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Die treibenden Kräfte

Die Frage drängt sich auf: Wie hat es so kommen können? War es lediglich die geschicktere Diplomatie auf der Seite unserer Gegner, die es diesen ermöglicht hat, uns wichtige Figuren aus unserm Spiel zu nehmen und das eigne Spiel zu verstärken, oder haben elementare Kräfte des Völkerstrebens den Strom des Geschehens in jene Bahnen gelenkt?

Persönlich stehe ich nicht an, der Gegenseite, insbesondere den Engländern, die größere diplomatische Geschicklichkeit, die überlegene Führung der Politik zuzuerkennen. Ihre Staatsmänner haben insbesondere die wesentliche Kunst verstanden, der großen Richtlinie ihrer Politik entgegenstehende Interessen und Gefühle, auch solche von an sich erheblichem Gewicht, unterzuordnen. Ich erinnere an Frankreichs Haltung nach Faschoda, an Englands Preisgabe wichtiger eigener Interessen in Marokko zur Gewinnung Frankreichs, in Mittelasien zur Gewinnung Rußlands. Unseren deutschen Staatsmännern ist es nicht in gleichem Maße geglückt, Reibungspunkte mit Staaten, die nicht notwendigerweise unsere Gegner sein mußten, rechtzeitig zu beseitigen. Angesichts der auch nach meiner Ansicht nicht vermeidbaren Zuspitzung unseres Verhältnisses zu Großbritannien und der Rückwirkung dieser Zuspitzung auf unsere Verteidigungsgrundlage, den Dreibund, mußten von langer Hand Sicherungen, selbst unter großen Opfern, geschaffen werden. Unsere Politik war jedoch eine Politik der mangelnden Gegengewichte. Ich erinnere an Japan, das wir uns durch unser Eingreifen nach dem Frieden von Shimonoseki zum Gegner gemacht haben und dem wir durch unsere Festsetzung in Kiautschou einen unmittelbaren Anreiz für den Fall einer kriegerischen Konflagration geradezu vor die Haustür gesetzt haben.

 

Eine Politik der mangelnden Gegengewichte

Ich möchte behaupten, daß ohne unsere territoriale Festsetzung in Kiautschou – unsere Hafen- und Eisenbahnunternehmungen in der Türkei haben bewiesen, in welchem Maße weitgesteckte wirtschaftliche Ziele auch ohne territoriale Festsetzung erreicht werden können – Japan niemals aktiv gegen uns eingegriffen hätte; ebenso wie ich überzeugt bin, daß die Türkei, falls wir etwa in Haidar-Pascha oder Alexandrette bei irgendeiner Gelegenheit eine territoriale Festsetzung versucht hätten, im Weltkrieg statt unser Verbündeter unser Feind geworden wäre. Das ist meine Ansicht nicht erst seit dem Weltkrieg. Ich erinnere mich, die Auffassung, daß insbesondere Kiautschou, aber auch andere Teile unseres über die Welt zersplitterten Kolonialbesitzes, für den Ernstfall nicht Stützpunkte, sondern Reibungspunkte und Schwächepunkte darstellten, schon im Jahre 1904 als junger Hilfsarbeiter in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes dem Fürsten Bülow dargelegt zu haben. Dazu kamen bei uns gewisse Ungeschicklichkeiten und Schroffheiten in der diplomatischen Taktik und in der Form unsrer Meinungs- und Gefühlsäußerungen, die im Ausland teils falsch verstanden, teils gegen uns ausgenutzt wurden. Ich erwähne als Beispiel unsre Haltung auf der Haager Friedenskonferenz von 1907. Die Leiter der deutschen Politik und das deutsche Volk waren gewiß mindestens von ebenso friedlichen Absichten beseelt wie die Leiter der britischen Politik und das britische Volk oder irgend jemand sonst. Aber England erschien Arm in Arm mit Spanien und den Vereinigten Staaten im weißen Gewand des Friedensengels mit dem Antrag, die Frage der Rüstungsbeschränkungen auf das Programm der Konferenz zu setzen, Deutschland dagegen erschien mit seinem Einspruch gegen diesen Vorschlag im eisernen Gewand des Kriegsgottes. Ich bin mit dem Fürsten Bülow einig in der Meinung, daß eine Diskussion der Abrüstungsfrage mangels greifbarer Vorschläge und angesichts der in der Sache liegenden Schwierigkeiten zu keinem praktischen Ergebnis geführt hätte. Ich halte es darüber hinaus für wahrscheinlich, daß für England der Hintergedanke bestimmend war, das Übergewicht seiner maritimen Rüstung ein für allemal völkerrechtlich zu sichern und jede aufstrebende Seemacht, vor allem Deutschland, ohne weitere Anstrengung und ohne weitern Kostenaufwand niederzuhalten. Aber gerade deshalb wäre es wohl die bessere Taktik gewesen, den Engländern die Aufgabe des Formulierens von Vorschlägen, die nicht nur für Deutschland unannehmbar gewesen wären, zu überlassen, statt von vornherein zu erklären: »An einer nach unsrer Überzeugung wenn nicht bedenklichen so doch unpraktischen Diskussion können wir uns nicht beteiligen.« Worte des Fürsten Bülow in seiner Reichstagsrede vom 30. April 1907.

 

Diplomatische Ungeschicklichkeiten; rednerische Entgleisungen

In dasselbe Kapitel gehören die oft lauten und weithin klingenden Worte, mit denen wir es liebten, unsern Willen zum Frieden durch ein allzu deutliches Betonen unsrer Bereitschaft zum Krieg zu unterstreichen. Wir hatten den Wunsch, nicht wieder wie in vergangenen Zeiten infolge unsrer geographischen Lage im Zentrum Europas zum Schlachtfeld fremder Nationen zu werden, und wir hatten aus der Geschichte durch die Schaffung einer starken Wehrmacht die Folgerung gezogen. Das war berechtigt. Aber es war nicht klug, beständig »das Schwert im Munde zu führen« und damit unsern Feinden im Ausland die Möglichkeit zu geben, das friedlichste Volk und den friedlichsten Monarchen der Welt ihrer öffentlichen Meinung als besessen vom Kriegsteufel hinzustellen. Wir haben auf diese Weise den Mythus von unsern kriegerischen Absichten gefördert und damit eine internationale Stimmung erzeugen helfen, die einer gegen uns gerichteten Koalitionsbildung den massenpsychologischen Untergrund gegeben hat.

