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Nun ist zu sagen, daß Assessor Waldemar Hambeck Assessor honoris causa war, weil das Schicksal gegen ihn gewesen war. Mit welchem Recht kann man sagen, daß das Schicksal gegen einen Menschen war, der Assessor ist? Das Schicksal war insofern gegen Assessor Hambeck gewesen, als es ihn in einem falschen Lande zur Welt kommen ließ. Wenn Napoleon in Schweden geboren worden wäre, so hätte er als Sergeant oder Sozialist geendet; wäre Assessor Hambeck in Frankreich geboren worden, er wäre Küchenchef oder Bischof geworden. Hundert Meilen, und zwei Welten durch einen Abgrund getrennt …
Immerhin ist das Schicksal, Assessor anstatt Küchenchef zu werden, kein Unglück, mit dem vergleichbar, Sergeant zu sein, wenn man Napoleon werden sollte. Dazwischen ist derselbe Unterschied wie zwischen einem Familiendrama und einer griechischen Tragödie. Assessor Hambeck konnte wohl hie und da gleich den in der Gefangenschaft geborenen Löwen (oder pflanzt sich der Löwe in der Gefangenschaft nicht fort?) dunkel sein Unglück fühlen, fühlen, daß er zu etwas anderem geboren war, aber diese Augenblicke waren selten. In der Regel war Assessor Hambeck mit seinem Lose zufrieden. Es hatte ihn aus einem wohlhabenden Heim an die Universität geführt; und wenn der Ernst seiner Studien ihm nicht gestattet hatte, diese durch eine der Examenspforten zu verlassen, hatten die Gebräuche seiner Heimat jedenfalls verhindert, daß er sie ohne Titel verließ. Nachdem er sich genügend viele Jahre allen Fakultäten mit Ausnahme der theologischen gewidmet hatte, wurde er auf dieselbe Weise Assessor, wie so viele seiner Studienkollegen Doktoren. Darüber ist nichts Böses zu sagen.
Ueberhaupt war nichts Böses über Assessor Hambeck zu sagen. Sein Vater hatte ihm nur einmal gezürnt; das war, als er bei einem Galadiner in der Landeshauptmannsresidenz, unmittelbar nachdem der erste Opernsänger des Landes die Nationalhymne gesungen hatte, aufstand und sie selbst vortrug. Er hatte einen ganz netten Bariton, der aber augenblicklich in hohem Grade schwankend war. Der erste Opernsänger des Landes wurde gedankenvoll, und Assessor Hambecks Vater, der Bezirkssekretär war, vor Kummer außer sich. Assessor Hambeck sang die Nationalhymne mit Gefühl und Ueberzeugung zu Ende und wurde am nächsten Tage in das praktische Leben hinausgesendet. Dessen Anforderungen zeigte er sich nicht gewachsen, obwohl er sein Glück auf vielen Gebieten probierte, als Zuckerfabriksbeamter, Landwirt und Masseur; aber da sein Vater kurz darauf starb und einen größeren Betrag eiskalten Geldes hinterließ, brachte ihm sein Konzertauftreten keinen weiteren Schaden. Er zog in die Universitätsstadt zurück, wo er schon gleich Faust fünfzehn Jahre Juristerei, Philosophie und Medizin studiert hatte, doch ohne hierüber so verstimmt zu sein wie Faust, ob es nun daher kam, daß er nie wie dieser Theologie studiert hatte, oder daß er nicht die Lösung des Welträtsels suchte. Ueber dieses und das Glück überhaupt hatte er dieselbe Ansicht wie ein französischer Philosoph: es ist schwer, das Glück in uns selbst, unmöglich, es anderswo zu finden. Assessor Hambeck suchte das Glück nicht an unwahrscheinlichen Orten, wenn er auch zuweilen noch seine unerreichte eigentliche Lebensaufgabe in seiner Brust raunen fühlte; er lebte als Rentier in der Universitätsstadt, interessierte sich für Weine und andere Getränke – recht sehr, recht sehr, behaupteten manche Leute; er interessierte sich auch etwas für Damen, war ein guter Bridgespieler und passabler Jäger (so sagte wenigstens er selbst) und folglich ein gerne gesehener Gast bei seinen vielen Freunden. Einer davon war Oberst Bencke.
Eines schönen Tages, im Juli des Jahres dieser Erzählung, bekam der Assessor einen Brief von Frau Bencke:
Lieber Assessor Hambeck!
Wollen Sie diesen Sommer nicht einen kleinen Abstecher nach dem Schwanseehof machen? Henning ist ja allerdings nicht zu Hause, aber ich hoffe, Sie werden sich trotzdem wohl fühlen. Meine Kusine Mrs. Everard aus Amerika ist mit ihrem Jungen zu Besuch da, und Major von Bircks Karl-Bertil ist auch bei uns. Ich weiß ja, daß Sie ein Freund der Jugend sind. Die Entenjagd soll Gutes versprechen.
Es ist auch noch ein Grund vorhanden, weshalb mir Ihr Besuch noch willkommener wäre als sonst, aber darüber mehr, wenn wir uns sprechen.
Sehr herzlich
Emma Bencke.
Assessor Hambeck suchte mit jenem logischen Klarblick, der die Folge von zwanzig Jahren Universitätsstudien ist, den letzten Satz zu ergründen. Warum war sein Besuch willkommener denn je? Die Ursache, die er trotz aller logischen Schärfe unmöglich herausbringen konnte, war folgende:
Unmittelbar nach der Heimkehr aus Avalla hatte Karl-Bertil Frau Bencke die Geschichte ihrer Radtour erzählt. Die Heimfahrt war mit der Bahn erfolgt; nicht um ein Schloß war der Tyrann dazu zu verlocken gewesen, den Gripsberg hinauf zufahren. Der Zufall wollte es, daß am selben Tage der Amtmann zu Besuch kam, um mitzuteilen, daß von Mr. Smith keine Spur zu finden sei; man könne also mit Sicherheit annehmen, daß er ins Ausland verduftet sei. Er war ein fünfunddreißigjähriger Mann, zu dessen unschuldig roten Wangen und harmlosem weißblonden Schnurrbart zwei scharfe lichtblaue Augen in einigem Widerspruch standen. Karl-Bertils Geschichte, die ihm (mit einiger Reserve) von Frau Bencke vorgetragen wurde, ließ ihn die Augen weit aufreißen. Er besichtigte die Räder, die noch unrepariert waren, und sein Mienenspiel wurde immer beredter und beredter.
»Hundert Millionen Teu …« murmelte er endlich und stand auf. » Das kann man nicht fortdisputieren. Du mein barmherziger Schöpfer, was ist das für ein Schuft, den Sie da im Hause gehabt haben! Erzähle selbst, mein Junge!«
Karl-Bertil trug seine Erzählung von Anfang bis zu Ende vor. Als er fertig war, sagte der Amtmann langsam:
»Es ist, wie es scheint, Lals Verdienst, daß der junge Karl-Bertil hier steht – und nicht im Gripsfluß liegt?
»Ja, das ist es!« rief Karl-Bertil mit glühenden Wangen. »Lal hat mir das Leben gerettet, und sehen Sie nur seine Radkette an! Können Sie begreifen, Herr Amtmann, daß er dabei nicht selbst ums Leben gekommen ist? Lal ist der mutigste Junge auf der Welt.« –
»Eines ist sicher,« sagte der Amtmann, »nämlich, daß dieser Bursche jedenfalls hier in der Gegend geblieben ist und spioniert haben muß. Denn es läßt sich wohl nicht denken, daß es noch jemand gibt, der – – Ach nein, übrigens – auf diese Art Trick kommt hier niemand. Der gottverdammte Schuft – entschuldigen Sie, wenn ich fluche, gnädige Frau. Jetzt müssen wir aber trachten, ihn zu kriegen – – wir sind zwar hierzulande an solche Herren nicht gerade gewöhnt, aber wir müssen eben tun, was wir können!«
Es sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen.
