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Das Läuten im Kirchturm zu Narwa verstummte. Im Mauerbruch auf dem zusammengeschossenen Festungswall lagen die gefallenen schwedischen Helden, über deren ausgeplünderte und nackte Körper die Russen mit wildem Geschrei in die Stadt hineingestürmt waren. Einige Kosaken, die eine lebendige Katze in den Magen des Gastwirts eingenäht hatten, lachten noch im Ring um ihr Opfer stehend, aber der riesenlange Peter Alexejewitsch, der Zar, bahnte sich schon den Weg mitten durch das Gedränge auf Straßen und Höfen und hieb seine eigenen Leute nieder, um ihren Schandtaten Einhalt zu tun. Sein rechter Rockärmel war bis an die Schulter hinauf mit dem Blut der eigenen Untertanen durchtränkt. Des Mordens müde, versammelten sich schließlich Trupp nach Trupp auf den Markten und Friedhöfen. Unter dem Vorwand, daß die Kirchen durch die Ungläubigen, die da beerdigt lagen, entweiht würden, begannen die Soldatenrotten die Gräber zu schänden und zu plündern. Brechstangen hoben die Steine aus dem Kirchenboden, und draußen wurden die Gräber mit dem Spaten geöffnet. Die Kupfersärge und die zinnernen Särge teilten die Grabschänder in Stücke und würfelten um die Handgriffe und Schilder aus Silber. Die Straßen, in die die Einwohner während des ersten Handgemenges brennendes Holz und Dachziegel heruntergeworfen hatten, und wo das Blut der Niedergestochenen noch in den Rinnsteinen strömte, standen mehrere Tage überfüllt von rostigen oder halbverfaulten Särgen. Das Haar war bei einigen Leichen gewachsen, so daß es zwischen den Brettern heraushing. Mehrere von den Toten waren einbalsamiert und gut erhalten, obschon braun und zusammengeschrumpft, aber aus den meisten Särgen grinsten gelbe Gerippe in zusammengefallenen und schimmeligen Tüchern. Ängstlich heranschleichende Menschen lasen in der Dämmerung die Sargschilder und erkannten mitunter den Namen eines nahen Verwandten, einer Mutter oder Schwester. Manchmal sahen sie Grabschänder die verwesten Überreste wegschleppen und in den Fluß werfen. Manchmal wieder gelang es ihnen, von der Nacht geschützt, sie selbst wegzutragen und draußen vor der Stadt zu begraben. So konnte man in der Dunkelheit einem alten Mann oder einem alten Weib begegnen, wie sie mit den Kindern und Dienstmägden mühsam mit einem Sarg dahergeschlichen kam.
Eines Nachts biwakierte ein Schwarm der Grabschänder in einer der Ecken des Kirchhofs. Ha, welche Lust, einen Scheiterhaufen zusammenzuwälzen aus Bettböden und Matratzen und Stühlen und Sarggiebeln, und was alles herbeigeschleppt werden konnte! Die Flammen und die Funken loderten in einer Höhe mit dem Bodenfenster des Pfarrhauses. Ringsum standen die Särge aufeinandergestapelt, und an einem der obersten war der Boden gesprungen, so daß der darinliegende selige Schatzmeister mit der Allongeperücke kerzengerade auf dem Kopf dastand und aussah, als ob er dächte: »Bitte, in welche Gesellschaft hat man mich denn geführt?«
»Haha, Väterchen!« riefen ihm die Grabschänder zu, während sie Augustäpfel und Zwiebel an den Flammen brieten. »Du möchtest wohl gerne etwas Feuchtes in die Kehle haben, du!«
Der Schein des Feuers erleuchtete das Wohnzimmer des Pfarrhauses, und die Funken flogen durch die zerschmetterten Scheiben herein. Da stand nur ein gesprungener Tisch und ein Stuhl, und auf dem saß der Pfarrer, die Stirn auf die Hände gestützt.
»Wer weiß! Vielleicht könnte es gelingen!« murmelte er und stand auf, als habe er den Schlüssel zu einem lange durchgrübelten Rätsel gefunden.