Aber eine die ganze Welt von Grund aus umkehrende Wandlung der Beziehungen zwischen den Völkern, wie sie in den zwei Jahrzehnten seit Bismarcks Abgang eingetreten ist, wäre auch als Werk der vollendetsten Staatskunst und politischer Schulung nicht möglich gewesen, wenn nicht starke Triebkräfte und Entwicklungstendenzen innerhalb der einzelnen Völker den Boden für diese Wandlung geschaffen hätten.

Eine Betrachtung der in den wichtigsten der am Weltkrieg beteiligten Völker wirksamen Triebkräfte und Entwicklungstendenzen ergibt in großen Zügen folgendes Bild:

Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn waren im wesentlichen politisch saturiert. In Europa hatten beide Reiche keinerlei Wünsche auf Ausdehnung; ihr Ziel war die Erhaltung des Status quo. Deutschlands koloniale Bestrebungen haben sich auf friedlichem Wege betätigt. Abgesehen von der Niederwerfung gelegentlicher Eingeborenenaufstände hat Deutschland um seine Kolonien keinen Krieg geführt. Reibungen mit den auf dem kolonialen Felde konkurrierenden Mächten sind gelegentlich aus den kolonialen Gebietserwerbungen Deutschlands hervorgegangen; sie haben aber – abgesehen von der besonders gelagerten marokkanischen Angelegenheit – niemals einen für die große Politik bedeutsamen Charakter angenommen und niemals auch nur von weitem an die Gefahr kriegerischer Verwicklungen herangeführt.

Die intensive Anteilnahme Österreich-Ungarns an den Dingen auf dem Balkan war frei von territorialen Aspirationen und lediglich auf die Erhaltung und Befestigung des Status quo gerichtet. Dasselbe gilt für die Stellung der beiden Reiche zur Türkei.

Das Bündnis der beiden Reiche hatte dementsprechend von Anfang an den ausschließlichen Zweck der Erhaltung und Verteidigung; Abmachungen über Beutezüge und Beute Verteilung hatten in ihm keinen Raum.

 

Frankreichs aggressive Politik

Anders bei den Mächten der gegnerischen Gruppe! Frankreichs Politik seit dem Krieg von 1870/71 war in erster Reihe diktiert von dem brennenden Wunsch nach Revanche für 1870 und Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen. Alle andern Rücksichten und Interessen, so wichtig sie an und für sich sein mochten, wurden in den 43 Jahren vom Frankfurter Frieden bis zum Ausbruch des Weltkriegs diesem einen Streben untergeordnet. Zu verwirklichen war dieses Streben nur durch Angriff und Eroberung. Für sich allein war Frankreich gegenüber dem an Bevölkerungszahl überlegenen und zu immer stärkerer Überlegenheit heranwachsenden Deutschland zu schwach. Es brauchte und suchte deshalb eine Koalition und war für jede denkbare, gegen Deutschland gerichtete Koalition ein absolut sicherer Partner.

Auf kolonialem Gebiet hat Deutschland den starken Ausdehnungsbestrebungen Frankreichs keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Es war im Gegenteil ein Zug der Bismarckschen Politik, die französischen kolonialen Bestrebungen zu fördern, in der Absicht, Frankreich von dem Revanchegedanken und dem Vogesenloch abzulenken und seinen überschüssigen Kräften außerhalb Europas ein Tätigkeitsfeld zu geben. So hat das in seiner Bevölkerung und seiner wirtschaftlichen Entwicklung kaum fortschreitende Frankreich unter wohlwollender Duldung Deutschlands sich seit dem Krieg von 1870/71 in Afrika und Ostasien ein gewaltiges Kolonialreich schaffen können, während Deutschland, trotz seines starken Bevölkerungsüberschusses und seines wirtschaftlichen Ausdehnungsbedürfnisses, sich mit einem überaus mageren Anteil an der kolonialen Welt begnügte.

Einzig und allein Marokko hat unter den überseeischen territorialen Fragen Anlaß zu ernster Reibung zwischen Deutschland und Frankreich gegeben. Aber auch hier entstand die Reibung und die Kriegsgefahr nicht etwa daraus, daß Deutschland territoriale Erwerbungen beabsichtigt hätte, sondern lediglich aus dem französischen Wunsch, Marokko – ohne Rücksicht auf die dort vorhandenen erheblichen deutschen Interessen zu nehmen und ohne Deutschland überhaupt darum zu begrüßen – sich einzuverleiben. Auch hier lag die aggressive und annexionistische Politik bei Frankreich, während Deutschland lediglich den durch einen internationalen Vertrag gewährleisteten Status quo vertrat. Im übrigen war es das Streben der deutschen Politik, die Marokkofrage ohne Krieg zu erledigen, ein Streben, das durch den Vertrag vom November 191 1 auch zur Durchführung kam.

 

Rußlands Drang nach Konstantinopel

Die Haltung Rußlands zum Zweibund war weniger durch Fragen bedingt, die unmittelbar zwischen Deutschland und Rußland gespielt hätten, sondern so gut wie ausschließlich durch das in der Hauptsache durch die Balkanfragen beeinflußte Verhältnis zwischen Rußland und Österreich-Ungarn. Deutschland hat dem starken russischen Ausdehnungsdrang nach Osten niemals irgend etwas in den Weg gelegt. Es hat im Gegenteil die in erster Linie im russischen Interesse liegende Intervention nach dem Frieden von Shimonoseki mitgemacht und sich dadurch die Gegnerschaft Japans zugezogen; es hat späterhin sich England gegenüber geweigert, auf Grund des Abkommens von 1900 sich an einem Vorgehen gegen die Bestrebungen Rußlands in der Mandschurei zu beteiligen, und hat damit zweifellos ein Erhebliches zu der endgültigen Abkehr Englands von Deutschland und zum britisch-französischen Zusammenschluß beigetragen; es hat schließlich im russisch-japanischen Krieg Rußland gegenüber eine wesentlich wohlwollendere Neutralität gezeigt als dessen französischer Bundesgenosse. Auch in Mittelasien hat Deutschland den Russen niemals die geringsten Schwierigkeiten bereitet. Österreich-Ungarn war an allen diesen Fragen überhaupt niemals interessiert.