Frau Bencke sah ihn fragend an.
»Wünschen Sie noch etwas?«
Der Amtmann räusperte sich.
»Nun ja … ich will Ihnen sagen, gnädige Frau, ich habe Angst vor diesem Kerl … ein Mensch, der auf solche Sachen kommt und sich hier herumtreibt, obwohl wir doch alles tun, was in unserer Macht steht – ja, ich sage nichts weiter …«
»Nun?« sagte Frau Bencke, »was wollen Sie, daß ich tun soll?«
Amtmann Wessén wetzte auf seinem Stuhl.
»Ja, könnten gnädige Frau nicht einstweilen irgendein Mannsbild – ich meine, einen Herrn, im Hause wohnen lassen?«
»Glauben Sie wirklich, daß das notwendig ist, Herr Amtmann?«
»Ja, gnädige Frau, ich habe ja schon gesagt, was ich meine. Und die andere Dame sieht auch so aus, als könnte sie ein bißchen … hm, Trost und Schutz ganz gut gebrauchen.«
Frau Bencke lächelte und schien nachzudenken. Plötzlich bemerkte sie Karl-Bertil, der ihr Gespräch mit dem Amtmann mit weit offenen Augen verfolgt hatte.
»Stehst du hier und hörst zu, Karl-Bertil! Fort mit dir, und merke dir, daß du von der ganzen Geschichte mit den Rädern kein Wort zu Lals Mutter erwähnst. Verstanden?«
Karl-Bertil zog begossen ab, aber die Enttäuschung hinderte ihn nicht, eine halbe Stunde später Lal, was er gehört hatte, unter kräftigen und bindenden Verschwiegenheitsgelöbnissen mitzuteilen. Und am nächsten Tage hatten er und Lal sowohl das Geheimnis wie Mr. Smith vergessen. Denn am nächsten Tage offenbarte sich der Dackel Mohammed im Schwanseehof.
Es war gegen elf Uhr vormittags. Karl-Bertil und Lal waren auf Befehl von Frau Bencke damit beschäftigt, die Gartenhecke zu beschneiden, während Johann in seinem Zimmer saß und bemüht war, die Algebra in seinen harten Tyrannenkopf hineinzuhämmern. Wenn er damit fertig war, wollte er kommen und ihre Arbeit inspizieren. Karl-Bertil hantierte mit der schweren Gartenschere, und Lal sah zu. Es ging nicht besonders rasch vonstatten. Die Julisonne war glühend heiß, und die Hecke war alt und hartnäckig. Tjipph-tjapp-tjipp klang es, wenn die schweren Scherenschneiden zusammenklappten, wieder auseinanderklappten und sich in einem neuen Kusse begegneten. Es fielen bei jedem Griff nicht gerade übertrieben viele Hagedornblätter. Nach einer Weile ließ sich Karl-Bertil zu sitzender Stellung nieder, wie ein Schneider, und versuchte die Arbeit auf diese Weise zu verrichten. Das strengte die Arme womöglich noch mehr an, und geärgert durch die Sonnenhitze und den idiotischen Widerstand der Hecke, stieß Karl-Bertil mit der Schere demonstrativ gerade in sie hinein und schnitt wie ein Rasender darauflos tjipp-tjapp- tjipp, tjipp-tjapp- tjipp! Plötzlich hörte er auf. Es klang so, als hätte er der Hecke weh getan. Es kam ein schwaches, winselndes Piepsen von ihr, h-y-y-y … Karl-Bertil wischte sich den Schweiß aus den Augen und sah starr vor sich hin. Schon wieder, h-y-y-y. Was war denn das? Er bog, da wo er den Laut gehört hatte, die Zweige zur Seite. Zuerst sah er in dem dunkelgrünen Halbdunkel gar nichts; dann schrie er auf. War das nicht ein Hase, der da lag? Er mußte ihm das Bein abgeschnitten haben, wie es bei den Erntemaschinen zu geschehen pflegt! Er warf sich auf den Bauch und griff mit den Händen hinein. Nein, wenn er ihn erwischen könnte … Man denke, ein Hase … Hurra, er hatte ihn erwischt! … Er kam mit, er leistete gar keinen Widerstand … Ja was denn? Das war ja gar kein Hase. Das war ein braungelber, zaundürrer Dackel.
Karl-Bertil und Lal starrten ganz verdutzt den Dackel an. Der war jämmerlich mitgenommen. Er machte einen Versuch, sich aufzurichten, fiel aber wieder um und mußte sich damit begnügen, ein paarmal mit dem Schwanz zu wedeln – einen Zentimeter nach jeder Seite. Man konnte die Rippen unter dem Pelz zählen, der von Schweiß und Schmutz verklebt war. Die Ohren hingen schlaff auf den Hals herab. Das einzige, was an ihm Leben hatte, waren die Augen. Jetzt richtete er sich auf den Vorderpfoten auf, schob sich näher zu Karl-Bertil heran und stieß ein neues H-y-y-y aus. Karl-Bertil schöpfte Atem und sah Lal an. Das konnte man einen Fund nennen! Dann erinnerte er sich plötzlich der Pflichten des Menschen gegenüber den Tieren.
»Lauf in die Küche hinauf und hole ihm etwas zu fressen!« rief er. »Tummle dich! Siehst du denn nicht, wie hungrig er ist!«
Lal riß sich von dem faszinierenden Anblick des Dackels los und schob ab. Karl-Bertil streichelte den Dackel, um ihm anzudeuten, daß Entsatz im Anzug war, und der Dackel quittierte diese Mitteilung mit einem schwachen Lecken seiner langen Zunge. Endlich kam Lal herangelaufen, atemlos vor Eifer, mit einer irdenen Schüssel, die unaufhörlich überschwappte.
»Kannst du denn nicht aufpassen!« rief Karl-Bertil, »er kriegt ja gar nichts!«
»Sie hat mir nichts anderes geben wollen als Wasser und Brot,« rief Lal zurück.
»So eine Gemeinheit!«
»Ja, aber ich habe in der Speisekammer Milch stibitzt und sie hereingeschüttet. Da schau her! Sie hat gesagt, sie hat was anderes zu tun, als sich um alte Hundeköter zu kümmern.«
Der Eifer, den Dackel zu retten, ließ Karl-Bertil ein neues unvorteilhaftes Urteil über Axelina Abrahamojewna verschlucken. Er stellte die Schüssel vor ihn hin und hob sie auf, damit er besser dazukonnte. Der Dackel zögerte und beschnüffelte die Schüssel ohne zu fressen.
»Glaubst du, er riecht es, daß die Katze aus der Schüssel gefressen hat?« flüsterte Lal. »Das hat sie, das weiß ich.«
»Still,« sagte Karl-Bertil, »er ißt schon.«
Der Dackel aß wirklich, das heißt, Essen ist nicht der Ausdruck für das, was er mit dem Inhalt der irdenen Schüssel vornahm. Er sah ihn an, und dann schlupp-schlupp-schlupp war er verschwunden. Es war, als hätte er eine Saugpumpe in seinem Innern. Lal riß die Schüssel an sich, bevor er sie noch reingeleckt hatte, und rannte unaufgefordert in die Küche, während Karl-Bertil den schmutzigen Pelz des Dackels beruhigend streichelte. Diesmal gab es nur Wasser und Brot.
