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Baron Frangart, der weder seinem Vormund, noch den zwei auf Frangart lebenden Dienstboten irgendeine Nachricht von seiner Ankunft gegeben hatte, fuhr, gegen Abend in Bozen angekommen, in einem Wagen über Sigmundskron hinauf nach Frangart. Und seine starre Miene erhellte sich nicht unter dem Anblick des hohen Himmels und der hellen Sterne.
Er kam im Schloß an, und zog herb und gebieterisch an der halbeingerosteten Glocke. Niemand schien zu hören, und er läutete nochmals. Endlich rief eine männliche Stimme unwirsch durch das Schlüsselloch: »Zum Teufel, wer ist da? Was wollen Sie?« »Ich bin es, öffnen Sie sofort!« Der Schlüssel drehte sich eilig, Baron Frangart trat ein und sah sich um; vor ihm stand Georg im Hemd und hielt das Nachtlicht in der Hand; über das Stiegengeländer aber gaffte, vor Überraschung starr und ebenfalls im Hemd, Jeanette herunter; die Neugierde schien sie ihrem Mann – denn das war Georg mittlerweile doch geworden – nachgetrieben zu haben.
Das unordentliche Aussehen der beiden störte Baron Frangart. »Kleiden Sie Sich an,« rief er, »und machen Sie beide, daß Sie weiterkommen!« (Davon, daß die zwei Eheleute geworden waren, wußte er nichts, obzwar sie es ihm einmal geschrieben hatten.)
Baron Frangart ging hinauf in sein Schlafzimmer, ohne Rührung, ohne jedes besondere Gefühl der Erinnerung, wie als ob er dieses Schloß nie verlassen hätte.
Nach einer Weile klopfte es demütig an seiner Türe. Es war Georg. »Der Herr Baron weiß vielleicht noch nicht, daß wir verheiratet sind,« sagte er leise. »Verheiratet oder nicht, mich ekelt es an ...« – »Entschuldigen Sie, Herr Baron!«
Unten knurrte Georg seine Frau zornig an, als ob sie Schuld trüge: »Geh aus dem Haus! Aber sofort! Du wirst schon irgendwo ein Nachtquartier finden ... Frag in Sigmundskron unten.« Jeanette zog sich eilig an und verließ gehorsam das Haus.
Es klopfte das zweite Mal an die Tür des Schlafzimmers: »Herr Baron, sie ist fort!« – »Eintreten!« Und Georg trat ein und tat alles, was sein Herr, bevor er schlafen ging, wünschte. Er heizte das Bad und packte die Koffer aus. Und berief sich nicht mehr darauf, daß Jeanette seine ehelich angetraute Frau war.
Acht Tage lang – die der Baron verbrachte, wie er sie als Kind auch verbracht hatte, in der Sonne, an die Mauer des Schlosses gelehnt – schien einige Friedlichkeit in ihn eingekehrt zu sein. Aber dann beschritt er eines Tages den Friedhof und trat an das Grab derer von Frangart. Seine Miene verdüsterte sich: »Also,« flüsterte er, »also sind Mutter und Vater tot! Deshalb bin ich so allein ... Liebe Eltern, gebt mir doch ein fruchtbares Leben ...« Der Geist des Baron Frangart lag in dunkler Nacht. Und die triumphierende Sonne des Südens vermochte sie nicht zu erleuchten.
Der kaum erblühte jugendliche Körper hatte seinen Herrn verloren ... Die Augen glühten, aber in wirrem Feuer. Es schien, als ob Baron Frangart dort in München, gegen das Ende seines Aufenthaltes, auf der Fahrt, beim Eintritt ins Schloß, noch mit letzter Willensanstrengung seinen Geist aufrecht erkalten hätte, um auf dem geheiligten Boden seiner Vorfahren zusammenbrechen zu können. Der alleingebliebene, reingebliebene Mensch war an der Einsamkeit seines Daseins, an der Unfruchtbarkeit seines Lebens – mit wie unvergeßlichem Stolz er sie, im Bewußtsein seiner Wohlgeborenheit, auch ertragen hatte – gleichsam vertrocknet. Wie das schlanke geschmeidige Reh sich beim Nahen des Todes in den tiefsten Winkel des Waldes flüchtet, um dort sein Ende zu erwarten, so hatte sich Baron Frangart auf sein Schloß heimgeflüchtet. Und mit großen wirren Augen, die langen langen Wimpern selten senkend, starrte er ins Leere.
Kamen Menschen in seine Nähe, so hob er die Hände vor das bronzefarbene Gesicht, vor die schmäler gewordenen, aber anmutig gebliebenen Wangen, und wehrte sie wie etwas Unreinliches ab. Halbgeöffnet stand der edel geschwungene Mund, und manchmal klapperten die Zähne leise aufeinander.