Dagegen schuf der Drang Rußlands nach Konstantinopel und dem Balkan einen äußerst gefährlichen Konfliktsstoff. Insbesondere seitdem der Ausgang des japanischen Kriegs und die Verständigung mit England über Mittelasien vom Jahre 1907 die russischen Expansionsbestrebungen vom fernen und mittleren Osten abgelenkt hatten, warf sich der panslawistische Geist mit verstärkter Gewalt auf den näheren Orient und propagierte dort Umwälzungen, die nicht nur das Gleichgewicht auf dem Balkan, sondern auch den Bestand der österreichisch-ungarischen Monarchie in ihren südslawischen Landesteilen unmittelbar gefährdeten. Je mehr durch die für Deutschland ungünstige Entwicklung der Mächtegruppierung Deutschland sich auf das Bündnis mit Österreich-Ungarn angewiesen sah, desto mehr mußte die deutsche Politik in der Erhaltung der Donaumonarchie ein Lebensinteresse für Deutschland selbst erblicken, desto größer wurde die Gefahr, daß die russische Balkanpolitik zu einer Konflagration unabsehbaren Umfanges führen könnte; wie denn schließlich der Weltkrieg auf balkanischem Boden sich vorbereitet hat und zum Ausbruch gekommen ist.

Gegenüber den unmittelbar Österreich-Ungarn berührenden russischen Balkanaspirationen traten Rußlands Absichten auf Konstantinopel und die übrige Türkei in ihrer Bedeutung als Konfliktsstoff zurück. Zwar hatte Deutschland seit dem Ausgang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts an der Türkei durch die Begründung weitausschauender Unternehmungen ein stärkeres Interesse genommen und ein freundschaftliches Verhältnis zum Türkischen Reiche hergestellt; aber da Rußland seit dem Berliner Kongreß keine direkten Aspirationen auf türkisches Gebiet hervorkehrte, blieben die aus den deutschen und russischen Bestrebungen in der Türkei sich ergebenden Reibungen, soweit sie sichtbar in Erscheinung traten, im wesentlichen auf Fragen zweiter Ordnung beschränkt, die niemals eine kritische Zuspitzung erfuhren. Immerhin: je größer die deutschen Interessen in der Türkei wurden, je mehr Deutschland als Schutzmacht der Türkei erschien, desto mehr gewöhnte man sich in Rußland daran, an Stelle Englands in Deutschland das wesentliche Hindernis der Ausführung des Testaments Peters des Großen zu erblicken, desto mehr kam die russische öffentliche Meinung zu der Überzeugung, daß der Weg nach Konstantinopel nicht nur über Wien, sondern auch über Berlin führe. Italien, unser Genosse im Dreibund, war gleichfalls nicht frei von Ausdehnungswünschen, die Anlaß zu Konflikten geben konnten.

 

Italienische Begehrlichkeit

Über die gegen Österreich gerichteten irredentistischen Bestrebungen brauche ich kein Wort zu sagen; sie wurden während der Dauer des Dreibundverhältnisses lediglich um größerer Interessen willen notdürftig niedergehalten, bedeuteten aber stets eine latente Gefahr. Dann hatte Italien, seitdem Frankreich sich Tunis angeeignet hatte, ein Auge auf das türkische Tripolis geworfen, eine Begehrlichkeit, die geeignet war, zum mindesten das freundschaftliche Verhältnis des deutschen Bundesgenossen zur Türkei erheblich zu belasten.

England mit seinem riesigen Kolonialreich hat in all den Jahren seit der Einleitung unserer Kolonialpolitik keine territoriale Differenz mit uns gehabt, die hätte kritisch werden können. Wir haben England bei der Ausgestaltung seines Imperiums keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt, haben uns vielmehr über die afrikanischen und polynesischen Kolonialfragen mit ihm in einer keineswegs kleinlichen Weise verständigt. Auch in Ägypten, diesem für das britische Weltreich so wichtigen Lande, haben wir England freie Hand gelassen. Im Burenkriege hat die Reichsregierung, trotz der starken Erregung der deutschen öffentlichen Meinung gegen England, eine durchaus korrekte Neutralität beobachtet. Vielfach hat sich England mit Deutschland zur Aufrechterhaltung des Status quo und der offenen Tür zusammengefunden. Jedenfalls war auch England in keinem Winkel der Welt durch deutsche Angriffs- oder Eroberungsabsichten irgendwie bedroht.

Dagegen enthielt unser Verhältnis zu England einen andern Zündstoff, der verhängnisvoll geworden ist:

Deutschland zeigte auf wirtschaftlichem Gebiet einen Ausdehnungsdrang, in dem England, je länger desto mehr, eine ernstliche Bedrohung seiner industriellen und kommerziellen Suprematie, und damit eine Bedrohung seiner Weltherrschaft überhaupt, erblickte.

