Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Dagegen schien es, als ob die Krisis des Jahres 1911 und die endgültige Erledigung der Marokkofrage eine entspannende Wirkung auf das deutsch-englische Verhältnis ausüben sollte.
Die Verpflichtung Englands auf Grund des Vertrages von 1904, der französischen Regierung in der Marokkofrage Hilfe zu leisten, hatte die Möglichkeit eines deutsch-englischen Konflikts enthalten, der jederzeit akut werden konnte und in den Jahren 1905 und 1911 tatsächlich akut geworden war. Diese Verpflichtung und damit die in ihr enthaltene Kriegsmöglichkeit war durch die Liquidation der Marokkofrage gegenstandslos geworden, und damit war das deutsch-britische Verhältnis in der Tat erheblich entlastet. Dazu hatten die Vorgänge des Jahres 1911 in England selbst eine gewisse Reaktion gegen die Politik ausgelöst, die infolge von dem Parlament und einem großen Teil des Kabinetts selbst vorenthaltenen Verpflichtungen unmittelbar an den Rand des Krieges geführt hatte.
Flottenrüstung und allgemeine Politik
Wie weit diese Verhältnisse auf die Haltung der britischen Regierung einwirkten, wie weit andere Gesichtspunkte maßgebend waren – jedenfalls zeigte sich das britische Kabinett bereit, auf einen vom deutschen Reichskanzler angeregten Versuch zu einer Verständigung einzugehen. Lord Haidane, der britische Kriegsminister und Organisator des britischen Heeres, wurde in besonderer Mission nach Berlin entsandt (Februar 1912), um die Möglichkeiten einer Verständigung mit der deutschen Regierung durchzusprechen.
Lord Haidane stellte bei diesen Verhandlungen eine Verständigung über eine Einschränkung der weiteren Verstärkung der beiderseitigen Kriegsflotten in den Vordergrund, Das von deutscher Seite damals vorbereitete neue Flottengesetz, das eine Verstärkung unsrer Kriegsflotte und eine organisatorische Erhöhung ihrer Schlagfertigkeit bringen sollte, hatte in England die Besorgnisse vor einem allzu starken Anwachsen der deutschen Flotte aufs neue geweckt. Man griff auf den schon im Jahre 1904 eingeleiteten Versuch zurück, das unbedingte Übergewicht der britischen Flotte auf dem billigeren Wege einer Verständigung über das Ausmaß neuer Kriegsschiffbauten zu erhalten. Auf deutscher Seite lehnte man eine solche Verständigung nicht a limine ab, stellte jedoch eine allgemein-politische Verständigung in den Vordergrund. »Ich fragte den englischen Minister,« so sagte Herr von Bethmann Hollweg später im Reichstag, »ob ihm nicht eine offene Verständigung mit uns, eine Verständigung, die nicht nur einen deutsch-englischen Krieg, sondern überhaupt jeden Weltkrieg ausschließen würde, mehr wert sei als ein paar deutsche Dreadnoughts mehr oder weniger.« Es entspann sich dann der Meinungsaustausch über eine Formel, die das Verhältnis zwischen Deutschland und England für den Fall eines Krieges einer dieser Mächte mit einer dritten Macht regeln sollte. Es ist bekannt, daß dieser Meinungsaustausch, der nach der Rückreise Lord Haldanes in London fortgesetzt wurde, schließlich ergebnislos abgebrochen werden mußte. Der Vorschlag, den Lord Haidane nach London mitnahm und dem er persönlich zugestimmt hatte, enthielt eine bedingte Neutralitätsverpflichtung: falls eines der beiden Länder in einen Krieg verwickelt werde, in dem es nicht der Angreifer sei, so werde das andere Land wohlwollende Neutralität beobachten und das Äußerste tun, um den Kampf räumlich einzuschränken. Wie mir der Großadmiral von Tirpitz später mitgeteilt hat, sei er bereit gewesen, auf Grundlage einer solchen Abmachung genau das zu tun, was Haidane für eine Flottenverständigung vorgeschlagen habe. Trotzdem wurde Haidane von seiner Regierung desavouiert. Sir Edward Grey erklärte nach Berichten des deutschen Botschafters, ein unbedingtes Neutralitätsabkommen – was die deutsche Formel nicht war – würde die französische Empfindlichkeit reizen, und er wolle das freundschaftliche Verhältnis zu Frankreich und Rußland nicht in Frage stellen. Sein Gegenvorschlag war lediglich eine Erklärung, daß England keinen unprovozierten Angriff auf Deutschland machen und keiner Abmachung angehören oder beitreten werde, die einen solchen Angriff bezwecke. Den vom Reichskanzler gewünschten Zusatz, der aus dieser Erklärung die Folgerung zog, auf die es ankam: »England wird daher selbstverständlich wohlwollende Neutralität bewahren, sollte Deutschland ein Krieg aufgezwungen werden«, lehnte die britische Regierung ab, da jede über ihren Vorschlag hinausgehende Verständigungsformel die Beziehungen zu Rußland und Frankreich gefährden würde.
England wollte sich also für den Fall eines Krieges, in den Deutschland verwickelt werden würde, auch wenn dieser Krieg nicht von Deutschland herbeigeführt, sondern ihm aufgezwungen werden würde, freie Hand vorbehalten – genau die Haltung, die es Ende Juli 1914, als der Weltkrieg in Sicht kam, tatsächlich eingenommen hat.
Eine Formel, die England lediglich darauf festlegte, daß es keinen unprovozierten Angriff auf Deutschland machen werde, England aber freie Hand im Falle eines Deutschland aufgezwungenen Kriegs vorbehielt, erschien der deutschen Regierung nicht als genügend. Es hatte sich im Verlauf der Verhandlungen klar gezeigt, daß der von der deutschen Regierung erstrebte Zweck, durch ein Neutralitätsabkommen mit England eine ähnliche Versicherung gegen einen Weltkrieg zu erreichen, wie sie seinerzeit im Rückversicherungsvertrag mit Rußland bestanden hatte, bei der britischen Regierung nicht durchzusetzen war.
Kein Neutralitätsabkommen mit England
Das lag offenkundig an dem bei den Verhandlungen deutlich gezeigten britischen Mißtrauen in die deutschen Absichten und an dem zielbewußten Willen der britischen Politik, gegen Deutschland als die stärkste Kontinentalmacht und den gefährlichsten Rivalen zur See und in der Weltwirtschaft unter allen Umständen eine starke Koalition zusammenzuhalten, um sich dieser Koalition bei günstiger Gelegenheit zur Niederkämpfung Deutschlands zu bedienen.
Die deutsche Politik suchte in der Folgezeit das englische Mißtrauen in ihre Absichten zu überwinden, einmal dadurch, daß sie den Ausbau der Flotte ohne formelle Abmachung dem von Lord Haidane vorgeschlagenen Verhältnis zwischen der britischen und deutschen Flottenstärke anpaßte, dann indem sie auf wichtigen Sondergebieten – Kolonialfragen, Bagdadbahn, Mesopotamien und Persischer Golf – mit England zu einer Verständigung zu gelangen suchte.