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Weit draußen in den Wildnissen Smaalands und Finnvedens erschienen wunderliche Wahrzeichen in der Luft, und da die Arbeit allen Wert und der kommende Tag jede Hoffnung verloren hatte, hungerte das Volk oder speiste und trank in Saus und Braus unter halberstickten Flüchen. Auf jedem Hof saß eine Mutter oder eine Witwe in Trauer. Während der Geschäfte des Tages sprach sie von den Gefallenen oder Gefangenen, und nachts zuckte sie aus dem Schlaf auf und glaubte noch das Donnern der ungeheuren Wagen zu hören, auf denen Kutscher in schwarzen Wachstuchmänteln die Pestleichen weggeführt hatten.
In »Riddarholmskyrkan« stand seit sieben Jahren die Leiche der Prinzessin Hedwig Sofia aus Mangel an Geld unbeerdigt, und jetzt war der Sarg der bejahrten Königin-Witwe Hedwig Eleonora, der Mutter der Karle, aufgebahrt worden. Einige schläfrige Hoffrauenzimmer hielten Leichenwache, und die Wachskerzen brannten trübe rings um die Tote, die in eine einfache Decke aus Leinwand gehüllt da lag.
Das jüngste der Hoffräulein erhob sich gähnend und ging an das Fenster und zog das schwarze Kronentuch zur Seite, um zu sehen, ob es noch nicht tage.
Hinkende Schritte wurden aus dem Vorzimmer vernehmbar, und ein eckig und knorrig gebauter kleiner Mann, der auf alle Weise das Geklapper seines Holzbeines zu dämpfen versuchte, trat an den Sarg und hob unter tiefen Ehrfurchtsbezeugungen die Decke zur Seite. Sein helles, fast weißes Haar lag dicht am Kopf an und reichte hinten im Nacken bis auf den Kragen. Aus einer Flasche goß er eine balsamierende Flüssigkeit in einen Trichter, der zwischen dem Rock und der Taille in die königliche Leiche eingeführt war. Die Flüssigkeit wurde nur ziemlich langsam aufgesogen; wartend setzte er die Flasche auf den Bahrteppich nieder und ging zu der Hofdame am Fenster.
»Ist die Uhr noch nicht sieben, Blomberg?« flüsterte sie.
»Soeben hat sie sechs geschlagen. Es ist ein fürchterliches Wetter draußen, und ich fühle in meinem verstümmelten Bein, daß wir Schneesturm bekommen. Es ist auch schon lange her, seit man in Schweden etwas Gutes wahrsagen konnte. Glaubt mir, auch diesmal wird sich das Geld zu einer anständigen Beerdigung nicht finden. Es war nur der Anfang, als der selige Ekeroch Elend und Brand prophezeite. Dehnte sich die Feuersbrunst vielleicht nicht auch bis auf die Insel vor dem Schlosse aus? Über die Upsala-Ebene warf sie ihren Schein vom Dom und von der Burg aus. In Vesteraas und Linköping fegt der Wind die Asche um verkohlte Stätten ... und jetzt brennt es an allen Ecken des Reiches. Vergebt mir meine Freimütigkeit, gnädiges Fräulein, aber die Wahrheit sagen ist auf die Dauer ungefährlicher als lügen. Das ist mein altes Sprichwort, und das rettete einmal mein Leben dort unten am Dnjeprstrom.«
»Rettete ihm sein Leben? Er war damals Feldscher beim Regiment. Er soll sich zu mir setzen und erzählen. Die Zeit wird einem so lang.«
Blomberg redete ein wenig predigerhaft und demütig und hob dann und wann, während die übrigen Finger gebeugt blieben, Zeige- und Mittelfinger.
Beide warfen einen Blick nach der Toten, die in ihrem Sarge schlief, mit zierlich aufgelegten Locken und Wachs und Schminke in den tiefsten Falten. Danach setzten sie sich auf die Bank in der Fensternische vor das herunterhängende Kronentuch, und Blomberg begann flüsternd seine Erzählung.
Ich lag bewußtlos in den Sümpfen von Poltawa. Ich war mit meinem Holzbein gestolpert und hatte von einem Hufeisen einen Schlag bekommen; als ich aufwachte, war es Nacht. Ich fühlte eine kalte und fremde Hand unter meinem Rock tasten und die Knöpfe aufreißen. Ein Greuel vor dem Herrn sind die Pläne der Bosheit, dachte ich, aber milde Worte sind rein. Ohne zu erschrecken, packte ich den Leichenschänder ganz ruhig an der Brust, und an seinen in der Angst hervorgestotterten Worten hörte ich, daß er einer der Saporoger war, die mit den Schweden ein Bündnis geschlossen hatten und dem Heer gefolgt waren. Ich hatte als Feldscher viele von diesen Menschen gepflegt, manchmal auch gefangene Moskowiter und Polacken, und konnte mich in ihren verschiedenen Sprachen zur Not verständlich machen.