 

Englands Sorge um seine Weltstellung

Die politische Einigung Deutschlands und die Sicherung seiner Stellung unter den Völkern hatte den Druck gelöst, der bisher die Entfaltung der deutschen Wirtschaft gehemmt hatte. Das starke Wachstum der deutschen Bevölkerung und die noch stärkere Zunahme unserer Gütererzeugung hob unsere wirtschaftliche Kraft und wies uns in steigendem Maße auf den Güteraustausch mit dem Ausland und die Betätigung im Ausland. In der Entwicklung der wichtigsten Industriezweige, unseres Außenhandels, unserer Handelsflotte, hatten wir unter den Völkern der Welt Höchstleistungen aufzuweisen. In der Roheisenproduktion, in der wir um die Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts noch um die Hälfte hinter England zurückstanden, haben wir im Jahre 1903 England mit einer Erzeugung von mehr als zehn Millionen Tonnen zum erstenmal überflügelt, und im letzten Jahre vor dem Krieg hatten wir fast das Doppelte der englischen Produktion erreicht. In der Steinkohlengewinnung hatten wir vor dem Krieg die stolzen Ziffern Englands nahezu eingeholt. In der Warenausfuhr waren wir England gleichfalls hart aufgerückt; unser Export nach den nicht zum britischen Imperium gehörigen Gebieten hatte sogar denjenigen Englands nach den gleichen Ländern erheblich übertroffen. Der Raumgehalt der Dampfschiffe unserer Handelsflotte war seit der Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf mehr als das Sechsfache gestiegen. Unter den Handelsflotten der Welt hatten wir – in einem allerdings noch gewaltigen Abstand nach England – die zweite Stelle erreicht. An Leistungsfähigkeit hielten unsere Schiffe jeden Vergleich. In allen Teilen der Welt betätigte sich in zunehmendem Maße deutscher Unternehmungsgeist; er wagte sich auch an Aufgaben von Weltrang, wie große Eisenbahn- und Hafenunternehmungen, die vordem als die ausschließliche Domäne Englands und etwa noch Frankreichs gegolten hatten.

Es war friedlicher Wettbewerb, die Ausübung des Naturrechts der Völker auf Arbeit und deren Früchte. Und doch war der Erfolg dieses unseres friedlichen Wettbewerbs auf den Märkten der Welt der ausschlaggebende Faktor für die Gestaltung unseres politischen Verhältnisses zu England und damit für den Zusammenschluß der uns feindlichen Weltkoalition. Im Besitz von gewaltig überlegenen weltpolitischen Machtmitteln, des weitaus größten Kolonialreichs der Welt, der weitaus stärksten Flotte und der die wichtigsten Meeresstraßen beherrschenden Stützpunkte, sah England sich vor die Versuchung gestellt, seine durch unsern Wettbewerb bedrohte wirtschaftliche Weltstellung mit den Gewaltmitteln zu erhalten, die sie geschaffen hatten.

Insbesondere der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands von der Mitte der 90er Jahre an alarmierte Englands kommerzielle und politische Kreise in zunehmendem Maße. Das Stigma »made in Germany« verfehlte offenkundig seinen Zweck, ja es wurde geradezu eine Enthüllung der wachsenden industriellen und kommerziellen Leistungsfähigkeit des deutschen Wettbewerbs. Angesehene Staatsmänner, weit verbreitete und einflußreiche Zeitungen und Zeitschriften wiesen warnend und mahnend auf die deutsche Gefahr hin. Schon frühzeitig bezeichnete Lord Rosebery Deutschland als den gefährlichsten Nebenbuhler Großbritanniens: »Wir sind bedroht durch einen furchtbaren Gegner, der uns benagt wie das Meer die schwachen Teile eines Küstenlandes. Der Handel des vereinigten Königreichs verringert sich unaufhörlich, und was er verliert, das gewinnt in der Hauptsache Deutschland.« Und wenn Lord Rosebery noch in erster Reihe daran dachte, seine Landsleute zu einer Bekämpfung de,«; deutschen Wettbewerbs durch eine Nachahmung der deutschen Rührigkeit, der deutschen technischen Schulung und Organisation anzufeuern, so regten sich doch bald Stimmen, die unter Berufung auf die britische Geschichte und Tradition unzweideutig dazu aufforderten, das Schwert in die Wagschale des wirtschaftlichen Wettbewerbs zu werfen. Die »Saturday Review« schrieb schon im August 1895:

»Ein furchtbarer Gegner«

»Vor allem andern: Wir Engländer haben bisher immer unsre Nebenbuhler im Handel mit Krieg überzogen; und unser Hauptnebenbuhler im Handel ist heute nicht Frankreich, sondern Deutschland. Im Fall eines Krieges mit Deutschland würden wir sicher viel gewinnen und nichts verlieren, während wir in einem Krieg mit Frankreich, einerlei wie sein Ausgang wäre, sicher schwere Verluste erleiden würden.«

Bewußt oder unbewußt, ausgesprochen oder unausgesprochen hat dieser Gedanke seither die englische Politik beeinflußt.

Im September 1897 schrieb die »Saturday Review«, anknüpfend an eine von der »Times« Bismarck zugeschriebene Bemerkung:

»Bismarck hat längst erkannt, was nun auch das britische Volk einzusehen beginnt, daß es in Europa zwei große, unversöhnlich sich bekämpfende Kräfte gibt, zwei große Nationen, die den ganzen Erdkreis zu ihrer Domäne machen und von ihm Handelstribut einfordern möchten. England, mit seiner langen Geschichte erfolgreicher Angriffskriege, mit seinem wunderbaren Glauben, daß es in der Verfolgung seiner eigenen Interessen zugleich Licht unter den im Dunkel lebenden Völkern verbreitet, und Deutschland, Blut von dem gleichen Blut, Bein von dem gleichen Bein, mit einer geringeren Willenskraft, aber vielleicht einer schärferen Intelligenz ausgestattet, treten in jedem Winkel des Erdballs in Wettbewerb. In Transvaal, am Kap, in Mittelafrika, in Indien, in Ostasien, auf den Inseln der Südsee und im fernen Nordwesten, überall wo die Flagge der Bibel und der Handel der Flagge gefolgt ist, steht der deutsche Handlungsreisende mit dem britischen Kaufmann im Kampf. Überall wo es gilt, ein Bergwerk auszubeuten oder eine Eisenbahn zu bauen, einen Eingeborenen von der Brotfrucht zum Büchsenfleisch, von der Enthaltsamkeit zum Branntwein zu bekehren, da suchen Deutsche und Engländer sich gegenseitig auszustechen. Eine Million kleiner Reibungen schafft den größten Kriegsfall, den die Welt je gesehen hat.

