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Am ersten Weihnachtsfeiertag dieses Jahres gab Baron Frangart dem Wagenkutscher die Adresse eines Findelhauses, von dem er eine Einladung zur Weihnachtsfeier erhalten hatte. Man hatte ihn schon etliche Wochen vorher angebettelt um einen Beitrag zur Bescherung, und er hatte durch das Dienstmädchen einen Zehnmarkschein hinausreichen lassen. Der gedruckte Text der Einladung lautete:
»Euer Hochwohlgeboren!
Unsere Anstalt feiert am 25. Dezember ihr bescheidenes Weihnachtsfest. Die Ärmsten der Armen haben also, dank der großen Güte ihrer Wohltäter, unter denen auch Euer Hochwohlgeboren sich befinden, den Tannenbaum des Friedens gefunden, unter dem sie sich glückstrahlend scharen können.
Im Namen unserer Kinder, deren Freude doppelt sein wird, wenn sie von Euer Hochwohlgeboren und den andern Wohltätern mitangesehen, ja mitgefeiert wird, laden wir hiermit höflichst zu dem hohen Feste ein. Und bemerken wir, daß für die verehrten Festgäste gesonderte Plätze im Festsaal unseres Heimes an der ... Straße reserviert sind.
In höflichster Erwartung von Euer Hochwohlgeboren wertgeschätzter Anwesenheit:
Das Heim der Ärmsten.«
Baron Frangart hatte den Widerwillen gegen den Stil dieser Einladung und auch im voraus gegen den Stil des Festes, auf den man daraus schließen konnte, langsam, aber energisch überwunden. »Es muß etwas geschehen!« wiederholte er, auch als er schon im Wagen saß; wie um sich Mut zuzusprechen.
Ein Hausdiener in viel zu weiter, auch sehr willkürlich kombinierter Livree erwartete die Gäste am Portal des Findelhauses. Das Portal war so geräumig und protzig wie das ganze Haus selbst. Baron Frangart dachte sich beim Verlassen des Wagens, daß der wichtigtuerische Bau dieser Anstalt wohl mehr gekostet habe, als die achtzig beherbergten Kinder in hundert Jahren zusammen kosten würden. Aber im Treppenhaus des Einganges, wo auf beiden Seiten Marmortafeln, mit einer Reihe Namen in Goldschrift, glänzten, fand er die Lösung: zu Beginn des Verzeichnisses stand fett gedruckt:
Mathias und Crescentia Bicherl,
Realitätenbesitzersehepaar und Bürgersleute in München,
sind die hochedlen Stifter dieses Hauses und des Platzes,
auf dem es sich, zu ihrem dankbaren Angedenken, erhebt. –
»Stehen der gnädige Herr auch auf der Tafel?« fragte der Hausdiener und setzte, als er keine Antwort bekam, entschuldigend hinzu: »Nun, es sind nur die Wohltäter von tausend Mark aufwärts.« Der stillose, aber mit falschem Plüsch, Papiergoldschleifen und ähnlichem Zeug überladene Saal, in den Baron Frangart nun eintrat, war durch eine diagonal laufende »Renaissance«-Rampe in zwei Dreiecke gespalten; in dem einen Dreieck erhoben sich, übereinander aufsteigend, die Plätze für die Eingeladenen. Unten im andern Dreieck stand der mit vielen elektrischen Lämpchen süßlich erleuchtete Christbaum; statt mit Äpfeln und Nüssen war er reich mit Silber und Goldflitter, mit künstlichem Schnee und Glaskugeln behangen; er stand inmitten eines von langen Tischen gebildeten Vierecks. Auf diesen Tischen lag, mit großen, von eins bis achtzig laufenden Nummern versehen, die Bescherung, die jedes Kindes wartete. Statt die einzelnen Geschenke durch Tannenzweige abzugrenzen, hatte man durch je eine Papierrose angedeutet, wo des einen Kindes Geschenke aufhörten und die des andern anfingen. Äpfel, Nüsse, Bisquits und Marzipan hatte man für die einzelnen Kinder nicht auf Teller gelegt, wo sie immerhin, auch in dieser peinlichen Ordnung, ein heiteres Bild ergeben hätten; sondern, in der Furcht, daß dabei etwa ein Teller zerbrochen werden konnte, hatte man dies alles in Tüten gesteckt, die neben und auf die jeweiligen Schuhe, Strümpfe oder Fausthandschuhe gelegt waren. Kurz, Baron Frangart hatte mit einem einzigen Blick von der Türe aus schon den ganzen freud- und farblosen Charakter des Festes erfaßt, das da kommen sollte. Die Kinder waren noch nicht eingelassen worden; die Festgäste hingegen saßen, leise schwatzend, auf ihren Plätzen.
