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Auf die Anzeige, die der Maire nach dem Berichte des Pfarrers am andern Morgen über das Vorgefallene in der Amtsstadt erstattete, trafen noch an demselben Tage zwei Gendarmen im Orte ein. Sie besichtigten den Schauplatz der Tat, nahmen die nötigen Erklärungen entgegen und schickten sich zur Verfolgung der Verbrecher an. Ob sie damit freilich Erfolg haben würden, ließ sich im voraus schwer sagen. So gefürchtet die westfälische Polizei in der Aufspürung politischer Vergehen war: in solchen Fällen, wo es sich um den Schutz von Leben und Eigentum friedlicher Landeskinder handelte, erwies sie sich meist ziemlich machtlos. Es waren noch die Tage, wo nicht nur der korsische Thronräuber, sondern auch andere Heroen des Räuberhandwerks, Leute vom Schlage eines weiland Schinderhannes, eines Lips Tullian u. a., die Welt mit dem Ruhme ihrer Taten erfüllten. Bald hier, bald dort tauchten, von dem Nimbus einer eigenen Romantik umstrahlt, diese Ritter der Landstraße auf. Meist waren es abgedankte Soldaten, Deserteure oder entlassene Kriegsgefangene, die, ohne anderweitige Beschäftigung, den Raub zu ihrem Handwerk gemacht hatten und Furcht und Schrecken unter dem Landvolke verbreiteten. Dennoch getraute sich, da das Pack überall seine Helfershelfer, Spione und Hehler hatte, nur selten jemand, den Kriminalbehörden bei Verfolgung der Verbrecher zur Hand zu gehen; die Furcht, deren Rache sich zuzuziehen, schreckte davor zurück, und so blieb der Frevel meist ungesühnt.
Die Gendarmen hatten das Haus verlassen. Herr von Gehren, dessen Besuch mit diesem Tage zu Ende ging, hatte, während Pfarrer Bohnewald seine Kranken besuchte, seinen gewohnten Nachmittagsspaziergang angetreten. Innerlich noch mit den nächtlichen Vorfällen beschäftigt, hatte er fast unwillkürlich seine Schritte dem Moosberge zugelenkt. Der Anblick der Ruine, deren sonnenbeglänzte Zinnen aus einem Rahmen herbstlich gefärbten Laubgewirres ihm von der Höhe entgegenschimmerten, reizte seine Neugier. Er trat in den Wald. Axtschläge schallten ihm, als er den schattigen Fußpfad hinanstieg, von der Höhe entgegen. Nach einiger Zeit sah er die Ruine vor sich. Der Platz ringsum war abgeholzt; Steinmassen und behauene Balken lagen auf dem freien Platze umher, der sich innerhalb der verfallenen Ringmauer dehnte. Zimmerleute und Steinmetzen waren in voller Arbeit, den einen am wenigsten verfallenen Flügel des Schlosses wieder in wohnlichen Stand zu setzen. Nachdem er eine Weile zugesehen und von den Leuten allerhand über die Anlage des neuen Baues und von den jetzigen Besitzern erfahren hatte, überkam ihn die Lust, den einen der alten Türme, den Bergfried, zu besteigen, der noch ziemlich erhalten war und von dessen Zinnen man eine prachtvolle Rundsicht genießen mußte. Er wandte sich dem Eingange zu, da sah er sich plötzlich einem modisch gekleideten Manne in mittleren Jahren gegenüber, dessen Anblick ihn sofort an den häßlichen Marquis erinnerte, von dem in der Nacht die Rede gewesen war. Das olivengelbe, von Pockennarben zerrissene Gesicht mit der breiten niedrigen Stirn, der langen spitzen Nase, den hervorragenden Backenknochen und den wulstigen Lippen war in der Tat eins der häßlichsten, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Tiefliegende kohlrabenschwarze Augen blitzten unter buschigen Brauen dem Eindringling entgegen. »Sie wünschen?« fragte er.