Sein silberweißer Bart breitete sich über die ganze Brust, und sein Haar hing auf die Schultern herunter. Als Feldprediger hatte er in seiner Jugend allerlei mitgemacht, und niemals hatte er einen angebotenen Becher zurückgewiesen. Später als Witwer im Pfarrhaus hatte er den Herrgott in Freude und Fröhlichkeit verehrt mit randgefüllten Krügen, und es ging das Gerücht, daß er nicht sogleich nach dem Gebetbuch griff, wenn eine wohlgeschaffene Dirne zufällig mit im Gelage saß. Daher nahm er auch jetzt das Unglück mutiger und versöhnlicher als die anderen, und sein Herz war ebenso unverdorben wie sein kriegerischer Körper ungebeugt von den Jahren.
Er ging auf den Flur und zog vorsichtig die fünf oder sechs rostigen Nägel heraus, die die Bretter vor dem Eingang einer kleinen Nische unter der Treppe zusammenhielten. Dann schob er die Bretter zur Seite.
»Komm heraus, mein Kind,« sagte er.
Da ihm niemand gehorchte, wurde seine Stimme etwas strenger, und er wiederholte seine Worte.
»Komm heraus, Lina! Die beiden anderen Dienstmädchen sind gebunden und weggetragen worden. Es war gewiß die höchste Zeit, daß ich dich hier hereinbekam. Aber das ist bald vierundzwanzig Stunden her, und du kannst nicht ohne Essen und Trinken leben. Na?«
Als ihm trotzdem nicht gehorcht wurde, warf er gekränkt den Kopf zurück und sprach nun barsch und befehlend.
»Warum gehorchst du nicht? Glaubst du, das Essen sei hier? Nicht eine Prise Salz ist im Haus geblieben. Du mußt weggeschafft werden, verstehst du. Geht dir's schlecht, erwischt dich unterwegs ein Grabschänder, ja dann, liebes Kind, kann ich dir nur eines sagen: schlinge die Arme um seinen Nacken und folge ihm auf dem Pferderücken, wo der Teufel es auch hinführt. Ich habe oft im Kriegsgetümmel eine derartige Liebe gesehen und habe den Soldatenmantel über den Talar geworfen und den Hut abgenommen vor dem glücklichen Ende des Liedes. Hörst du nicht, Mädel? Als dein seliger Vater, mein Stallknecht, der ein Trinker war – wenn ich aufrichtig sein soll – mich einmal aus einer Wake zog, versprach ich ihm, fortan für ihn und seine Kinder zu sorgen. Und dazu war er ein geborener Schwede, wie ich! Na, bin ich dir nicht immer ein väterlicher Herr gewesen, oder was hat Ihro Gnaden einzuwenden? Ist Ihr der Verstand abhanden gekommen, he?«
Jetzt fing sich etwas in der pechschwarzen Nische zu bewegen an. Ein Ellbogen stieß gegen die Wand, es raschelte und scharrte, und dann trat Lina Anderstochter heraus, im bloßen Hemd mit nackten Beinen, in einer roten, zerrissenen Jacke ohne Ärmel, aber mit einem ganzen Rückenstück, über das der braune Haarzopf herunterhing.
Der Feuerschein fiel durch das Fenster. Sie hielt das Hemd zwischen den Knieen und kauerte, aber ihr frisches, gesenktes Gesicht mit den breiten, offenen Zügen war so munter, als ob sie sich gerade eines schönen Wintermorgens im Scheine des Dämmergraus von der Schlafbank erhoben hätte.
Freilich schoß das Blut noch in hitzigen Schlägen durch die Adern des weißhaarigen Feldpredigers, aber zu dieser Stunde war er nur Herr und Vater.
»Ich wußte nicht, daß man in meinem einfachen Haus so eine hochvornehme Schamhaftigkeit gelernt hat,« sagte er und klopfte ihr freundlich auf die nackte Schulter.
Sie sah auf.