»Sie hat gesagt, wenn ich noch einmal die Nase in die Speisekammer stecke und ihre Milch stehle, dann kommt sie mir mit dem Besen,« keuchte Lal. »Glaubst du, er frißt Wasser und Brot?«
Lals Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Der Dackel war auch mit der schlichten Kost des Strafgefangenen zufrieden. Karl-Bertil hatte kaum die Schüssel vor ihn hingestellt, als er die Prozedur von fünf Minuten früher wiederholte. Nachdem er die Schüssel geleert und sie reingeleckt hatte, fiel er – bums – auf die Seite und jappte mehrere Male hintereinander.
»Glaubst du, er meint, daß er noch haben will?« flüsterte Lal.
»Er ist nur müde,« sagte Karl-Bertil. »Uebrigens ist es nicht gut, wenn sie gleich zuviel auf einmal zu fressen bekommen, wenn sie nicht daran gewöhnt sind.«
Sie betrachteten ihre neue Bekanntschaft schweigend.
»Weißt du was?« sagte Lal schließlich.
»Was denn?«
»Er hätte es nötig, gewaschen zu werden.«
Karl-Bertil sah den Dackel an und konnte sich der Richtigkeit von Lals Bemerkung nicht verschließen. Ihr Schützling hatte es sogar in hohem Grade nötig, gewaschen zu werden. Es sah aus, als hätte er dies seit Wochen entbehrt, so schmutzig war er. Es war sogar nicht ausgeschlossen, daß er Insektenpulver benötigte. Auf jeden Fall machte er mit der Schnauze und dem Hinterbein einen Ausfall nach dem anderen gegen unsichtbare Wesen. Die Jungen wurden von Enthusiasmus ergriffen. Neue Arbeitsgebiete eröffneten sich ihnen. Lal lief zum dritten Male in die Küche hinauf, um Wasser zu holen und Axeline womöglich zum Herleihen einer Bürste und etwas Seife zu bewegen. Nach einer Weile kam er auch mit einem Eimer und einer Bürste zurück. Der Dackel warf einen verständnisvollen Blick auf den Eimer und erhob sich, bereit, seinen Inhalt zu untersuchen.
»Siehst du, jetzt kann er schon allein stehen,« rief Lal. »Es geht ihm viel besser.«
»In drei Tagen ist er kreuzfidel, das wirst du sehen,« sagte Karl-Bertil selbstbewußt. »Na! Kusch! Das ist kein Futter!«
Er rollte den Dackel auf die Seite und fing mit der Bürste an. Bei der ersten Berührung derselben stieß der Dackel ein durchdringendes H-y-y-y aus, aber Karl-Bertil und Lal scheuerten ihn mit derselben Unerbittlichkeit, die sie jüngeren Geschwistern gegenüber betätigt hätten. Endlich war er trotz aller Proteste rein. Karl-Bertil und Lal strichen bewundernd über sein seidenweiches Fell, das nur den einen Fehler hatte, daß es zu locker saß, und wogen seine langen Ohren in der Hand.
»Das ist ein Rassehund, kann ich dir sagen,« sagte Lal.
»Glaubst du, das sehe ich nicht von selber,« sagte Karl-Bertil. »Ein echter Dackel muß hinten ein Pique-Aß haben und aussehen wie ein feiner Kindersarg, sagt mein Papa, und das trifft bei ihm zu.«
»Zuerst hat er mehr wie eine Leiche ausgesehen,« sagte Lal. »Wem, glaubst du, gehört er?«
Beide Buben zuckten bei Lals Frage plötzlich zusammen.
Das war eine Seite der Sache, die sie bis jetzt vergessen hatten. Natürlich hatte der Dackel einen Besitzer … natürlich suchte ihn dieser Besitzer … und wenn er ihn fand …
»Wir bekommen wenigstens Finderlohn,« sagte Lal.
»Finderlohn! Pfui Teufel,« sagte Karl-Bertil. »Ich will keinen Finderlohn. Glaubst du, daß Leute, die sich so gegen ihre Hunde benehmen, welche haben sollen?«
»Aber er ist ja fortgelaufen,« sagte Lal.
»Glaubst du, er läuft fort, wenn er nicht schlecht behandelt wird?«
»N–nein – natürlich …«
Die Jungen grübelten jeder für sich weiter. Endlich formulierte Lal die Frage, die sie beide auf dem Herzen hatten:
»Meinst du nicht, wir sollen es erzählen?«
Karl-Bertil hockte sich nieder und streichelte den Dackel. Er antwortete, ohne aufzublicken:
»Glaubst du, die lassen ihn uns dann?«
Die Betonung auf die ließ keinen Zweifel, daß Frau Bencke und Mrs. Everard gemeint waren. Lal schien unschlüssig.
»Aber wo sollen wir ihn denn hintun?«
Karl-Bertil ging blitzschnell die vorhandenen Möglichkeiten durch.
»Wir verstecken ihn über dem Stall,« sagte er.
Dann kam ihm die Erkenntnis des Zweifelhaften ihres Betragens und zwang ihm ein Zugeständnis an sein Gewissen ab.
»Und wir können ja in der Zeitung nachsehen, ob jemand nach ihm annonciert,« sagte er.
»Und dann sage ich Axeline, er muß fortgelaufen sein, während ich weg war,« fügte Lal als letztes Detail des Kriegsplans hinzu.
Karl-Bertil unterließ es, zu antworten, um weiteren moralischen Bedenken aus dem Wege zu gehen.
Der Dackel wurde in einem Verschlag auf dem Boden über dem Stall installiert, wo eine Hühnerfamilie einmal ihr Winterquartier gehabt hatte, und die Buben versanken wieder in Bewunderung vor ihm. Er war jetzt bedeutend wohler und betrachtete sie nie ohne ein Schweifwedeln.
»Er ist schon zahm,« sagte Lal. »Aber wie sollen wir ihn nennen?«
Eine halbe Stunde grübelten sie über Namen nach. Lal schlug Waldel, Flocki und Karo vor. Karl-Bertil kassierte alles, aber konnte selbst auf keinen Namen kommen, bis ihm einfiel, daß der Dackel dem Mathematiklehrer in der Schule ähnlich sah, der (ungewiß aus welchem Grunde) den Kosenamen Mohammed bekommen hatte.
»Er soll Mohammed heißen!« rief Karl-Bertil. »Wenn er den Kopf so schief legt, sieht er genau wie der Mohammed aus!« Und trotz Lals Protesten wurde der Dackel auf den Namen getauft, der ewig von den Rechtgläubigen gepriesen wird, und Lal wurde fortgeschickt, um ihm noch etwas Futter zu stehlen.
*
Wir kehren jetzt zu Assessor Hambeck zurück.
Nachdem er einen Tag lang über Frau Benckes Brief nachgedacht hatte, packte Assessor Hambeck seinen Koffer, schickte ein Telegramm: Komme, Hambeck, und reiste ab. Es interessierte ihn, zu erfahren, warum seine Anwesenheit gerade heuer so wünschenswert war; überdies waren die Studien an der Universität in diesem Semester (seinem zweiundzwanzigsten) ungewöhnlich anstrengend gewesen; es wurde behauptet, daß ein Regenbogen von Champagner und Whiskyschaum über seinem gastfreien Tisch geschwebt habe. Er brauchte Ruhe, und er erwies seinen Freunden immer gerne einen Dienst, wenn er im Bereich der Möglichkeit und Bequemlichkeit war. Daß er sich für die Jugend interessierte, darin hatte Frau Bencke recht, und die Jugend pflegte dieses Interesse zu erwidern. Alles in allem versprach die Spritztour nach dem Schwanseehof eine vortreffliche Erholung.
