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Wie dem auch sein mag, das Bewußtsein, ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben, nagt an einem vierzehnjährigen Knaben.
Karl-Bertil ging an dem Tage nach Mr. Smiths Wiederauffindung wie ein Schatten seiner selbst herum. Er aß nicht, er trank nicht, er verschloß sein Ohr Frau Benckes Trostesworten, und nicht einmal Lals Genesung konnte seine Gedanken von Mr. Smith ablenken. Er sah ihn unaufhörlich in dem schwarzen Bottich vor sich – und es waren recht grausige Träume, die er diese Nacht hatte. Er, Karl-Bertil, hatte den Deckel über Mr. Smith zugeschlagen und ihn lebendig im Aalbottich begraben. Die Kopfwunde hatte ihn wohl bewußtlos gemacht, aber wäre der Deckel nicht über ihm versperrt worden, so wäre er vielleicht wieder zum Bewußtsein erwacht und herausgekommen … so aber war er gestorben, in den Bottich eingeschlossen, und die Aale …
Karl-Bertil brach der kalte Schweiß aus allen Poren. Das war das schlimmste. Assessor Hambecks hingeworfene Worte hatten sich wie Dolche in seine Erinnerung gebohrt … Ja, er hatte einen Menschen getötet. Einen lebenden Menschen getötet. Er versuchte sich auszumalen, was Mr. Smith empfunden hatte, bevor er gestorben war. War er sofort ertrunken, oder war er erst zum Bewußtsein erwacht? Der Amtmann behauptete, er sei sofort ertrunken, aber das sagte er vielleicht nur, um Karl-Bertil zu beruhigen. Man denke, wenn er unten im Bottich zur Besinnung erwacht wäre und versucht hätte herauszukommen … an den schweren Deckel gehämmert und geschlagen …
Es war für Karl-Bertils Gemütszustand von größter Bedeutung, daß Amtmann Wessén der Mann war, der er war. Er kam am nächsten Tage zu Besuch, um Karl-Bertil seine Geschichte nochmals erzählen zu lassen und zu sehen, ob ihm das erstemal irgendeine Einzelheit entgangen war. Karl-Bertils überwachtem Gesicht und seinen verstörten Augen sah er sofort an, wie es mit ihm stand. Er hatte eine Vorliebe für den kleinen eckigen Jungen gefaßt; und während er seine Fragen stellte, dachte er hin und her, was da zu tun war. Es dauerte übrigens lange, bis seine Fragen irgendein Resultat ergaben.
»Hat er nichts von irgendwelchen Mitschuldigen gesagt?«
»Nein.«
»Gar nichts?«
»Nein.«
»Aber er hat doch zugestanden, daß er auch die anderen Mordversuche unternommen hat?«
»Ja.«
»Allein?«
»Ja. – Ich glaube wenigstens.«
»Und hat er nicht gesagt, warum?«
Zum erstenmal kam Leben in Karl-Bertil.
»Nein – aber das ist doch klar.«
»Klar?«
»Das habe ich doch Lal schon längst gesagt.«
»Längst?«
»Ja, gleich nach dem erstenmal, damals mit dem Schmetterlingsnetz, da habe ich es Lal gesagt, aber er hat gesagt, ich bin verrückt, und da sind wir böse geworden. Mr. Smith hat versucht ihm einzureden, daß ich verrückt bin, damit er …«
»Nun, und warum sollte also Mr. Smith diese Attentate unternommen haben?«
»Weil Lal soviel Geld hat, natürlich, und wenn Lal stirbt, so kriegt es jemand anders.«
»Jemand anders? Wer denn?«
»Das weiß ich nicht. Es ist doch immer jemand da.«
Der Amtmann stieß einen Pfiff aus.
»Da hast du recht! Sicherlich ist immer jemand da. Wer es ist, das wollen wir von Mrs. Everard zu erfahren trachten. Ich habe nie an etwas anderes gedacht, als reine Mordsucht. Du scheinst Detektivromane studiert zu haben?«
»Ja.«
»Das scheint also auch manchmal von Vorteil zu sein. Hast du nie mit Mrs. Everard gesprochen?«
»Die anderen haben mich ja nicht gelassen. Damals nach der Geschichte mit den Marken habe ich ja gesagt, was ich mir dachte, aber sie haben gar nichts Schlechtes über Mr. Smith hören wollen, und dann nach dem Unglück mit dem Rad sind ja Sie gekommen, Herr Amtmann. Die Geschichte mit dem Rad hat Mrs. Everard überhaupt nicht erfahren, das wissen Sie wohl, Herr Amtmann, und dann hat bis jetzt niemand an Mr. Smith gedacht.«
Der Amtmann versank in Nachdenken. Karl-Bertil, der plötzlich zum Leben erwacht war, benützte die Gelegenheit, einige Fragen für seine eigene Rechnung zu stellen.
»Herr Amtmann!«
»Ja?«
»Wo ist er denn die ganze Zeit gewesen? Wissen Sie das?«
Amtmann Wessén zog einige Papiere aus der Tasche.
»Das hier habe ich bei ihm gefunden,« sagte er. »Laß mich sehen, ob du Detektiv genug bist, um etwas daraus herauszubringen.«
Karl-Bertil nahm die Papiere. Es waren vier Briefe in rosafarbenen Kuverten, vier Telegramme, alle mehr oder weniger vom Wasser durchtränkt, und dann ein dünnes graues Kuvert, gleichfalls vom Wasser beschädigt. Die rosafarbenen Briefe waren mit ungeübter Handschrift geschrieben, und die Kuverte waren von Adressen überkreuzt. Karl-Bertil starrte sie ein Weilchen an.
»Adolf Persson-Rosén,« sagte er. »War das jemand, der mit ihm war? Das sind aber eine Masse Adressen!«
»Versuche, ob du diese Sache herausbringen kannst,« sagte der Amtmann und betrachtete ihn mit einem Funkeln im Auge. Karl-Bertil schien mit einem Male aus seinen krankhaften Grübeleien herausgerissen zu sein, nun er an etwas anderes zu denken hatte. Der Amtmann beobachtete belustigt, wie er mit ernsthafter Miene die Briefe nach den Poststempeln in der Zeitfolge sortierte und sich an den ersten machte. Es dauerte nicht lange, so wurde sein Gesichtsausdruck nachdenklicher und nachdenklicher. Als er in die Mitte des Briefes gekommen war, konnte er es nicht lassen, nach der Unterschrift zu gucken; und ein Ausruf entschlüpfte ihm.
»Axeline! Unser Mädel! Die grauslichen Buben, das sind natürlich Lal und ich. Sie schreibt, daß sie eine Radtour machen wollen! Das ist natürlich unsere Radtour nach Avalla, das stimmt mit der Zeit des Poststempels. Wer ist denn Rosén, Herr Amtmann?«
»Lies nur weiter. Wir wollen sehen, ob du das herauskriegen kannst.«
Karl-Bertil las Brief für Brief. Mehrere Male stieß er einen Ausruf aus und wollte Fragen stellen, aber der Amtmann winkte ihm, nur weiterzulesen. Endlich sprang er auf und sah den Amtmann mit leuchtenden Augen an.
»Rosén – das ist Mr. Smith selbst! Nicht wahr, Herr Amtmann? Das ist er?«
Der Amtmann nickte.
