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Bonaventura war von Bozen nach Wien gereist und hatte von Pater Canisius S. J. den letzten Brief Baron Frangarts erhalten, dessen Inhalt er durch die Fügung Gottes schon in Schloß Frangart kennen gelernt hatte.
Sodann schrieb Bonaventura an seine Obern in Chamfort und erbat sich weiteren Urlaub.
Im Wiener Ordenshaus legte Bonaventura, obzwar er sich bewußt war, nichts Schlechtes getan zu haben, in der demütigen Erkenntnis, daß auch die leisesten ungehörigen Regungen des Geistes wider den Willen der heiligen Gesetze seien und daß die Seele nur durch immerwährende Prüfung von allem Makel befreit werden könne, eine Generalbeichte ab.
Hierauf unterwarf er sich einen Monat lang freiwillig den schwersten geistlichen Exerzitien. Jeden zweiten Tag enthielt er sich ganz der Speise. Er unterbrach um die zwölfte Stunde jeder Nacht den Schlaf, sodann wieder um die zweite Stunde jedes Morgens und betete die Horen. Um vier Uhr verließ er sein Lager und suchte es erst nachts elf Uhr wieder auf; es bestand aus einem Brett, auf das er sich nur eine dünne Decke breiten ließ. Freiwillig oblag er den niedersten Verrichtungen, die sonst den Fratres zukommen; er reinigte die Zellen und trug den Ordensgenossen das Mahl auf. Während des ganzen Monats enthielt er sich der Sprache; außer dem heiligen Gruß kam kein Wort über seine Lippen. Seine tägliche Messe las er »zur Sühne für den Schrei der Sehnsucht«, jener Sehnsucht, jenes Schreis, die, wie Baronin Frangart in der Ohnmacht gestammelt hatte, Fleisch geworden waren.
Nach dieser Zeit der Buße fühlte er sich ein wenig getröstet. Mit Mitleid blickten die Ordensbrüder auf den gezüchteten abgemagerten Leib Bonaventuras, dem die Kleider zu weit geworden waren. Die so gütigen Augen des Paters waren noch gütiger geworden ...
Als die Zeit um war, reiste Bonaventura zu Marquis Choiseul auf Choiseul und Riom. Er traf ihn auf dem Krankenlager. Die Gicht plagte den alten vereinsamten Herrn. »Aber wenn es nur das wäre!« sagte er mit schmerzlichem Lächeln zu Bonaventura, dessen hagere Gestalt er mit Rührung gemessen hatte. »Wenn es nur das wäre. Das könnte ich abwarten. Aber das andere, das moderne Frankreich ... La pauvre France bien-aîmée! das frißt an mir. Der Schmerz frißt, und ich kann ihn nicht los werden. Sehen Sie, Bonaventura, und wenn ich mir hundertmal denke: was gehts dich noch an, du bist ein gebrechlicher Alter und stehst nah am Grabe ... Ach, es hilft nichts! ...«
Bonaventura wollte ihm Trost zusprechen, ihm sagen, daß diese Zeit der Anarchie in Frankreich unmöglich lang dauern könne; aber er fand die Worte nicht, da er selber nicht daran glaubte. Mit einer müden gramvollen Geste drückte er seine innersten Gedanken aus ...
»Nein!« unterbrach der alte Choiseul das schmerzliche Schweigen ... »Nein und nochmals nein! ... Ich glaube nicht mehr an unser armes Frankreich. Die Anarchie wird es zerfressen. Ein Land, dessen régime die Legitimität verloren hat, die göttliche und menschliche Legitimität, das geht zugrund. Es gibt kein Heilmittel dagegen ... Ach ja, wenn die Bourbonen einen Napoleon hervorbrächten! ...« Und wieder versanken die zwei Männer in das dumpfe Schweigen ihres umflorten Schmerzes.
»Miéville, geben Sie mir Ihre Hand!« begann endlich der alte Choiseul. »Miéville, Sie verstehen mich. Können Sie verzeihen ... Nein, es braucht keine Verzeihung, es hat sein müssen ... Können Sie auch verstehen, was ich an Ihnen getan habe? ...« Bonaventura ahnte das Bekenntnis und ließ einen Augenblick unentschlossen das Haupt sinken. Aber sogleich erhob er es wieder. »Oh Marquis!« rief er halblaut, und mit einer weiten Geste segnete er das Krankenlager, ja, gleichsam den ganzen Geist, die ganzen Ideen dieses in strenger Tradition erzogenen Mannes. Und mit einem Male verstand er das namenlose Leid, das an diesem Alten zehrte: die zerstörte Legitimität seines Vaterlandes, der unaufhaltsame Gang der modernen Ideen, der Zusammenbruch der Überlieferung und der alten Autoritäten ... Wiederum erhob er die Hand zum Segen und zur Versöhnung. Der Alte fühlte sich verstanden und schluchzte dankbar in sich hinein. »Oh, Miéville!« begann er unter Tränen, »ich selbst habe verhindert, daß Sie Ihr Vater zum comte Riom machte, wie er ja nach diesen schrecklichen neuen Gesetzen gekonnt hätte ... (Bonaventura lächelte leise, wie er sah, daß den Alten, mitten in seiner Bitte um Verzeihung, nochmals der Zorn gegen die Illegitimität, gegen die ihm damit gleichbedeutenden neuen Gesetze überfiel) ... Die Gräfin Riom war seit zwei Jahren tot; da brachte Sie die Wäscherin Miéville zur Welt. Nein, es war keine reiche Witwe, Miéville, und Ihre Geburt bezahlt sie mit ihrem jungen Leben. Und Ihr Vater freute sich, einen Sohn zu haben ... Da habe ich, der alte Choiseul, ihm Tag und Nacht abgeredet, Sie zu legitimieren, da Sie nun doch einmal illegitim geboren waren ... Ach, Miéville, verzeihen Sie mir, ich konnte nicht anders ...« Miéville streichelte liebkosend die weißen Haare des Marquis Choiseul.