Johann Bencke war selbst auf der Station, um ihn abzuholen. Herr Gott nochmal, wie der in die Höhe geschossen war, und wie er einem jungen Kalb ähnlich sah! Aber das ist ja so bei Jungen in einem gewissen Alter, namentlich wenn sie so große Ohren haben. Da sehen sie doch viel menschlicher aus, wenn sie zwei, drei Jahre jünger sind. Mrs. Everards Junge war ganz einfach eine Augenweide; Karl-Bertil war zwar mager und hatte einen etwas runden Rücken, aber sah doch intelligent aus. Frau Bencke gehörte zu jener Art rundlicher Blondinen, die sich mit den Jahren nicht sehr verändern. Mrs. Everard mußte einmal sehr schön gewesen sein, und obwohl sie kränklich und nervös aussah, konstatierte der Assessor, daß sie noch immer schön war.
Der Assessor merkte, daß seine Ankunft ein Sukzeß war. Frau Bencke war in ihrer ein bißchen indifferenten Art freundlich; Mrs. Everard taute augenblicklich bei ein paar Anekdoten auf, die Buben fixierten ihn mit stummem aber unverhohlenem Interesse. Nachdem er etwas Toilette gemacht hatte, kam der Assessor zum Abendessen hinunter und fand den Tisch ganz und gar zu seiner Zufriedenheit. Da war frisches Kranzbrot, das beste Brot, das er kannte, und das man, Gott sei's geklagt, nur in Familien bekam. Da war eine Käseomelette, die so dampfend lecker aussah, daß ihm der Mund wässerte. Da waren frische Radieschen, kalter Aufschnitt, Frau Benckes Spezial-Kräuterheringe, die er mit einem wiedererkennenden und dankbaren Lächeln begrüßte, kleine Fleischlaibchen (der Mund wässerte ihm noch mehr), geräucherter Schinken und Spinat … Da thronte schließlich mitten auf dem Tisch Oberst Benckes Branntweinkaraffe, bauchig, lächelnd, in sich selbst versunken wie ein indisches Buddhabild; und neben ihr wie ein einsamer Akolyt zu Füßen des Meisters eines von Henning Benckes speziellen Schnapsgläsern. Ah, diese Schnapsgläser! Sie waren eine Tradition in der Familie – aus Kristall, geräumig wie Kelche, und auswendig rund wie jene Trinkgefäße, die die Longobardenkönige aus den Hirnschalen ihrer besiegten Feinde zu verfertigen liebten … Sie mußten bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken werden, sonst kamen Flecken auf das Tuch, da sie automatisch überflossen. Der Assessor betrachtete das Schnapsglas mit einem Lächeln des äußersten Wohlwollens. Es war nie der Anlaß gewesen, daß er Flecken auf das Tischtuch gemacht hatte.
Man ging zu Tische.
»Ah, Frau Bencke,« sagte der Assessor und rieb sich die Hände wie ein père noble auf der Bühne, »es freut mich, ein schwedisches Heim zu sehen, das noch an den Traditionen festhält. Wenn es einen Punkt gibt, weshalb ich den Sieg der Reformation bedauere, so ist es, weil sie den Respekt des Katholizismus vor der Tradition niedergerissen hat. Wenn ich dieses Schnapsglas ansehe, wird mir so warm ums Herz, als ob ich ein Volkslied hörte.«
»Wohlauf, noch getrunken den funkelnden Wein,« flüsterte Karl-Bertil Lal halblaut zu. Beide verwandten kein Auge von dem Assessor.
»Junger Mann, du hast mich verstanden!« rief der Assessor, der es liebte, sich mit klassischer Abrundung auszudrücken. »Laß mich auf deine Zukunft trinken. Möge sie ebenso klar sein wie dieses edle Naß, und möge sie deine Seele so vollendet zuschleifen, wie dieses Kristallglas, das ich nun leere. Ah–h!«
»Ah–h!« sagten Karl-Bertil und Lal mechanisch nach. Der Assessor brach in ein herzliches Lachen aus, so daß ihm der Schnaps beinahe in die unrechte Kehle gekommen wäre. Aber Mrs. Everard ließ die Gabel klirrend fallen und starrte Lal entsetzt an.
»Lal!« rief sie. »Was sagst du? Du darfst nicht hinsehen! Iß!«
»Ja, was denn?« sagte der Assessor noch immer lachend.
»Iß, Lal!« sagte Mrs. Everard. »Du sollst nicht so starren!«
»Ja warum denn? Er geniert mich nicht im mindesten.«
Das war richtig, denn der Assessor liebte es, vor einem Publikum aufzutreten.
»Wollen Sie nicht etwas von den Fleischlaibchen nehmen, Herr Assessor?« sagte Frau Bencke ablenkend.
»Danke. Aber …«
»Oder Schinken mit Spinat?«
»Ja, danke. Aber …«
Der Assessor nahm sich verblüfft von beiden Speisen und verzehrte sie zusammen.
Erst beim Kaffee auf der Veranda, nachdem die Jungen die Weisung bekommen hatten, fortzulaufen und zu spielen, wurde ihm die Erklärung.
»Solche kleine Spitzbuben!« sagte der Assessor und wälzte sich förmlich vor Lachen. »Saufen sich da mit Punsch voll! So etwas! Und Ihr Kleiner, Frau Everard, ist wohl nicht mehr als zehn Jahre? Hahaha! Ich war doch wenigstens damals …«
»Wie können Sie darüber lachen, Herr Assessor?« brauste Mrs. Everard auf. »Ich verstehe das gar nicht. Trunksucht ist das ärgste Laster, das es gibt, das ist meine Ueberzeugung. Ich hoffe nur, daß Schweden bald das Verbot einführt, so wie Amerika.«
»Nicht alle Staaten in Amerika haben das Verbot,« begann der Assessor. Er wollte schon hinzufügen Gott sei Dank, denn die Mitteilung, daß in einem wenn auch noch so fernen Lande das Alkoholverbot herrschte, berührte ihn persönlich schmerzlich.
»Aber sie bekommen es bald!« sagte Mrs. Everard mit blitzenden Augen. »Ich hoffe von ganzem Herzen, daß wir, sowohl hier wie in Amerika das Wahlrecht bekommen, dann wird das Verbot gleich eingeführt, das kann ich Ihnen versichern, Herr Assessor!«
»Ja, aber …« Der Assessor starrte sie verwundert an. Bacchus hatte offenbar hier keine Freundin.
»Es tut mir sehr leid, zu sehen, daß Henning Alkohol in seinem Hause hat. Ich wußte es bis heute abend nicht. Und«, sie schlug einen anderen Ton an, »ich möchte Sie um etwas bitten, Herr Assessor.«
»Was denn?« sagte der Assessor und rückte unruhig auf seinem Sessel, denn er wußte schon, was es war.
»Wollen Sie das Trinken nicht lassen, solange Sie hier sind? Ich verlange ja nicht, daß Sie es ganz aufgeben –« nein, wirklich, murmelte der Assessor unhörbar bitter – »aber Sie verstehen mich doch? Wenn man weiß, daß sie schon einmal der Versuchung unterlegen sind, Johann sowohl wie –«
»Johann ist doch sechzehn Jahre,« knurrte der Assessor, »und ich war auch nicht älter, als –«
»Ja, aber Lal! Er ist doch nicht mehr als zehn, und er hat eine solche Schwäche, es den Aelteren nachzutun. Und Sie begreifen doch, Herr Assessor, was es für mich bedeuten würde, wenn er zu Schaden käme.«
Sie sah den Assessor flehentlich an. Wie sie jetzt dasaß, Farbe auf den Wangen und mit glänzenden Augen, war sie geradezu schön … Wegen ein paar dummer Buben auf den Schnaps verzichten, das war ja Blödsinn … er war zwar immer galant gegen Damen gewesen, da er der Ehe entronnen war, aber dies … wieder begegnete er Mrs. Everards bittendem Blick. All Right – das Leben verlangt seine Abrahamsopfer – wer eines dieser Kleinsten verführt, ihm wäre besser – – er seufzte auf und leerte seine Kaffeetasse.