»Nein, die Sache ist nur,« sagte sie, »daß ich so furchtbar friere.«
»Na, das läßt sich hören. So will ich, daß in meinem Haus gesprochen wird. Aber ich habe dir keine Kleider zu geben. Meine eigenen hängen ja herunter wie Fransen. In jedem Augenblick kann das Haus brennen. Ich selbst kann vielleicht unbemerkt meines Weges ziehen, und einen Rigischen Reichstaler habe ich in der Tasche. Wer fragt nach einem zerlumpten alten Mann! Anders ist's mit dir, Lina. Ich kenne die wilden Gesellen. Ich weiß nur einen Ausweg, dich von hier zu schaffen, aber ich schaudre selbst, es zu sagen. Du hast sicherlich zu viel Angst.«
»Angst habe ich nicht. Es wird mir wohl gehen, wie es geht. Ich bin wohl nicht besser als die anderen. Wenn ich nur nicht so zu frieren brauchte.«
»Komm dann hierher an die Tür, aber erschrick jetzt nicht! Siehst du, draußen im Torweg haben die Elenden einen kleinen Sarg aus Holz eingestellt. Er kann nicht so schwer sein, aber vielleicht hast du Platz darin, wenn du keine Angst hast, dich in den Sarg zu legen, kann ich dich vielleicht aus der Stadt schmuggeln.«
»Ich hab' keine Angst.«
Sie klapperte mit den Zähnen und zitterte, richtete sich aber ein wenig auf und ließ das Hemd frei herunterhängen und ging auf den Steinplatten in den Torweg hinaus.
Der Pfarrer hob den feuchten Deckel ab, der lose darauf lag, und in dem geplünderten Sarg fand er nichts als Hobelspäne und eine braune Decke.
»Das war gerade, was ich brauchte,« sagte sie zähneklappernd, sie zog die Decke hervor und wickelte sie um sich, stieg hinein und legte sich auf den Rücken in die Hobelspäne.
Der Pfarrer bückte sich über sie, legte seine beiden Hände über ihre Schultern und sah ihr in die freimütigen Augen. Sie konnte etwa achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein. Das Haar war glatt zurückgekämmt bis an den Kopf.
Als er so dastand, wurde es ihm klar, daß er sie nicht allzeit mit so reinem und väterlichem Sinn angesehen hatte, wie er es selbst gewünscht und wie er sich den Anschein gegeben hatte. Aber jetzt tat er es. Sein langes, weißes Haar fiel bis über ihre Wangen.
»Möge es dir gut gehen, Kind! Ich bin alt. Es bedeutet wenig, ob mein Leben noch eine Zeitlang dauert oder heute weggefegt wird. Ich bin in meinem Leben bei vielen Streichen und Schandtaten dabeigewesen, und um die Vergebung meiner Sünden will ich auch einmal bei etwas Gutem dabei sein.«
Er nickte und nickte ihr immerfort zu und erhob sich.
Da draußen wurde das Geschrei wilder und wilder. Er legte den Deckel auf und drückte die langen, noch vorhandenen Schrauben hinein, so gut er's vermochte. Dann kniete er nieder, wickelte einen Strick quer um den Sarg, hob mit starken Armen die schwere Last auf seinen Rücken und schritt vorgebeugt und schwankend hinaus.
»Guckt dort!« rief einer der Grabschänder am Feuer, aber der ihm zunächst sitzende Kamerad unterbrach ihn mit den Worten:
»Laß den armen Teufel in Frieden. Es ist ja ein elender Armensarg.«
Der Schweiß rann dem Alten das Gesicht herunter, und Rücken und Arme schmerzten ihm unter der schweren Last. Schritt für Schritt schleppte er sich vorwärts durch die dunklen Gassen. Hie und da mußte er den Sarg auf den Boden niedersetzen, um sich zu verschnaufen, aber dann stand er, die Hand auf dem Deckel, in beständiger Angst, angerufen und weggestoßen oder von irgendeinem herumirrenden Soldatenhaufen niedergestochen zu werden. Mehrmals mußte er Troßwagen ausweichen, welche mit Männern und Weibern beladen waren, die Hunderte von Meilen nach dem Innern Rußlands transportiert werden sollten, um die Wüsteneien zu bevölkern. Der große, siegreiche Zar war ein Säemann, der die Körner nicht zählte, die er streute.
Als schließlich der alte Kriegsprediger an das Stadttor gelangte, und die Wache ihm entgegenging, spannte er mit dem ganzen Willen der Angst seine Kräfte bis zum Äußersten. Mit dem einen Arm hielt er den Sarg auf dem Rücken fest, mit der freien Hand nahm er seinen Rigischen Reichstaler aus der Tasche und reichte ihn dem Wachtsoldaten als Bestechung.
Der Soldat winkte ihm zu, weiter zu gehen.
Wieder wollte er den Fuß vorwärts bewegen, aber nun vermochte er es nicht mehr. Durch das Stadttor sah er auf dem freien Feld den Fluß schimmern, dann aber wurde es schwarz vor seinen Augen. Sacht und noch in seiner Hilflosigkeit um seine Bürde bedacht, ließ er den Sarg behutsam neben sich auf das Steinpflaster nieder. Darauf fiel er vornüber und starb.