Auf diese Menschen, größtenteils behäbige dicke Frauen und Männer, wie deren das Bier in so großer Menge deformiert, und etwa noch einige, mit der ihnen eigenen vordringlichen unmanierlichen Koketterie herumguckende oder überlaut plappernde Bürgerstöchter, – auf dieses gemütlich versammelte Festpublikum also machte Baron Frangart, wie es ihn durch die Türe kommen sah, einen merkwürdigen, tiefen und gebieterischen Eindruck. Sei es, daß diese Leute überrascht waren von seiner ruhigen harmonischen »distinguierten« Eleganz, sei es, was weniger wahrscheinlich ist, daß die so liebenswürdige ebenmäßige Zartheit seiner jungen Gestalt sie gefangen nahm, – einer nach dem andern erhoben sie sich von ihren Sitzen, etwa wie vor ihrem Lehrer oder sonst einem noch höheren Herrn. Infolgedessen dankte er, unangenehm berührt, nach mehreren Seiten mit leiser Verneigung. In der ersten Reihe der Plätze rückte man mit den Stühlen zurück, um ihn durchgehen zu lassen. In der Mitte dieser Reihe standen zwei Fauteuils, von denen das eine unbesetzt war. Im andern saß ein kleiner Geistlicher, der – bescheiden und fast eingeschüchtert, wie er hier dem Zwang der Repräsentation genügte – Baron Frangart mit rührendem Lächeln entgegenblickte. Neben ihm nahm Frangart Platz und nannte ihm seinen Namen zur Vorstellung. (Das Fauteuil war natürlich nicht für ihn, sondern für irgendeinen repräsentativen Gemeindebevollmächtigten, der aber nicht erschien, reserviert gewesen.) Der Geistliche war, wie sich herausstellte, der Seelsorger der Findlinge. »Da bin ich auf dem besten Wege,« sagte Baron Frangart, »ich möchte nämlich heute irgendeines der Kinder in Obhut nehmen. Ich habe viel freie Zeit und wenig Beschäftigung ... Meinen Sie, daß man mir eines überläßt?« – »Nun, man wird wohl einige Erkundigungen einziehen, wenn man eines der Kinder weggibt, aber dies wird ja bei Ihnen zweifellos schnell erledigt sein,« antwortete der Geistliche verbindlich und erbot sich, die Sache mit dem Anstaltsleiter selbst im Sinne Baron Frangarts zu besprechen. Dieser nannte ihm als Referenz einige bekannte Familien, in denen er eine Zeitlang verkehrt hatte. »Sie wollen mir, bitte, bei der Wahl des Kindes helfen! Sie kennen ja die Kinder ungefähr und wissen, welches davon eine bessere Erziehung, ein feineres Leben am meisten verdient.« – »Ja, und was soll später aus dem Kinde werden?« – »Was es will, seine Zukunft werde ich sicherstellen.« Der Geistliche freute sich sehr und überblickte in Gedanken die achtzig Kinder, oder vielmehr, da Frangart einen Knaben erbeten hatte, die vierzig Knaben. Er dachte an den und den und dann wieder an andere.
Mittlerweile aber öffneten sich die Flügel der Seitentüre, und die achtzig Kinder, die Mädchen voran, schritten paarweise, geführt von dem Anstaltsleiter und einer Aufsichtsfrau, in den Saal. Alles schwieg.
Ein tiefer Schrecken durchrieselte Baron Frangart, als er, mit einem einzigen schnellen Blicke, diese Kinder von vier bis dreizehn Jahren überflog. Ihm, Baron Frangart, lagen wahrlich weder Mitleid noch Rührung; sein Schrecken war gemischt aus Abscheu und Zorn. Wie wenig schon paßte zum natürlichen Wesen des Kindes die Einförmigkeit der Kleidung! – Aber das war noch das Wenigste. Kaum eines dieser Kinder zeigte eine frische Gesichtsfarbe; ein häßliches blutleeres Grau lag auf ihren aufgedunsenen Wangen. Es fiel ihm im ersten Augenblick überhaupt schwer, einen Unterschied, irgendeinen besonderen Charakter in den Zügen der Kinder zu erkennen. Und was bemerkte er nach näherem Zusehen! Bei den meisten Mädchen eine dumpfe dumme resignierte Apathie; sie standen da wie Tiere, ja wie gutgefütterte, aber kraftlose Kühe. Bei den Knaben eine in ihren grauen Zügen tief unter der Maske des Gehorsams versteckte und verkniffene Verschlagenheit; und diese Gesichter waren noch die tröstlichsten, menschlichsten; denn auch die größere Anzahl der Knaben schien jener uniformen, stumpfen Ergebung heimgefallen zu sein. Und Baron Frangart dachte flüchtig an alles, was ihm der gute Schlagintweit, der vielleicht einmal Erzieher werden wollte, über die Schulen, die er, Baron Frangart, nicht kannte, geklagt hatte. Er stellte sich die für das kindliche Alter so widernatürliche, ja perverse Zwangsordnung vor, unter der diese hier dahinlebten; das grausame, zu Eis erstarrte Tages-, ja Minutenprogramm, das sie immerzu und immerzu üben mußten; die heiße Sehnsucht, womit sie in den Schulstunden auf die Glocke, die eine Freistunde, nein, nur eine Viertelstunde anzeigte, warten mochten; die Brutalität der Schule, die ihnen auch in diesen Viertelstunden untersagte, sich zu raufen, zu kratzen, zu balgen, zu lärmen und zu schreien, wie es ihnen wohlgetan hätte, wie es ihrer Natur gemäß war – weil sich dies für einen »gebildeten Menschen« nicht schicke; wie sie dann gleich darauf wieder (was auch Baron Frangart, diesem zurückhaltenden strengen stahlharten Menschen, als eine raffinierte und perfide Quälerei erschien) gerade in den untersten Schulklassen die Hände auf die Bank legen mußten und sie nicht rühren durften, ohne der Strafe zu verfallen ... Und wozu, flogen die Gedanken Frangarts weiter, wozu wurde alles rein Menschliche, das warme Blut, die Neigungen, der ganze kindliche Charakter an diesen Kindern ertötet? Um ihren Kopf desto gefügiger zu machen für die Masse der bürgerlichen Kenntnisse, die in ihn eingehen sollten ... »Sehen Sie, Baron, aus dem Grund sind Sie uns alle über, weil Sie so wenig gelernt haben, deshalb sind Sie ein Mensch geblieben, weil man Sie nicht gezwungen hat, sich etwas aufladen zu lassen, was nicht zu Ihnen selbst paßt,« hatte ihm Schlagintweit einmal gesagt ... Ja, das war richtig ...