Der Freiherr lüftete grüßend den Hut: »Monsieur sind vielleicht der Besitzer dieses Schlosses?«
»Zu dienen, Monsieur,« lautete die in leidlich gutem Deutsch gegebene höfliche Antwort, »was ist Ihr Begehr?«
»Sie entschuldigen wohl, daß ich mich ein wenig hier umsehe. Fremd in der Gegend, bemerkte ich unten im Tale die Ruine. Der Rundblick oben vom Turme muß schön sein; darf ich mir den Genuß gestatten?«
»Sehr gern,« antwortete der Franzose. »Sehr schönes Panorama, in der Tat.« Mit einem eigentümlich forschenden, schier lauernden Blicke fuhr er fort: »Also fremd in der Gegend – Pardon, Monsieur, so sind Sie vielleicht der fremde Edelmann, der, wie ich höre, bei dem Pfarrer unten im Dorfe zu Besuch ist?«
Herr von Gehren machte ein verwundertes Gesicht. Woher wußte der Franzose von seinem Aufenthalt?
»Allerdings,« sagte er, »Herr Pfarrer Bohnewald ist mein Freund.« Er stellte sich vor.
»Sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen,« erwiderte jener und verbeugte sich. »Mein Name ist de Lorne, Marquis de Lorne. Werden den Namen vielleicht schon gehört haben.«
Der Freiherr lächelte. »Allerdings. Die neuen Besitzer dieses schönen Platzes haben nicht wenig von sich reden gemacht.«
Die Bemerkung klang ziemlich ironisch: der eitle Franzose nahm sie im Ernst. Geschmeichelt versetzte er:
»So so, haben sie? Was werden –« er warf sich in die Brust – »die Umwohner erst für Augen machen, wenn auf den Trümmern des alten Schlosses der Prachtbau erstehen wird, den wir geplant haben. Jetzt sieht es noch wüst hier aus; in einem Jahre wird es schon anders sein. Was ich jedoch fragen wollte: wie ich von unseren Arbeitern höre, soll bei Monsieur Bohnewald letzte Nacht eingebrochen sein?«
Wieder fiel dem Freiherrn der stechende Blick des Franzosen auf.
»Ja, leider,« entgegnete er und sah dem Fragenden fest ins Auge; »die Hallunken sind jedoch überrascht und verjagt worden, bevor sie ihr edles Werk haben vollenden können.«
»Ah,« machte der Marquis. »Darf ich bitten, dem Herrn Pfarrer den Ausdruck meines Bedauerns zu übermitteln? Mag einen schönen Schreck gehabt haben, der arme Mann. Nun, wird jedenfalls inzwischen bei der Polizei Anzeige erstattet haben. Hat man keine Ahnung, wer das Verbrechen begangen hat?«
Der Edelmann zögerte mit der Antwort. »Wie es so geht,« erwiderte er bedächtig, »man vermutet und munkelt so mancherlei, aber auf bloßen Verdacht hängt man bekanntlich die Leute nicht. Die Polizei – je nun, es wird darauf ankommen, in welcher Richtung die Nachforschungen betrieben werden, ob die Polizei im Stande und« – er zwinkerte ironisch mit den Augen – »vor allen Dingen willens ist, die Richtigen zu greifen. Die westfälische Polizei ist ja in mehr als einer Hinsicht berühmt.«
» Oui, oui, die Richtigen!« sagte der Marquis und lachte. Sein Lachen klang unschön: es kam, wie es dem Edelmann schien, ziemlich gezwungen heraus. »Fatal, wenn sie die Unrichtigen erwischten! Doch Monsieur entschuldigt wohl – ich habe hier noch zu tun. Ich wünsche Monsieur einen guten Tag.«
Der Edelmann verbeugte sich und stieg, während jener der Baustelle zuschritt, in tiefen Gedanken die Wendeltreppe im Turme hinan. Auf der Zinne angekommen, ließ er seine Blicke über die Gegend schweifen. Die Rundsicht war in der Tat schön. Eine wellige fruchtreiche Ebene dehnte sich, hie und da von einem kleinen Gehölz unterbrochen, vor ihm in der Tiefe aus. Mühlen, einzelne Gehöfte und Dörflein, von Obst- und Grasgärten malerisch wie von einem Kranze umgeben, grüßten aus dem Grunde herauf, durch den wie ein silbernes Band der Bach sich schlängelte; aus der Ferne winkten, an einen ruinengeschmückten Bergkegel sich anschmiegend, die Dächer und Zinnen der Amtsstadt herüber. Auf der anderen Seite glitt der Blick über eine waldige, von einem engen Tale durchschnittene Berggegend hin. Bewaldete Höhenzüge, zwischen denen hier und da eine größere Kuppe ragte, umrahmten, in der Ferne in blauem Duft verschwimmend, das friedliche Landschaftsbild, das, wenn auch weniger romantisch als die Berge und Täler seiner thüringischen Heimat, dennoch durch seine idyllische Lieblichkeit den Naturfreund entzückte. Nachdem er sein Auge eine Weile an dem Anblick geweidet hatte, trat er den Rückweg an. Unterwegs kam er an einem Dickicht vorbei, aus dem die Stimmen von Frauen und Mädchen klangen, die mit Laubsammeln beschäftigt waren. Ungesehen wollte er vorübergehen, da fesselte ein Wort, das sein Ohr von ungefähr auffing, seine Aufmerksamkeit. Er blieb stehen, lauschte ein Weilchen und ging kopfschüttelnd weiter. Der Inhalt des Gespräches mochte ihn aufgeregt haben; er beschleunigte seine Schritte, so daß er in weniger als einer halben Stunde das Dorf erreichte. Im Pfarrhause angekommen, erfuhr er von Rosa, daß der Oheim oben sei. »Bei dem Handwerksburschen,« fügte sie mit einem bezeichnenden Lächeln hinzu.