Die anderen Soldaten sprangen herzu und begannen zu schimpfen und zu schelten. Dort im Torgewölbe dürfe der Sarg nicht stehen bleiben.
Die Offiziere, die in einem Zimmer in der Kasematte saßen und würfelten, kamen jetzt auch dazu. Der eine von ihnen, eine kleine, trockene und verwässerte Gestalt mit viereckiger Brille, der mehr einem Schreiber als einem Soldaten glich, riß eine Laterne an sich, trat vor und hob mit der Degenscheide den Deckel ein wenig.
Das erste Mal war er nahe daran, die Laterne fallen zu lassen, und zog den Kopf schleunigst zurück! Das zweite Mal, als er sich bückte und hineinleuchtete, zögerte er etwas länger und forschender, dann strich er mit der Hand über das ganze Gesicht, wie um seine Gedanken zu verbergen. Zuletzt nahm er die Brille ab und stand nachdenklich da. Als er zum dritten Mal sich bückte, leuchtete er an der Ritze hin und her, und drinnen lag Lina Anderstochter ganz ruhig und stierte ihn im Laternenschein an, ohne selbst zu wissen, was geschehen war.
»Ich bin hungrig,« sagte sie.
Er stellte die Laterne weg und ging einige Schritte im Gewölbe auf und ab, die gekreuzten Hände über dem Rücken. Sodann kam ein verschmitztes, munter lebendiges Lächeln über seine steifen Züge, und unbemerkt nahm er einige Augustäpfel aus der Rocktasche und steckte sie in den Sarg. Danach fing er zu kommandieren an.
»Hierher, ihr Kerle! Acht Mann tragen den Sarg zu General Ogilvy und grüßen ihn und sagen, dies sei ein geringes Geschenk von seinem ergebenen Diener Iwan Alexejewitsch. Acht von euch anderen, die ihr eben von der Arbeit an den Wällen gekommen seid, gehen hinterher und rollen ihre Schurzfelle zu Trompeten, durch die sie den Regimentsmarsch blasen. Aber zuvorderst gehen zwei Mann mit Schilffackeln. Vorwärts!«
Die wilden Soldaten blickten einander staunend an und gehorchten. Den Sarg hoben sie auf ihre Musketen. Zwei lange mit Teer und Stroh überzogene Stangen wurden aus den Ecken des Gewölbes hervorgezogen und an der Laterne angezündet, und als der Zug sich über das Feld hin nach dem Lager in Bewegung setzte, bliesen die Musikanten ihren Marsch auf den Schurzfellen:
Soldat, der so kühn die Muskete trug,
Was kümmern dich Kammern und Betten!
Du speist wie ein Prinz in jedem Krug,
Und Mädchen und Läuse hast du genug,
Doch, heisa, wo sind die Moneten!
Als sie ins Lager gekommen waren, liefen die Soldaten beim Fackelschein zusammen. General Ogilvy, der eben bei Tisch gewesen war, kam aus dem Zelt.
»Liebes Väterchen,« sagte der eine Träger, »Iwan Alexejewitsch, der Leutnant, schickt dir in Demut diese Gabe.«
Ogilvy erblaßte und biß sich die Lippen unter dem borstigen, grauen Schnurrbart. Sein narbiges und gezwungen barsches Gesicht war im Grunde genommen gutmütig und wohlwollend.
»Hat er den Verstand verloren?« donnerte er in gespieltem Zorn, obwohl er eigentlich Angst hatte wie ein Bube. »Setzt den Sarg hin und brecht den Deckel auf!«
Die Soldaten stemmten mit den Klingen, und der verfaulte Deckel fiel ab.
Ogilvy stierte. Dann brach er in ein Gelächter aus. Er lachte so, daß er sich auf die Erdbank niedersetzen mußte. Auch die Soldaten lachten. Sie lachten die ganze Zeltgasse hindurch, so daß sie taumelten und wankten und sich gegenseitig stützen mußten wie Schenkenkunden und Säufer. Lina Anderstochter lag da im Sarg, mit einem zur Hälfte gegessenen Apfel in der Hand, und machte große Augen. Sie war jetzt wieder warm geworden, und ihre Wangen blühten wie die einer Puppe.