Und mit einem Male übersah Baron Frangart die entsetzlichen Schäden, welche die bourgeoise »Bildungssucht« seit einem vollen Jahrhundert, seit der eingeführten »allgemeinen Volksbildung« über die ganze europäische Menschheit gebracht hatte. Was war das Prinzip dieser »allgemeinen Volksbildung« und sogar aller höheren Bildung, nach der die demokratische Bourgeoisie strebte und ihr auch diese Kinder, in der arroganten Überzeugung, ihnen »Wohltäter« zu sein, zuführte? Es war wirklich nur dies: die ganze Menschheit in einen Kopf zu verwandeln! Kenntnisse und Wissen, nichts als Wissen und Kenntnisse verlangte man ... Wer fragte noch nach menschlichen Tugenden? Gute Köpfe wollte man, nichts weiter ...
... Das also war, was die demokratische Bourgeoisie aus dem Geist der Aufklärung gemacht hatte: »Je mehr Kenntnisse du erwirbst, desto höher steigst du.« Ob du dich aber, als Mensch, zum Führer eignest, der du werden willst und sollst, darnach fragt man dich in keinem Examen ... Und den Menschen, die gehorchen, die Gesetze erfüllen sollten, was gab man ihnen als Grund an: »Du weißt so wenig, du hast eine so schlechte Handschrift, du kennst nicht einmal die Nebenflüsse des Rio de Janeiro in Neu Fundland ... Also: gehorche!«
... Wenn das Cäsar seinen Soldaten als Grund angegeben hätte, weswegen er ihren Gehorsam verlangte ...
Und mit dem sicheren Blick eines Menschen der alten Art fand Baron Frangart heraus, worum es sich handelte: Es war der blasse Intellektualismus, die graue blutleere Verstandeswirtschaft, die alles dirigierte: die alle rein menschlichen Unterschiede aufhob und die Menschen nach ihren Kenntnissen einteilte, die auch an den Kindern hier ihre Erbärmlichkeiten ausließ.
Und immer wieder betrachtete Baron Frangart diese grauen farblosen Menschen, die ihm in der Tat als typische Opfer des Molochs der Schule erscheinen mußten, der seit hundert Jahren Europa bedrohte. Von ihnen also wollte er ein Kind herausgreifen und es seiner Kultur zuführen. Das war die Tat, wozu er sich entschlossen hatte, und die zugleich das Werk der Liebe und des Sich-Wegschenkens sein sollte! Er wollte fruchtbar werden, indem er seine Tradition, also gleichsam sich selbst, auf jemand übertrug. Dies war die Fortpflanzung und Fruchtbarkeit, zu der er sich gestern entschlossen hatte. Und deshalb war er zu den Kindern hier gekommen.
