud'‹. So geht es mir, Balz –ich muß eine alte Jungfer werden.«
»Du? -«
Ein verhaltener Gram in ihren Zügen war ihm längst aufgefallen, jetzt stand ein brennendes Weh in ihren Augen, er konnte aber doch nicht fassen, daß in ihrem Wort irgendein Herzensernst stecke.
Sie lächelte wehmütig über sein maßloses Erstaunen. »Warum soll ich dir die schmerzhafte Wahrheit noch weiter verschweigen? –Nachdem dich durch Röbis Schuld der Unglücksfall betroffen hatte, löste der Vater mein Verlöbnis mit ihm, –und einem anderen als Röbi gebe ich die Hand nicht.«
Auf ihrem Gesicht lag eine Bestimmtheit, daß Balz es ihr glauben mußte.
Da hatte er zu sinnen und zu denken. –-
Es war in seiner Natur doch eine große Zähigkeit. Schon machte er kleine Spaziergänge durch Wiesen und Feld, und am Tag, nachdem er von Gertrud das überraschende Bekenntnis gehört hatte, rüstete er sich mit einer gewissen Geheimnistuerei und Feierlichkeit zu einem Gang hinauf nach dem großen Stein unter der alten Buche, in deren Nähe der Freihöfler mit Wälti arbeitete.
Als er mit schlenkernden Gliedern wieder den Bergweg hinunterkam, stand in seinem Gesicht eine stille, hohe Freude, sie rötete sogar seine blassen Wangen und gab ihm einen Anflug von Schönheit.
»Gertrud,« jubelte er aus schwacher Brust, »ich habe unter der Buche mit deinem Vater gesprochen. Ich habe ihm gesagt, daß ich wegen des Ritts und Unglücksfalls keinen Groll gegen Röbi Heidegger hege, sondern daß ich ihn als meinen Freund liebe und mich nichts so sehr freuen würde, wie wenn du und er doch zusammenkämet.«
»Und der Vater?« fragte sie.
»Er war gegen mich freundlich, aber er hat sich nicht bestimmt über meine Bitte ausgesprochen.«
Der leise Hoffnungsstrahl, der über die Seele Gertruds gehuscht war, wich der Enttäuschung, dann stand sie rasch auf, nahm den Kopf Balthasars in beide Hände und lachte ihn herzinnig an: »Wenn mir deine Fürsprache schon nichts nützt, bekommst du dafür doch einen Kuß!«
Sie küßte ihn zwei-, dreimal fest auf die Wange.
Der überraschte Balz erschrak, und auf seinem Gesicht stand eine Glut wie blühendes Leben.
»Meine Frau kannst du ja doch nicht werden!« stammelte er verwirrt und mit wehmütigem Verzicht. Der Kuß brannte ihn stärker als manchmal die Narben in der Brust. Wie unerreichbar hoch stand Gertrud über ihm! Nur mit tiefer Scham erinnerte er sich des Augenblicks, wo er sich in grenzenloser Überspannung der Sinne wie ein Freier vor sie hingeworfen hatte.
»Nein, ein Liebespaar können wir nicht werden, Balz. Mein innerstes Herz gehört doch Röbi. Ich stand aber kürzlich vor dem Bild deines Freundes Klaus Hannecke in Westfalen. Der Mann sieht gut aus und gefällt mir wie sein neulicher Brief, in dem er sein Mitgefühl mit deinem Unfall bezeigt. Ich freue mich, daß du so einen vortrefflichen Menschen kennen gelernt hast. Warum soll ich weniger an dir finden als er? Ich wüßte nicht, wie ich über all das, was mich im Herzen quält, hinwegkäme ohne dich.«
»Und mir ist es stets, dein Vater sehe unsere Freundschaft nicht gern und ich sollte vom Freihof gehen,« erwiderte er beklommen. »Wenn ich nur schon stärker wäre und arbeiten könnte!«
»Du vom Freihof!« rief Gertrud. »Nie! –Was fällt dir ein! Hier ist deine Heimat! Auch mein Vater hat die besten Absichten für dich. Sobald sich deine Gesundheit befestigt hat, läßt er dir eine kleine Werkstatt einrichten, später eine wohlausgestattete Tischlerei, eine bessere als die Hildebrands, und dann bist du hier auf dem Freihof selbständiger Meister. Röbi Heidegger wird auch das Seine tun, daß es dir gut geht. Das hat er mir schon vor Wochen geschrieben. Und wenn der Vater hart bleibt, wenn Röbi und ich uns wirklich nicht mehr zu erreichen vermögen, so wollen wir beiden hier still in Freundschaft leben.«
Da traten Balz die Tränen der Freude in die Augen. Hatte er in seinen Träumen je mehr gewünscht und ersehnt, als stets in der Nähe Gertruds zu bleiben?