»Ich werde nicht mehr trinken, wenn sie es sehen,« sagte er dumpf. »Ich hoffe, Sie sind zufrieden, Frau Everard?«
Ihre Dankbarkeitsbezeugungen waren so überschwenglich, daß sie ihn für den Augenblick das Verhängnisvolle seines Versprechens vergessen ließen. In einem Anfall von Enthusiasmus sah er auf sein früheres Leben mit Verachtung zurück und starrte visionär in eine helle Zukunft ohne Bacchus … Während er noch warm von der Begeisterung des Neophyten war, bat ihn Frau Bencke um eine Unterredung unter vier Augen.
Ihre Erzählung über Mr. Smith und seine vermutlichen Pläne kühlten ihn ab und führten ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Das war doch Frauenzimmergeschwätz, der reine klare Wahnwitz. Solche Sachen in Schweden im zwanzigsten Jahrhundert zu unternehmen!
»Ist das Ihr Ernst, daß Sie an diese Geschichten glauben, Frau Bencke?«
»Ich kann nicht sagen, ob ich glaube oder nicht glaube. Ich finde ja auch wie Sie, daß es ganz unmöglich klingt. Aber der Amtmann hat die Räder untersucht, und er glaubt an die Geschichte.«
»Ein Bauernamtmann!« rief der Assessor mit der ganzen Verachtung des alten studierten Juristen.
»Er sieht aber nicht dumm aus. Ich habe Ihnen geschrieben, weil Sie der einzige sind, an den ich mich wenden kann. Sie müssen doch bedenken, Herr Assessor, daß ich heuer im Sommer hier allein bin. Und wenn irgendein Attentat erfolgen sollte …«
»Sie brauchen nicht mehr zu sagen, Frau Bencke,« sagte der Assessor, wieder ganz von Opfermut erfüllt. »Ich bleibe hier, solange Sie wollen.«
»Danke,« sagte Frau Bencke herzlich und reichte ihm die Hand. Sie kehrten zu Mrs. Everard und dem alkoholfreien Kaffee zurück. Der Assessor versank in Gedanken, aus denen er sich hie und da zu einer fieberhaften Konversation aufraffte.
Ungefähr eine Woche später machten Karl-Bertil und Lal eine Entdeckung. Vergeblich hatten sie all diese Zeit darauf gewartet, den Assessor mit dem interessanten runden Glas in der Hand zu sehen; weder dieses noch die schöne bauchige Flasche waren mehr auf dem Tisch erschienen; hingegen hatten sie bemerkt, daß die Augen des Assessors einen fernschauenden Blick bekommen hatten und daß er oft in Träumereien versunken war.
Eines Abends spät, nachdem die anderen sich schon in ihre Zimmer begeben hatten, waren sie hinausgehuscht, um nach dem Dackel Mohammed zu sehen, und sie waren eben im Schleichmarsch aus dem Weg ins Haus, als sie aus einer Laube tief unten im Garten einen wunderlichen Laut hörten und plötzlich haltmachten. Gluck – gluck – gluck! kam es von der Laube. W-z-z-z! Ah-h! Ihre natürliche Neugierde besiegte rasch alle anderen Gefühle. Noch immer im Schleichmarsch erreichten sie die Laube und guckten hinein.
Was sie sahen, war Assessor Waldemar Hambeck ohne Kragen, mit aufgeknöpfter Weste, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und eine große Zigarre im Munde. Vor ihm auf dem Tisch stand eine schwarze Flasche mit weißer Etikette, ein leerer Syphon und ein Glas mit einem schäumenden Getränk gefüllt. Neben seinem Sessel stand eine offene alte Krocketkiste, aber an Stelle von Kugeln und Hämmern strotzte sie von Siphons und schwarzen Flaschen mit weißen Etiketten. Noch während sie hereinguckten, leerte der Assessor auf einen Riesenzug das Glas mit dem schäumenden Inhalt, sagte ah-h, griff mit sicherer Hand in die Krocketkiste und braute, von den Buben mit atemlosem Interesse verfolgt, einen neuen Grog … Endlich gelang es ihnen, sich von der faszinierenden Szene loszureißen und fortzuschleichen.
»Der trinkt Grog!« sagte Karl-Bertil.
»Was ist denn das?« fragte Lal.
»Whisky und Sodawasser,« erklärte Karl-Bertil. »Das ist das ärgste Gift, was es gibt, sagt Papa. Papa trinkt nur Punsch.«
»Ist er also jetzt vergiftet?«
»Sie kriegen früher oder später immer das Delirium, sagt Papa.«
»Delirium? Was ist denn das?«
»Wo sie Tiere sehen und so was – Fliegen und Mäuse.«
»Tiere? Die gar nicht da sind?«
»Ja, weiße Tiere meistens, hat der Papa, glaube ich, gesagt.«
»Das ist doch gar nicht wahr! Wie können sie …«
»Still,« flüsterte Karl-Bertil. »Du weckst ja die drinnen auf. Warte doch bis morgen.«
*
Einige Abende später hatte Assessor Hambeck das unheimlichste Erlebnis seines Lebens.
Die Buben schliefen offiziell schon längst. Die Damen waren nach einem langausgedehnten Abendplauderstündchen zu Bett gegangen; und unter dem Vorwand, daß er eine kleine Abendrunde machen wolle, hatte sich der Assessor mit einem Seufzer der Erleichterung in seine Laube geschlichen. Es war doch recht anstrengend für einen alten Junggesellen, mit seinen Gewohnheiten einen ganzen heißen Sommertag mit trockener Kehle herumzugehen. Die Krocketkiste mit ihrem erfreulichen Inhalt leuchtete mit verführerischem Glanz – die schöne Schlußstrophe eines etwas länglichen Gedichtes. Verdammt, was diese Frauenzimmer für Ideen hatten! So war es nicht zugegangen, wenn Henning Bencke selbst daheim war. Da waren Nachtgrog Nummer fünf und Nachtgrog Nummer sechs zwei durstige Kehlen hinuntergeglitten. Er war unmännlich gewesen und hatte sich von Mrs. Everard überrumpeln lasten. Von ihren Redereien über Trunksucht! Einen Mann wie ihn konnte man doch zum Teufel keinen Trinker nennen. Lächerlich! Vielleicht spürte er manchmal ein kleines Zittern, aber – nein – ah – wie das schmeckte! … Herr Gott noch einmal, wie gut das heute abend schmeckte … in gewisser Weise erhöhte es den Genuß, wenn man solange darauf warten und ihn sich gewissermaßen stehlen mußte. Nanu? War Nummer eins schon aus? Macht nichts, es gab noch mehr Holz im Walde …