»Germania delenda«

Wenn Deutschland morgen aus der Welt ausgelöscht wäre, so gäbe es übermorgen in der Welt keinen Engländer, der dadurch nicht reicher geworden wäre. Nationen haben jahrelang um eine Stadt oder um eine Erbfolge gekämpft: müssen wir nicht fechten um einen jährlichen Handel von 200 Millionen Pfund? . . . Was Bismarck sich vorstellt und was auch wir bald einsehen werden, ist die Tatsache, daß nicht nur der greifbarste Interessenstreit zwischen England und Deutschland da ist, sondern auch daß England die einzige Großmacht ist, die Deutschland ohne furchtbare Gefahr und ohne Zweifel am Erfolg bekämpfen kann ... Die Vermehrung der deutschen Flotte hat nur die Wirkung, den Schlag Englands um so schwerer auf sie niederfallen zu lassen. Ein paar Tage nur, und die deutschen Schiffe werden auf dem Meeresgrund liegen oder als Prisen nach den britischen Häfen gebracht werden. Hamburg und Bremen, der Kieler Kanal und die Ostseehäfen würden unter den britischen Kanonen liegen, bis die Kriegsentschädigung gezahlt wäre. Nach getaner Arbeit würden wir Frankreich und Rußland nur zu sagen brauchen: sucht euch Kompensationen, nehmt euch von Deutschland, was ihr wollt – ihr könnt es haben!« Den Schluß bildete das »ceterum censeo Germaniam esse delendam«.

Diese Sätze, die den Geist der britischen Geschichte und Politik besser enthüllen, als irgendeiner der im feindlichen Ausland so oft zitierten Aussprüche von Treitschke, Nietzsche oder Bernhardi die Gesinnung des deutschen Volkes, sind geschrieben siebzehn Jahre vor Ausbruch des Weltkriegs, zu der Zeit, als die deutsche Regierung ihre erste bescheidene Flottenvorlage an den Reichstag brachte. Als Fürst Bismarck, wenige Monate später, von dem Engländer Sidney Whitman befragt wurde, wie nach seiner Ansicht die Beziehungen zwischen den beiden Ländern gebessert werden könnten, ließ er antworten: »Er bedaure, daß die Beziehungen zwischen Deutschland und England nicht besser seien, als sie eben sind. Bedauerlicherweise wisse er kein Mittel dagegen, da das einzige ihm bekannte, das darin bestehe, daß wir unserer Industrie einen Zaum anlegten, nicht gut verwendbar sei.« Der aus Deutschlands wirtschaftlichem Aufschwung erwachsende deutsch-englische Gegensatz als eine unentrinnbare, durch kein Mittel aus der Welt zu schaffende Fatalität ist in diesen Worten Bismarcks treffend gekennzeichnet.

Die Reibung zwischen der deutschen wirtschaftlichen Expansion und der von England als wohlerworben prätendierten Stellung wurde besonders erbittert und gefährlich, wenn Deutschlands Bestrebungen in Gebieten, die England als in seine Interessensphäre fallend oder als für den Zugang zu seiner Interessensphäre wichtig in Anspruch nahm, auch nur von ferne den Charakter einer territorialen Festsetzung anzunehmen drohten. Das wichtigste und bezeichnendste Beispiel hierfür ist der langjährige und hartnäckige Widerstand Englands gegen das von Deutschland in Angriff genommene Unternehmen der Bagdadbahn, über den später noch zu sprechen sein wird. Der englische Kampf gegen dieses Projekt erklärt sich in der Hauptsache daraus, daß die britischen Staatsmänner und die britische öffentliche Meinung in dieser Bahn einen außerhalb der britischen Kontrolle stehenden Zugang zum Persischen Golf und die Möglichkeit einer deutschen Festsetzung an dessen Küsten, darin aber eine Bedrohung Indiens erblickten.

 

Die deutsche Kriegsflotte

Daß das Deutsche Reich angesichts seiner sich immer mehr ausdehnenden überseeischen Interessen und des Wachstums seiner Handelsflotte das Bedürfnis nach einer Verstärkung seines maritimen Schutzes empfand und betätigte, liegt in der Natur der Dinge. Deutschlands Kriegsflotte stand zur Zeit des Regierungsantritts Wilhelms IL an fünfter Stelle. Mit großem Vorsprung nahm England den ersten Platz ein, es folgten Frankreich, Italien, Rußland und dann erst Deutschland. Die Überlegenheit Englands auf diesem Gebiet war so gewaltig, daß sie auch durch die stärksten Anstrengungen des im Gegensatz zu England durch die Notwendigkeit eines starken Landheeres beschwerten Deutschen Reiches unmöglich ernsthaft in Frage gestellt werden konnte. Die dem Ausbau der deutschen Kriegsflotte gestellten Aufgaben und gezogenen Grenzen sind seinerzeit klar ausgesprochen worden in der Begründung des deutschen Flottengesetzes von 1900:

»Um unter den bestehenden Verhältnissen Deutschlands Seehandel und Kolonien zu schützen, gibt es nur ein Mittel: Deutschland muß eine so große Schlachtflotte besitzen, daß ein Krieg auch für den seemächtigsten Gegner mit derartigen Gefahren verbunden ist, daß seine eigene Machtstellung in Frage gestellt wird.«

Gleichwohl erregten die deutschen Flottenpläne in England von Anfang an Unruhe und Besorgnis. Wenn man sich schon durch das weltwirtschaftliche Wachstum Deutschlands beeinträchtigt und bedroht fühlte, so noch mehr durch die Aussicht auf eine erhebliche Verstärkung der deutschen Machtmittel zur See. Deutschlands überseeische und koloniale Betätigung mochte in England manchem als noch erträglich erscheinen, solange diese Betätigung mangels einer ins Gewicht fallenden deutschen Flotte gewissermaßen auf der Gnade und dem guten Willen Englands stand; sie wurde alarmierend von dem Augenblicke an, in dem Deutschland seiner werdenden Wirtschaftsmacht in einer eigenen starken Flotte eine entsprechende Machtgrundlage zu geben versuchte.