»Dann habe ich ihn doch mit Axeline gesehen, damals, bevor wir abgeradelt sind, und dann an diesem Abend in Björkhult. Dann hat sie ihm die ganze Zeit geholfen! Werden Sie sie nicht arretieren, Herr Amtmann?«
»Sie sitzt schon in Arrest in ihrem Zimmer,« sagte der Amtmann, »und eine unglücklichere Arrestantin habe ich noch nie gesehen. Sie hat ja im guten Glauben gehandelt, wie du dir denken kannst, und war in ihren Rosén bis über die Ohren verliebt.«
»Das ist sie ja in alle Mannsbilder,« sagte Karl-Bertil überlegen, »aber wo hat er denn die ganze Zeit gesteckt?«
»Die Frage macht deinem Scharfsinn keine Ehre, Karl-Bertil, wenn du mit ihren Briefen in der Hand dastehst.«
»Ah, natürlich …«
Karl-Bertil prüfte die vielen Nachsendeadressen, Björkhult, poste restante, retour; Tingsryd, poste restante; und so weiter bis zu: Sanatorium Schwansee, Schwansee. Da stieß er einen Ruf aus.
»Er hat oben im Sanatorium gewohnt?«
»Wie du siehst. Nirgends anders als oben im Sanatorium. Eine Stunde weit vom Haus.«
»Daß ihn niemand …«
»Daß ich ein solches Rindvieh war, nicht darauf zu kommen! Da hast du ganz recht. Das Sanatorium war der einzige Ort, wo er unbeobachtet herumgehen konnte, unter all den vielen Menschen. Er wohnte da als Deutscher und nannte sich Grün. Die Briefe an Rosén nahm er ohne weiteres aus dem Briefkasten in der Halle. Da liegt ja die Post für alle Gäste. Ich bin eine blinde Henne gewesen.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Aber ich meine es. Du bist gewiß ein besserer Detektiv als ich, Karl-Bertil, aber darauf brauchst du dir noch nicht viel einzubilden.«
»Aber war er denn krank, da er dort wohnte?«
»Er behauptete nervös zu sein. Sie nehmen ja alle möglichen Patienten auf.«
»Was steht denn in den Telegrammen?« fragte Karl-Bertil. »Darf ich sie ansehen?«
»Du tust mir damit einen Gefallen,« sagte der Amtmann mit einem Lächeln. Karl-Bertil wurde ganz rot und entfaltete die Telegramme. Mit vier davon hat der Leser in der vorhergehenden Geschichte Bekanntschaft gemacht. Karl-Bertil sortierte sie nach dem Datum und begann zu lesen. Er war etwas paff, als er sah, daß sie englisch waren, aber bald faßte er sich. Man hatte ja AB, und es galt, seinen Ruf gegenüber dem Amtmann zu wahren. Bei dem Ausdruck the entomological experiment im ersten Telegramm blieb er jedoch stecken. Er grübelte hin und her und sah den Amtmann an, der den Kopf schüttelte. Er ging zu den anderen Telegrammen über. Die nächstfolgenden ließen ihn die Augen weit aufreißen, aber diesmal vor Befriedigung. Was the philatelistic business bedeutete, war ja für einen Markensammler ganz klar, und the cycle affair hatte man sich nicht einmal die Mühe gegeben zu maskieren. Und da … Karl-Bertil entschlüpfte ein kleiner Schrei, da war ja der Sinn des ersten Telegrammes auch klar.
Vor Befriedigung strahlend, wendete er sich dem Amtmann zu.
»Verstehen Sie, Herr Amtmann, was sie bedeuten?«
»Nein, ehrlich gesagt!«
»Das hier ist über unsere Radtour, und das ist über die Marken. Und da muß das erste sich auf das Schmetterlingsnetz beziehen! Er hat irgend jemand telegraphiert, was er zu tun gedachte, und das sind die Antworten von dem andern!«
»Hm. Daß von Rädern die Rede ist, sehe ich, und Philatelistik ist wohl Markensammeln, aber –«
»Ja, und Entomologie ist die Lehre von den Insekten, wissen Sie das nicht, Herr Amt –«
Er brach ab. Man soll nicht mit seinem Wissen so glänzen, daß man jemanden verletzt. Der Amtmann schüttelte ernsthaft den Kopf.
»Ich habe ja gesagt, Karl-Bertil, du bist ein gewiegterer Detektiv als ich. Nun, dann weißt du wohl auch, was das bedeutet? The pyro, pyro – was steht da?«
»The pyrotechnic experiment, ja gewiß –« Karl-Bertil runzelte die Stirn und tat, als grübelte er nach, um seinen Kollegen nicht abermals zu verletzen. Nach einer angemessenen Pause leuchtete er auf und rief:
»Ja gewiß, Pyrotechnik, das ist Feuerwerkskunst. Also muß sich das Telegramm auf damals beziehen, als wir das Feuerwerk für Mrs. Everard veranstalteten.«
»Hatte Mr. Smith damals auch die Hand im Spiel?«
»Ja, ganz gewiß. Ich habe es ihm auch an dem Abend gesagt, bevor – als er – –«
Der Gedanke an das, was sich an jenem Abend zugetragen hatte, ließ ihn plötzlich verstummen. Der Amtmann beeilte sich einzugreifen. Jetzt, wo er glücklich im Zuge war, durfte man ihn nicht wieder in die alten Bahnen zurückgleiten lassen.
»Es ist noch ein Brief da. Kannst du den deuten, Karl-Bertil, dann schreibe ich an den König und bitte ihn, dich mir zur Unterstützung im Amt zu geben.«
Karl-Bertil nahm das dünne graue Kuvert und sah es nicht ohne Selbstgefühl an. Er guckte und guckte, aber diesmal kam er mit seinem Wissen zu kurz. Was da stand, war weder englisch noch irgendeine andere Sprache, es war eine sinnlose Reihe von Buchstaben in klarer deutlicher Schreibmaschinenschrift, aber vollständig unverständlich.
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»Was um Himmels willen soll denn das sein?«
Der Amtmann zuckte die Achseln. »Das ist natürlich irgendeine Chiffresprache, aber was es bedeutet, darfst du mich nicht fragen. Ich habe nie Unterricht im Lesen von Chiffresprachen genommen, und das ist sehr schade. Ich könnte darauf schwören, daß der Schlüssel zu der ganzen Geschichte in diesem Brief zu finden ist.«
»Glauben Sie, Herr Amtmann?« Karl-Bertil starrte den Amtmann klaräugig an.
»Ich bin überzeugt davon. Der Mitschuldige, wer es nun sein mag, könnte festgenommen werden, wenn wir dies deuten könnten. Ja, ich glaube so sicher, daß wir den anderen Schurken erwischen würden, wenn wir das hier lesen können, wie, daß ich hier stehe. Hast du gesehen, wo der Brief abgestempelt ist?«
Karl-Bertil sah das Kuvert an und rief:
»Kristiania! In Norwegen! Nicht weiter weg! Ja, aber woher wissen Sie, Herr Amtmann, daß er von demselben ist, der die Telegramme geschickt hat? Die waren ja aus Newyork.«
Der Amtmann zuckte die Achseln.
»Mit Bestimmtheit weiß ich es natürlich nicht, aber das waren die einzigen Papiere, die Mr. Smith bei sich hatte. Daß er die Telegramme aufgehoben hat, kann ja nur aus dem Grunde geschehen sein, weil – ja, was glaubst du?«
»Ja, warum hat er sie eigentlich aufgehoben? Das war doch idiotisch, wenn er gefaßt wurde!«
»Ja, aber wenn er nicht gefaßt wurde, worauf er mit Bestimmtheit rechnete, schadete es ja nichts. Und wenn er gefaßt wurde, dann – ja, was dann?«
»Dann wurde der andere auch gefaßt!« Karl-Bertils Stimme war vor Gemütsbewegung unsicher.