Assessor Hambeck mischte Nummer zwei mit virtuoser Hand, zündete die Zigarre an, die ausgegangen war, knöpfte die Weste unten auf und lehnte sich wohlbehaglich zurück. Die Julinacht war lau, dunkel, ohne Mondschein. Der Jasmin duftete heiß und schwer; es ging ein Flüstern durch die Baumwipfel wie von unaufhörlichem Küssen. In der Ferne schimmerte der Hausgiebel jasminweiß durch die Dunkelheit; sonst war alles eine undeutliche Kontur von Bäumen und Sträuchern, die sich in sachtem Rhythmus gegeneinander bewegten. Das Leben hatte doch wunderbar schöne Augenblicke … Nun ja, man konnte ja hie und da mal ein klein bißchen zitterig sein, und es war ihm auch schon passiert, daß er mal eine weiße Miezekatze gesehen hatte, von der sich später herausstellte, daß sie gar nicht existierte, aber ihn einen Trinker zu nennen oder vom Delirium zu reden! Das war nur ein Frauenzimmer imstande … Nummer zwei hatte eine ebenso kurze Lebensdauer wie Nummer eins und wurde rasch von Nummer drei abgelöst. Als die Regentenreihe zu Nummer fünf gediehen war, zauderte der Assessor einen Augenblick; die Kehle sagte ja, das Gewissen murmelte nein; die Kehle siegte. Aber Nummer fünf wirkte weniger auf die Kehle als auf das Gehirn. Schöne Erinnerungen, frohe selige Augenblicke drängten sich in dem Gehirn des Assessors, der eine eifriger bestrebt als der andere, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Seine Seele war von dem Whisky in zwei Hälften geteilt, wie von einem süß stechenden Schwert; und diese beiden Hälften pflogen Zwiesprache miteinander wie in einem mittelalterlichen Mysterium, doch ohne in dessen bittere Repliken zu verfallen. Dann hörte dieser Dialog auf. Die Gedanken des Assessors stolperten wie schläfrige Kinder über eine nachtdunkle Landstraße, während das Rauschen im Glase und das Rauschen im Garten für sein Ohr zu einer Harmonie verschmolz. Trunksucht und Delirium! So ein verdammtes Geschwätz! war der vage Refrain dieses Rauschens, Ohne daß er es wußte, mischte er Nummer sechs; von welchem Augenblicke an seine Gedanken sich in dunklere und dunklere Stollen des Gehirns verirrten … er war im Begriff einzuschlummern. Plötzlich schrak er auf. Sein Herz hämmerte, und ein unbestimmtes Angstgefühl bemächtigte sich seiner. Rings um ihn raschelte es. Die Dunkelheit, die eben noch eine so angenehme Decke seiner Vergnügungen gewesen war, beängstigte ihn. Die Schatten griffen flüsternd nach ihm, mit langen Fangarmen …
Mit einemmal suchte ein schriller Schrei sich den Weg aus der Kehle des Assessors zu bahnen. Etwas Weißes, Gespenstisches tanzte unsicher vor seinen Augen auf dem dunklen Rasenplatz. Was … was … Der Assessor suchte sich aus dem Liegestuhl aufzurichten, aber seine Knie waren weich wie Gelee. Jetzt flog die weiße Gespenstererscheinung gerade auf seinen Sessel zu; aber zehn Schritte davor blieb sie stehen und begann eine wunderliche Kreisbewegung zu beschreiben, bald hierher, bald dorthin, im Zickzack, auf und nieder, vorwärts und zurück. Der Schrei, der sich dem Assessor entringen wollte, kam endlich. Es war ein kreideweißer Dackel, der vor seinen Augen herumtanzte. Ein weißer Dackel … ein wei …
Während der Schrei sich dem vor Entsetzen zusammengeschnürten Hals des Assessors entrang, fungierten seine Beine endlich, sie trugen ihn im Laufe durch Sträucher, Rabatten und Erdbeerbeete. Pfui Teufel! Pfui Teu … pfui … ein weißer … Delirium, reines klares Delirium … Er war nun an der Vortreppe, und einen Augenblick darauf lag er schweißbedeckt und keuchend auf seinem Bett.
Ein weißer Dackel …
*
Der letzte Juli sollte für den Schwanseehof ein Festtag sein, und verschwiegene Vorbereitungen zu seiner Feier begannen schon fast eine Woche früher. Der letzte Juli war Mrs. Everards Geburtstag, und ihm galten diese Vorbereitungen.
Die Anstalten der Großen interessierten Karl-Bertil und Lal äußerst wenig. Sie waren mit einer Petition zu Frau Bencke gekommen, und sie war ihnen nach langem Zögern bewilligt worden. Sie wollten zu Ehren von Lals Mutter ein Feuerwerk abbrennen, und sie wollten die Feuerwerkskörper unter der Oberaufsicht des Tyrannen selbst Herstellen.
Karl-Bertil hatte aus der Bibliothek des Obersten ein altes Buch hervorgekramt, und mit ihm als Leitfaden sollte die ganze Arbeit ausgeführt werden. »Die Feuerwerkskunst«, hieß es, und war eine Enzyklopädie des pyrotechnischen Wissens. Dreiundsechzig verschiedene Feuerwerkskörper waren darin beschrieben, Raketen, Schwärmer, Bomben, Feuerräder, römische Sonnen. Es schwindelte dem Gedanken vor all diesen Möglichkeiten, und es dauerte Stunden, bis die Knaben sich entschließen konnten, welche Sorte sie wählen sollten. Der faule Johann gab schließlich den Ausschlag, und da Karl-Bertil und Lal ohne ihn nichts anfangen konnten, mußten sie sich nach seinen Worten richten: römische Sonnen.
»Wetten, daß das das leichteste ist?« sagte Johann.
»Ja, aber Kettenraketen wären doch viel feiner,« sagte Karl-Bertil, »oder Feuerräder, du rührst doch ohnehin keinen Finger.«
»Römische Sonnen,« sagte Johann, »du hast gehört, was ich gesagt habe. Wenn ihr etwas anderes haben wollt, könnt ihr's euch selber machen.«
Das Gefühl unbegrenzter Gewalt ist verderblich. Lal, dem es leichter fiel zu resignieren als Karl-Bertil, sagte:
»Zuerst müssen wir eine Winde haben und ein Walzbrett, um die Hülsen zu machen. Was für ein Kaliber sollen wir nehmen, Karl-Bertil?«
»Fünfzehn Millimeter,« sagte Karl-Bertil verdrossen. »Es steht, daß man es heutzutage so macht. Man hat aufgehört, die ungeheuer großen Kaliber früherer Zeiten zu verwenden, steht da. Aber es wäre doch ebenso leicht, ein Feuerrad …«
Johann richtete sich pfeifend aus seiner bequemen Stellung auf und reckte sich quer über den Tisch. Karl-Bertil verstummte.
»Uebrigens steht da, daß römische Sonnen eine wahre Zierde für jedes Feuerwerk sind,« tröstete Lal. »Johann, du mußt uns helfen, wenn wir die Hülsen würgen, hörst du!«
»Fangt nur erst mal an und macht die Hülsen,« meinte Johann, »dann wird euch der Onkel schon helfen, sie zu würgen. Wißt ihr denn überhaupt, was hineinkommt? Davon habt ihr natürlich wieder keine blasse Ahnung.«
»Acht Teile Pulvermehl und drei Teile grobe Kohle,« sagte Karl-Bertil und betrachtete ihn kalt, »oder sechzehn Teile Salpeter, vier Teile Schwefel und neun Teile grobe Kohle. Du brauchst dich nicht so patzig zu machen, du kannst ja nicht einmal eine gewöhnliche Patrone laden.«
»Bravo, da capo, meine kleine Blattlaus,« sagte Johann. »Jetzt seht mal dazu und macht eure Höllenmaschinen fertig.«
Der verehrungswürdige Verfasser der Feuerwerkskunst hat schwerlich je eifrigere Schüler gehabt als im Schwanseehof. All die »wenigen einfachen Werkzeuge«, die zur Herstellung von Feuerwerkskörpern nötig sind, hatten Karl-Bertil und Lal in anderthalb Tagen fertig, die Winde, um die das Papier zu den Hülsen gerollt werden muß, das Walzbrett, das dabei behilflich ist, die Ladungsunterlage mit ihrer »Warze«, den »Setzer«, mit dem der Satz »verdichtet« wird, und die Ladeschaufel. Die ersten Hülsen konnte man kaum wohlgelungen nennen, und sie wurden auch von Johann nicht so genannt, aber nach einem Dutzend mißglückter Versuche ging es, und der Tyrann mußte bei der mühsamen Arbeit des »Würgens« der Hülsen helfen. Schließlich hatte man über zwei Dutzend tadelloser Hülsen und konnte nun an die Füllung denken.