Je deutlicher man in England erkannte, daß das Deutsche Reich sein durch die Gesetze von i8g8 und 1900 festgelegtes Flottenprogramm mit einer unerwarteten Präzision durchführte, desto größer wurde in England die Unruhe, und desto mehr wurde die Flottenfrage zum Angelpunkt des deutsch-englischen Verhältnisses. »Mit dem Auge auf die englische Politik mußte unsere Flotte gebaut werden,« so schreibt Fürst Bülow in seinem Buch über die deutsche Politik, »– und so ist sie gebaut worden. Der Erfüllung dieser Aufgabe hatten meine Bemühungen auf dem Felde der großen Politik in erster Linie zu gelten.« Wie ein roter Faden zieht sich durch des Fürsten Bülow Darstellung seiner auswärtigen Politik die Notwendigkeit, eine ausreichend starke deutsche Flotte zu schaffen, ohne es zum Kriege mit England kommen zu lassen.

 

Englische Erregung über Deutschlands Flottenpolitik

Das Verhältnis der Kriegsflotte zu den zu schützenden See- und Überseeinteressen war bei Deutschland auch nach den Flottengesetzen von 1898 und 1900 ganz offenkundig ungünstiger als bei irgendeiner andern großen Nation. Auch das Flottengesetz von 1905, das die deutsche Kriegsflotte, entsprechend der Stellung Deutschlands in der Weltwirtschaft, an den zweiten Platz brachte – in weitem Abstand nach England – stellte das Gleichgewicht weltwirtschaftlicher Interessen und maritimer Machtmittel noch nicht annähernd her. Wenn trotzdem die deutschen Versuche, durch Schaffung eines Risikos für eine angreifende Flotte wenigstens einen mittelbaren Schutz für unsere weltwirtschaftlichen Interessen aufzubauen, in England in so hohem Maße Unruhe, Verdacht und Erregung hervorriefen, so konnte man das bedauern und gegen die Folgen Deckungen suchen, aber ebensowenig ohne Selbstaufgabe vermeiden wie die aus unsern wirtschaftlichen Fortschritten erzeugte Reibung.

Bis zu welchem Grade schon frühzeitig die Empfindlichkeit über unsere Flottenpolitik in England, namentlich in Marinekreisen, gestiegen war, in welchem Maße sie das Verlangen nach einem gegen Deutschland zu führenden Schlag auslöste, enthüllte sich anläßlich des Zwischenfalls an der Doggerbank im Herbst 1904. Die auf der Fahrt von Libau nach den ostasiatischen (Gewässern begriffene baltische Flotte Rußlands beschoß damals nächtlicherweile aus Versehen eine englische Fischerflotte, die sie für japanische Torpedoboote hielt. Die Erregung in England war ungeheuer und richtete sich merkwürdigerweise auf Grund der abenteuerlichsten Gerüchte und Vermutungen nicht nur gegen Rußland, sondern auch gegen Deutschland, das mit dem ganzen Vorfall nicht das mindeste zu tun hatte. Damals schrieb die der britischen Admiralität nahestehende »Army and Navy Gazette«, der Augenblick scheine gekommen, mit der deutschen Flotte ein Ende zu machen; die russische Flotte sei, vielleicht für immer, aus der Nordsee verschwunden, die deutsche Kriegsflotte stehe dort völlig allein, jetzt oder nie sei für England die Gelegenheit, die mit jedem Jahr drohender anwachsende deutsche Flotte ein für allemal zu beseitigen. Mit der Vertretung dieser Auffassung blieb die »Army and Navy Gazette« in der englischen Presse nicht allein. Noch deutlicher war eine Rede, die der Zivillord der britischen Admiralität, Mr. Arthur Lee, im Februar 1905 über die damals eingeleitete Neuorganisation der britischen Flotte hielt. Er führte aus, England müsse mit größerer Besorgnis als nach andern Stellen nach der Nordsee blicken. Der Gedanke, daß England eher mit der Möglichkeit einer Gefahr aus dieser Richtung als im Mittelmeer rechnen müsse, habe die neue Flottenverlegung und die Indienststellung der ganzen Schiffsreserven nötig gemacht. »Wir glauben,« fügte er hinzu, »an das alte Wort: Dreimal gesegnet derjenige, welcher den ersten Schlag führt! Und ich hoffe, daß im Falle einer Gefahr die britische Flotte in der Lage sein wird, den ersten Schlag, und einen recht wuchtigen dazu, zu führen, noch ehe die andere Macht gewahr wird, daß der Krieg erklärt ist.«

Zu dieser Rede bemerkte »Daily Chronicle«: »Der Preis für Englands Freundschaft müßte das Aufgeben der Kriegsrüstung auf selten Deutschlands sein. Wenn die deutsche Flotte im Oktober vorigen Jahres (Doggerbank-Zwischenfall) zerstört worden wäre, wäre der Friede Europas für 60 Jahre gesichert gewesen.«

 

Arthur Lees Kriegsdrohung

Die folgenden Jahre brachten Versuche zu einer Verständigung über die beiderseitigen Flottenrüstungen. Diese Versuche, über die weiter unten noch gesprochen werden wird, erreichten ihren Höhepunkt mit der Haldaneschen Mission im Jahre 1912.