»Viele Pläne sind im Herzen des Mannes,« sagte ich sanftmütig, »aber der Rat des Herrn wird bestehen. Nichts Böses kann dem Gerechten geschehen, aber die Gottlosen erfahren viel Unglück.«
»Vergib mir, frommer Herr,« flüsterte der Saporoger. »Der schwedische Zar hat uns arme Saporoger unserm Schicksal überlassen, und der moskowitische Zar, den wir trügerisch verließen, wird uns verstümmeln und töten. Ich wollte mir nur einen schwedischen Rock verschaffen, um mich in der Stunde der Not für einen der euren ausgeben zu können. Zürne mir nicht, gottesfürchtiger Herr!«
Um zu sehen, ob er irgendein Messer habe, suchte ich, während er redete, Stahl und Feuerstein hervor und zündete in einigen dürren Disteln und Zweigen, die zu meinen Füßen lagen, Feuer an. Da sah ich, daß ich einen erschrockenen kleinen Greis mit listigem Gesicht und leeren Händen vor mir hatte. Er erhob sich heftig wie ein ausgehungertes Tier, das Beute gefunden hat, und bückte sich im Feuerschein über einen schwedischen Fähnrich, der tot im Grase lag. Ich fand, daß ein toter Mann einem wehrlosen Bundesgenossen seinen Rock wohl gönnen könne, und tat nichts, den Saporoger zu hindern, aber als er dem Gefallenen den Rock auszog, glitt ein Brief aus der Tasche. Ich sah an der Aufschrift, daß der verblutete Knabe, der so schön und ruhig ausgestreckt dalag, als ob er auf der Wiese vor seinem Geburtshaus schliefe, Falkenberg hieß. Der Brief war von seiner Schwester, und ich konnte in der Eile nur die Worte durchfliegen, die seit der Stunde mein Wahlspruch wurden: Die Wahrheit sagen ist auf die Dauer ungefährlicher als lügen. Im gleichen Augenblick löschte der Saporoger mein Licht.
»Bei deiner Seele, Herr,« flüsterte er, »locke nicht die Leichenschänder hierher.« Ich achtete wenig auf seine Rede und wiederholte ein um das andere Mal:
»Die Wahrheit sagen ist auf die Dauer ungefährlicher als lügen. Das ist ein großes Wort, mein lieber Alter, und du wirst sehen, daß ich damit weiterkomme als du mit deiner Verkleidung.«
»Wir wollen sehen,« antwortete der Saporoger. »Aber das wollen wir einander versprechen, daß der von uns, der den anderen überlebt, für die Seele des anderen ein Gebet spricht.«
»Das ist versprochen,« sagte ich und reichte ihm die Hand; und es war mir, als habe ich im Unglück an diesem bärtigen Barbaren mit einem Male einen Bruder und Freund gefunden.
Er half mir aufstehen, und bei Tagesanbruch gingen wir in dem langen Zug von Verwundeten und Zurückgebliebenen, die stillschweigend und wankend in Poltawa einmarschierten, um sich gefangen zu geben. Hilfreich versuchten sie den Saporoger zwischen sich zu verbergen. Die großen Stiefel reichten ihm mit ihren Stulpen bis an die Hüften, und die Rockschöße hingen bis zu den Sporen herunter. Sobald ein Kosak ihn betrachtete, wendete er sich zu jemand von uns und rief mit lauter Stimme die einzigen schwedischen Worte, die er während des Feldzuges zu lernen vermocht hatte.
›Ich Schwede, hol' mich der Teufel!‹
Meinem Saporoger und mir und acht von meinen Kameraden wurde Quartier auf dem oberen Boden eines großen Steinhauses angewiesen. Da wir zwei zuerst heraufkamen, wählten wir für uns einen abgetrennten kleinen Winkel mit einem Fenster nach der Gasse. Da gab es nichts anderes als ein bißchen Stroh zum Liegen, aber ich hatte im Rock eine Blechpfeife, die ich bei Starodub einem gefallenen Kalmücken abgenommen hatte, und auf der ich mehrere schöne Gesänge spielen konnte. Mit ihr verkürzte ich uns die Zeit, und bald merkten wir, daß, so oft ich spielte, ein junges Weib auf der anderen Seite der Gasse ans Fenster kam. Vielleicht spielte ich deshalb mehr, als ich sonst angenehm gefunden hätte, und ich weiß nicht recht, ob sie schöner und für mich passender als alle anderen Weiber war, oder ob das lange Zusammensein mit Männern mein Auge weniger verwöhnt gemacht hatte, aber ich hatte große Freude daran, sie zu betrachten. Gleichwohl sah ich sie nie an, wenn sie das Gesicht nach unserm Fenster wendete, denn ich bin immer vor Weibern verlegen gewesen und habe es niemals recht verstanden, mich in das zu schicken, was sie angeht. Nie habe ich mit Männern Gesellschaft gesucht, die den Kopf voller Frauenzimmer haben und nur nach galanten Gelegenheiten trachten. Und ein jeglicher unter euch, sagt Paulus, wisse sein Gefäß zu behalten in Heiligung und Ehren, nicht in der Brunst der Lust wie die Heiden, die von Gott nichts wissen, und daß niemand zu weit greife, noch vervorteile seinen Bruder im Handel, denn der Herr ist der Rächer über das alles.
Ich war der Ansicht, daß ein Mann sich immer höfisch und ordentlich benehmen solle, und da mein einer Rockärmel in Fetzen war, wendete ich immer die Seite nach der Kammer, wenn ich spielte.
Sie saß gewöhnlich mit über dem Fensterbrett gekreuzten Armen, und die Hände waren rund und weiß, jedoch groß. Sie hatte eine scharlachfarbene Jacke mit Silberknöpfen und vielen Ketten. Eine alte Hexe, die manchmal mit ihrer Zugkarre vor ihrem Fenster unten stehen blieb und mit Marmelade bestrichene Brötchen verkaufte, nannte sie Feodosowa.
Wenn es dämmerte, zündete sie eine Lampe an, und da weder sie noch wir Läden hatten, konnten wir ihr mit den Augen folgen, wenn sie am Herd das Feuer anblies, aber ich fand es richtiger, daß wir uns wegwendeten, und setzte mich deshalb mit meinem Saporoger auf das Stroh in der Ecke.
Außer dem Gebetbuch hatte ich einige herausgerissene Blätter von Müllers Postille und las meinem Saporoger einige Stücke daraus vor und übersetzte sie. Als ich jedoch bemerkte, daß er nicht zuhörte, ging ich zu weltlicheren Dingen über und fragte ihn nach unserer Nachbarin auf der anderen Seite der Gasse aus. Er sagte, daß sie nicht unverheiratet sei, denn die Jungfrauen trügen immer einen langen, mit Bändern durchgeflochtenen Zopf mit einer kleinen roten Seidentroddel. Eher sei sie eine Witwe, denn ihr Haar hinge offen, zum Zeichen der Trauer.
