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Das Schmettern der Trompeten begrüßte inmitten der geschmückten Häuser Moskaus den aus Poltawa heimkehrenden Zaren, vor ihm her zogen in Reih' und Glied in verblaßten und verstaubten Uniformen die entwaffneten schwedischen Kriegsgefangenen. Auf den Ehrenpforten aus Ziegelsteinen erblickten sie Malereien, auf denen der zornige Adler des Ostens den ertrinkenden oder von Pfeilen durchbohrten schwedischen König zerriß. Jeder Schritt führte sie tiefer und tiefer in die fremde Barbarenstadt hinein, die sie mit ihren beschuppten Ringmauern umschloß. Die Türme glichen himmelhohen Fliegenpilzen oder seltsam geformten Himmelsgloben, überstreut von zackigen goldenen Sternen. Tische mit unbekannten Gerichten und Erfrischungen waren vor jedem größeren Haus für den Zaren und seine Herren gedeckt. Kerzen und Lampen flackerten vor breiten, schwarzbärtigen Christusköpfen und unbekannten Heiligen, aber auf beiden Seiten der Straße wälzte sich die Volksmasse wie Wasser in den Rinnen und verspottete und verhöhnte die Geschlagenen, verweinte Witwen und früh ergraute Frauen oder Schwestern, die seit langem aus den schwedischen Provinzen an der Ostsee in die Sklaverei fortgeschleppt worden waren, erkannten von den Fenstern aus Anverwandte unter den Gefangenen. Sie riefen tröstende Bibelworte, aber niemand konnte sie hören bei dem Schießen, Glockenläuten und Siegessang, die durch die Stadt dröhnen mit dem losgebrochenen Tumult einer Feuersbrunst oder eines Karnevals.
Zuerst kamen die Soldaten. Dann marschierten hinterher die grauen Bataillone der mageren Finnen, die so oft, wenn ein Kamerad sie zu den Wachtfeuern heranwinkte, in ihre roten Bärte gegrinst, die Musketen über die Schneewehen geschüttelt und eigensinnig ihr unbegreifliches »Sei somme tässä!« »Wir sollen hier stehen!« wiederholt hatten.
»Ihr guten finnischen Brüder,« sagten die gefangenen Weiber von den Fenstern aus, »während euer eigenes Heim in Flammen stand, seid ihr auf Leben und auf Tod den Unseren gefolgt und habt auf eurem Posten gestanden wie arme kleine Fichtenbäumchen, wenn wir noch einmal zu einer schwedischen Christmette fahren, werden wir auf die kleinen Fichtenbäume deuten, die den Weg entlang im Schnee stehen und sagen: die Finnen, die Finnen!«
So zogen die Offiziere von den untersten bis zu den obersten vorüber und nach ihnen die genommenen Kanonen mit ihrem Pferdegespann. Auf einem langen Schlitten standen die Pauken, deren Getöse so manchen Abend in der Dämmerung auf dem Schlachtfeld die blutenden Schwadronen zusammengerufen hatte. Auf einem anderen Schlitten standen die Trommeln, wie oft hatten sie nicht in eroberten Städten mit einem schnellen Wirbel die Plünderer gezwungen, das Schwert augenblicklich in die Scheide zu stecken und sich hinter dem König ins Glied zu stellen, hinter einem jungen, siegenden König, der licht auf seinem Streitroß saß, das empfangene Schlüsselbund noch in der Hand. Danach kamen die Standarten und Fahnen mit ihren Gauwappen, aber sie wurden umgekehrt unter dem linken Arm getragen und wurden im Straßenschmutz geschleift. Lederhandschuhe und blaugefrorene Hände ballten sich über den zerschossenen Lappen, die noch die Blutspuren ihrer letzten Verteidiger trugen. Es regnete Schneebälle, Steine und Sand über die Greifen Söderman- und Ostergötlands, über den Reichsapfel Upplands, über die gekreuzten Pfeile Dalarnas und Nerkes, über den feuerspeienden Berg Västmanlands, den Bock von Helsingland, die belaubten Bäume von Bleking und über das in der Mitwinternacht umherstreifende Renntier von Västerbotten. Immer wütender und unsinniger werdend, entriß das Volk den Wärtern die Muskete und rief:
»Schmutz und Schande über die Fahnen dieser Hunde!«
Da zogen die russischen Soldaten blank, und jetzt sah man die Handpferde des schwedischen Königs, seine gebettete Bahre und den leeren, blaubespannten Feldstuhl. Dicht dahinter folgten die Generale um den gebeugten Lewenhaupt herum, und dann kam der Feldmarschall, aber zunächst dem Pferde des Zaren schritt Exzellenz Piper, der Staatsminister, er, der zur Zeit der Mittaghöhe seiner Größe zweien schwedischen Königen zur Seite gestanden hatte.
Er schien nichts zu hören, nichts zu sehen. Er, den man den geistreichsten Kopf Schwedens genannt, er wußte heute dem Gelächter und den Stichelreden, die aus aller Mund ihn grüßten, keine Antwort. Es sah aus, als befänden sich seine Gedanken bei ganz anderen Ereignissen und Schicksalen.