Die Flottenfrage ist nur der eine Teil des allgemeinen Rüstungsproblems. Ebenso wie der Ausbau der deutschen Flotte in England als Zeichen deutscher kriegerischer Absichten ausgegeben wurde, ebenso hat man in der Stärke und in den periodischen Verstärkungen unseres Landheeres den Ausdruck deutschen Kriegs- und Herrscherwillens sehen wollen. Sir Edward Grey hat am 22. März 1915 im Unterhaus diesen Gedanken in die Worte gekleidet: »Wir wissen jetzt, daß die deutsche Regierung für den Krieg Vorbereitungen getroffen hat, wie sie nur ein Volk, das den Krieg beabsichtigt, treffen kann.«

Daß Deutschlands Lage in der Mitte Europas, daß seine geschichtlichen Erfahrungen und daß schließlich die Gestaltung der Mächtegruppierung in den letzten Jahrzehnten ein starkes Heer als Verteidigungsinstrument und Friedensschutz notwendig machten, daß mithin die Schaffung und der Ausbau eines starken deutschen Heeres an sich noch kein Beweis kriegerischer Absichten Deutschlands sein kann, ist vor dem Kriege auch von Staatsmännern anerkannt worden, die späterhin kaum genug anklagende Worte gegen den friedenstörenden deutschen Militarismus finden konnten. Lloyd George hat in einer Rede in der Queens Hall am 28. Juli 1908 ausgeführt:

»Betrachten Sie Deutschlands Lage! Für Deutschland ist sein Heer, was für uns die Flotte ist: seine einzige Verteidigung gegen eine Invasion. Deutschland hat keinen Zwei-Mächte-Standard geschaffen, Deutschland mag ein stärkeres Heer haben als Frankreich, als Rußland, als Italien, als Österreich; aber es steht zwischen zwei Großmächten, die zusammen eine weit größere Truppenzahl aufstellen können, als Deutschland sie hat. Vergessen Sie das nicht, wenn Sie sich wundern, warum Deutschland Allianzen und Ententen fürchtet und gewisse geheimnisvolle Machenschaften, die in der Presse durchscheinen . . . Denken Sie sich, wir ständen hier vor einer Kombination, die uns der Invasion preisgäbe, denken Sie sich, Deutschland und Frankreich oder Deutschland und Rußland oder Deutschland und Österreich hätten Flotten, die kombiniert stärker wären als die unsrige, wären wir nicht erschreckt? Würden wir nicht rüsten? – Selbstverständlich würden wir rüsten!«

Und noch am 1. Januar 1914 schrieb Lloyd George im »Daily Chronicle«:

»Die deutsche Armee ist lebenswichtig nicht nur für die Existenz des Deutschen Reiches, sondern auch für das nackte Leben und die Unabhängigkeit des deutschen Volkes selbst, da nun einmal Deutschland umgeben ist von andern Nationen, deren jede ein Heer besitzt ungefähr ebenso stark wie das deutsche selbst. Wir vergessen, daß während wir für den Schutz unserer eignen Küsten auf einer sechzig-prozentigen Überlegenheit unserer Seestreitkräfte gegenüber Deutschland bestehen, Deutschland nichts, was einer solchen Überlegenheit nahekommt, Frankreich gegenüber besitzt und außerdem natürlich an seiner Ostgrenze mit Rußland zu rechnen hat. Deutschland hat nichts, was einem Zwei-Mächte-Standard ähnlich sieht. Deutschland ist deshalb durch gewisse neuere Ereignisse alarmiert worden und ist deshalb im Begriff, hohe Summen für die Verstärkung seiner militärischen Machtmittel aufzuwenden.«

 

Die Lebensnotwendigkeit des deutschen Landheeres

Diese sachliche Beurteilung trug dem wirklichen Tatbestand insofern noch nicht einmal ganz Rechnung, als die russische Armee der deutschen an Zahl bedeutend überlegen war und als die Anstrengungen Deutschlands, seine Volkskraft für das Heer auszunutzen, weit hinter den Anstrengungen Frankreichs zurückblieben. Nach einer im britischen Unterhaus im Juni 1913 gegebenen Auskunft betrug damals die Friedenspräsenz des russischen Heeres 1 284 000 Mann, während die Friedenspräsenz des deutschen Heeres durch das neue Militärgesetz auf 822 000 Mann gebracht werden sollte. Die Friedenspräsenz des französischen Heeres wurde für die Zukunft auf 742 000 Mann beziffert, diejenige des österreichisch-ungarischen Heeres auf 474 000 Mann. Das russische Heer war also dem deutschen um etwas mehr als die Hälfte überlegen. Die gleiche zahlenmäßige Überlegenheit hatte das vereinigte russischfranzösische Heer gegenüber dem deutsch-österreichisch-ungarischen Heer. Die Friedensstärke des französischen Heeres kam derjenigen des deutschen nahezu gleich, obwohl Deutschland eine Bevölkerung von 68 Millionen, Frankreich eine solche von rund 40 Millionen hatte. Unmittelbar vor dem Kriege kam auf je eine Million Einwohner eine Friedensstärke der Armee von rund 20 000 Mann in Frankreich, von nur 12 300 Mann in Deutschland, Die Ausgaben für Heer und Flotte waren vor dem Krieg, auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet, in Frankreich und England bedeutend größer als in Deutschland. Dazu finanzierte Frankreich die gewaltigen Kosten der russischen Heeresverstärkungen und der für den Aufmarsch gegen Deutschland bestimmten russischen strategischen Eisenbahnen. Und schließlich steigerte Frankreich seine militärische Kraftanstrengung, in der es ohnedies schon allen andern Völkern weit voraus war, im Jahre 1913 durch die Rückkehr zur dreijährigen Dienstzeit; es übernahm damit – wie heute als erwiesen gelten kann Siehe E. D. Morel. Truth and the War. London 1916, S. 148 ff. 58, auf russischen Druck – eine Last, die das französische Volk angesichts der Heranziehung des letzten einigermaßen tauglichen Mannes zum Militärdienst ohne die schwerste wirtschaftliche Schädigung unmöglich für lange Zeit hätte tragen können.