Als es ganz dunkel wurde und wir uns auf das Stroh legten, entdeckte ich, daß der Saporoger meinen Schnupftabakslöffel aus Silber gestohlen hatte; aber ich nahm ihn mir wieder und machte ihm wegen seines Fehltrittes Vorwürfe, und dann schliefen wir wie Freunde nebeneinander ein.
Ich schämte mich fast, als es wieder Morgen wurde, daß ich mich froher fühlte als seit langem, aber sobald ich mit dem Saporoger das Gebet verrichtet und mich sorgfältig geputzt und gewaschen hatte, ging ich ans Fenster und spielte einen meiner schönsten Gesänge.
Feodosowa saß bereits im Sonnenlicht. Um ihr zu zeigen, wie anders als ihre Landsleute die Schweden waren, befahl ich meinem Saporoger, unsere Kammer sauber zu waschen, und nach einigen Stunden waren die getünchten Wände schneeweiß und ohne Spinnwebe. Dies alles half mir, die Gedanken zu verjagen, aber sobald ich mich wieder zur Ruhe setzte, erwachten meine Gewissensbisse darüber, daß ich mitten in solchem Elend mich freuen konnte. Draußen im Saal saßen auf Bänken und Boden meine Kameraden, schwer seufzend und über die ihrigen daheim flüsternd. Der Reihe nach durften jeden Tag zwei von uns ins Freie gehen bis zum Festungswall, aber als ich mich abends auf mein Stroh legte, schämte ich mich, zu Gott zu beten, daß das Los morgen auf mich fallen möge. Ich wußte ja selbst sehr gut: wenn ich mich nach einer Stunde Freiheit sehnte, geschah es nur wegen eines Vorwandes, um in das Haus gegenüber gehen zu können. Und doch fühlte ich, daß ich mich nie da hinaufwagen würde, wenn das Los ohne meine Bitte wirklich auf mich fiele.
Als ich am Morgen ans Fenster kam, lag Feodosowa in den Kleidern und schlief auf dem Boden mit einem Kissen unter dem Nacken. Es war noch früh und kühl, und ich wollte noch nicht die Blechpfeife an den Mund setzen. Aber als ich nun so da stand und wartete, mußte sie im Schlaf empfunden haben, daß ich sie betrachtete, und streckte die Arme in die Höhe, und das alles so schnell, daß ich nicht Zeit hatte, mich unbemerkt zurückzuziehen. Mir wurde heiß um die Stirn, und ich legte die Blechpfeife weg und benahm mich in jeder Weise so linkisch und verlegen, daß ich nie so unzufrieden mit mir selbst gewesen war. Ich spannte und ordnete den Gürtel und nahm die Blechpfeife vom Fenster und musterte sie und tat, als ob ich den Staub aus ihr herausbliese. Als endlich der russische Unteroffizier, der über uns Unglückliche die Aufsicht hatte, meinem Saporoger sagte, daß er einer der beiden sei, die diesen Tag in die Stadt dürften, zog ich den Saporoger zur Seite und ermahnte ihn, einen Strauß der gelben Sternblumen zu pflücken, die ich rings um die verbrannten Häuser am Festungswall gesehen hatte. Bei Gelegenheit wollten wir sie dann Feodosowa geben, sagte ich. Sie schiene ein gutes und ehrsames Weib zu sein, das zur Vergeltung uns Armen vielleicht einige Früchte und Nüsse schenken würde, sagte ich. Das armselige Stück Brot, das uns der Zar täglich gönne, stille nicht einmal den schlimmsten Hunger, sagte ich.
Er hatte Angst, sich im Sonnenschein zu zeigen, fürchtete aber auch Argwohn zu erwecken, wenn er zu Hause bliebe, und daher gehorchte er und ging.
Kaum war er jedoch zur Tür hinaus, als ich es zu bereuen anfing, daß ich ihn nicht festgehalten hatte, denn jetzt in der Einsamkeit wurde meine Verlegenheit noch viel größer. Ich setzte mich aufs Bett in der Ecke, wo ich unsichtbar war, und dort verharrte ich eigensinnig. Die Zeit wurde mir doch nicht lang, denn der Gedanken waren viele, und nach einer Weile hörte ich die Stimme des Saporogers. Ohne zu überlegen, ging ich ans Fenster und sah ihn bei Feodosowa mit einem großen schönen Strauß Sternblumen stehen, die an Schwertlilien erinnerten. Zuerst wollte sie sie gar nicht nehmen, sondern antwortete, daß sie unrein seien, weil sie von einem Heiden kämen. Er tat, als ob er nichts verstünde und nur einzelne Worte ihrer Sprache kenne, aber mit Blinzeln und Gebärden und Nicken machte er verständlich, daß ich die Blumen geschickt habe, und da nahm sie sie schließlich entgegen.
Außer mir vor Scham, ging ich in die Ecke zurück, und als der Saporoger zurückkam, ergriff ich ihn an der Schulter und schüttelte ihn und stieß ihn gegen die Wand.
Kaum hatte ich ihn jedoch losgelassen, als er mit seiner gedankenlosen Lebhaftigkeit wieder am Fenster stand und mit beiden Händen Zeichen machte und ihr mit allen zehn Fingern Kußhändchen zuwarf.
Da trat ich zu ihm heran und schob ihn zur Seite und verbeugte mich. Feodosowa saß und rupfte die Sternblumen auseinander und kaute an den Blättern und ließ sie eines nach dem anderen zu Boden fallen. Der Eifer half mir, so daß ich Mut bekam und zu sprechen begann, ehe ich noch bedacht hatte, wie ich am höflichsten das Gespräch einleiten könnte.