»So,« erwiderte er schmunzelnd mit einer gewissen Hast. »So werde ich mir erlauben, ihn oben aufzusuchen. Aber zuvor – hm, Sie erlauben wohl, daß ich hier einen Augenblick eintrete?«
Er trat in das Studierzimmer, kam nach ein paar Augenblicken wieder heraus und stieg die Treppe empor. Nachdem er sich ein Weilchen in seiner Stube zu schaffen gemacht hatte, klopfte er leise an die Tür des Nachbarzimmers an. Das übliche »Herein« blieb aus; statt dessen ward die Tür vorsichtig von innen geöffnet, und der Hausherr erschien auf der Schwelle. Sein ernstes Gesicht erheiterte sich, als er den Freund erkannte.
»Ah, Sie sind es,« sagte er. »Kommen Sie nur herein!«
Der Edelmann folgte der Aufforderung und der Pfarrer verschloß die Tür.
»Ah, hab' ich endlich das Vergnügen,« redete der Eingetretene den überraschten Zimmerbewohner an, »meinen Kameraden aus der Affaire der vergangenen Nacht zu begrüßen? Wollte schon heut morgen herauf, aber Dora sagte, Sie schliefen noch wie ein Murmeltier.«
Der Handwerksbursch machte eine tiefe Verbeugung.
»Große Ehre,« erwiderte er, indem er verlegen in die dargebotene Rechte des Edelmannes einschlug, und ein Lächeln flog über sein Angesicht – ein schwermütiges, trübes Lächeln –, »große Ehre für mich, daß Herr Baron sich heraufbemüht haben, einen armen Handwerksburschen zu begrüßen.«
Um die Mundwinkel des Freiherrn zuckte der Schalk.
»Na nu,« gab er lachend zurück, »Sie müssen mich, auf Parole! für fürchterlich stolz halten. Warum sollte der Baron einem Handwerksburschen nicht einmal guten Tag sagen? Zudem« – fuhr er mit lustigem Augenzwinkern fort – »wer kann wissen, was für ein Märchenprinz oder Göttersohn sich zuweilen unter dem Handwerkerkleide verbirgt?«
Der Wanderbursch machte ein merkwürdiges Gesicht. Fast erschrocken sah er den Redenden an.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr von Gehren?« fragte der Pfarrer. Er bot ihm einen Stuhl.
» Bon, ich nehme an, da ich wirklich etwas müde bin von der Bergsteigerei. Aber« – er sah sich im Zimmer um – »wo bleibt solchermaßen denn Raum für den Dritten? Ich sehe, es sind nur zwei Stühle da.«
»Wenn es weiter nichts ist,« lachte jener, »dem Mangel kann ja leicht abgeholfen werden. Mit Ihrer Erlaubnis hole ich noch einen aus Ihrem Zimmer.«
Er wollte sich entfernen, doch der Freiherr vertrat ihm den Weg.