»Bei allen Heiligen!« brach Ogilvy aus. »Nicht einmal in den Katakomben des heiligen Antonius hat man solch ein Wunder gesehen! Das ist eine Leiche, die an den Zaren weiter geschickt werden müßte.«
»Keineswegs,« antwortete einer seiner Offiziere. »Ich schickte ihm vorgestern zwei kleine blondhaarige Rüben, aber er hat jetzt nur Geschmack für braune, schlanke.«
»Na dann!« antwortete Ogilvy und wendete sich mit einer Verbeugung gegen Narwa. »Grüßt Iwan Alexejewitsch und sagt ihm: wenn der Sarg zurückgeschickt wird, soll eine Hauptmannsvollmacht auf dem Boden liegen. – He, he, Zuckerrose!«
Er trat vor und streichelte Lina Anderstochter unter dem Kinn.
Sie aber richtete sich auf und nahm ihn am Haar und gab ihm einen knallenden Schlag aufs Ohr und dann noch einen.
Es kümmerte ihn nicht im geringsten, und er fuhr nur fort zu lachen.
»So will ich sie haben,« sagte er, »so will ich sie haben! Ich werde dich zur Königin der Marodeure machen, mein Kind, und als Pfand dafür gebe ich dir hier eine Armkette mit einem Türkis im Schloß. Eine Bande unseres schlimmsten Gesindels hat sie aus dem Sarg der Gräfin Horn in Narwa gestohlen.«
Er schüttelte die Kette vom Handgelenk, und sie riß sie heftig an sich.
Als nachher Abends in dem Zelt gedeckt wurde, saß Lina Anderstochter neben Ogilvy am Tisch. Sie hatte jetzt französische Kleider aus blumigem Stoff bekommen und trug einen Kopfputz aus Blonden. Aber was für Hände! Sie mußte immer mit Handschuhen essen, aber unter ihnen quollen die breiten und großen Finger hervor, und die rote Hand leuchtete zwischen den Knöpfen durch.
»Hoho, hoho!« riefen die Generale. »Die Hände machen einen munterer, als man es von einer ganzen Kanne ungarischen Weins wird. Helft uns! Schnürt uns die Gürtel zu! Haltet uns! Das kann keiner mit ansehen, ohne sich totzulachen.«
Und dann griff sie zu und kaute an den Süßigkeiten und saß, den Löffel in die Luft gestreckt. Schmeckte ihr etwas schlecht, dann grinste sie. Essen konnte sie. Trinken dagegen wollte sie nicht, sondern nahm nur einen Schluck in den Mund und spritzte dann den Wein auf die Generale. Alle ihre Flüche und schlimmsten Redensarten lernte sie, und immer saß sie gleich blühend und munter da.
»Helft, helft!« schrien die Generale, fast vor Lachen erstickt. »Blast die Kerzen aus, daß man sie nicht zu sehen braucht. Haltet uns! Helft! Ein kleiner Zug aus der Tabakspfeife gefällig, Mademoiselle?«
»Weshalb, zum Teufel, laßt ihr mich nicht in Ruhe?« antwortete Lina Anderstochter.
Etwas wußte jedoch Ogilvy geschickt zu verbergen, damit sich die Lacher nicht gegen ihn wendeten und ihn in die Seite kniffen und ihn an den Rockquasten zupften und sagten: Ja, Väterchen, du hast deinem Glatzkopf doch zuviel zugemutet. Gott segne dich, Väterchen! Segne dich und deine kleinen Mißgeschicke!«
Er gab sich allzeit das Ansehen, als behandle er sie gleichgültig, aber er setzte sich ihr nie so nahe, daß kein Hund zwischen ihnen aufspringen konnte, und er faßte sie niemals an, wenn es jemand sah, und auch nicht, wenn es niemand sah, denn dann wußte er, daß ihre Hand ihn ins Gesicht traf, so daß der Handschuh platzte und die Haut in ihrer ganzen Schönheit vorleuchtete. Es geschah wohl, daß sie ihm dennoch gelegentlich einen Schlag mitten ins Gesicht versetzte, und niemanden schnauzte sie schlimmer an als ihn, aber zu alledem lachte er nur wie die anderen, und gewißlich war im Lager nie ein solcher Lärm und Spektakel gewesen.