»Gnädige Frau dürfen meines Kameraden Aufzüge und unschickliche Gebärden nicht übelnehmen,« stammelte ich.
Sie riß noch heftiger an den Blumen und sagte nach einer Weile:
»Mein Mann pflegte, als er noch lebte, oft zu sagen, daß es so von Kopf bis zu Fuße wohlgeschaffene Soldaten, wie die Schweden, gar nicht gebe. Er hatte schwedische Gefangene entkleiden und von Weibern schlagen sehen und gesehen, daß die Weiber zuletzt von deren Schönheit so gerührt wurden, daß sie den Stock unter den Arm steckten und statt der Gemarterten schluchzten. Deshalb war ich diese Tage so sehr neugierig ... und die Liebeslieder, die ihr spielt, klingen so wunderlich.«
Ihr Gespräch behagte mir nicht so ganz, und ich fand es nicht taktvoll, im gleichen Geist zu antworten, indem ich ihren Wuchs und ihre weißen Arme bewunderte. Ich verbeugte mich statt dessen und nahm die Blechpfeife und spielte meinen Lieblingsgesang: Aus tiefer Not ruf ich zu dir.
Danach sprachen wir von vielen Dingen, und obwohl mein Wortvorrat gering war, verstanden wir einander bald so gut, daß mir niemals ein Tag kürzer erschienen war.
Zur Mittagszeit, als sie eine Weile mit Töpfen und Schüsseln gerasselt und einen Blätterfächer über den Herdgluten geschwungen hatte, hob sie ein Netz von der Decke herunter, mit dem früher ihr Mann kleine Fische aus dem Flusse geholt hatte. In das Netz stellte sie eine Schüssel mit dampfendem Grünkohl und eine Holzflasche mit Kwas, und der Stiel des Netzes war so lang, daß sie uns die Gerichte über die Gasse reichen konnte. Als ich ihr zutrank, nickte sie und lächelte und sagte, daß sie es nicht für unrecht halte, mit gefangenen Heiden Mitleid zu fühlen. Gegen Abend schob sie ihr Spinnrad ans Fenster, und wir sprachen noch, als es zu dämmern begann. Ich empfand es nicht länger als Sünde, mitten in der Trauer, die uns umgab, glücklich zu sein, denn meine Absicht war harmlos und rein, wie die Sternblumen, die ich über den Aschenhaufen zwischen den niedergebrannten und öden Häusern am Festungswall hatte leuchten sehen gleich einem Lobgesang zu Gottes Güte, so däuchte mich jetzt die Freude meines Herzens.
Als es Nacht wurde und ich mit meinem Saporoger das Gebet verrichtet und ihn noch einmal beim Stehlen meines Schnupflöffels ertappt hatte, begann der gesprächige Mann leise mit mir zu reden und sagte:
»Ich sehe, Väterchen, daß du Feodosowa lieb gewonnen hast, und gewißlich ist sie ein gutes und reines Weib, das du zur Frau nehmen kannst. Daß du dich nie auf einen Liebeshandel anderer Art einlassen würdest, habe ich vom ersten Augenblick begriffen.«
»Was für ein Geschwätz!« antwortete ich. »Was für ein Geschwätz!«
»Die Wahrheit ist auf die Dauer ungefährlicher als die Lüge, pflegst du zu sagen.«
Als er mich mit meinem eigenen Wahlspruch schlug, wurde ich verwirrt, und er fuhr fort.
»Der Zar hat jedem Schweden, der sein Untertan werden und zu dem rechten Glauben übergehen will, gute Anstellung und guten Lohn versprochen.«
»Du bist von Sinnen! Aber könnte ich fliehen und sie auf dem Pferderücken mit heim nehmen, würde ich es tun.«
Am nächsten Morgen, als ich meinen Gesang gespielt hatte, erfuhr ich, daß heute ich an der Reihe war, auszugehen.
Mir wurde heiß und unruhig, und ich kämmte und putzte mich mit mehr Umsicht als sonst und tauschte mir den Fähnrichsrock des Saporogers ein, um nicht meinen zerlumpten tragen zu müssen. Unterdessen ratschlagte ich mit mir selbst. Sollte ich zu ihr hinaufgehen? Was sollte ich dann sagen? Vielleicht war es doch das einzige Mal im Leben, daß ich mit ihr sprechen könnte, und wie würde ich es nachher bis in mein graues Alter hinein bereuen, wenn ich aus Verzagtheit dies eine Mal versäumt hätte! Mein Herz schlug heftiger als bei irgend einer Partie mit dem Feind, wenn ich mit meinem Verbandzeug unter Kugeln und Gefallenen gestanden hatte. Ich steckte die Blechpfeife in den Rock und ging hinaus.
Als ich auf die Straße hinunterkam, saß sie am Fenster, ohne mich zu sehen. Ich wollte nicht zu ihr hineintreten, ohne erst um Erlaubnis zu fragen, und wußte nicht recht, wie ich mich benehmen sollte. Nachdenklich tat ich einige Schritte.
Da hörte sie mich und sah hinaus.
Ich hob die Hand an den Hut, aber mit einem langen, gellenden Gelächter sprang sie auf und rief:
»Haha! Sieh, sieh, Er hat ein Holzbein!«
Ich stand, die Hand in der Luft, und stierte und stierte und hatte weder Gedanken noch ein Gefühl. Es war, als sei mir das Herz angeschwollen und fülle die ganze Brust und sei nahe daran, zu zerspringen. Ich glaube, daß ich etwas stammelte. Ich erinnere mich nur, daß ich nicht wußte, nach welcher Seite ich mich wenden sollte, daß ich sie noch lange hörte, daß alles in der Welt mir gleichgültig war, daß die Freiheit mich gerade so erschreckte wie meine Gefangenschaft und mein Elend, und daß ich mit einem Schlag ein gebrochener Mann geworden war.