»Ganz richtig. Das ist die einzige Erklärung dafür, daß er sie aufgehoben hat. Er wollte nicht allein hoppgenommen werden! Und darum bin ich nahezu sicher, daß der Brief von derselben Person ist, wie die Telegramme.«
Der Amtmann schwieg. Karl-Bertil studierte den unbegreiflichen Brief wieder und wieder. Ach, wer ihn doch lesen könnte! Man denke, wenn er ihn entziffern könnte! Das wäre ein Triumph! Schon bei dem bloßen Gedanken wehte es kalt um seine Schläfen. Er las die Telegramme nochmals, um in ihnen einen Leitfaden zu finden. Plötzlich kam ihm eine Idee.
»Herr Amtmann! Jetzt weiß ich, warum er in Kristiania ist.«
»Das wäre des Teufels! Warum denn?«
»Sehen Sie her!«
Karl-Bertil legte die Telegramme in der Reihenfolge hin.
»Alle Telegramme beginnen mit bedaure – sorry steht da. Im ersten steht nur sorry, im zweiten steht very sorry, und im dritten most sorry. Zuerst bedauert er, dann bedauert er sehr, und dann am allermeisten, oder ganz besonders, oder wie man sagen will. Und schauen Sie her! In den zwei ersten schreibt er nur von seinen eigenen Angelegenheiten, aber im dritten steht: bedauere namentlich in Ihrem eigenen Interesse, und im letzten, die Folgen sich selbst zuschreiben. Das ist doch deutlich, nicht, Herr Amtmann? Und als alles nichts half, ist er herübergekommen, um …«
»Um Mr. Smiths Arbeit etwas mehr aus der Nähe zu inspizieren. Du hast, meiner Seel, recht! Und das macht diesen Brief noch hundertmal wichtiger. Wenn er nichts von Mr. Smith hört, oder hört, daß er tot ist, dann – ja, was dann?«
»Dann muß er auf eigene Hand arbeiten,« flüsterte Karl-Bertil.
Der Amtmann nickte.
»Arbeiten, ja,« murmelte er mit so düsterer Betonung, daß Karl-Bertil erzitterte. Wenn er doch den Brief entziffern und bewirken könnte, daß diese Arbeit verhindert wurde! Der Amtmann erhob sich.
»Ich gehe hinunter und spreche mit Frau Everard,« sagte er. »Sie muß uns über ein paar Dinge Bescheid geben können.«
»Wer es ist?«
»Ja, oder wer es sein kann, der ein Interesse daran hat, daß Lal … Es gibt vielleicht mehrere, die da in Betracht kommen.«
»Darf ich den Brief einstweilen behalten?«
Der Amtmann nickte mit einem kleinen Lächeln. Karl-Bertil war vor Erregung ganz blaß.
»Glück auf, Karl-Bertil,« sagte er und ging.
Als er eine Stunde später zurückkam, um den Brief zu holen, lag Karl-Bertil bäuchlings auf dem Boden, einen Bogen Papier vor sich und einen Bleistift in der Hand, dessen Spitze vom vielen Lecken schon ganz naß war. Seine Augenbrauen waren gerunzelt, als hätte er Kopfschmerzen, und er schien ganz außerhalb der Welt zu sein. Der Bogen Papier war mit Tieren und Figuren bedeckt, die er gezeichnet hatte, außerdem mit langen Reihen von Buchstaben, kreuz und quer, vorwärts und zurück.
»Nun, Karl-Bertil?«
Karl-Bertil sah mißmutig zum Fenster hinaus, ohne zu antworten.
»Glaubst du, daß du …«
»Das weiß ich nicht,« kam es kurz. »Ich brauche den Brief nicht mehr, denn ich habe ihn mir abgeschrieben.«
Der Amtmann nahm lächelnd den Brief zurück.
»Darf ich fragen, hast du irgendeine Ahnung, wie man Chiffreschrift entziffert? Denn sonst …«
»Ich habe ein Buch von Jules Verne gelesen, das ›Fünfhundert Meilen auf dem Amazonenstrom‹ heißt. Da kommt eine Chiffre vor.«
»Wie war sie?«
»Der Schlüssel war 4823. Wenn man den wüßte, könnte man den Brief ohne weiteres lesen.«
»Aber war es nicht sehr schwierig, den Schlüssel zu finden?«
»Ja. Ich habe es mit diesem versucht, aber es ist nicht gegangen.«
»Hm, nein, es könnte ja auch 4824 sein. Hast du probiert, die Sache von rückwärts zu lesen?«
»Ja, das ist auch nicht gegangen.«
»Das weiß ich. Ich habe es auch versucht. Kennst du noch andere Chiffresprachen?«
»N–nein, eigentlich nicht.«
»Dann sind wir ungefähr gleich gescheit. Nun ja, ich bin beinahe zu der Ueberzeugung gekommen, daß der Brief nicht so wichtig ist. Frau Everards Mitteilungen haben mich beruhigt. Weiß Gott, ob der Brief überhaupt etwas mit der Sache zu tun hat.«
»Herr Amtmann! Was hat Mrs. Everard gesagt?«
Der Amtmann faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.