Die Landbewohnerinnen aber ringsum weinten beieinander, daß so viel Schönheit dem Verderben geweiht war ...
Pater Bonaventura erfuhr die Kunde durch die Vormundschaft in Bozen. Er eilte nach dem Süden. In der Furcht, daß seine Ankunft den jungen Baron erschrecken oder seine Leiden vergrößern möge, begab er sich in die Pfarrkirche und wanderte, in weißer Soutane, mit dem Heiligsten Leib des Herrn nach Frangart. Und seine bitteren Tränen netzten die silberne Kapsel, in welcher die verwandelte Hostie eingeschlossen war. Ach, er vertraute darauf, daß der Unglückliche wenigstens das Allerheiligste Geheimnis noch ein Mal fühlend erfassen und erleben werde können. Und in der Tat, obwohl Baron Frangart Bonaventura nicht wieder zu erkennen schien, wurde sein Auge vor dem Anblick der erhobenen Hostie noch einige Sekunden milder und klarer; er schien zu wissen, was ihm geboten wurde, denn ergeben kniete er sich nieder. Bonaventura sprach die Generalabsolution über ihn aus und betete dann für ihn dreimal die rituellen Worte: »Oh Herr, ich bin nicht würdig, daß Du eingehest unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.« Nach dem Empfange des Sakraments blieb Frangart knieen. Man konnte sehen, wie die kurze Klarheit seiner Augen allmählich erlosch und ins Wirre überging. Er blieb lange knieen, bis ihn das Zureden des Pater Bonaventura zusammenschrecken ließ, dann lief er weg, schlich um das Haus und hockte sich in die Sonne ...
Ein paar Tage später kam Schlagintweit an, der von nichts wußte und überdies München schweren Herzens verlassen hatte: Der Sohn, Knabe »Nummer achtzehn«, den er so plötzlich und anscheinend für lange Zeiten adoptiert hatte, war seiner nervösen Braut wenig willkommen. Und als in dieser Zeit ein königlich bayerischer Bahnadjunkt neu in ihr Leben trat, schien sie zu überlegen, ob nicht eine sichere Staatsstellung einem längeren Brautstand vorzuziehen sei. Und gerade während dieser Überlegungen trieb ihn, Schlagintweit, seine große Liebe nach Frangart. – Wer beschreibt seine Trauer! Der junge Baron erkannte ihn nicht mehr. Vierzehn Tage logierte Schlagintweit in Sigmundskron und stieg jeden Tag zum Schloß hinauf, um vielleicht doch noch einen Blick des Wiedererkennens zu finden. Umsonst. Und als er am vierzehnten Tage wieder hinaufstieg, liefen Pater Bonaventura und alle andern verstört umher. Der junge Baron war verschwunden und alle Nachforschungen waren vergebens; nach einigen Tagen gab jedermann die Hoffnung auf, daß er noch lebe. Er hatte sich wohl irgendwo im Wald niedergesetzt, war vielleicht dann nochmals aufgestanden und im Irren herumgerannt, hatte sich wieder gesetzt und vielleicht um Hilfe gerufen ... Er war tot.
Baron Frangart, der sein Leben vor den unreinlichen Menschen mit solcher Tapferkeit verschlossen hatte, – er hatte ihnen auch den Anblick seines Todes verborgen ...
Pater Bonaventura klagte nicht, daß Gott sein und aller andern, namentlich des alten Choiseul Gebet, das Leben dieses Menschen fruchtbar zu machen, nicht erhört hatte; er weinte nur und betete weiter.
Schlagintweit seinerseits fuhr in tiefer Trauer nach München zurück. Dort aber, wie denn überhaupt im Verlauf seines ganzen Lebens, schenkte er aufs neue sein Herz den Menschen, – obwohl ihn seine Braut alsbald schnöde verließ und den Bahnadjunkten heiratete; obwohl sein Sohn, der Knabe »Nummer achtzehn«, ihn vielfach hinterging, um endlich als Komödiant irgendwo zu landen.
Sie alle drei handelten, wie es eben, dem göttlichen Ratschlusse gemäß, solchermaßen in ihrer Bestimmung lag ...
Die Choiseul, Riom, Frangart und Bourbonen aber waren, soweit sich das hier auf Erden und unter Menschen mit Wahrscheinlichkeit sagen, bestimmt aber nur hoffen läßt, bei ihrem Gott versammelt, von dessen Gnaden sie gelebt hatten. Romanen und Germanen mischten sich hier jedenfalls friedlich untereinander; kein Schrei der Sehnsucht rang sich mehr aus ihrem Munde. Das ewige Licht leuchtete ihnen. Amen!