Mitunter dachte er daran, sie zu peitschen, aber er schämte sich vor den anderen, denn man hörte alles durch das Zelt, und er fürchtete, daß sie dann desto leichter errieten, wie die Sache stand, und wie wenig er mit der Magd ausrichten konnte. »Warte,« meinte er, »wir sitzen wohl einmal für uns hinter Schloß und Riegel. Warte nur! Bis dahin mag es gehen, wie es geht.«
»Helft, helft!« riefen die Generale. »Seht, wie sie ihre Schleppe trägt! Wir wollen sie tragen. Nein, du liebe Zeit, guckt nur!«
»Tragt sie nur,« sagte sie, »tragt sie nur! Das paßt für euch.«
Und dann pufften sich die Generale und trugen ihre Schleppe, wenn sie zur Tafel ging und wenn sie sie verließ.
Da geschah es eines Abends, als sie zwischen den trinkenden Kerlen saß, daß ein Adjutant hereintrat, zaghaft und verlegen. Er wendete sich an Ogilvy.
»Darf ich aufrichtig sein?«
»Aber natürlich, mein Junge!«
»Und was ich auch sage, wird verziehen?«
»Auf meine Ehre. Sag' es nur heraus!«
»Der Zar ist auf dem Wege hierher nach dem Lager.«
»Na ja, er ist mein gnädiger Herr.«
Der Adjutant zeigte auf Lina Anderstochter.
»Der Zar liebt lange und braunhaarige,« sagte Ogilvy.
»Exzellenz, er hat in der letzten Zeit den Geschmack gewechselt!«
»Gut. Ruft die Truppen zu den Waffen! ... Und dann vor mit einem dreispännigen Wagen!«
Jetzt wurde Alarm geschlagen. Die Trommeln wirbelten, die Trompeten schmetterten, die Waffen klirrten, Gestampf und Geschrei durchtönte die Nacht.
Das Zechgelage wurde abgebrochen und Lina Anderstochter in einen Troßwagen gesetzt.
Neben dem Bauern, der kutschierte, sprang ein Soldat auf mit einer angezündeten Laterne, und sie hörte den Bauer diesen leise auszufragen, welchen Zweck diese Flucht habe.
»Der Zar!« antwortete der Soldat eintönig und zeigte mit dem Daumen über die Schulter gegen das Mädchen.
Da kroch der Bauer zusammen wie unter einer eiskalten Brise und peitschte die kleinen zottigen Pferde wilder und wilder. Er schrie und hieb und jagte sie im donnernden Galopp. Der Laternenschein strich über das Tannengebüsch und die niedergebrannten Höfe, und der Wagen rüttelte und schüttelte zwischen den Steinen und krachte in seinen Fugen.
Lina Anderstochter lag auf dem Rücken in dem Heu und sah die Sterne an. Wohin wurde sie geführt? Welche Schicksale warteten ihrer? Sie überlegte hin und her. Um ihr Handgelenk hing die Armkette wie ein Talisman, ein Pfand für die Erfüllung der wunderlichen Voraussagung Ogilvys. Die Königin der Marodeure! Es klang so fürchterlich, obwohl sie erst hatte überlegen müssen, was die Worte eigentlich bedeuteten. Sie strich und zupfte an den kleinen Silberringen und richtete sich auf und untersuchte beim Laternenlicht den steinigen Weg. Vorsichtig kroch sie mehr und mehr nach hinten. Sie kletterte langsam und unbemerkt über den Wagengiebel und rutschte mit den Füßen bis auf den Boden. Würde sie zermalmt werden und da liegenbleiben? Einige Schritte wurde sie mitgeschleift. Dann verlor sie den Halt und stolperte und fiel zerschunden zwischen die Sträucher.
Immer entfernter donnerte der Troßwagen mit seinem galoppierenden Dreigespann, und der Laternenschein verschwand. Da stand sie auf und wischte das Blut von den Wangen und wanderte ihres Weges, in die ungebahnten Wälder hinein.