»Sie hat allerlei gesagt, lieber Karl-Bertil. Sie könne niemand verdächtigen, sondern wenn Mr. Smith irgend etwas Schreckliches getan habe, so habe er es getan, weil er wahnsinnig sei. Ja, dann müsse er eben wahnsinnig sein, aber sie könne eigentlich nicht glauben, daß er es wirklich getan hat.«
»Ja, aber haben Sie nicht gefragt, Herr Amtmann, wer das Geld bekommen würde, wenn Lal …«
»Ja. Und das hat die Sache meiner Auffassung nach ein wenig verändert. Ein Teil des Geldes würde natürlich an sie selbst fallen, der Rest an einige Verwandte.«
»Wie heißen die?«
»Die mit ihr prozessiert haben, sind eine Schwester ihres Mannes und seine geschiedene Frau. Und man kann sagen, was man will, aber es fällt mir schwer zu glauben, daß irgendein naher Verwandter so schurkisch sein könnte – Nun ja, es läßt sich natürlich auch denken.«
»Wie heißt die Schwester?«
»Sie heißt Mrs. Fredericks.«
»Und die geschiedene Frau?«
»Mrs. Everard. Sie hat den Namen nach der Scheidung beibehalten. Du meinst, daß …«
»Ja, daß die Namen in dem Brief stehen werden.«
»Lieber Karl-Bertil, sieh dir einmal die Telegramme an, es kommt kein solcher Name darin vor.«
»Nein, aber …«
»Nicht einmal eine Initiale. Es steht S. unter ihnen. Das könnte ja allerdings verabredet sein. Ja, ich weiß wirklich nicht, was ich glauben soll.«
Der Amtmann schüttelte den Kopf und sah zum Fenster hinaus. Die Nachmittagssonne sandte ihre schrägen Strahlen durch die Laubwipfel des Gartens. Die Hühner scharrten sich ihre five o'clock-Würmer aus den Gartengängen. Aus dem Zimmer neben Karl-Bertil ertönte ein Schnarchen, das andeutete, daß der Extyrann sich ein Nachmittagsschläfchen gönnte. Alles atmete ungetrübten Frieden. Der Amtmann rappelte sich auf und sagte:
»Nun ja, Karl-Bertil, trachte den Brief zu enträtseln, wenn du kannst, aber grüble nicht so, daß du dich krank machst. Ich werde an die Polizei in Kristiania telegraphieren, ob jemand, der den Erbprätendenten entspricht, dort gewesen ist, aber, aufrichtig gesagt, glaube ich nicht, daß die Antwort bejahend ausfällt. Ich komme morgen wieder. Adieu.«
Es war acht Uhr, und das Abendessen war gerade vorüber, als Karl-Bertil von den anderen fort – Lal saß als Rekonvaleszent in einem Korbstuhl – in Oberst Benckes Bibliothek hinaufhuschte. Er hatte den ganzen Nachmittag damit zugebracht, sich über den Brief aus Kristiania den Kopf zu zerbrechen. Er hatte eine Schlüsselzahl nach der anderen probiert, eine länger als die andere, und eine kürzer als die andere, 789, 29895, 1162, 47, 25, alle mit demselben Resultat. Das ganze wurde ebenso sinnlos wie die Buchstaben, die in dem Brief standen. Dann hatte er sich plötzlich an ein Hauptprinzip der Chiffredeutung erinnert: es galt herauszufinden, welcher Buchstabe am häufigsten vorkam. Diesem Buchstaben entsprach wahrscheinlich der Buchstabe, der in der Sprache, in der die Chiffreschrift abgefaßt war, am häufigsten war. Er erinnerte sich, daß dies in »Fünfhundert Meilen auf dem Amazonenstrom« betont wurde. Ferner erinnerte er sich, daß nach derselben Quelle der Buchstabe e der häufigste Vokal in den meisten Sprachen ist, s der häufigste Konsonant. Die Reihenfolge der anderen hatte er vergessen. Nun wollte er hinauf, um zu sehen, ob Oberst Benckes Bibliothek möglicherweise »Fünfhundert Meilen auf dem Amazonenstrom« enthielt.
Die Bücherschätze des Obersten waren nicht besonders groß. Da war das Gesetzbuch für die Kriegsmacht mit Anmerkungen; Arsenius: Die Kleidung des Mannes; Heidenstam: Karl der Zwölfte und seine Krieger; das Stammbuch für die edle Pferdezucht nach den besten Quellen; ein altes Exemplar von Strindbergs Ehegeschichten und als Gegengift Wirséns Kritiken; da waren schließlich einige Andenken an eine ausländische Reise: » Les petites Marcheuses de Paris« und »Die Liebesinsel Mytilene«, von denen das letztere am meisten gelesen zu sein schien. Aber »Fünfhundert Meilen auf dem Amazonenstrom« fehlten. Karl-Bertil suchte auf den Regalen und dahinter und wollte schon den Versuch aufgeben, als er plötzlich auf einen zerfetzten Band stieß, der keinen Rücken hatte und auf Seite 64 mitten in einem Satz aufhörte. Nichtsdestoweniger beeilte er sich, ihn mit einem Wau-hu! zu ergreifen. Denn auf dem graugrünen Titelblatt las er: Die geheime Schreibkunst in Vergangenheit und Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf militärische Zwecke. Hurra! Da hatte er es!
Es ist jedoch nicht so leicht, als man glauben sollte, in die geheime Schreibkunst einzudringen. Karl-Bertils Lehrbuch war weitschweifig und unverständlich. Es begann wie die antiken Heldengedichte mit der mythologischen Zeit. Es berichtete nach bestem Wissen und Gewissen über die geheime Schreibkunst der Chaldäer, der Griechen, der Römer und der Juden. Karl-Bertil erfuhr, daß der Prophet Hesekiel sich bei seinen Arbeiten der geheimen Schreibkunst bedient hatte. Er versöhnte sich allmählich mit dem Gedanken, daß sie eine ausgedehnte Anwendung in der Kabbala fand und daß sie die Wurzel der ideologischen Hieroglyphen war. Hingegen überraschte es ihn, daß Cajus Julius Cäsar eine besondere Chiffresprache erfunden hatte. Wenn man eine Brücke über den Rhein auf seine Weise beschreibt, braucht man keine anderen Methoden, um seine Gedanken zu verbergen. Endlich kam das Buch auf Seite 60 zur modernen Chiffre. Aber als Karl-Bertil bis dahin gekommen war, war die Kerze fast heruntergebrannt, und er selbst war so schläfrig, daß er jeden Satz zweimal lesen mußte. Am nächsten Morgen wurde er von Lal geweckt, der es durchgesetzt hatte, aufstehen zu dürfen, und an jenem Tage las er nicht weiter. Lal war ein tyrannischer Rekonvaleszent. Der Tag wurde dem Damespiel gewidmet (solange Mrs. Everard ein Auge auf sie hatte) und dann der Plünderung der Augustbirnbäume. Am nächsten Vormittag verschwand Lal.
Dir näheren Umstände waren folgende:
Lal hatte Karl-Bertil einen Ausflug ins Sanatorium vorgeschlagen, um sich die Oertlichkeit anzusehen, wo Mr. Smith gehaust hatte. Die Fahrt sollte per Rad ohne Frau Benckes Wissen gemacht werden. Sie konnten in einer Stunde oben sein, und dann radelten sie den ganzen Weg hinunter immer bergab, sie konnten geradezu Rutschbahn fahren, wie Lal sagte. Karl-Bertil war des Zuhausesitzens müde und ging ohne viel Kopfzerbrechen auf den Vorschlag ein. Da Mr. Smith nicht mehr da war, konnte es doch nichts machen. Die Gefahr, die möglicherweise von anderer Seite drohte, erschien bei dem klaren Sonnenschein dieses Augustmorgens ganz unwirklich. Daß die Räder nach der Tour nach Avalla sorgfältigst repariert worden waren, braucht nicht erst gesagt zu werden.
Der Weg zum Sanatorium hinauf war recht anstrengend; Karl-Bertil hatte ja einen Teil davon auf Lals Rad gemacht, damals, vor langer Zeit, als Mr. Smith und Lal oben in der Rackarschlucht Schmetterlinge fangen wollten … Sie brauchten fast eineinhalb Stunden, um hinaufzukommen; und Karl-Bertil schlug in wiederholten Malen vor, wieder umzukehren. Aber Lal war eigensinnig und trat darauf los, bis sie die weiße Fassade des Sanatoriums erblickten.
Sie stellten ihre Räder vor das Gitter und schlenderten ein Weilchen im Park herum, ohne daß jemand sie bemerkte oder eine Frage an sie richtete. Es gab eine Menge Patienten, Nervöse, Asthmatiker und Leute mit schwacher Lunge. Endlich gingen sie zu dem großen Gebäude hinauf. Vor der Treppe der Säulenveranda kam Karl-Bertil plötzlich eine Idee. Er wollte hingehen und sich den Briefkasten in der Halle ansehen, wo Mr. Smith so ungeniert seine Post abgeholt hatte! Wer weiß? Vielleicht waren Briefe oder sonst etwas für ihn gekommen, seit … Er bat Lal zu warten und lief die Stufen hinauf.