*
Während sein Geist solchermaßen in einer kurzen Umarmung seine Ansichten und Absichten zusammenfaßte, hatte der Anstaltsleiter eine Rede gehalten, in der er zuerst den Wohltätern dankte und dann die Kinder zur Dankbarkeit ermahnte. Hierauf trat, von den Festgästen teilweise mit »ah!« begrüßt, durch die andere Türe der Weihnachtsengel ein. Es war dies ein dreizehnjähriges Mädchen, Zögling der Anstalt, das ein langes, weißes Wollhemd und am Rücken zwei goldgestrichene Holzflügel angeheftet trug. Sie trat unter den Baum und sprach ein langes Gedicht, mit pathetischen Hinweisen auf die Wohltäter. Diese riefen nach Beendigung der Reimerei ein gerührtes »Bravo!« und »sehr gut!« Man gab jetzt den Kindern ein Zeichen, zu singen. Ihre Stimmen zogen sich langgedehnt, mit der ihrem Dialekt eigenen Abfärbung der Vokale, hinaus. Baron Frangart gab sich nicht die Mühe, den Text verstehen zu wollen. Als das Lied verklungen war, wurden die Kinder endlich angewiesen, sich ihre numerierten Geschenke zu holen. – »Jetzt!« dachte sich Baron Frangart und beobachtete streng die Haltung der Kinder. Die einen grinsten gutmütig. Die andern taten überrascht und stießen ein »Oh!« und »Ah!« aus, dem Baron Frangart die Heuchelei anmerkte. Es mußte Heuchelei sein; denn welchen persönlichen Anteil konnten sie nehmen an dem kalten Flitter dieses Baumes, an seinen elektrischen Lämpchen, die kein Leben verrieten, sondern stumpfsinnig und gleichmäßig leuchteten, an den grauen Tüten, in die man genau eingezählt hatte, wieviel Äpfel, Nüsse, Marzipan, Biskuits auf je einen entfielen. – Wieder andere gingen zu ihrer Nummer und nahmen die Geschenke, weil das nun eben so befohlen war. Der stumme Betrachter fühlte sich schon enttäuscht; er sah nochmals auf die Kinder; da plötzlich fiel ihm etwas auf. Ein etwa zehnjähriger Junge stand mit dem Rücken an den Tisch und seine Bescherung – Nummer 18 – gelehnt, schlank, ja mager da, und überflog mit fast unverschämt ruhigen Blicken das Publikum. – »Wer ist der Junge dort?« fragte Baron Frangart mit leiser Erregung den Geistlichen und zeigte auf diesen. »Ohne Eltern wie die andern, nicht untalentiert, aber – wie soll ich sagen? ...« »Sein Name?« – »Weiß ich leider nicht.« – »Bitte, Hochwürden, wollen Sie dem Anstaltsleiter sagen, daß ich diesen Jungen möchte, und keinen andern. Man möge mir Nachricht geben, ob ich ihn haben kann. Damit es keine Verwechslung gibt: Den, der mich jetzt gerade anstarrt. Nur den! Bitte!« ...
Die Feier war zu Ende. Die Kinder mußten sich in Paare ordnen und verließen den Saal durch die Seitentür, durch die sie hereingekommen waren. Baron Frangart sah seinem Jungen nach, bis er verschwunden war. Dann verließ er sofort die Galerie der Eingeladenen, die gerade der Anstaltsleiter zu persönlichen Ansprachen betrat. Dem Geistlichen hatte er seine Karte gegeben und ihn um freundliche Nachricht gebeten.
Die Frage, die ein anderer sich in Anbetracht des Entschlusses und der Tat des Baron Frangart stellen konnte, war rein menschlich gesprochen die: warum nahm sich dieser verfeinerte, auf seine Kultur so stolze Mensch gerade ein Kind aus dem Findelhause, anstatt, was doch näher zur liegen schien, aus irgend einer zufällig verarmten guten Familie, wo er hoffen durfte, schon auf einem vorhandenen gewissen Fonds von Kultur weiterbauen zu können. Aber diese Wahl des Baron Frangart geschah mit ganz bestimmter Absicht: Wenn jene mystische, ja magische Übertragung seiner eigenen Art auf ein junges Menschenkind vollkommen gelingen sollte, mußte dieses selbst so voraussetzungslos wie möglich sein. Keinerlei hergebrachte Meinung durfte es belasten, durfte die Übertragung hemmen; jene doppelte Arbeit, zuerst angeborene oder angelernte, jedenfalls aber vorhandene Werte aus dem Kind auszumerzen, um ihm dann seine eigenen zu geben, wäre Baron Frangart zu unreinlich gewesen. Daher und nicht etwa aus Mitleid, suchte er ein Kind ohne Familie, ohne Werte, ohne Voraussetzungen; es war ihm nicht darum zu tun, einem armen Jungen ein reiches Leben zu schenken. Armut und Reichtum taten im Grund nichts zur Sache. Nur durfte Baron Frangart bei einem dieser armen Findlinge am ehesten hoffen, einen vollkommen unbebauten moralischen und geistigen Boden vorzufinden. Was die vererbten, im Blut liegenden Eigenschaften betraf, deren wohl jedes Kind mit in die Welt bringen mußte, so baute er darauf, daß diese durch die Schule, die Anstalt (deren Ziel doch war, den persönlichen Charakter der Kinder zugunsten der allgemeinen Gleichförmigkeit zu ertöten), wohl schon ausgemerzt, mindestens aber, gleich einem sterbenden Nerv, narkotisiert sein würden; sie würden schlummern und er würde sie durch seine Erziehung nicht mehr wecken.
Aus welchen rein menschlichen Grundgefühlen nun ging bei Baron Frangart dieser Plan einer geheimnisvollen Übertragung seiner Persönlichkeit hervor? Vielleicht aus zweien: Dem einen, etwas zu tun, fruchtbar zu werden, dem andern, sich den ihm in Dingen der Kultur gleichgestellten Menschen, da er einen solchen nicht vorgefunden hatte, selbst zu erschaffen; Gesellschaft zu haben. Diese zwei Gefühle hatte er bislang unbefriedigt gelassen, ja streng beherrscht: alle Tätigkeit und alle menschliche Gesellschaft hatte er als unreinlich von sich fern gehalten. Vielleicht war es eine Schwäche, daß er diesen Gefühlen jetzt nachgab; aber er war gedrängt worden, von Pater Bonaventuras guten Wünschen und von den Worten des Prälaten ebensowohl wie von Schlagintweits Unternehmungslust; denn diese drei waren die einzigen Menschen, die eine gewisse Rolle in seinem Leben spielten. So schadete ihm die Güte und Liebe zweier Menschen, und im Falle Schlagintweit, die eigene Sympathie, mit der er an dessen Leben Anteil nahm! Aber wenn es schon, für einen Baron Frangart, eine Art Schwäche bedeutete, daß er Gesellschaft und Tätigkeit wollte, so konnte er sich damit verteidigen, daß er bei alledem nur sich selbst wieder erleben wollte. Dem Prälaten gegenüber, der das »Werk« wohl ganz anders gemeint hatte (nämlich, daß er sich selbst wegschenken solle, um einen andern Menschen zu erleben!), hätte er sich damit durchaus nicht verteidigen können. Aber so lebhaft wirkte bei Baron Frangart auch in dieser Sache die Überzeugung seines höheren Menschentums, der Glaube an seine besondere Wohlgeborenheit nach ...