Als er am Abend in sein Quartier geführt worden war und nun die Raketen über dem zugefrorenen Flusse knatterten, saß er schlafend in einem Lehnstuhl und wachte sogar nicht auf, als der Diener ihm die Nachtmütze aufsetzte und die Decke um ihn wickelte.
Wieder wurde es Morgen, und wieder läuteten die Glocken. Ein Tag folgte dem anderen, und ein Jahr folgte dem anderen, aber alle wurden sie gleich schwer.
Franckes und Arndts fromme Schriften lagen auf seinem Tisch. Er vermochte den Feldmarschall und Lewenhaupt dazu, sich versöhnend die Hand zu schütteln, und er wurde ein väterlicher Steuerer des unglücklichen Volkes, das mit ihm in der Sklaverei lebte, verarmte schwedische Soldaten begegneten ihm oft in früher Morgenstunde, wenn er mit hastigen Schritten durch die Straßen eilte, nur gefolgt von einem kleinen, bellenden Hund.
Da geschah es, daß er unvermutet aus seinem Haus weggeführt wurde, und als nach langem, ängstlichen Bangen einige Landsleute ihm wieder unter freiem Himmel begegneten, war es weit weg von Moskau, und er selbst war ein gebrochener Mann geworden.
Es war ein sonniger Frühlingstag. Die Flüsse begannen schon das Eis zu sprengen und alle Herzen vor Heimweh zu klopfen. Petersburg war jetzt aus dem von den Schweden eroberten Sumpfboden emporgewachsen, und auf dem Hofe der Peter-Pauls-Festung stand eine elende Holzhütte, vor der Hütte ging Exzellenz Piper hin und her. Nachdem er siebzehn Tage und Nächte bei Wasser und Brot gehungert hatte, durfte er hier eine Stunde lang frische Luft schöpfen. Der Rock war zerrissen und hing in weiten Falten. Der Stock zitterte ihm steuerlos in der Hand, die einstmals Polens König und Königin geküßt hatten, und die so oft, ehe der Name unter eine Vollmacht oder Verordnung geschrieben worden war, silberne Büchsen oder Schnupftabaksdosen, mit Dukaten gefüllt und von Diamanten schimmernd, empfangen hatte.
Einige Schritte entfernt standen die wachthabenden Soldaten, und die Exzellenz durfte mit niemand anderem ein Wort wechseln als mit dem Bataillonsprediger Bredenberg. Mit besonderer Erlaubnis hatte sich dieser eben der Hütte genähert. Er zog einen Brief von den Kameraden in Moskau heraus und las ihn Piper laut vor.
»Der kleine Hund, den die Exzellenz bei ihrem plötzlichen Wegzug hier zu lassen sich genötigt sah, ist behutsam gepflegt worden, aber er hat sich unter erbärmlichem Winseln in alle Ecken versteckt ohne Nahrung und Trank anrühren zu wollen und ist jetzt gestorben. Gäbe Gott, daß wir Gefangenen uns wie dieses unvernünftige Tier in einen Winkel legen und von dem Erdenleben erlöst werden könnten, aber es ist unser inniger Wunsch, daß seine Exzellenz jetzt bald freigekauft und ausgetauscht werden möchten und zu Weib und Rind heimkehren dürften. Für alles, was er uns hier gewesen ist als väterlicher Beschützer und christlicher Helfer, wird er stetig von unserem dankbaren Segen begleitet...«
Piper stand mit dem Rücken gegen Bredenberg und stierte eigensinnig in den Sand hinunter. Er grübelte nicht über die Hartherzigkeit seiner Wärter, aber das Ohr vernahm aus der Ferne den verbitterten Tadel des Königs. War er nicht, der Staatsminister, freiwillig nach Poltawa – hineingeritten und hatte den Degen gestreckt? Hörte er nicht die Flüche seines eigenen Volkes? Daheim in Stockholm zerschmetterten Steine die Fensterscheiben in seinem Hause. Er sah sein Eheweib, Frau Kerstin, alle die mit Brillanten besetzten Ringe zusammenpacken, die Schachteln und die vielen kleinen Silbergegenstände im Salon, wo früher in jeder Fensternische Audienz wünschende Schweden und Fremde standen und warteten. Er konnte sich in dem Dunkel der Nacht den Weg von der Stadt nach Angsö fahren sehen. Er konnte sich stundenlang einbilden, in einem schwedischen Kirchenstuhl zu sitzen und den Pfarrer Gottes Strafgericht herabrufen hören über den von den Ausländern bestochenen Königsverführer Piper, der zu den letzten Kriegen geraten, und der sich aus Menschenknochen einen Weg über die Schneewehen der Ukraine gebaut hatte. Die unglücklichen Mitgefangenen waren seine einzigen Freunde geworden. Er hatte nicht einmal mehr ein Vaterland, nach dem er sich sehnen konnte. Er allein kannte die Ungereimtheit der Anschuldigungen gegen ihn, aber er konnte seinen Herrn nicht bloßstellen, nicht Staatsgeheimnisse aufdecken. Gebrochen stolperte er um seine Hütte herum, – ein Gefangener, der unter den Schmähungen seiner Landsleute und Fremder schweigend zu sterben hatte, wie er früher so manchen Soldaten ohne Namen in den Schlachtreihen hatte fallen sehen.