Als Karl-Bertil gegangen war, blieb Lal mit den Händen in den Hosentaschen stehen und pfiff einen amerikanischen Gassenhauer vor sich hin. Er hatte die Mütze in den Nacken geschoben, so daß der Wind in seinem schwarzen Haar spielte. Er sah nicht gerade so aus, als hätte er nach einem ernsthaften Attentat fünf Tage hintereinander zu Bette gelegen oder als gehörte er in ein Sanatorium. Er sah auch nicht besonders schwedisch aus. Vielleicht kam deshalb ein magerer blasser Herr von der Veranda herunter und auf ihn zugeschritten. Er sprach Lal englisch an.
»Hallo!« sagte er. »Bist du ein Schwede?«
»Nein,« sagte Lal kurz. »Amerikaner.«
»Aha. Bist du schon lange hier drüben?«
»Erst diesen Sommer. Meine Mutter und ich wohnen hier.«
»Im Sanatorium?«
»Nein. In einem Haus hier in der Nähe.«
Der Fremde fixierte Lal und Lal den Fremden. Er war glatt rasiert und hatte schwarzes blankes Haar, das wie ein Rahmen um das Gesicht lag. Sein Teint war ungewöhnlich blaß, fast gipsweiß. Aber wenn er lächelte, sah er gewinnend aus. Und er lächelte über Lals kurze amerikanische Antworten. Lal kam eine Idee.
» Say! Sie wohnen hier?«
»Ja.«
»Schon lange?«
»Hm, nein, bin eigentlich heute gekommen.«
»Noch andere Amerikaner hier gesehen?«
»Ich glaube nicht.«
»Nicht einen Mr. Smith, der hier gewohnt hat?«
Der Fremde zog langsam seine schwarzen Augenbrauen in die Höhe, die gerade und fein waren, wie die einer Frau oder eines Morgenländers.
»Smith! Kein besonders ungewöhnlicher Name, mein Sohn! Aber ich bin so kurz hier, daß ich niemand kenne.«
Lal tat es schon leid, daß er Mr. Smith zur Sprache gebracht hatte.
»Hat nichts zu sagen,« sagte er und rückte seine Mütze zurecht. »Ich verstehe gar nicht, wo Karl-Bertil steckt.«
»Karl-Bertil! Ist das dein Kamerad?«
»Ja, wir sind hier heraufgeradelt.«
»Wie heißt du?«
»Lal Everard.«
Lal sah es nicht, denn er guckte gerade in die Halle nach Karl-Bertil, aber der Fremde zuckte plötzlich zusammen, als hätte er einen elektrischen Stoß bekommen. Er verschlang Lal mit den Augen, bis dieser ihm wieder den Blick zuwandte. Dann sagte er ganz ruhig:
»Wo hast du dein Rad?«
Lal nickte nach dem Gartengitter.
»Willst du mein Auto sehen?«
Lals Augen glänzten auf. Er liebte Autos! Bevor sein Vater starb, war er in Amerika täglich Auto gefahren. Oh, jetzt eine Tour machen zu können! Aber Karl-Bertil …
»Ich muß auf Karl-Bertil warten,« sagte er.
» All right!« sagte der Fremde mit einer Nuance des Erstaunens in der Stimme, die Lal ins Herz stach. »Adieu, mein Junge.«
»Wohin gehen Sie?« rief Lal.
»In die Garage. Ich fahre aus.«
Er nickte und verschwand in der Richtung eines Seitengebäudes. Lal sah ihm mit langen Blicken nach.
Karl-Bertil hatte unterdessen die Halle ohne jede Schwierigkeit gefunden und nach ein paar Augenblicken auch den erwähnten Briefkasten. Da er nicht klüger war, als er war, ging er ohne weiteres darauf los. Es war ein großer Kupferdrahtkasten mit mehreren Fächern. Es fiel ihm nicht ein, daß nicht jedweder die Briefe, die darin lagen, ansehen dürfe, und noch weniger, daß, wenn Briefe an Mr. Smith gekommen waren, der Amtmann sicherlich veranlaßt hatte, daß sie ihm zugeschickt wurden. Er begann ungeniert den Inhalt des Briefkastens zu untersuchen. Er war noch nicht lange damit beschäftigt, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte und jemand sagen hörte: »Was treibst du denn da?«
Er sah auf. Ein dicker, asthmatischer Herr, mit hervorquellenden blauen Augen, stand schnaufend neben ihm. Seine Hand lag wie eine irdene Schüssel auf Karl-Bertils Schulter. Karl-Bertil suchte sich freizumachen.
»Ich wollte nur nach einem Briefe sehen.«
»Was für einen Brief? An dich? Wohnst du hier?«
»N–nein!, aber …«
»So, du wohnst nicht hier und kommst her und suchst nach Briefen? Wohnen deine Eltern hier? Sollen Briefe an sie da sein?«
»N–nein, ich wollte nur …«
»Aha, du wolltest nur! Das werden wir sofort untersuchen.«
Großhändler Albert Lindström gehörte zu jener Menschenklasse, die nie besonders viel zu denken haben und es infolgedessen auch nicht wünschen. Wenn sich einem solchen Menschen ein ungewöhnlicher Gedanke oder ein Ereignis aufdrängt, wird er sehr mißgestimmt und gereizt, und es dauert lange Zeit, bevor er sich entschließen kann, diesen Gedanken seiner Vorstellungswelt zu assimilieren. Es währte eine Stunde, bis es Karl-Bertil gelang, Großhändler Lindström von der Unschuld seiner Absichten zu überzeugen. Das Bureau des Sanatoriums mußte Amtmann Wessén anrufen und sich bei ihm erkundigen, bis der merkantile Freund der Gerechtigkeit befriedigt war. Mit glühenden Wangen lief Karl-Bertil die Stufen der Sanatoriumsveranda hinunter. Er hatte den Amtmann durchs Telephon lachen gehört … Er konnte sich bei seinen Aufklärungsarbeiten nicht sehr erfolgreich vorkommen …
Wo war Lal?
Eine halbe Stunde des Suchens im Hof und im Park überzeugte Karl-Bertil, daß Lal nirgends zu finden war. Sein Rad stand noch immer am Gitter, an das Karl-Bertils gelehnt. Aber von Lal war keine Spur zu sehen.