Ich glaube, ich erregte mich darüber, daß es bis zur Nacht so lang war, daß ich gezwungen war, im hellsten Sonnenlicht denselben Weg an ihrem Fenster vorbeizugehen. Auf alle erdenkliche Weise zog ich die Zeit hinaus und sprach bald mit diesem, bald mit jenem, aber dann kamen die russischen Dragoner und befahlen mir, heimzukehren.
Als ich die Gasse hinaufging, redete ich mir ein, daß ich mich nicht verraten dürfe, sondern ganz freundlich vor dem Fenster grüßen müsse. War es ihre Schuld, daß so viele der schwedischen Soldaten, von denen sie so groß geträumt hatte, jetzt erbärmliche Krüppel auf Holzbeinen waren!
»Vorwärts marsch!« donnerten die Dragoner, und ich beschleunigte die Schritte, und die Stöße des Holzbeines gaben ihr Echo zwischen den Hauswänden.
»Lieber himmlischer Vater,« stammelte ich. »Redlich habe ich meinem irdischen Herrn gedient. Ist das der Lohn, den du mir gibst, daß du mich in meiner Jugend zu einem wehrlosen Gefangenen machst, dem das Volk Schmutz nachwirft, zu einem armen Krüppel, über den die Weiber lachen! Ja, das ist dein Lohn, und du willst mich in noch tiefere Erniedrigung beugen, auf daß ich einstmals der Krone der Seligkeit würdig werden möge.«
Als ich unter das Fenster kam, führte ich die Hand an den Hut; da sah ich, daß Feodosowa weg war. Das bereitete mir keine Erleichterung mehr. Ich hinkte wieder in mein Gefängnis hinauf, und bei jedem Schritt hörte ich die Stöße meines Holzbeines.
»Ich habe mit Feodosowa gesprochen,« flüsterte der Saporoger.
Ich gab ihm keine Antwort. Mein Glück, meine Blume, die über den Aschenhaufen aufgewachsen war, lag verbrannt; und hätte sie wieder hervorgeleuchtet, ich hätte sie selbst unter meinem Holzbein zu Tode getreten, was bedeutete für mich das Flüstern des Saporogers!
»Ach,« fuhr er fort, »als du gegangen warst, machte ich Feodosowa Vorwürfe und sagte ihr, daß du sie lieber hättest, als sie verstünde, und daß du, wenn du nicht ein Fremdling und Heide wärest, sie zur Frau nehmen würdest.«
Stillschweigend faltete ich meine Hände und biß die Lippen zusammen, um meinen Gram und meine Scham in mir zu verschließen, und dankte Gott, daß er mich mit jeder Stunde tiefer und tiefer beuge, zu Schande und Spott vor den Menschen. Ich öffnete die Tür zu dem äußeren Saal und begann zu den anderen Gefangenen zu sprechen.
»Wie wilde Esel in der Wüste gehen mühsam wir unsere Nahrung suchen. Auf Feldern, die wir nicht besitzen, müssen wir als Schnitter gehen und den Weingarten der Gottlosen einernten, die ganze Nacht nackt liegen aus Mangel an Kleidern und ohne Bedeckung gegen die Kälte. Der Platzregen von den Bergen überschüttet uns, und aus Mangel an Obdach umarmen wir die Felsen. Aber wir bitten dich nicht um Linderung, allmächtiger Gott! Wir beten nur: Führe uns, bleibe uns nahe! Siehe, unserem Volke hast du dein Antlitz zugewandt und den Dorn in unseren Schuh gesteckt, damit wir deine Diener und Kinder werden mögen. In der Erde des Schlachtfeldes schlafen unsere Brüder, und eine schönere Siegespalme als die des Schwertsieges bietest du deinen Auserkorenen.«
»Ja, Herr, führe uns, bleibe uns nahe!« wiederholten alle Gefangenen murmelnd, und aus der dunkelsten Ecke hob sich eine zitternde und einsame Stimme und rief:
»O, daß ich wäre wie in vorigen Monden, in den Tagen, da mich Gott behütete, da seine Leuchte über meinem Haupte schien und ich bei seinem Lichte in der Finsternis ging! Wie ich war in der Reife meines Lebens, da Gottes Geheimnis über meiner Hütte war, da der Allmächtige noch mit mir war und meine Kinder um mich her! So ruft mein Herz mit Hiob, aber ich höre es nicht mehr, und ich stammele nicht mehr: nimm die Prüfung von mir! Ich hatte von dir mit den Ohren gehört, Gott, aber nun hat mein Auge dich gesehen.«
»Still, still!« flüsterte der Saporoger und ergriff mich, und seine Hände waren kalt und zitterten. »Es kann kein anderer sein als der Zar, der unten in der Gasse kommt!«
Die Gasse war mit Menschen gefüllt, mit Bettlern und Buben und alten Weibern und Soldaten. Mitten im Gedränge ging der Zar, lang und schmal und ganz ruhig, ohne Wache. Ein Schwarm springender und schreiender Zwerge war sein einziges Gefolge. Manchmal wendete er sich und umarmte und küßte väterlich den kleinsten der Zwerge auf die Stirn. Hie und da blieb er vor einem Haus stehen, und es wurde ihm ein Becher Branntwein gereicht, den er scherzend mit einem einzigen Zug leerte. Es konnte kein anderer als der Zar sein, denn man sah gleich, daß er allein über die Leute und die Stadt verfügte. Er kam so nahe unter mein Fenster, daß ich seine grüne Tuchmütze und die halb abgenutzten Messingknöpfe an dem braunen Rock hätte berühren können. Im Hemd hatte er einen großen Silberknopf mit einem unechten Stein und an den Beinen dicke, wollene Strümpfe. Seine braunen Augen glänzten und funkelten, und der kleine schwarze Schnurrbart stand von seinen Hippen gerade empor.