Nach drei Tagen schon hatte Baron Frangart ein Schreiben des Geistlichen und der Anstaltsleitung bekommen, daß, in Anbetracht der glänzenden Zukunft, die er dem Kinde »Nummer achtzehn« garantiert habe, gegen dessen Entlassung aus dem Anstaltsverband nichts einzuwenden sei. Baron Frangart könne, vorausgesetzt, daß er schon etwelche Vorsorge für die Unterkunft getroffen habe, den Knaben jederzeit sprechen und ihn frühestens am Silvestertag abholen. Gleich nach Empfang dieses Briefes fuhr Baron Frangart zu einem guten Schneider und bestellte ihn für Nachmittag in die Findlingsanstalt. Auch er selbst traf um diese Zeit dort ein, um den auserwählten Knaben nun persönlich kennen zu lernen.
Es war dies ein ziemlich kleiner, wie schon erzählt, schmächtiger magerer Junge. Seine Figur erschien noch durch den dicken plumpen Schullodenanzug, in dem er steckte, entstellt. Seine Hände waren nicht häßlich. Sein Kopf hatte eine eher breite als längliche Form (Schlagintweit – der den Jungen später kennen lernte – behauptete, daß diese Form seit dem Einfall der Hunnen, unter Attila, in Bayern sehr häufig auftrete). Seine Augen waren freilich grau, aber lebhaft; nur wenn ihn der Anstaltsleiter anredete, verschleierten sie sich jeweils. Die Nase mochte für das Alter des Knaben vielleicht zu groß erscheinen, aber das mußte sich mit der Zeit, wenn sich die Gesichtbildung festigte, ausgleichen. Sein Mund gefiel Baron Frangart sehr: er war klein und zierlich, die Lippen dünn und nicht ohne Linien. – Im ganzen stellte sein Aussehen Baron Frangart zufrieden; was die semmelblonden Haare betraf, so mußte man sie wohl färben lassen; und die graue Gesichtsfarbe würde sich schon von selbst ändern, – nein, der Junge war nicht häßlich.
Im Laufe des Gesprächs erwies er sich weder besonders klug noch besonders schwerfällig. Am merkwürdigsten schien Baron Frangart die ununterbrochene gespannte Aufmerksamkeit, mit der der Junge ihn beim Sprechen ansah, seinen Blick beobachtete und seine Gebärden verfolgte. Manchmal überhörte er teilweise die Worte, die man sprach, indem er sichtlich zu sehr vom gesamten Eindruck gefesselt war. Endlich fiel Baron Frangart auf, wie veränderlich sich seine Mienen zeigten; auch die Haltung des Knaben stellte sich gegen Ende des Gesprächs schon ganz anders, viel stolzer und gemessener dar als zu Eingang. Mit Freude schloß Frangart daraus auf große Empfänglichkeit.
Am Silvestertag gegen fünf Uhr nachmittags fuhr der junge Baron das zweite Mal am Findlingshaus vor, um den Jungen »Nummer achtzehn« abzuholen. Dieser trug jetzt seine neuen Kleider, einen breiten geränderten Liegkragen (in der Art, wie sie Baron Frangart als Kind getragen hatte), der den Hals ganz frei ließ. Der Gang des Knaben bot ein viel zierlicheres Bild als vordem; das macht, er trug jetzt feinere Schuhe aus dünnem nachgiebigem Leder, die den Fuß nicht so beschwerten wie die harten dreifach gesohlten Schulstiefel. Nur mit den Armen und Händen schien er sich noch nicht recht zu helfen wissen; bald ließ er sie ungeschickt hängen, bald steckte er sie plump in die Tasche. Aber auch das würde noch gut werden, versprach sich Baron Frangart.
*
Der Knabe wohnte nun in der Briennerstraße bei Baron Frangart. Er hatte seinen eigenen jungen Diener, der ihm alle Handreichungen des Tages tat, die er sich noch vor wenigen Wochen selbst getan hatte. Und für seinen Unterricht, der nicht mehr als zwölf Stunden wöchentlich Zeit wegnahm, hatte Baron Frangart einen Lehrer bestellt. In der Religion, den heiligen Geheimnissen, unterwies ihn sein junger Erzieher selbst, teilweise – in den systematischen technischen Fragen – besorgte dies ein Geistlicher.