*
»Prost, Bruder Jan! Prost trotz all dem! Prost, Herr Assessor!«
»Prost!«
»Ja, prost – aber ich für meine Person kann doch nicht umhin, die psychologische Seite der Sache zu sehen – die philosophische, hätte ich bald gesagt. Wie meinst du, Karl-Emil! Du kannst keine Philosophie in der Sache finden? Nun ja, das ist schon möglich. Du bist Krieger, und du willst lieber Strategie darin sehen. Ich bin …«
»Du bist natürlich Philosoph, mein lieber Jan.«
»Ich bin ein alter Phantast und Bücherwurm, Karl-Emil, und die beste Nahrung der Philosophen ist Bücherstaub.«
»So? Ich dächte nun, daß Spencer und Nietzsche und etliche andere …«
»Herr Assessor, Sie können noch drei Schock Philosophen anführen, die nie Bücherstaub gerochen haben, das weiß ich, und ich kann mindestens ebenso viele Heerführer aufzählen, die nie Pulver gerochen haben. Aber sowohl Sie, Herr Assessor, wie du, Karl-Emil, werden sicher zugeben, daß die Heerführer, die Pulver gerochen haben, jedenfalls doch die richtigen sind. Also kann ich nichts dafür, daß ich die philosophische Seite der Sache sehe.«
»Das, scheint mir, war ein Sprung im Gedankengang, Herr von Birck.«
»Nun ja, das kann schon sein. Was ich sagen wollte, war, daß ich so viele Jahre von Bücherstaub gelebt habe, daß ich davon Philosoph geworden bin, so wie Leute, die von Alkohol leben, eine Trinkerleber bekommen – na na, nichts für ungut, Karl-Emil.«
»Du brauchst immer so viele Worte, um zu sagen, was du willst, Jan. Was meinst du mit all deinem Geschwätz über die philosophische Seite der Sache?«
Der Kaffeetisch der drei Herren stand in Onkel Jans Bibliothek in der Stadtwohnung. Aber es war klar, daß die Waren auf dem Tische aus Major Karl-Emils Departement des Hauses stammten. Eine tauige Kognakflasche war schon degradiert beiseite gestellt. Drei Punschflaschen hielten ein Kollegium im Eiskübel, rings um den halbgerauchte Zigarren auf ihren Aschenschalen ruhten, wie dicke kurze Mörser auf Lafetten. Die Punschetiketten hatten sich im Eiskübel losgelöst; als der Major eine Flasche hob und einschenkte, glitt die Etikette herab, aber hing noch an der braunen Rundung der Flasche wie ein nasses Hemd an einer schwellenden Malaiin. Die Gesichter Assessor Hambecks und Major Karl-Emils trugen das Gepräge des nachmittäglichen Wohlwollens gegen alles Geschaffene und waren auf Onkel Jan gerichtet, dessen mageres Gesicht in einer Art philosophischen Enthusiasmus leuchtete, der unmöglich von seinem unberührten Punschglas herkommen konnte. Vor den Bibliothekfenstern lag die Stadt in Dämmerruhe.
»Was ich mit der philosophischen Seite der Sache meine?« sagte Onkel Jan, »ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll. Nenne ich es den Sieg des Geistes über die Materie, so klingt das zu fein, und trotzdem …«
»Bah! Unsinn! Weil der Junge zufällig Glück gehabt hat und …«
»Warte nur, Karl-Emil, laß mich die Sache erzählen, wie ich sie vor mir sehe. Du bist sein Vater, aber weiß Gott, ob du ihm gerecht wirst. Ich nenne das nicht Glück, nein, absolut nicht. Das war nicht Glück. Das ist etwas anderes. Hast du versucht, dich in die Situation im Schwanseehof hineinzudenken, als er ohne Lal nach Hause kam? Du weißt, sie waren ohne Erlaubnis ins Sanatorium hinaufgeradelt – na na, bist du nie selbst ein Junge gewesen? – Und nun kommt er zurück und kann nichts anderes sagen, als daß Lal verschwunden ist. Lals Mutter« – Onkel Jan senkte die Stimme und sah scheu nach einem angrenzenden Gemach – »Lals Mutter ist eine entzückende Dame, aber ich möchte einer Dame mit ihren Nerven nicht in einem solchen Augenblick gegenüberstehen. Ich kann mir das Ganze ungefähr denken. Weinkrämpfe und Anklagen: Wie konntest du ihn nur mit dir locken, Karl-Bertil, wo du doch weißt, daß ihr das nicht dürft? Es ist deine Schuld, wenn etwas passiert ist, wie konntest du das tun, Karl-Bertil? Und dann Johann Benckes Mutter« – Onkel Jan senkte die Stimme noch mehr und warf einen noch scheueren Blick in derselben Richtung wie vorhin – »... erzähle alles, Karl-Bertil, du weißt, wie es dir sonst geht. Wie konntest du nur auf eine solche Idee kommen? Schämst du dich nicht! Du solltest Prügel haben! – Und dann der junge Johann und der Amtmann.«
»Der Amtmann war noch der Beste,« schaltete Assessor Hambeck ein.
»Ja, Sie waren ja dort, Herr Assessor, und haben es mitangesehen. Ich versuche mir nur, so gut ich kann, ein Bild zu machen. Ich glaube schon, daß der Amtmann noch der Beste war. Aber viel besser als die anderen konnte er auch nicht sein. Er wollte aus dem Jungen etwas herauskriegen, was der Junge nicht wußte. Und wenn Leute das, was sie wissen wollen, nicht erfahren können, werden sie zornig und erheben Beschuldigungen. Ich glaube, ich kann mir, wenigstens so ungefähr, verstellen, wie es Karl-Bertil zumute war, als er auf sein Zimmer hinaufgeschickt wurde, weil Lals Mutter seinen Anblick nicht länger ertragen konnte … Und ich habe versucht, mich hineinzudenken, wie er diese Nacht verbrachte. Ihr wißt wohl nicht, daß das erste, was er tat, war, hinunterzuschleichen und Stearinkerzen zu stehlen.«
Major Karl-Emil runzelte die Stirne und sah seinen Bruder an.
»Nein, das wußte ich wirklich nicht. Wenn du solche Scherze den Sieg des Geistes über die Materie nennst, oder wie du dich ausgedrückt hast, dann …«
»Lieber Karl-Emil, manchmal glaube ich, daß die Vaterschaft so etwas Aehnliches ist wie Cäsarenwahnsinn. Vergißt du, daß du selbst sterblich bist und einmal ein Junge warst? Weiß Gott, ob du damals soviel Schneid gehabt hast. Er schlich zu dem Mädchen hinunter, wie hieß sie doch? Das Mädchen hatte ja dem Hofmeister geholfen, und nun nach Lals Verschwinden war sie noch etliche Male extra ins Kreuzverhör genommen worden. Ihr in die Nähe zu kommen war gefährlicher, als einer hysterischen Tigerin. Weiß Gott, ob du dich in ihre Speisekammer gewagt hättest, Karl-Emil! Der Junge tat es, er kroch hinein und nahm seine drei Kerzen. Und dann begab er sich in sein Zimmer und begann in Benckes Buch zu lesen, das er gefunden hatte – über die Chiffreschrift …«
»Ja, das ist wirklich eigentümlich,« murmelte der Assessor aus seinem Fauteuil. »Wie in aller Welt konnte er nur darauf kommen?«
»Phantasie, lieber Assessor Hambeck, Phantasie. Geist kontra Materie. Was Sie wollen. Glauben Sie mir, ich bin ein alter Phantast, ich verstehe das.«
»Ich weiß nur, daß ich nie auf eine solche Idee gekommen wäre, und daß es auch nichts genützt hätte, wenn ich darauf gekommen wäre.«
»Das ist recht, das ist recht, Assessor Hambeck. Demut ist aller Weisheit Anfang. Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder – wie heißt es doch? Ich glaube auch nicht, daß ein anderer als ein Junge wie Karl-Bertil eine so undankbare Arbeit eine ganze Nacht ausgehalten hatte. Ich erinnere mich nur aus meiner Schulzeit, wie ich aufsaß, um algebraische Probleme zu lösen. Ich war sehr dumm in Algebra, aber eine Ahnung hatte ich ja doch davon. Und das Ende war immer, daß ich mich nach einer halben Stunde zu Bett legte und dachte: Ich kann ja schließlich meine Zahlen morgen von irgend jemand abschreiben. Karl-Bertil, der nicht mehr Ahnung von Chiffreschrift als von Chinesisch hatte, hielt die ganze Nacht aus. Und dabei wußte er nicht und konnte nicht wissen, ob es sich im geringsten lohnte. Der Amtmann hatte ja gesagt, er glaube nicht, daß der Brief etwas zu bedeuten habe. Ich habe den Brief hier. Willst du zugeben, Karl-Emil, daß man ihn nicht so ohne weiteres lesen kann?«
Major Karl-Emil setzte die Augengläser auf und fixierte den Bogen Papier, den sein Bruder ihm hinhielt.