Beim Anblick Feodosowas wurde er wie verrückt. Als sie auf die Straße herunterkam und mit einem Becher vor ihm niederkniete, kniff er sie ins Ohr, faßte sie unter das Kinn und hob ihren Kopf hoch, so daß er ihr in die Augen sehen konnte.
»Sag mir,« fragte er, »wo gibt es eine geräumige Kammer, in der ich speisen kann? vielleicht bei dir?«
Der Zar hatte auf seinen Reisen selten einen Zeremonienmeister oder andere Hofjunker bei sich. Er brachte weder Bett noch Bettzeug noch Mundvorrat mit, ja, nicht einmal Küchen- und Tischgeräte, sondern alles mußte im Handumdrehen herbeigeschafft werden, wo es ihm in den Sinn kam, einzukehren. Daher wurde es jetzt auch ein Springen und Lärmen in allen Türen und auf allen Treppen, von der einen Seite kam man mit dem Topf, von der anderen mit der Schüssel, von der dritten mit dem Löffel und dem Getränk. Oben in der Kammer Feodosowas wurde der Boden hoch mit Stroh belegt. Der Zar half dabei selbst wie ein Gemeiner, und den höchsten Befehl führte ein buckliger Zwerg, der Patriarch genannt wurde, und der mitunter den Daumen gegen die Nase führte und sich in die Luft schneuzte, mitten vor des Zaren Gesicht, oder Schelmenstücke erfand, von denen ich keiner Dame von Stand erzählen kann.
Einmal, als der Zar mit übers Kreuz gelegten Armen sich nach dem Fenster wendete, bemerkte er mich und den Saporoger und nickte wie ein Kamerad. Der Saporoger warf sich auf den Boden und stammelte sein: »Ich Schwede, hol' mich der Teufel!« Aber ich stieß ihn mit dem Fuß in die Seite und bat ihn, endlich zu schweigen und sich zu erholen, denn auf diese Weise benehme sich kein Schwede. Um ihn so viel wie möglich zu verbergen, trat ich vor ihn und stand stramm.
»Dat is niet übel«, sagte der Zar, fiel aber gleich in seine Muttersprache zurück und fragte, wer ich sei.
»Blomberg, Feldscher beim Regiment Uppland,« antwortete ich.
Der Zar musterte mich mit einem Blick, der so durchdringend war, daß ich nie einem allwissenderen begegnet bin.
»Dein Regiment existiert nicht mehr,« sagte er, »und hier siehst du den Degen Rhenskölds.« Er hob den Degen aus dem Gehänge und warf ihn auf den Tisch, daß die Schüsseln in die Höhe sprangen. »Aber gewiß bist du ein Schelm, denn du trägst die Uniform eines Hauptmanns oder Fähnrichs.«
Ich antwortete:
»Dies ist eine harte Rede, sagt der Evangelist Johannes. Den Rock habe ich mir geliehen, weil meiner in Lumpen zerfiel; und ist dies unrecht gehandelt, will ich doch auf Gnade hoffen, denn mein Wahlspruch ist: Die Wahrheit reden ist auf die Dauer ungefährlicher als lügen.«
»Gut. Ist das dein Wahlspruch, dann sollst du deinen Diener mit dir nehmen und hierher kommen, damit wir jenen prüfen können.«
Der Saporoger zitterte und wankte, als er mir folgte, aber sobald wir eintraten, wies mir der Zar einen Stuhl unter den anderen am Tische an, als wäre ich seinesgleichen, und sagte:
»Setze dich, Holzbein!«
Er hatte Feodosowa auf dem Schoß, ohne im geringsten darüber nachzusinnen, was davon wohl zu denken sei, und ringsum stampften und pfiffen die Zwerge und eine Menge Bojaren, die sich jetzt zu versammeln begannen. Ein Zwerg, der Judas genannt wurde, weil er ein Bild dieses Erzgauners an einer Halskette trug, nahm eine Handvoll Krabben vom nächststehenden Teller und warf sie an die Decke, so daß sie über das Essen und die Menschen regneten. Als er auf diese Weise die Aufmerksamkeit der anderen auf sich gelenkt hatte, zeigte er mit vielen Grimassen auf den Zaren und rief ihm ganz kaltblütig zu:
»Du verlustierst dich, du, Peter Alexejewitsch! Von der schönen Feodosowa in Poltawa hörte ich schon draußen vor der Stadt reden, ich; aber du grapscht dir immer das Beste, Väterchen!«
»Das tust du!« stimmten die anderen Zwerge rings um den Zaren ein. »Du bist ein Erzdieb, du, Peter Alexejewitsch!«
Manchmal lachte der Zar oder antwortete, manchmal hörte er nicht auf sie, sondern saß ernst und nachdenklich, und seine Augen bewegten sich unterdessen wie zwei grünschimmernde Insekten im Sonnenschein.
Es kam mir in den Sinn, wie ich einmal den höchstseligen Karl den Elften mit Radbeck hatte sprechen sehen, und wie es mir da gewesen war, als ob Radbeck trotz seinen vielen Verbeugungen weit mehr sei als der König. Hier war es umgekehrt. Obwohl der Zar selbst herumging und servierte und sich schlimmer als ein Schelm behandeln ließ, sah ich nur ihn ... und Feodosowa. Ich las seine Gedanken bis ins kleinste. Ich erkannte ihn in den am Stadttor mit Gewalt abgeschnittenen Kaftanen und rasierten Rinnen wieder.