Der Knabe brauchte sich nicht vor neun Uhr morgens zu erheben. Dann füllte ab zehn Uhr bis gegen Mittag der Unterricht seine Zeit aus. Um Mittag erst traf er Baron Frangart. Dieser ließ ihn jeden zweiten Nachmittag allein, er konnte im Wagen spazieren fahren oder zu Hause sitzen und träumen, wie es ihm gerade einfiel. Die erste Woche aß Frangart mit ihm zu Hause, da er sich in dem so exklusiven Hotel (wo außer ihm nur einige Menschen der besten Gesellschaft speisten) nicht etwa, wenn der Junge schlecht äße, genieren wollte. Dieser aber hatte sich vermöge seiner ganz außerordentlichen Beobachtungsgabe, von der er immerfort den regsten Gebrauch machte, schon in wenigen Tagen eine, Baron Frangart überraschende Geschicklichkeit im manierlichen Essen erworben. Nach Ablauf der Woche aßen sie im Hotel.
Es war die Absicht Baron Frangarts, zunächst alle äußeren Veränderungen auf den Knaben wirken zu lassen; dieser sollte Zeit haben, alle Gesetze der Form, die ihn das ruhige Beispiel Baron Frangarts selbst lehrte, in sich aufzunehmen. Erst wenn er in der äußeren Form so gut wie vollkommen wäre, wollte Frangart in seine empfängliche Kindesseele jene Werte legen, die seine eigene Kultur ausmachten; und zum Schlusse erst wollte er gleichsam sich selbst auf den Knaben übertragen, indem er ihm einflößen würde, sich für einen bevorzugten und durch Gottes Gnade bevorrechteten Menschen zu halten; wovon er sich als Wirkung einen erhöhten Stolz, eine strenge Selbstbeherrschung und Harmonie des Wesens versprach; diese sollte dann wieder auf eine nochmalige Veredlung der äußeren Form zurückwirken; dann mochte das verfeinerte Formgefühl wieder den in die Seele gelegten neuen Wertgefühlen Sicherheit verleihen; diese würden solchermaßen seinem Glauben an eine priviligierte Stellung die Berechtigung geben. Und so sollte sich dies alles in einem immer bestimmter werdenden Kreislauf der Verfeinerung immer von neuem abspielen ... Und wenn der Knabe »Nummer achtzehn« auf solche Weise, gleich einem immer feiner geschliffenem Stein, in allen Teilen seines Wesens streng und unverrückbar abgeglichen sein würde ... Dann, ja dann wollte er ihn nach dem Süden bringen, nach dem Schloß der Frangarts, und dort das Letzte, Höchste, was er, Fritz von Frangart, besaß, unter der satten Sonne des Südens, restlos und gerecht mit ihm teilen, – nämlich jenes reife edle satte von aller rohen Gier befreite Sichselbstgenügen, das ihn jetzt, in einsamer Höhe, von den Menschen trennte ... Dann, ach dann, würde er auch nicht mehr einsam sein; er würde mit einem Gleichgestellten leben, den er sich selbst geschaffen hatte, wie ein Meister mit seinem edelsten Werk, wie ein Vater mit seinem Sohn; und somit würde er dann auch das Werk der Liebe vollbracht, nämlich sich ganz und gar weggeschenkt haben.
Jeden zweiten Tag, wenn Baron Frangart mit dem Knaben ausfuhr, zuerst im Hotel speiste, dann Einkäufe machte, um ihn mit dem Wert der Dinge und mit den wertvollen Dingen vertraut zu machen; ihn dann und wann, aber nur gelegentlich, um jede Ermüdung zu vermeiden, vor ein schönes Bild führte; vor ein edel gebautes Haus und dann wieder vor ein häßlich-modernes, – immer darauf bedacht, nichts zu predigen, sondern alles durch sich selbst wirken zu lassen; ihn auf streng, aber vornehm gekleidete Damen aufmerksam machte, und ein anderes Mal auf eine lasciv aufgeputzte Frau; ihn einen Akt von Carmen anhören ließ, und später einen halben von einer Oper der neuen Musik; mit ihm in der Frauenkirche betete und ihn zu anderer Zeit wie zufällig in eine neue Kirche führte; ihm ein paar Verse aus Goethes »Iphigenie« vorlas, und ein paar Tage nachher eine Seite aus der »Jungfrau von Orleans« (oder gar aus dem monotonen unmännlichen Versgewinsel irgendeines modernen Lyrikers), – wenn er dies alles in seiner stillen noblen Art tat, sah er gespannt auf das Mienenspiel des Knaben, der seinerseits mit lebhaften Augen alles und ihn selbst verfolgte; und Baron Frangart war sehr zufrieden.
Denn in der Tat schien der Junge große Fortschritte zu machen; nicht, daß er in lebhaften Worten darüber geplaudert hätte – denn er sprach nicht viel, nach dem Beispiel seines Erziehers –, aber seine Augen redeten, und sie redeten im Sinn des Erziehers.