»Exzellenz,« sagte Bredenberg, »viele Briefe, diesem ähnlich, den ich soeben vorlas, gelangen nach Schweden, ja bis zum König, und es wird erzählt, er sei schon halb besänftigt. Der Zar hat jetzt in den Fasttagen Eure Exzellenz dahin gebracht, schriftlich bei der Gräfin um eine Auszahlung von dreißigtausend Reichstalern zum endlichen Loskauf aus der Gefangenschaft einzukommen ... Bereuen Sie den Entschluß nicht! Sonst werden böse Zungen sagen, daß es aus Geiz geschieht. Mit der zurückgewonnenen Freiheit kann alles wieder gut werden, wie in früheren Zeiten.«
Piper erwiderte leise:
»Ich wünsch' die Jahre nicht zurück,
dem Herrn vertrau' ich mein Geschick.«
Aber in demselben Augenblick wandte er sich um, blutrot im Antlitz, und rief mit dünner Stimme:
»Was tausend Sakrament will der Herr eigentlich? Ich habe heimlich die Gräfin ersucht, das Verbot des Königs zur Hergabe des Geldes zu erwirken ... Damit punktum! Mit meinen Landsleuten bin ich hierhergekommen, und bei ihnen will ich ausharren, nachdem uns Zivilisten keine Kugel vergönnt worden ist.«
Bredenberg lächelte über die Hitzigkeit der alten Exzellenz, beugte aber den Kopf und blieb an der Bank stehen.
»Es wird gesagt, daß der Zar die Absicht habe, Eure Exzellenz in die harte Haft der Schlüsselburg zu bringen, und bei nahezu siebzig Jahren ist der Körper ein gebrechliches Gefüge ... Inständig bitte ich daher in aller Einfalt, kehren Sie nach Hause zurück, wohin sich unser aller Herz mit allen Fasern sehnt, wenn uns auch Schmähungen zu Boden beugen. Laden Sie nicht die unauslöschliche Schmach über uns, daß der Mann, der zwei unserer größten Könige am nächsten gestanden ist, in Hunger und Elend verkommt, landesflüchtig und mit seinem Volke unversöhnt!«
Piper hämmerte auf die Wand der Hütte.
»Beuge er seine Stirn vor dem Altar und nicht vor abgedankten Menschengrößen! Aber ist er mir nahe, wenn die Auflösung bevorsteht, so sehe er zu, daß die Leiche auf Gewürz oder Salz gebettet wird und der Heimat zugeführt werden kann. Meine Tage sind gezählt. Habe ich den Schweden bei zwei Herren gedient, so mag ich denn auch in Demut zuletzt da dienen, wo nun ihre unglücklichsten Söhne weilen.«
Als Bredenberg sich mit bekümmertem Gemüt zurückzog, kam aus dem naheliegenden Senatshause eine Schar schwedischer Offiziere in Schafspelzen und Mänteln. Vor ihnen her ging in seinem braunen Gewand der Trabantenprediger Nordberg, leicht erkennbar an seinem stattlichen Wuchs. Sie sollten ausgetauscht und heimgesandt werden, und schon lag ihr Bettlerkram zusammengepackt unter den Mehlsäcken auf einem Prahm am Flußufer.
Oben am Festungswall verstummte das Geklirr der Ketten, und die schwedischen Arbeitergefangenen schauten über ihre Schiebkarren hinaus nach den heimkehrenden Landsleuten. Gleich aber begannen die Räder wieder zu knarren und die Hacken zu klopfen. Das waren die Geringeren, die ohne Namen unter den lebendig Toten, die nichts von den Ihrigen wußten und nie einmal an die Stubentüren pochen sollten, sondern dazu verdammt waren, zu bleiben, zu verschmachten und Tag für Tag an der fremden Stadt zu bauen.
Piper hob langsam die zitternde Hand und deutete auf den Wall.
»Da stehen meine Brüder!« sagte er.
Bredenberg, der den freigewordenen Offizieren entgegenging, zupfte Nordberg leise am Mantel, und alle wandten sich zu Piper und entblößten ihr Haupt. Sie durften ihn nicht anreden, keinen Gruß mitnehmen, aber Nordberg blieb stehen, so wunderbar berührte ihn diese Erscheinung. Er griff über seine Brust, und als er das Gebetbuch, eingesteckt zwischen Rock und Weste, fand, hielt er es empor und deutete auf das Kreuz im Einband.
»So leite denn Gott deine Pfade,« flüsterte er, »da dieser Mann zu einem der größten Märtyrer unseres Volkes auserlesen ist. Seinem gekränkten Namen Ruhm und Ehre!«