»Hm – nein, leicht leserlich ist er ja nicht! Was hatte er also zu bedeuten?«
Onkel Jan betrachtete den Bogen Papier beinahe liebevoll.
»Er hat mir erzählt,« sagte er, »daß er irgendein Buch von Jules Verne gelesen hat und daß er zuerst versuchte, den Brief danach zu entziffern. Er zählte aus, welcher Buchstabe am häufigsten vorkam, und fand, daß es z war. Das mußte also einem e oder s entsprechen, da e der häufigste Vokal und s der häufigste Konsonant im Englischen ist. Er ging davon aus, daß der Brief englisch war. Tatsächlich entsprach z dem Buchstaben o in diesem Briefe. Aber als er soweit gekommen war, war es aus, denn die Reihenfolge der anderen Buchstaben hatte er vergessen. Folglich mußte er sich an Benckes Buch halten. – Hier ist es. Ich habe selbst versucht, daraus klug zu werden, und ich kann mich mit meinem Erfolg nicht brüsten. Man könnte beinahe glauben, daß es in Chiffreschrift abgefaßt ist. Da wird von der Kabbala und Cäsar gefaselt, von den quarta elementa und Blasius von Vigère. Ich versuche mir Karl-Bertil vorzustellen, bei seiner Stearinkerze über das Buch geduckt. Er mußte die erste Kerze mit einer zweiten vertauschen, und als er diese durch seine dritte und letzte ersetzen wollte, merkte er, daß er schon, ohne Licht lesen konnte. Die Sonne war im Aufgehen. Da fühlte er sich mit einem Male gewaltig müde, wie er mir sagte. Er stellte sich an sein Fenster und sah zum Himmel auf. Er fühlte eine unüberwindliche Lust, sich niederzulegen. Er fror und gähnte. Und da durchkreuzte eine Idee seinen Kopf … Das einzige System, das in seiner Erinnerung hängengeblieben war, war jenes, das der verehrungswürdige Blasius von Vigère erfunden hatte, und das sich noch heutzutage im Gebrauch erhalten hat. Es operiert mit Schlüsselworten von drei oder fünf Buchstaben. Und nun fiel ihm plötzlich ein, daß der Name Lal ein Schlüsselwort nach dem System des Blasius sein könnte …
Das System des Blasius hat zwei Alphabete, ein unbewegliches und ein bewegliches. Man teilt den ganzen Satz, der umgeschrieben werden soll, in aufeinanderfolgende Gruppen von drei oder fünf Buchstaben ein. Z. B. Büch – er – brett … dann nimmt man das bewegliche Alphabet und placiert den ersten Buchstaben des Schlüsselwortes – sagen wir, daß es Lal ist, also l – unter den Buchstaben a des unbeweglichen Alphabetes, und dann transkribiert man von dem unbeweglichen in das bewegliche. Man nimmt jeden Buchstaben jeder Gruppe für sich und versetzt das bewegliche Alphabet nach dem Schlüsselwort. Ich weiß nicht, ob ihr mich versteht, aber ich habe es unter Karl-Bertils Anleitung gelernt. – Hier seht ihr den Brief, den Karl-Bertil zu deuten versucht hat. Pxapcejof usw., es dauerte fast dreiviertel Stunden, bis er mit der Transponierung fertig war. Und als er es wieder in gewöhnliche Schrift mit Lal als Schlüsselwort zurücktransponiert hatte, las er: Expect you with good news Bristol Copenhagen four days no rot. – Hobbes. Es dauerte eine Weile, bis er den Sinn begriff: Erwarte Sie mit guten Nachrichten Bristol Kopenhagen. Vier Tage – Hobbes. Was no rot bedeutete, begriff er nicht. Aber was für gute Nachrichten Mr. Smith bringen sollte, ahnte er, während ihm ein Schauer über das Rückgrat lief.
Es war ein wenig über vier Uhr, und die Sonne stieg über den Bäumen unter ihm auf. Was Karl-Bertil empfand, als er mit dem enträtselten Brief in der Hand dastand, kann ich nicht beschreiben, aber ich glaube, ich kann es ahnen. Er sagte mir selbst, daß es ihm lange war, als hörte und sähe er nichts, und er hatte das Gefühl, daß sein Mund zusammengeschnürt war, so, wie wenn man Schlehen gegessen hat. Eine Minute nach der anderen starrte er zum Fenster hinaus, bis die Sonne ihm in die Augen stach, so daß er rot sah, wenn er sie niederschlug. Und dann dachte er an den Amtmann, und machte sich auf den Weg.«
»Ohne ein Wort zu sagen, ja,« schaltete Assessor Hambeck ein. »Wir glaubten ja, wir müßten den Verstand verlieren, als Axeline kam und meldete, er sei auch fort und sei in der Nacht nicht in seinem Bett gelegen.«
»Ich kann mir Frau Bencke denken,« murmelte Onkel Jan mit einem scheuen Blick auf das angrenzende Gemach. »Ja – ich kann sie mir denken.«
Er lachte leise. Der Assessor warf ihm einen zornigen Blick zu.
»Das war, weiß Gott, kein vergnüglicher Morgen für mich,« sagte er mit gerunzelter Stirn. »Nein, wahrhaftig … Und das Schlimmste war ja, daß auch der Amtmann nirgends zu finden war. Ich glaubte, die ganze Welt sei übergeschnappt …«
»Nun, aber Sie bekamen doch ein Telegramm …«
»Anderthalb Tage später, ja. Nicht für tausend Kronen möchte ich diese Zeit nochmals durchleben. Mrs. Everard und Frau – brr!« Das Gesicht des Assessors drückte bei dem Gedanken an den erwähnten Zeitraum ehrliches Unbehagen aus.
»Es war ja dumm von ihnen, nicht früher zu telegraphieren, aber sie hatten ja an andere Dinge zu denken.«
»Dumm, nicht zu telegraphieren! Ich begreife gar nicht, was dem Amtmann eingefallen ist, den Buben nach Kopenhagen mitzunehmen!«
»Nun ja, es war vielleicht sonderbar, aber meiner Ansicht nach war es das Gescheiteste, was er tun konnte. Hast du eigentlich mit dem Amtmann gesprochen, Karl-Emil?«
»Nein, das weißt du ja.«
»Er sagte mir, ohne Karl-Bertil hätte er nie etwas ausgerichtet. Er wurde um fünf Uhr morgens geweckt, Karl-Bertil stand mit dem Brief in der Hand vor ihm. Er war ganz blaß vor Erregung. Er hatte sich ausgerechnet, daß sie etwas über eine halbe Stunde vor sich hatten, wenn sie den Zug in Schwansee erreichen wollten. Daß sie nach Kopenhagen fahren mußten, darüber war er schon ganz im klaren. Der Amtmann war ganz schlaftrunken und konnte sich nicht recht entschließen, Karl-Bertil und seiner Deutung des Briefes Glauben zu schenken. Karl-Bertil konnte sich wohl auch nicht so recht ausdrücken. Er mußte den Amtmann fast mitschleifen. Unten auf der Station stiegen dem Amtmann neuerliche Bedenken auf, aber Karl-Bertil schleppte ihn förmlich zum Fahrkartenschalter und rief: Zwei Fahrkarten nach Kopenhagen. Der Kassier sah ihn an und sagte: Na, eineinhalb werden's auch tun. – Karl-Bertil ist ja nicht besonders groß gewachsen. Karl-Bertil flammte auf, und der Amtmann, der nicht wußte, ob er träumte oder wachte, bezahlte die Karten, und sie sprangen in der letzten Sekunde in den Zug. Aber erst als sie in Kopenhagen waren, ging die Sache richtig los. Sie kamen gegen zwölf Uhr nachts an, und der Amtmann wollte bis zum nächsten Tag warten. Aber Karl-Bertil schleifte ihn direkt ins Hotel und ging selbst zum Portier. Ich kann mir den dänischen Portier und Karl-Bertil mit seiner schrillen schwedischen Bubenstimme denken.