 

Frankreichs Rückkehr zur dreijährigen Dienstzeit

Trotzdem Deutschlands Rüstungen so sehr hinter denjenigen der Länder des gegnerischen Verbandes, namentlich hinter den Kraftanstrengungen Frankreichs, zurückblieben – und das in der von Lloyd George noch Anfang 1914 anerkannten, besonders schwierigen Lage –, wurde in den Jahren vor dem Krieg jeder Schritt Deutschlands, der eine den Rüstungen der möglichen Gegner und der schwieriger gewordenen politischen Konstellation angepaßte Verstärkung unseres militärischen Schutzes anstrebte, als Bedrohung des Weltfriedens ausgeschrien. Ich war selbst Zeuge der ungeheuren Erregung, die die Einbringung unserer Militärvorlage von 1913 auf einflußreiche Kreise Frankreichs machte. Diese Vorlage war mehr als ausreichend durch die Machtverschiebung begründet, die der erste Balkankrieg herbeigeführt hatte. In Frankreich aber sah man in dem Willen Deutschlands, die gesetzlich bestehende, aber bisher nicht völlig verwirklichte allgemeine Dienstpflicht tatsächlich durchzuführen, nur die sich daraus für Frankreich ergebende Unmöglichkeit, die Friedensstärke des Heeres, trotz des gewaltigen Abstandes der Bevölkerung gegenüber Deutschland, auch weiterhin auf annähernd derselben Höhe wie das deutsche Heer zu halten. Man sah es geradezu als eine Herausforderung Frankreichs an, daß Deutschland unter dem steigenden Druck der politischen Bedrohung endlich dazu überging, seine Bevölkerungsüberlegenheit gegenüber Frankreich – nicht etwa voll auszunutzen, davon war keine Rede, sondern überhaupt nur in bescheidenem Umfang ins Spiel zu setzen. Rußland durfte mit französischem Geld ein Heer aufbauen und ausrüsten, das eineinhalbmal so stark war wie das deutsche allein und ungefähr ebenso stark, wie das deutsche und österreichisch-ungarische zusammengenommen. Wenn aber das nicht nur von Frankreich, sondern auch von Rußland bedrohte Deutschland Miene machte, seine Friedenspräsenz auf Grund seiner der französischen um mehr als 60 Prozent überlegenen Bevölkerung auf einen Stand zu bringen, den Frankreich allein nicht mehr halten konnte, so war das eine unmittelbare Bedrohung und ein brutaler Erdrosselungsversuch. Und Sir Edward Grey darf sagen, daß die deutschen Rüstungen solche waren, wie sie nur ein Volk, das den Krieg beabsichtigt, treffen kann!

 

Erwerbsgesellschaft gegen Versicherungsgesellschaft

Der auf den vorstehenden Blättern gegebene Überblick zeigt:

Die Koalition, der wir uns im Kriege gegenübersahen, hatte ihre Gemeinsamkeit in Zielen, die nur durch eine Niederkämpfung Deutschlands und Österreich-Ungarns zu erreichen waren: das Verlangen Frankreichs nach Revanche und der Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens; der Drang Rußlands nach Konstantinopel und seine Förderung der allslawischen Bestrebungen, die in letzter Linie auf eine Bedrohung des Bestandes der österreichisch-ungarischen Monarchie hinauskamen; der Wunsch Italiens, die »unerlösten Gebiete« Österreichs sich anzugliedern; die Sorge Englands um seine durch den deutschen Wettbewerb bedrohte wirtschaftliche Weltstellung und sein Argwohn gegen die deutsche Flotte. Demgegenüber war auf unsrer Seite die Politik seit der Verwirklichung unsrer nationalen Einheit in Verteidigungsstellung: wir wünschten, ebenso wie Österreich-Ungarn, die Erhaltung unseres eignen politischen und territorialen Bestandes, waren auf dem Balkan und auch sonst in der Welt wesentlich an der Erhaltung des Status quo interessiert, wollten offene Tür, freies Feld und Schutz für unsre wirtschaftliche Betätigung. Fürst Bülow hat einmal vom Dreibund gesagt, er sei eine Versicherungsgesellschaft, keine Erwerbsgesellschaft. Von der Triple-Entente kann man sagen, daß sie in erster Linie eine Erwerbsgesellschaft war. Die britisch-französische Entente begann mit einem Aufteilungsvertrag, ebenso die britisch-russische Entente. Die Erwerbsgesellschaft zeigte eine wesentlich stärkere Anziehungskraft als die Versicherungsgesellschaft; denn über das bloß negative Ziel der Sicherung des Bestehenden hinaus konnte sie Zuwachs an Land und Macht als lockende Aussicht zeigen. Je mehr es der geschickten Politik namentlich Englands gelungen war, die Reibungen zwischen sich und seinen alten Gegnern Frankreich und Rußland teils durch gewaltsame Aktionen, teils durch kluges Entgegenkommen zu beseitigen, desto mehr trat die einigende Kraft der nur durch eine Niederzwingung der Mittelmächte zu erreichenden Ziele und geheimen Wünsche in Wirksamkeit, desto leichter wurde es der britischen Staatskunst, ihre gegen Deutschland, die stärkste Kontinentalmacht und den gefährlichsten Rivalen in der Weltwirtschaft und der Seegeltung, gerichtete Einkreisungspolitik durchzuführen. Um so schwerer wurde es auf der andern Seite für die deutsche Politik, sich der drohenden Isolierung zu erwehren. Die Durchbrechung des Ringes, der sich enger und enger um uns zusammenzog, wäre nur möglich gewesen durch die Preisgabe gewaltiger eigner materieller und ideeller Interessen oder durch eine Opferung Österreich-Ungarns und den Versuch der Bildung einer ganz neuen Mächtegruppierung. Und auch dann wäre der Erfolg unsicher geblieben. Der aufrichtige Wille zum Frieden und die Bereitschaft, in Fragen, die nicht direkt unsre oder unsres Verbündeten Lebensinteressen berührten, den Mächten der gegnerischen Koalition weitestes Verständnis und Entgegenkommen zu zeigen, haben nicht genügt, die politische Einschnürung zu lockern und den Krieg zu vermeiden.


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