Wenn sie verwilderten Flüchtlingen begegnete und die ihr schönes Gesicht sahen, suchten sie gleich Beeren und Schwämme für sie und gingen mit. Sie sammelte einen ganzen Hofstaat von Lumpen, und diese behandelte sie so schlecht, daß sie kaum ihre Kleider zu streifen wagten, aber gegenseitig stachen sie sich mitunter nieder. Schließlich trat sie in Dienst bei einer Schiffersfrau, die mit ihrem Mann nach Danzig segeln sollte, und kaum hatte es angefangen zu dämmern, als die Lumpen auftauchten, einer nach dem anderen, und sich für nichts verdangen. Der Schiffer saß auf der Kajüte im Mondschein und blies die Schalmei und lobte, daß er eine so willige Besatzung bekommen habe, und niemals hatte seine Alte eine kräftigere Magd gesehen. Kaum waren sie aber in See gestochen, als Lina Anderstochter sich mit gekreuzten Armen zum Schiffer setzte und alle die Lumpen sich auf den Rücken legten und zu der Schalmei sangen.
»Glaubt ihr, daß ich eure Töpfe scheuern will!« sagte sie.
»Haut sie, haut sie,« rief die Alte, aber der Schiffer setzte sich nur näher und blies seine Schalmei. Tag und Nacht schaukelte das Schiff mit schlaffen Segeln auf den glatten Wellen, und der Schiffer spielte für Lina Anderstochter, die mit ihren Lumpen tanzte, aber unten in der Kajüte saß die Alte und jammerte und weinte.
Als sie nach Danzig kamen, steckte der Schiffer die Schalmei unter den Arm und schlich während der Nacht mit Lina Anderstochter und ihren Lumpen von dem Schiff weg. Sie vermuteten, daß sie nun zu den schwedischen Truppen in Polen stoßen und den König selbst zu zwingen gedächte, ihr seine Hand zu reichen.
Als sie mit ihrem Gefolge trällernd unter den schwedischen Troßweibern eintraf, war dort Aufruhr und Lärm, denn zwei Tage und zwei Nächte saßen sie ohne Essen auf ihren Wagen, und der letzte Proviant wurde den Marketendern gegeben und unter die Soldaten verteilt. Da trat sie zum ersten besten Korporal vor und stemmte die Hände in die Hüften.
»Schämt Er sich nicht,« sagte sie, »meine Weiber hungern zu lassen, wenn Er doch nicht ohne sie sein kann.«
»Deine Weiber? Wer bist du?«
Sie zeigte auf ihre Armkette.
»Ich bin Lina Anderstochter, die Königin der Marodeure, und jetzt nehme Er fünf Mann und folge uns.«
Er sah seinen Hauptmann an, den verwegenen Jakob Elfsberg, und sah dann ihr schönes Gesicht und dann wieder seine Soldaten an. Nach und nach stellten sich diese mit ihren Musketen um sie herum, und die Weiber bewaffneten sich mit Peitschenstielen und Knüppeln. In der Nacht, als der Feuerschein den Himmel färbte, stieg der König neugierig in den Sattel, und als der wilde Haufe mit vollbeladenen Wagen und Ochsen und Schafen zurückkehrte, jubelten die Truppen lauter und lauter:
»Vivat König Carolus! Vivat Königin Carolina!«
Die Frauen drängten sich um das Pferd des Königs, so daß die Lakaien sie zurückhalten mußten, und Lina Anderstochter ging gerade auf ihn zu, um ihren Händedruck zu bekommen. Aber da hob er sich in den Steigbügeln und rief über die Köpfe der Frauen dem Korporal und den fünf Soldaten zu:
»Gut marodiert, ihr Jungen?!«
Von der Stunde an wollte sie nie den König nennen hören, und wo sie einem Mann begegnete, schleuderte sie ihm ihre gröbsten Schimpfworte mitten ins Gesicht, ob er ein Gemeiner war oder ein General. Als Malkum Björkman, der junge, aber wegen seiner Taten und Wunden schon berühmte Trabant ihr die Hand reichte, legte sie spottend ihre leere und zerrissene Börse hinein, und niemals wurde sie wilder, als wenn sie Generalmajor Meyerfelt pfeifend vor seinen Dragonern einherreiten sah, oder wenn sie die braungelben Backen und die rabenschwarze Perücke des Oberst Grothusen erkannte. Lag aber ein armer Verwundeter am Wege, dann bot sie ihm die letzten Tropfen aus ihrer Blechflasche an und hob ihn auf ihren Wagen. Kälte und Schrammen gerbten bald ihre Backen. Hoch oben auf der Troßkarre saß sie mit ihrem Peitschenstiel und kommandierte die ganze verrückte Troßtruppe von losen Weibern, verehelichten Frauen und diebischen Gesellen, die von Osten und Westen herzugeströmt waren, und wenn des Nachts der Feuerschein gen Himmel stieg, da wußten die Soldaten, daß Königin Carolina auf der Plünderungsfahrt war.