›Wohnt hier im Hotel ein Mr. Hobbes?‹
›Ein Mr. und eine Mrs. Hobbes wohnen mit ihrem Sohne da.‹
›Wie sieht der Sohn aus?‹
Das wußte der Portier nicht. Sie hatten ihn aus irgendeinem Sanatorium geholt, und er war noch immer krank. Er lag zu Bett. Uebrigens wollten sie morgen abreisen. Was wünschte der junge Herr?
Karl-Bertil sah den Amtmann an. Sie wollten morgen abreisen! Ohne weiteres erklärte er dem Portier, daß sie einen Verhaftungsbefehl für Mr. Hobbes hätten. Das war unwahr, denn sie hatten keinen. Weiß Gott, wie es gegangen wäre, hätte nicht der Portier im selben Augenblick gesagt:
›Wenn Sie mit Mr. Hobbes sprechen wollen, da kommt er gerade.‹
Mr. Hobbes und sie traten eben aus dem Hotelcafé.
Nun, ihr wißt ja, daß er und sie entkommen sind. Aber wenn es ihnen gelang, so war es nicht Karl-Bertils Schuld. Er schoß geradeswegs auf Mr. Hobbes zu und nahm sein ganzes Schuljungenenglisch zusammen. ›Was haben Sie mit Lal getan? Jetzt werden Sie arretiert!‹ Und hätte er es tun können, dann wären Mr. Hobbes und sie auch sicher arretiert worden. Aber wie es nun war, gelang es ihnen ja, durch die Drehtüre zu entkommen und zu verschwinden, bevor, jemand es verhindern konnte …«
»Ja, das habe ich nie verstanden,« sagte der Assessor aus seinem Fauteuil. »Daß sie ohne weiteres die Flucht ergriffen haben! Vor einem kleinen Jungen!«
»Lieber Assessor Hambeck, das ist gerade das psychologische Moment, das philosophische Detail oder wie Sie es nennen wollen. Der Sieg des Geistes über die Materie … Ihre Nerven waren überreizt, sie hatten sich gegen andere Dinge gestählt, die Polizei usw. Aber ein Junge! Ihre Nerven ließen sie im Stich, und sie entflohen. Und dann fanden Karl-Bertil und der Amtmann Lal auf Nr. 212, und …«
»Wie hieß sie doch?« sagte Major Karl-Emil.
»Mrs. Everard. Sie hat nach der Scheidung den Namen von Lals Vater behalten. Der Amtmann wendete sich ja an Pinkertons und bekam alle Aufklärungen, die nötig sind, um ihnen künftighin Respekt vor dem Gesetz beizubringen. Hobbes war ihr Liebhaber, und Mr. Smith war sein Kompagnon bei verschiedenen zweifelhaften Geschäften gewesen, die unter anderem auch in Skandinavien spielten. Um diese zu betreiben, hatte Mr. Smith Schwedisch gelernt. Ihr Plan war, das Vermögen von Lals Vater oder soviel als möglich davon herauszubekommen. Es gab einen Punkt im Testament, auf den hin sie Ansprüche erheben konnten, wenn keine direkten Erben da waren. Zuerst überließen sie die Sache Mr. Smith, und er spekulierte direkt in Mord. Es ist möglich, daß Hobbes und sie sich nur gedacht hatten, Lal zu entführen und ein Lösegeld zu verlangen … Hobbes war ins Sanatorium gekommen, um die Arbeit seines Freundes Smith zu ›inspizieren‹ und im Notfall selbst einzugreifen. Und da ging Lal freiwillig in sein Netz.«
»Lal sagte mir,« sagte der Assessor, »was ihm am meisten leid täte, wäre, daß er gar nichts von der Automobiltour von Schwansee nach Kopenhagen gehabt hat. Hobbes hat ihn so gut wie sofort chloroformiert. Die Amerikaner sind so einfach und geradezu.«
»Und brutal. Ganz wie die Jugend,« murmelte Onkel Jan.
Die Tür zum Bibliothekzimmer wurde aufgerissen, und Karl-Bertil kam herein, gefolgt von Lal und Johann.
»Nun, Karl-Bertil,« sagte Onkel Jan. »Kommst du vom Schulaufruf?«
»Ja, es sind eine Menge neue Buben in unserer Klasse.«
»Nun und Lal? Konnte er schwedisch antworten?«
»Lal ist nicht mehr Amerikaner. Er hat sein Ja so geschrien, daß die ganze Aula widerhallte. Auch in seiner Klasse sind eine Menge neuer Buben.«
»Seine Aufnahmeprüfung ist nicht besonders glänzend abgelaufen,« knurrte der Major. »Aber dir hat dein Sommer gut getan, Karl-Bertil. Du hast nicht mehr eine solche Hühnerbrust. Das ist Johanns Verdienst.«
»Alles wird besser, alles wird besser,« sagte Onkel Jan.
Karl-Bertil, der nachdenklich dagestanden hatte, schien einen plötzlichen Entschluß zu fassen.
»Papa,« sagte er, »weißt du, Papa, was ich getan habe?«
»Nein.«
»Ich habe ganz vergessen zu lernen, was wir als Ferienaufgabe aufgehabt haben.«
»Was hast du? Deine Aufgaben hast du vergessen! Nein, hörst du, Karl-Bertil, das geht wirklich nicht. Wozu, glaubst du denn, gehst du in die Schule? Wenn ich fragen darf …«
Ein leises Lachen von Onkel Jan ließ Major Karl-Emil innehalten.
»Na, Karl-Bertil,« sagte Onkel Jan, »hast du deine Sommerabenteuer in der Schule erzählt?«
»Ja, Elander und Sjögren haben gesagt, das ist eine Lüge, und Hagelberg hat gesagt, das habe ich aus einem schlechten Detektivroman. Du weißt, Onkel Jan, er schreibt Gedichte.«
»Dann verstehe ich,« sagte Onkel Jan.
Lal, der eine Indianeraxt an der Bibliothekwand gefunden hatte, riß sie herunter und zeigte sie Onkel Jan.
»Was ist denn das, Onkel?«
»Ein Gegengewicht gegen alle Bücher, Lal, oder eine notwendige Begleitung dazu, wie du und Karl-Bertil.«
»Und Johann!« schrie Lal und begann einen Kriegstanz um Johann. »Jetzt skalpiere ich Johann. Hüte deinen Wigwam und deine Squaw. Aj, aj, Sir! Wau-hu!«
Die Herren tranken ihre Gläser aus und erhoben sich. Mrs. Everard stand in der Türe.
»Das Abendessen ist fertig. Lal, wirst du denn nie lernen, dich gesittet zu benehmen wie andere Knaben?«
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