»Denken Sie Sich mein Entsetzen!« fuhr dieser nach einer Weile leise, fast flüsternd fort, »denken Sie Sich mein Entsetzen, als ich die Komtesse damals mit Ihnen am Fenster sah, sie hatte ihren Halbbruder erraten, mehr war das nicht ... aber sie konnte ihre eigne Zärtlichkeit mißdeuten, konnte glauben, das sei Liebe ... oh, und sie hat es geglaubt, der unglückliche Frangart hat es mir erzählt ... nein, nicht erzählt, nur angedeutet, auch nicht ... ich habe es erraten. Ich trage die Schuld, nein, es war keine Schuld, es war nicht die geringste Schuld, Miéville ... ich durfte nicht dulden, daß Sie als Bruder der Komtesse dastanden, Sie, ein illegitimes Kind der Wäscherin Miéville ...« Der Marquis ergriff in diesem Augenblick die Hand Bonaventuras und küßte sie ... »Ich küsse Ihre Hand, Miéville,« sagte er, unter Tränen lächelnd. »Sie haben Sich legitimiert. Unsere Kirche ist es, in der Sie Sich legitimiert haben ... denn es gibt eine geistliche Legitimität, eben unsere Kirche ...«
Erschöpft hielt der Marquis inne und lehnte sich in die Kissen zurück. »Ja, Miéville,« begann er dann wieder, »ich habe mich so gefreut, als Sie bei den Jesuiten eingetreten waren – diese alte geistliche Zucht und Tradition! ... Denn das glaube ich, ein Verwandter der Bourbonen: die geistliche Legitimität ist bei der katholischen Kirche, und sie hat unsere weltliche gebilligt, gekräftigt und geweiht. Und in dem Glauben küsse ich die Hände von Pater Bonaventura.« Wieder lächelte der Marquis, und seine Tränen netzten die Hand des Paters, der ihm mit einem gütigen und verzeihenden Blick seiner dunkeln Augen wehrte.
»Erzählen Sie mir von Baron Fritz!« bat Choiseul. – »Wie soll ich sagen? kühl ist er wie ein Deutscher, aber grazil, geschmeidig und elegant wie nur ein Romane,« erwiderte Bonaventura. Da erhob sich der alte Choiseul noch einmal mühsam aus seinen Kissen. Sein Auge leuchtete unter den ergrauten buschigen Brauen. Feierlich machte er das Zeichen des Kreuzes. »Ich segne dich, Baron Frangart!« sprach er langsam. »Das ist die Mischung, die ich gewollt habe, ich, Marquis Choiseul. Gott mache sie fruchtbar! ... Ich baue auf die Deutschen, ich, ein Franzose ...« Und es schien, als ob er mit sich allein spräche. »Ich baue auf die Deutschen,« wiederholte er, »ich baue auf ihre Armee, die, so Gott will, die Legitimität in Europa wieder herstellen wird. Und Gott will das. Gott will Legitimität, denn er gibt sie und hat sie gegeben. Die katholische Kirche und die deutsche Armee – das ist das Herrlichste, was wir heute haben ... Sogar die deutsche Sozialdemokratie ist wie eine Armee, so ruhig, so besonnen, so voller Zucht ... Ich baue auf die Deutschen, auf ihren einfachen legitimen Geist ... Wenn es möglich ist, mag Baron Frangart in ihre Armee eintreten ...«
Bonaventura schwieg erschüttert. Da lag dieser alte adelige Franzose, der, in seinem unverrückbaren Glauben an die Macht von Gottes Gnaden, sogar den jahrhundertealten Haß gegen die Deutschen überwand. Und Bonaventura dachte an die ungeschlachten weißgrauen Bergmassen des Brenners. In fröstelnder Trauer zog sich sein Herz zusammen. Aber wie damals in Franzensfeste, im Angesicht der triumphierenden Sonne des Südens, flüchtete er sich wieder in seine ihm heilige Idee eines endlichen imperiums der römisch-katholischen Kirche, der ecclesia triumphans, wie sie geweissagt war ... Zweites Buch