*
Soweit ließ sich alles gut an. Der Knabe selbst fühlte sich nur an den Nachmittagen, die er allein zubrachte, zunächst sehr verlassen. Aber nach den ersten Wochen, wenn das Wetter nicht zum Ausfahren einlud, saß er zufrieden in seinem Zimmer. Er stellte sich vor den größten Spiegel, übte Verbeugungen ein, probierte Kopfhaltungen und kopierte, mit dem Talent eines seltenen Schauspielers, Gang, Redeweise und Benehmen des Baron Frangart!
Nichts war natürlicher und doch zugleich abstoßender als die Art, mit der dieser Junge vor dem Spiegel »Baron Frangart lernte« (so nannte er es selbst). Und sein Geschick in dieser Schauspielerei war in der Tat vollendet; alle Äußerlichkeiten wurden in der kürzesten Zeit sein Eigentum.
Denn: Die formale Gewandtheit dieses Knaben, an der sich Baron Frangart erfreute, sie war nichts anderes als ein Ergebnis seiner Beobachtungsgabe. Mit dieser Beobachtungsgabe gelang es ihm auch, vor geistigen Erlebnissen stehend, Baron Frangart zu täuschen. Dieser suchte wie natürlich den Eindruck auf dem Gesicht des Knaben zu lesen; dieser aber hatte ihn stets schon vorher mit einem nie müden Instinkt in der Miene des Baron Frangart, so beherrscht diese auch sein mochte, gelesen, und gab sie nun auf seinem eigenen Gesicht richtig wieder. Daher kam die stetige Täuschung des Baron Frangart über seinen Zögling; wieviel dieser innerlich in sich aufnahm, ließ sich nicht feststellen; vielleicht einiges, vielleicht nichts. –
Jedenfalls aber stand fest, daß er Baron Frangart durchaus nicht und in keinem Falle absichtlich täuschte.
*
Indessen nahte die Zeit, wo Baron Frangart die Entschleierung seiner Illusionen erleben sollte.
Anfang des März – also zwei Monate, nachdem er den Knaben aufgenommen hatte – konnte er einem plötzlichen rauhen Wechsel der Witterung nicht widerstehen und fiel in schweres Fieber. Er bat Schlagintweit zu sich und vertraute ihm den Knaben an. Schlagintweit, der mit seiner Braut nicht gerade sehr glücklich zu sein schien, war während der letzten Zeit ein einziges Mal flüchtig zu ihm gekommen und hatte dabei auch den Zögling des Baron Frangart kennen gelernt. Er sollte ihm nun in der Nähe seiner eigenen Wohnung, vielleicht in einer guten Pension, eine Unterkunft suchen und sich im übrigen mit ihm beschäftigen; Baron Frangart gab ihm einige allgemeine Erklärungen, wie er bisher mit dem Jungen umgegangen sei, und er sollte auch von Schlagintweit so gehalten werden. Dieser erfüllte Frangarts Wunsch in jeder Weise.
Der junge Baron erhob sich nach vierzehn Tagen, trotz einer leichten Gehirnhautentzündung, welche das Fieber begleitet hatte, vom Krankenlager. Er schickte zu Schlagintweit und ließ ihm ausrichten, er möge ihm den Knaben bringen. Sie kamen denn auch zusammen an. Der Knabe begrüßte den jungen Baron mit einer lauten Herzlichkeit des Tones, die dieser an ihm nicht gewöhnt war. Er hörte seinen Wortschwall erstaunt an.
»Nun,« fragte er ihn, »wie hat es dir bei Herrn Schlagintweit gefallen?« – »Fein wars, Herr Baron, sehr fein.« – »Anders wie bei mir?« – »Ja ... schließlich ... mit dem Kirchengehen hats der Herr Schlagintweit nicht so viel wie der Herr Baron ... Aber fein wars ...«
Baron Frangarts Erstaunen wuchs. Das Wesen des Jungen schien ganz verändert zu sein. Wessen Allüren waren dies nur? Ach richtig ... Das war so die Art von Schlagintweit selbst, oder vielmehr eine gute Kopie davon. Jetzt der Tonfall ... Und diese Bewegung, ganz genau wie bei Schlagintweit ... Baron Frangart erzitterte heftig, als er solchermaßen den Schauspieler in dem Jungen erkannte.
»Herr Baron, ist Ihnen vielleicht nicht ganz wohl?« fragte der Junge, der ihn nach seiner Gewohnheit genau beobachtete, »da müssen wir halt das Mädel rufen, damit sie Ihnen vielleicht ein Glas Wasser bringt ...« Mit Bestürzung erinnerte sich Baron Frangart bei diesen Worten, wie schnell und wie gut der Junge vor zweieinhalb Monaten ein dialektfreies Schriftdeutsch gelernt hatte. Und jetzt ... dieses Behagen an der Redeweise Schlagintweits! Bei Schlagintweit selbst mochte Baron Frangart das gerne leiden, da war es original; aber bei diesem Jungen, welche abstoßende, wenn auch genaue Kopie!