Es brauste in meinem Kopf, und ich kniete demütig im Stroh und stammelte:
»Zarische Majestät! Die Wahrheit reden ist auf die Dauer ungefährlich er als lügen, und der Herr sagte zu Moses: Du sollst nicht mit den Großen halten in dem, was vom Bösen ist. Deshalb knie ich und bitte, nicht mehr trinken zu müssen, denn siehe, ich werde in dem Spiel bald matt sein, und mein gnädiger Herr, der Eurer Majestät ähnlich und auch unähnlich ist, hat mich in den letzten Jahren an gesiebtes Sumpfwasser gewöhnt.«
In dem rechten Backen des Zaren, nahe am Auge, begann es zu zucken und zu zittern.
»Ja, bei Sankt Andreas,« sagte er. »Ich bin meinem Bruder Karl unähnlich, denn er haßt Weiber wie ein Weib und Wein wie ein Weib und opfert die Reichtümer seines Reiches wie ein Weib die ihres Gatten, und schmäht mich wie ein Weib, aber ich ehre ihn wie einen Mann. Sein Wohl, Holzbein! Trink, trink!«
Der Zar sprang vor und ergriff mich am Haar und hielt den Römer an meinen Mund, daß das astrachanische Bier mir über Kinn und Kragen spritzte. Bei jedem Wohl, das getrunken wurde, traten zwei Soldaten in braungelben Uniformen mit blauen Kragen ein und feuerten ihre Pistolen ab, so daß das warme Zimmer, das schon mit Tabakswolken und Zwiebelgeruch erfüllt war, nun auch in Pulverrauch gehüllt wurde.
Der Zar setzte sich noch einmal an den Tisch. Er selbst wollte während des Lärmes sitzen und denken, aber erlaubte nie, daß jemand anderes aus seinem Trinkeramt fiel und ernst wurde, wie er. Aufs neue zog er Feodosowa zu sich aufs Knie. Arme, arme Feodosowa! Sie saß da, ein wenig zusammengesunken, mit hängenden Armen, den Mund willenlos halboffen, als erwarte sie mitten unter den Liebkosungen Hiebe und Schläge, warum hatte sie nicht den Mut, den Degen vom Tisch zu reißen und das Handgelenk gegen die Schneide zu drücken und ihre Ehre zu retten, ehe es zu spät war. Wieder und immer wieder hätte sie über mein Holzbein und meine Schande lachen dürfen, wenn ich mit meinem Leben ihre Ehre hätte retten können. Nie war ich ihr so nahe gewesen und hatte so deutlich gesehen, zu welch wunderbarem Werk sie von den Händen des himmlischen Schöpfers geschaffen worden war. Arme, arme Feodosowa, wenn du wenigstens in deinem Herzen gefühlt hättest, mit welcher reinen Absicht ein Freund dich in deiner Erniedrigung betrachtete und für dein Wohl betete!
Stunde auf Stunde dauerte das Gastmahl, die betrunkensten Bojaren und Zwerge lagen schon im Stroh und jammerten und übergaben sich oder ließen ihr Wasser, aber der Zar selbst stand in einem fort auf und beugte sich zum Fenster hinaus.
»Trink, Holzbein, trink!« befahl er und jagte mich mit dem Römer in der Hand durch die Kammer und ließ die Bojaren mich halten, bis ich ihn bis zum legten Tropfen geleert hatte. Das Zucken in seinem Gesicht wurde unheimlicher und unheimlicher, und als wir schließlich wieder am Tisch saßen, schob er drei randgefüllte Lehmschalen vor mich hin und sagte:
»Jetzt, Holzbein, sollst du den Rundtrunk kredenzen und uns den Sinn deines Wahlspruches erklären.«
Ich erhob mich wieder, so gut ich vermochte.
»Dein Wohl, Zar,« rief ich, »denn du bist gewißlich dazu geboren, zu befehlen!«
»Warum,« fragte er, »würden die Soldaten die Muskete präsentieren und mich grüßen, wenn jemand andres würdiger wäre zu befehlen, als ich? Wo gibt es etwas Erbärmlicheres als einen untauglichen Fürsten! An dem Tag, da ich meinen eigenen Sohn unwürdig finde, mein großes, geliebtes Reich zu erben, an dem Tag soll er sterben. Deine erste Wahrheit, Holzbein, bedarf keines Trinkspruches.«
Die Pistolen knallten, und alle außer dem Zar tranken.
Da sammelte ich die Überreste meines Verstandes wie ein Geizhals seine Münzen, denn ich meinte, wenn ich den Zaren gnädig und mild stimmen könnte, würde ich vielleicht meine Feodosowa retten.
»Wohlan, Zarische Majestät,« fuhr ich daher fort und hob die eine Schale in die Höhe.
»Dies ist astrachanisches Bier, aus Met und Branntwein und Pfeffer und Tabak gebraut. Stark brennt es, ehe es freut, und wenn es freut, betäubt es.«
Dann warf ich die Schale auf den Boden, daß sie in tausend Stücke zersprang. Und ich hob die zweite Schale.
»Dies ist ungarischer Wein. ›Trinke nicht mehr Wasser,‹ schreibt der Apostel Paulus an Timotheus, ›sondern brauche ein wenig Weins um deines Magens willen, und weil du oft krank bist.‹ So redet ein heiliger Mann zu Kranken und Stubenhockern. Aber geh auf das Schlachtfeld hinaus inmitten von Frost und Jammer und sage mir: für wieviele wird wohl diese Schale mit süßlichem Wein reichen, um ihre Schmerzen zu lindern und ihren Tod zu versüßen!«
Darauf warf ich auch diese Schale zu Boden, daß sie zersprang. Sodann hob ich die dritte Schale.