»Halt, warten Sie,« rief er, »ich selbst hole den Stuhl.«
»Bitte, meine Herren, bemühen Sie sich doch nicht,« bat der Handwerksbursch. »Nehmen Sie die Stühle; ich selbst kann sehr wohl stehen. Oder« – er lächelte – »wenn die Herren auf dem Sitzen bestehen, tut es, wenn Sie erlauben, das Bett ebenso gut.«
»Nun, das ist auch wahr,« bemerkte der Pfarrer, indem er zu seinem Sitze zurückging. »Setzen wir uns also, Herr von Gehren. Wir waren soeben bei unserm nächtlichen Abenteuer. Denken Sie, unser wackerer Freund wäre dabei selbst um ein Haar zu Schaden gekommen. Dora hatte aus Vergeßlichkeit den Mülleimer auf dem Flur stehen lassen; in der Dunkelheit darüber stolpernd, hat er ein paar tüchtige Schrammen davongetragen. Es ist noch gut gegangen. Es hätte auch übler ablaufen können.«
»O – bedaure sehr,« entgegnete der Freiherr. »Die Sache ist richtig. In der Aufregung hab' ich darauf nur nicht sonderlich Acht gehabt. Ja, ja, war das eine Nacht! Aber raten Sie einmal, wo ich gewesen bin?«
»Je nun,« versetzte sein Freund, »wie sollten wir das wissen, Herr von Gehren?«
»Auf dem Moosberge, und habe den häßlichen Marquis gesehen und gesprochen.«
»Was Sie sagen,« rief jener. »Aber das müssen Sie uns genauer erzählen.«
Und der Edelmann erzählte. »Marquis de Lorne,« schloß er und machte dabei ein äußerst ironisches Gesicht, »läßt Ihnen übrigens sein Bedauern über den nächtlichen Unfall ausdrücken: ich glaube aber, das Bedauern galt mehr den Spitzbuben als Ihnen.«
»Wieso den Spitzbuben?«
Der Edelmann zuckte, sich besinnend, die Achseln. »Wissen Sie,« sagte er zögernd, »ich habe da einen ganz eigenen Verdacht, aber ich behalte ihn einstweilen lieber für mich.«
Der Pfarrer sah ihn betreten an. »Wie, Sie halten doch nicht –.« Er lachte plötzlich laut auf. »O gehen Sie doch – Sie sind wirklich unverbesserlich in Ihrem Vorurteil, lieber Freund. Müssen denn just alle Franzosen – und gar ein Mann wie der reiche de Lorne – gemeine Spitzbuben sein?«
»Hm« – Herr von Gehren wiegte bedächtig den Kopf – »alle just nicht, aber die hier – na, warten wir einmal die Sache ab. Aber etwas anderes habe ich noch zu erzählen. Denken Sie, wie ich den Berg wieder heruntergehe, höre ich Weiberstimmen aus einem Gebüsch; ein Wort, das ich zufällig aufschnappte, bewog mich, ein wenig den Lauscher zu spielen, und da kam denn eine schöne Geschichte zu Tage. Das Gespräch drehte sich – nun, raten Sie einmal, – um Sie und um diesen unsern Freund. Es war die Rede von einem flüchtigen Professor, dem die hohe Polizei seit einiger Zeit vergeblich nachgespürt habe, und die Leutlein stritten sich förmlich, denken Sie, um die Frage, ob nicht Ihr Schützling hier der besagte Professor sei. Mehrere Leute, die unsern Freund in der Nacht beobachtet haben wollen, haben das Gemunkel aufgebracht. Sind die Leute nicht wirklich närrisch, so was zu denken?«
Scheinbar harmlos und unbefangen hatte er die Worte so hingesprochen, dabei jedoch scharf den Eindruck beobachtet, den seine Mitteilung bei den andern hervorrief. Der Handwerksbursch war ganz blaß geworden. Ein Lächeln heimlicher Befriedigung flog über die Züge des Freiherrn.
»Seltsam,« fuhr er wie in Gedanken fort, »wie unser eins immer wieder von diesem Professor zu hören bekommt. Erst das Abenteuer auf der Reise – die Geschichte von heute – seltsam, auf Parole!«
»Was für ein Abenteuer, Herr Baron?« fragte der Handwerksbursch. Aus seiner Stimme klang eine mühsam beherrschte Erregung.