»Sollen wir grüne Sterne nehmen oder weiße oder blaue oder rote?« sagte Karl-Bertil.
»Wozu sind denn die wieder,« fragte der Tyrann. »Müssen die am Ende auch gewürgt werden?«
»Du bist ein Trottel,« sagte Karl-Bertil wohlwollend. »Die werden doch aus den Hülsen herausgeschleudert und bilden die römische Sonne. Es stehen auch Rezepte für gelbe und violette drinnen.«
»Welche sind am leichtesten?«
»Das ist egal, und du machst ja ohnehin nichts.« »Dann nehmen wir rote, weiße und blaue,« sagte Lal; »das sind die amerikanischen Farben.«
»Da müßt ihr, so wahr ich lebe, auch blaue und gelbe nehmen!« sagte Johann, in dessen Brust ein dunkler Patriotismus sich plötzlich zu regen begann.
Karl-Bertil und Lal hatten beabsichtigt, die Sterne selbst anzufertigen – es standen Rezepte für die Ingredienzien und ihre Mischung in dem Buch, aber dagegen legte Frau Bencke ein bestimmtes Veto ein. Vergebens versuchte Karl-Bertil sie zu der Einsicht zu bringen, wie ungefährlich alles war, wenn man nur nach der Weisung des Buches bei der Mischung von Chloraten und Schwefel die größte Vorsicht beobachtete; bei näherer Prüfung der Rezepte zeigte es sich, daß Chlorate und Schwefel in jeden Satz kamen. Frau Bencke telephonierte in die Stadt um fertige Sterne, und Karl-Bertil mußte sich damit trösten, daß er wenigstens die Hülsen selbst laden durfte.
Am Abend vor dem Festtage war das Ganze fertig; und da am nächsten Tage die Zeit sicherlich knapp sein würde, beschlossen Karl-Bertil und Lal, die Hülsen noch am selben Abend auf dem Gestell zu befestigen. Den Platz für das Feuerwerk hatten sie schon gewählt. Es sollte unten bei der Laube abgebrannt werden, die die einsame Orgie des Assessors geschaut hatte, mit den dunklen Bäumen als Hintergrund … Um zehn Uhr abends war die Holzleiste mit den römischen Sonnen in der Laube geborgen und zum Schutz gegen den Nachttau mit einem Laken bedeckt. Müde und stolz warfen die Jungen einen letzten Blick auf ihr Werk und gingen ins Haus.
Das würde ein großartiges Feuerwerk werden!
*
Die Nacht sieht viele wunderliche Dinge. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie Assessor Hambecks überstürzten Rückzug aus der Laube gesehen, wo das Feuerwerk zu Mrs. Everards Ehren jetzt bereit stand. Die Nacht, die auf die Installierung des Feuerwerks folgte, sah ein anderes Bild.
Ueber den Weg, der vom Schwansee-Sanatorium hinunterführt, kam ein männliches Wesen eiligen Schrittes auf den Schwanseehof zu. Sein Rockkragen war aufgestellt, sein Gesicht war von einer Sportmütze mit breitem Schirm verdeckt. In der Hand trug er ein kleines Päckchen; nach der Vorsicht zu urteilen, mit der er es behandelte, mußte der Inhalt ungewöhnlich kostbar sein. Bei Oberst Benckes Garten angelangt, blieb er stehen und musterte das schlafende Haus lange, bevor er vorsichtig durch ein Loch in der Hagedornhecke in den Garten hineinkroch. Es war dieselbe Hecke, die Karl-Bertil und Lal an jenem Tage beschnitten hatten, an dem der Dackel Mohammed seinen Einzug in den Hof feierte.
Der Mann mit der Sportmütze ging ohne Zögern auf die Laube mit dem Feuerwerksgestell zu. Er hob das Tuch ab, das es gegen den Nachttau schützte, betrachtete es eine Weile und murmelte etwas. Dann öffnete er sein Paket und machte sich an die Arbeit. Eine nach der anderen befreite er Karl-Bertils römische Sonnen von den Verkapselungen am oberen Ende, entfernte die Zündschnur zum Satz und leerte den letzteren aus. Aus seinem eigenen Paket füllte er nun ein weißes Pulver ein, führte die Zündschnur in dieses hinab und setzte dann die Verkapselungen wieder auf ihren alten Platz. Nach einer knappen Stunde war er mit allen vierundzwanzig römischen Sonnen fertig. Er kehrte den ausgekratzten Zündsatz zusammen, legte ihn in sein eigenes Paket und kroch wieder auf die Landstraße hinaus.
Dort, aber erst dort, zündete er eine Pfeife an. Mit einem Blick auf das schlummernde Haus verschwand er zum Sanatorium hinauf.
*
Soweit man sich in das Seelenleben eines Hundes versetzen kann, sollte man meinen, daß jeder Hund stolz darauf sein müßte, die Rolle des Hunds von Baskerville zu spielen – des Gespensterhunds – des Hunds, der durch seinen bloßen Anblick die Menschen, die ihm begegnen, zu Tode erschreckt. Aber vielleicht gilt das nur für große, selbstbewußte Hunde, nicht für kleine verwöhnte Dackel. Auf jeden Fall steht fest, daß der Dackel Mohammed sich unerhört unbehaglich fühlte, seit der Nacht, wo er, an eine Schnur gefesselt, in dieser Rolle aufgetreten war. Dazu trugen zwei Dinge bei.
Erstens ist es für ungeübte Personen leichter, einen Dackel kreideweiß zu färben, als ihm seine natürliche Farbe wiederzugeben; und in der Sommerhitze den halben Pelz voll Kreideschlamm zu haben, ist unangenehmer, als sich jemand vorstellen kann. Zweitens kam im Falle des Dackels Mohammed noch der Umstand hinzu, daß seine jungen Herren ihn in der auf die Gespensternacht folgenden Woche so gut wie vergessen hatten. Der Dackel Mohammed, der ein junger Dackel war und jetzt so ziemlich seine vollen Kräfte wiedererlangt hatte, brauchte Bewegung, aber konnte sich keine machen. Er wurde irritiert und begann über Fluchtmöglichkeiten nachzugrübeln. Es verging jedoch Tag für Tag, ohne daß sich solche boten. Seine Beschützer guckten in größter Eile ein- oder zweimal am Tage zu ihm hinauf, um ihm zu fressen zu geben, aber der Dackel Mohammed fand keine Gelegenheit, sich aus seinem Verwahrungsraum zu schleichen; und über dessen Wände springen konnte er nicht, so sehr er sich auch bemühte. Und mit jeder Stunde, die ging, hörte er die Lockrufe der Wildnis immer deutlicher … Die von Natur aus gute Laune des Dackels ging von Gereiztheit zu wirklicher Wut über. Er knurrte, wenn ferne Beschützer ihm zu fressen gaben, aber sie bemerkten es nicht einmal. Der Dackel Mohammed wurde so zornig, daß er sie hätte beißen können. Endlich kam die Krone des Ganzen: eines schönen Tages blieben sie ganz aus.