»Nein!« antwortete er abwehrend auf die Frage des Jungen, »mir ist ganz wohl, ganz wohl ...«
»Sag mal, Junge,« fragte er ihn, »bei wem würdest du jetzt lieber bleiben, bei Herrn Schlagintweit oder bei mir?«
»Ja, das kommt halt darauf an ... Das weiß ich gar nicht recht ... Ich tu mich ja in alles hineinlernen, ich ...«
In Baron Frangart jagten sich die unglücklichsten Gedanken. Das war also der »niedrigste Mensch«, an den er sich »wegschenken« hatte wollen. Der niedrigste Mensch ... Aber das war doch gar kein Mensch, das war doch ein kleines Tier mit Mimicry, dieser Junge ... Und das Mimicry bestand eben in seinem Talent, sich in alles »hineinzulernen«, hineinzuspielen ... Nein, warum sollte er »das Werk der Liebe« zu Ende bringen, wenn es dem Jungen doch nur eine Lernaufgabe auflud ... Nein, nicht weiter ... Sofort mußte ein Ende gemacht werden.
»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Schlagintweit,« begann Baron Frangart nach einer Weile starrsten Schweigens, »gehen wir ins Zimmer nebenan!« Es geschah.
Baron Frangart atmete tief und schmerzlich auf. »Schlagintweit!« rief er endlich, »bitte, retten Sie mich, befreien Sie mich ... vor diesem Echo, vor diesem Spiegel, vor dieser wechselnden Maske, vor diesem Chamäleon! ...« Schlagintweit schwieg bestürzt. »Ich dachte ...« wollte er erwidern ... »Nein,« unterbrach ihn der Baron, »ich habe mich schrecklich getäuscht, ich kann mich nicht wegschenken an ihn, er kann das Geschenk nicht tragen, es ist ihm zu schwer, es ist alles zu schwer, alles, alles ... Befreien Sie mich von ihm ...!«
Schlagintweit begriff nicht ganz, aber war sogleich bereit, alles Mögliche zu tun. »Soll ich ihn ermorden?« schrie er laut, »soll ich ihn ins Gymnasium stecken? Soll ich ... Alles, was Sie wollen ...« – »Ich danke Ihnen lebhaft, ich danke Ihnen lebhaft,« erwiderte der junge Baron mit schmerzlichem Lächeln, »es darf kosten, was es will, ich werde für seine Zukunft sorgen. – Er soll es nicht entgelten, daß ich mich getäuscht habe. Nichts wird mich reuen, aber Sie müssen ihn fortbringen von hier, fort, ich kann ihn nicht mehr sehen, diesen armseligen Kopisten ... Fort mit ihm, nur fort!« – »Er ist jetzt ein bißchen verwöhnt, der Junge,« sagte Schlagintweit mitleidig, »aber das werden wir schon deichseln; hören Sie, Herr Baron!« schrie er – nun sein Mitleid diesem zuwendend – »hören Sie, das ist in Ordnung, das ist einfach erledigt, keine Sorge, ganz und gar erledigt, hören Sie doch, Herr Baron!« – »Ich danke Ihnen nochmals, Schlagintweit,« erwiderte dieser in dumpfem Ton. Und er schrieb ihm für alle Fälle (wenn z. B. Schlagintweit einmal gerade keine Möglichkeit mehr haben sollte, den Jungen zu behüten) die Adresse des Pater Bonaventura in Chamfort auf, sodann gab er ihm einen hohen Bankscheck, um gleich im voraus wenigstens für die nächste Zeit alles geregelt zu haben. –
Langsam fand der junge Baron diesmal seine Beherrschung wieder. Dann gingen sie ins andere Zimmer, zu dem Jungen, hinüber.
»Das ist jetzt dein Vater!« – sagte Frangart, schmerzlich lächelnd, und wies auf Schlagintweit. Und sie verabschiedeten sich voneinander. –
Gebrochen warf sich der junge Baron auf den Divan. Ein furchtbares innerliches Schluchzen erschütterte seinen jugendlichen grazilen Körper. So lag er lange. Als er sich erhob, glühten seine heißen trockenen Augen in einem verderblichen Feuer. »Das war Miéville!« flüsterte er vor sich hin, »das war noch einmal der Schrei der Sehnsucht ... Aber der ist jetzt auch verklungen, ganz verklungen, erstorben, mit dem Werk der Liebe erstorben ...«
*
Dieses Erlebnis, aus welchem Schlagintweit, der vielleicht einmal Erzieher werden wollte, die praktische Lehre zog: »Ich soll Kinder nicht zu mir, sondern zu ihnen selbst erziehen!« war für das Befinden des halbgenesenen Baron Frangart leider von den traurigsten Folgen begleitet. Die Aufregung brachte ihm, dem die Ruhe Gewohnten, das Fieber verstärkt zurück. Lange heiße Phantasien durchzogen quälend das erhitzte Gehirn des Kranken.
Als er einigermaßen gekräftigt war, beschloß er, nach dem Süden zu gehen, nach dem heimatlichen Schloß, das er so lange, aus dunkelm Widerstreben heraus, gemieden hatte.
Schlagintweit, den er bat, in einem Monat, wenn er wieder mehr bei Kräften sei, dorthin nachzukommen und einige Wochen als sein Gast zu bleiben, erschrak vor seinem Wesen. Das war nicht mehr das strenge Ansichhalten eines in Selbstbeherrschung und im Schweigen geübten Menschen; es war schon eine unheimliche marternde Totenstille. Und dazu diese glühenden Augen ... Schlagintweit verließ ihn mit tiefem Kummer.