Als nach Jahr und Tag, nach dem lustigen Winterquartier in Sachsen, die Truppen nach der Ukraine zogen, befahl der König, daß alle Frauen das Heer verlassen sollten.
»Lerne er, bei seinem Leisten zu bleiben!« murmelte Lina Anderstochter und fuhr ruhig weiter.
Aber als das Heer zur Beresina kam, wurde es ein Lärmen und Jammern unter den Weibern. Sie versammelten sich um Lina Anderstochters Karren und rangen die Hände und hoben ihre Kinder empor.
»Was sagst du nun dazu? Die Truppen sind schon über den Fluß und haben alle Brücken hinter sich abgebrochen! Sie haben uns den Kosaken preisgegeben.«
Sie saß mit der Peitsche auf dem Schoß und in hohen Stiefeln, aber am Handgelenk glänzte noch die Silberkette mit dem Türkisen. Heftiger und heftiger jammerten und schluchzten rings um sie die Verratenen, und aus den geschlossenen Troßwagen, die wie Kisten aussahen, krochen gepuderte und gemalte sächsische Dirnen. Einige hatten sogar Satinröcke und goldene Halsbänder an.
Von allen Seiten kamen Frauen herbei, die sie nie zuvor gesehen hatte.
»Schmutzige Dirnen!« murmelte sie. »Jetzt kann ich endlich das Schmutzgesindel ansehen, das die Hauptleute und Leutnants in ihren Wagen mit sich geführt haben. Was habt ihr unter meinen armen Troßweibern zu schaffen! Aber jetzt können wir alle lernen, was der Mann wert ist, wenn sein Vorratsbündel zu leicht wird.«
Da rissen sie an ihrem Kleid und riefen sie an, als ob sie allein ihr Schicksal bestimmen könnte.
»Ist hier niemand, der das Lied kennt: Wenn ich einst zieh' ins dunkle Tal? Singt das, singt das!«
Einige der Frauen stimmten mit erstickter Stimme und fast flüsternd das Lied an, aber die anderen stürzten zum Fluß hinunter und suchten Boote und Brückenüberreste zusammen und ruderten hinüber. Jede, die ihren Mann oder einen Liebsten beim Heer hatte, hoffte doch, zuletzt empfangen und versteckt zu werden, aber das allerschlimmste Weibergesindel, das weder nach rechts noch links gehörte, stand in Lumpen oder in geschmacklos bunten Röcken rings um Lina Anderstochter, und Schwärme von Kosaken, die über den Fluß gesetzt waren, um zurückgebliebene Marodeure aufzuschnappen, schlichen zwischen den Sträuchern auf den Knieen heran.
Da erweichte sich ihr Herz, und sie stieg vom Wagen.
»Arme Kinder!« sagte sie und streichelte den Dirnen die Wangen. »Arme Kinder, ich werde euch nicht verlassen ... aber jetzt müßt ihr, hol' mich der Teufel, zu Gott beten, daß er eure blutroten Sünden weiß wasche, denn ich habe euch nichts anderes zu bieten, als daß ihr die Männer verachten und eines ehrenvollen Todes sterben dürft.«
Sie öffnete den Wagendeckel und suchte unter ihrem Raubgut einige Piken und polnische Säbel hervor und steckte sie in die Hände der leise singenden Frauen. Dann ergriff sie selbst eine Muskete ohne Kugel und Pulver, und wartend stellte sie sich zu den anderen um den Karren herum. So standen sie im Lichte des Sonnenunterganges auf der Höhe am Strande.
Als die Frauen auf dem Wasser die Kosaken an den Karren heransprengen und ihre Gefährtinnen, im Glauben, daß es verkleidete Männer seien, eine nach der anderen niederhauen sahen, wollten sie ihre Boote wenden, und die Soldaten liefen gegen ihren Befehl nach dem Ufer zurück und gaben Feuer.
»Vivat König Carolus!« riefen sie tausendstimmig durcheinander. »Und vivat ... Nein, es ist zu spät! Seht, seht! Es ist Königin Carolina, die mit der Muskete in der Hand inmitten der Dirnen als Jungfrau stirbt!«