Es war ein Tag, an dem man allerlei Geräusche aus dem Hause hörte. Es schien ein besonderer Tag zu sein. Man schrie und rief durcheinander; der Dackel Mohammed erkannte die Stimmen seiner zwei Herren und bellte grimmig. So weit war es also gekommen! … Nicht einmal mehr etwas zu fressen bekam er … R–r–r–r–! Wau! Er kläffte; er heulte; er schlug an; niemand bekümmerte sich darum. – Endlich, als es schon dämmerte und er ganz heiser war, kam jemand die Treppe zum Stall hinauf. R–r–r–r … na – – Was war denn das – das waren ja nicht seine zwei Herren, das war ein Dienstmädchen!
Es ist nicht festgestellt, ob der Dackel Mohammed so wie sein Namensvetter, der Religionsstifter, ein Weiberhasser war; auf jeden Fall ist eines sicher: der Anblick des Dienstmädchens Axeline – vielleicht die Enttäuschung, den wirklichen Schuldigen seine Meinung nicht sagen zu können – schien ihm mit einemmal Riesenkräfte zu verleihen. In einem wilden Sprung flog er über die Abbalkung und wie ein bellender kreidefleckiger Pfeil an Axeline vorbei die Treppe hinunter und in den Garten hinaus. Axeline fiel schreiend auf einer Kiste zusammen, und wir überlassen den Dackel Mohammed für zehn Minuten sich selbst.
*
Sherry, Burgunder und wieder Sherry, das hat eine überaus belebende Wirkung auf einen Mann, der an die kleinen Genüsse des Lebens gewöhnt ist und nahezu eine Woche lang alle Trinkwaren entbehren mußte. Zum erstenmal seit der Schreckensnacht war Assessor Hambeck guter Dinge. Der Tag in seiner Gesamtheit war angenehm gewesen; Mrs. Everard war wie ein Sonnenstrahl nach langer Dunkelheit; Frau Bencke die Liebenswürdigkeit selbst; die Jungen munter und vergnügt; das Essen delikat, und dann wieder etwas Trinkbares zu kosten … Der Assessor hatte sein altes Selbst wiedergefunden, er hatte geplaudert, gescherzt, er war galant gewesen, er hatte getrunken. Ja sogar ziemlich viel getrunken, sowohl von dem Sherry wie von dem Burgunder. Aber das machte nichts. Mrs. Everards Geburtstag stimmte sie zu sanfteren Gefühlen gegen den weinumkränzten Bacchus. Es gab Kognak zum Kaffee und dann Punsch … Der Assessor sah die Welt durch ein schönes Fenster aus vielfarbigem Glas, burgunderrotem Glas, sherrygoldenem, kognakbronzenem, punschgelbem … es war wie jenes vielfarbige Fenster der Zeitlichkeit, durch das Shelley das weiße Licht der Ewigkeit sah. Die Jungen hatten ihn mit stummer Ehrfurcht betrachtet. Beim Kaffee hatte Lal Karl-Bertil plötzlich etwas zugeflüstert; barockerweise hatte der Assessor den Namen des Begründers der islamitischen Religion zu hören geglaubt, worauf sie in der Richtung des Stalles fortgestoben waren. Frau Bencke flüsterte ihrer Kusine etwas zu und zog sie mit sich ins Haus. Der Assessor steckte sich eine neue Zigarre an, stand auf und ging in den Garten hinunter. Ein Mundvoll frischer Luft konnte nicht schaden. Er spürte den Sherry doch ein wenig.
Es dämmerte schon; das Mittagessen hatte spät stattgefunden. Die Mücken sangen; eine angenehme Abendkühle wiegte sich zwischen den Baumstämmen. Der Assessor ging in stillen Träumen die Gartengänge hinunter, ohne daran zu denken, wohin sie ihn führten. Plötzlich sah er auf. Er fand sich zehn Schritte von der Laube, in der er in jener Nacht gesessen war und die zu besuchen er seither keinerlei Lust verspürt hatte …
Der Assessor blieb mit der Zigarre in der Hand in dem Gartengang stehen. Da war er gesessen, als er … was hatte er sich denn eigentlich für Unsinn eingebildet? Wie man doch seine Phantasie in der Dunkelheit aufpeitschen kann! Delirium! Blödsinn. Frauenzimmergeschwätz! Nachtphantasien. Ein Mann wie er hatte weit zum Delirium. Aber wie? Hatte er damals nicht in der Eile die Flaschen und alles herumstehen lassen? Verdammt. Wenn nun jemand … am besten nachzusehen. Vielleicht war niemand dagewesen. Sicher war niemand dagewesen, sonst hätte er natürlich davon gehört … er konnte die Gelegenheit benützen, jetzt gleich alles zu ordnen, vielleicht auch noch einen kleinen Stehgrog zu nehmen …
Der Assessor machte einen Zug an der Zigarre und ging auf die Laube zu. Je näher er ihr kam, desto dunkler wurde der Gang, der von Haselsträuchern und Lärchenbäumen beschattet war. Er glaubte, drinnen irgendeine Art Gestell oder was es sein mochte zu sehen. Richtig, es war ein Gestell, so eine Art Lichtrampe … Was in aller Welt? … Waren also doch Leute drinnen gewesen? Jetzt stand er in der Laube und sah sich um. Nein, da stand seine Krocketkiste, wie es schien, unberührt, und auf dem Tisch standen seine Gläser und ein Sodawass …
Mit einemmal brach ein Schrei des Entsetzens aus dem Hals des Assessors, ein Schrei, gegen welchen der, den er in der Gespensternacht ausgestoßen, ein Nichts war. Drinnen im Schatten sah er etwas, etwas Weißes oder Weißgeflecktes, etwas, das er nur allzugut erkannte – einen Dackel, nicht ganz kreideweiß wie das vorigemal, sondern weißgefleckt … Er sah ihn deutlich, ganz deutlich; er hielt die Ohren gespitzt und sträubte den Schwanz gerade in die Luft; und er fixierte ihn, fixierte ihn mit flammenden, haßerfüllten Augen … Gütiger Gott, gütiger Gott im Himmel … es war also wahr, es war also wahr … es war also … die brennende Zigarre entfiel seiner Hand, und mit einem Male war er in ebenso wilder Flucht durch den Garten begriffen wie vor einigen Nächten. Hätte er sich umgewendet, so hätte er gesehen, daß der weißgefleckte Dackel Mohammed, befriedigt von der Wirkung, die er hervorgerufen, in der Laube verblieb, wo die Zigarre eine Leitung angezündet hatte, die nun zu brennen begann. Hätte er vor sich gesehen, er hätte Karl-Bertil und Lal vom Haus herauflaufen sehen. Aber er sah weder vor sich noch hinter sich; seine Augen waren starr wie die einer Statue.
Plötzlich, gerade als er im Begriff war mit Karl-Bertil und Lal zu karambolieren, traf etwas ein. Eine weißrote Säule aus Rauch und Feuer schlug aus der dunklen Laube zum Nachthimmel auf; es kam ein Dröhnen wie von einem Kanonenschuß, und er und die Jungen wurden durcheinander auf den Rasen geschleudert. Von dem Platz, wo die Laube gestanden hatte, stoben Zweige und Aeste herum. Und von der weißroten Säule getragen flog der Dackel Mohammed zum Himmel des Islam auf, ein Opfer der Pyrotechnik und Mrs. Everards Geburtstags.
Karl-Bertil mußte noch am selben Abend das heilige Versprechen ablegen, nie mehr in die Feuerwerkskunst zu pfuschen – man denke sich, die Sätze hundertmal zu stark zu mischen! Ja, so waren diese Buben!
Da weder er noch Lal es wissen konnten, brachte es ihnen auch keinen Trost, daß Assessor Hambeck am nämlichen Abend in seinem Kämmerlein sich selbst ein zumindest ebenso heiliges, absolut unumstößliches, alle Getränke umfassendes Abstinenzgelöbnis ablegte.