»O, ein kleines Erlebnis,« versetzte der Edelmann mit dem unbefangensten Gesicht von der Welt, »etwas, das mir auf der Herreise passierte und das, so betrübend auch die Veranlassung ist, doch nicht einer gewissen Komik entbehrt.«
Er erzählte den Vorgang. Jener lauschte gespannt.
»Ja, ja,« schloß der Erzähler, »auf einer Reise kann man heutiges Tages seltsame Dinge erleben.«
Gedankenvoll sah der Handwerksbursch vor sich nieder.
»Ein seltsamer Vogel übrigens, dieser Professor,« lächelte Herr von Gehren, »gleich dem armen Sternberg, den sie in Kassel erschossen haben, wie ein weißer Rabe unter seinen Kollegen. Diese Herren Akademiker! Die meisten ersterben ja förmlich in Anbetung vor dem Götzen des Tages.«
»Leider Gottes!« seufzte der Pfarrer. »Und einer übertrumpft den andern in wahrhaft blasphemischer, gotteslästerlicher Lobrednerei. Apropos, haben Sie, verehrter Freund, die Rede gelesen, die der kürzlich verstorbene Staatsrat und königliche Staatssekretär, Professor Johannes von Müller, am Schlusse der Ständeversammlung voriges Jahr in Kassel gehalten hat?«
Der Edelmann nickte. Er rezitierte mit Pathos: »›Der, vor dem die Welt schweigt, weil Gott die Welt in seine Hand gegeben, erkannte in Germanien die Vorwache und Brustwehr von Süd und West, von den ersten Hauptsitzen der Kultur Europas. Also für gemeine Politik zu erhaben, gab er Deutschland Festigkeit, gab ihm sein Gesetzbuch, das Muster seiner Waffen, die größten Lehrer und statt gedemütigter Soldaten achtvolle geehrte Bürger. Aus zwanzig Ländern schuf er ein Reich. Konnte er mehr tun? Er setzte darüber seinen Bruder.‹ Das meinen Sie doch? Haha, was wollen wir mehr? Ist es nicht kostbar? Merken Sie sichs: wer in Napoleon nun nicht den Wohltäter der Menschheit, den Beglücker Deutschlands verehrt, der ist kein deutscher Patriot! … Hurrah, es lebe die Phrase! … Der arme Müller!«
»Ja, ja, der arme Müller,« wiederholte der Pfarrer mit Nachdruck. »Und doch kann man nicht leugnen, daß gerade Johannes von Müller der Hydra des Verderbens in seiner Weise noch zu steuern versucht hat, soviel ihm möglich war. Die Erhaltung unserer Universitäten war wesentlich sein Verdienst. Bei dem Könige war er durchaus nicht persona gratissima. die angenehmste Persönlichkeit. Es gehen Gerüchte, daß er an gebrochenem Herzen, aus Kummer über die von Jérome erlittenen Kränkungen gestorben sei. Andere Männer deutscher Abstammung, wie der Finanzminister Malchus, haben in schweifwedelnder Lobhudelei noch ganz anderes geleistet. Der Mann hat die Stirn gehabt, in öffentlicher Versammlung vor deutschen Ohren, hören Sie! folgende Blasphemie Gotteslästerung. laut werden zu lassen: ›In einem Staate, wie der unserige, gibt es keine Vergangenheit! Er ist eine Schöpfung, in welcher, wie bei der Schöpfung des Weltalls, alles, was vorhanden ist, nur als Urstoff in die Hand des Schöpfers und aus ihr vollendet in das Dasein übergeht.‹ Man denke sich: Westfalen gleichsam das Weltall und der Korse – sein Schöpfer! … Aber solche Worte zeigen, bis zu welchem Grade der äußere Erfolg die Menschen zu blenden vermag, sobald sie mit dem Glauben an Gott und sein heilig Wort den rechten Maßstab für die Beurteilung der Dinge verloren haben.«
Herr von Gehren schüttelte sich. »Brr – da könnte einem ja, auf Parole, fast übel werden! Aus deutschem Munde vor deutschen Ohren solche Speichelleckerei – pfui! Wahrhaftig, man kommt bald noch dahin, daß man sich seiner deutschen Abstammung schämt … Daß der allmächtige Gott zu dem allen so schweigen kann, daß er nicht längst dreinfuhr mit Donner und Blitz in dieses Geschmeiß – wahrhaftig, man möchte fast fragen: wo bleibt da seine Gerechtigkeit?«