»Dies ist Branntwein. Er wird von den Glücklichen und Reichen gering geschätzt, denn sie dürsten nicht nach Linderung wie die Zugtiere nach dem Quell, sondern sie wollen nur ihre Wollust bewässern. Aber der Branntwein gewinnt die Macht im gleichen Augenblick, da er über die Zunge fließt, wie der Selbstherrscher im gleichen Augenblick, da er über die Schwelle tritt, und Blutende und Sterbende entnehmen wenigen Tropfen lindernde Ladung. Daher nenne ich den Branntwein das Beste, denn ich rede als Kriegsmann, und die Wahrheit sagen ist auf die Dauer ungefährlicher als lügen.«
»Recht so, recht so!« jubelte der Zar und nahm die Schale entgegen und trank und reichte mir zwei Goldmünzen, während die Pistolen knallten. »Du sollst einen Paß und ein Pferd haben, um deines Weges zu ziehen, und wohin du kommst, sollst du von Poltawa erzählen.«
Da kniete ich nach einmal auf dem Stroh nieder und stammelte:
»Zarische Majestät ... in meiner Niedrigkeit und Einfalt ... bei Euch sitzt ein ... ein reines und gutes Weib.«
»Haha!« schrien die Zwerge und Bojaren und versuchten wankend aufzustehen. »Haha! Haha!«
Der Zar erhob sich und führte mir Feodosowa zu.
»Ich verstehe. Auch der, der auf einem Holzbein hinkt, kann sich verlieben. Gut. Ich schenke sie dir, wie sie geht und steht, und du sollst eine gute Anstellung bei mir bekommen. Ich habe jedem Schweden, der in meinen Dienst tritt und sich in unserem Glauben taufen läßt, versprochen, daß er einer von den Unseren werden soll.«
Feodosowa stand wie eine Nachtwandlerin und reichte mir die Hände, was machte das, daß sie mich ausgelacht hatte. Ich würde das bald vergessen, und sie würde mein Holzbein bald nicht mehr sehen, denn ich würde sie ja pflegen und für sie arbeiten und mit ihr beten und ihr Heim hell und freundlich machen. Ich würde sie wie ein Kind zu mir nehmen und sie fragen, ob nicht ein redliches und treues Herz ein anderes zum Pochen bringen könne. Vielleicht trug sie schon die Antwort auf der Zunge, denn langsam strahlte sie auf und wurde heiß, und das ganze Gesicht verklärte sich.
Weit weg in einem Eckhaus in der Pfarrerstraße zu Stockholm saß eine alte, einsame Frau an ihrer Postille und horchte und dachte, ob nicht ein Brief durch die Tür gereicht werden würde, ob kein Invalide mit einem Gruß aus fernen Wildnissen hereintreten, ob ich nie kommen würde, oder ob ich schon tot und begraben läge. Ich hatte jede Nacht für sie gebetet. Ich hatte im Tumult mitten unter Bahren und Jammernden an sie gedacht. Aber in dieser Stunde erinnerte ich mich ihrer nicht mehr, und ich sah und hörte nichts anderes als Feodosowa. Und doch rang ich mit mir und stritt mit etwas Schwerem, das unbeweglich über meinem Herzen lag, und das ich nicht verstand, sondern nur langsam und allmählich zu erklären vermochte.
Ich bückte mich zu Feodosowa, um ihre Hand zu küssen, aber sie flüsterte:
»Des Zaren Hand! Des Zaren Hand!«
Da streckte ich mich nach dieser und küßte sie.
»Meine Glaubenslehre,« flüsterte ich ebenso leise, »und meinen Königlichen Herrn darf ich nicht verlassen.«
Es zuckte noch in der Wange des Zaren, und die Zwerge schleppten in ihrer Angst den Saporoger aus der Ecke vor, um mit seiner lächerlichen Gestalt den Zaren zum Lachen zu bringen. Aber da begann der Arm des Zaren sich konvulsivisch zu bewegen. Sein Gesicht wurde grau, und er wurde von einem seiner gefürchteten Anfälle geschüttelt. Er trat auf den Saporoger zu und schlug ihm mit gewaltiger Faust ins Gesicht, daß das Blut aus Nase und Mund strömte, und zischte mit so heiserer und veränderter Stimme, daß man sie nicht mehr erkennen konnte:
»Ich habe dich durchschaut, Lügner, von der Stunde an, da du ins Zimmer kamst. Du bist ein Saporoger, ein Abfälliger, der sich in schwedische Kleider gehüllt hat. Auf das Rad mit ihm! Auf das Rad!«
Alle, sogar die Betrunkenen, begannen zu zittern und nach der Tür zu tasten, und in seinem Schrecken flüsterte einer der Bojaren:
»Führt das Weib vor! Schiebt sie vor! Sobald er schöne Gesichter sieht und Weiberglieder, wird er ruhig.«
Sie ergriffen sie, die Jacke wurde über ihrem Busen aufgerissen, und sie wurde, leise jammernd, vor den Zaren geschoben.
Es wurde schwarz um mich, und rückwärts wankte ich aus dem Zimmer. Ich blieb auf der Straße unter dem Sternenhimmel stehen, und ich hörte, wie der Lärm verhallte, und wie die Zwerge zu singen begannen.
Da faltete ich meine Hände und erinnerte mich des Versprechens auf dem Schlachtfelde, für die Seele des armen Sünders zu beten, aber je inniger ich mit meinem Gott redete, desto weiter wanderten die Gedanken, und mein Flehen wurde ein Gebet für einen noch größeren Sünder, für ihn, der mit seinen letzten Getreuen auf den öden Steppen umherirrte.
Der Feldscher schwieg, mit einem ängstlichen Blick nach dem Sarg, und die Hofdame folgte ihm zum Katafalk.
»Amen!« sagte sie, und beide breiteten sie die Decke wieder über die wachsbleiche Königin-Witwe, die Mutter der Karle.