»Gottes Mühlen mahlen langsam,« entgegnete der Pfarrer ruhig. »Warten wir nur einmal ab! … Item, um Christi willen, in dessen stellvertretendem Strafleiden seiner Gerechtigkeit längst und vollauf ist genuggetan, hat Gott Geduld und gibt Raum zur Buße … Und zudem, dieses Elend, unter dem wir jetzt seufzen, all dieses grenzenlose Elend, wovon die stetig fortschreitende Verarmung des Volkes noch das geringste ist, ist es nicht auch ein Erweis seiner Gerechtigkeit? Deutschland hat jetzt einfach, was es verdient hat durch seinen Abfall von dem lebendigen Gott. Darin wenigstens hat Staatsrat von Müller recht, wenn er irgendwo sagt, alles Erhaltende, als da ist Religion, Vaterlandsliebe, urkundliches Recht, Humanitätsrücksicht u. s. w. sei vorbei … Auch in unsern politischen und sozialen Verhältnissen war vieles faul, überfaul geworden. Ist's ein Wunder, wenn Gott da endlich einmal mit einem Besen des Verderbens hineinfuhr in all den Schmutz, der sich bei uns, so oben wie unten, angehäuft hatte? … Daß unser Volk,« – er seufzte – »daß vor allem doch seine berufenen Führer und Leiter, so geistlichen wie weltlichen Standes, endlich erkennen wollten, was zu ihrem Frieden dient!«
Es entstand eine Pause.
»Sie haben recht,« bemerkte der Freiherr mit großem Ernste und nickte. »Ja gewiß, es stand bei uns in vieler Hinsicht verteufelt schlecht. Schier alle Verhältnisse waren ja vergiftet. In der Kirche der rationalistische Greuel – und wie sah es an den Höfen, in den Schlössern der Adligen aus? Zuchtlosigkeit und Sittenverfall überall! Diese miserabele Gewohnheit, in den Untergebenen nur Gegenstände der Ausbeutung, in fremder und eigener Arbeit nur ein Mittel zur Befriedigung der Genußsucht zu sehen, sie hat es uns angetan … Der Zustand himmelschreiender Rechtlosigkeit, unter dem die sogenannten kleinen Leute, Leibeigene und Hörige vorab, so vielerorten seufzten, die Willkür, mit der auch sonst die Rechtspflege vielfach gehandhabt wurde, der unerträgliche Druck der Frohnden und Abgaben, der auf dem kleinen Bauernstand lastete – sie mußten ja endlich den Umschlag herbeiführen. Auf Parole, wer die Entwickelung, die die Verhältnisse in Deutschland in dem vergangenen Jahrhundert genommen haben, sich mit nüchternen Augen betrachtet, den kann es unmöglich wundern, daß das Geschrei von Freiheit und Gleichheit, das von Frankreich herüberdrang, auch in unserm Deutschland so viel willige Ohren fand, daß so viele Kreise unsers Volkes die Franzosen einfach als Befreier begrüßten. Gerechtigkeit erhöhet ein Volk. Die Ungerechtigkeit hat sich furchtbar gerächt. Daß Gott ein gerechter Gott ist, es hat freilich sich an unserm Adel und Fürstenstande, an unserer Beamtenwelt deutlich erwiesen. Aber auch die freiheitlüsternen Massen – was haben sie nun?«
»Die eiserne Diktatur – die Knute des Korsen,« versetzte der Pfarrer. »So wird eben jeder mit seiner eigenen Sünde gestraft. Ja, diese Freiheit, womit uns die Franzosen beglückt haben! … Uebrigens, stand es schon an unsern deutschen Höfen im Punkte der Sittlichkeit schlecht: es hält doch den Vergleich nicht aus mit dem, was darin von unsern französischen Vorbildern, besonders am westfälischen Hofe, geleistet wird. Und was das Schlimmste ist, das Beispiel dieser lockeren Zeisige steckt an. Wie eine Pest hat die Sittenlosigkeit, unsern Bürger- und Bauernstand vergiftend, um sich gegriffen. Daß Gott erbarm!«
»Vom westfälischen Hofe,« äußerte der Edelmann, »werden allerdings ganz unglaubliche Dinge erzählt. Die Leichtfertigkeit und verschwenderische Ueppigkeit, die dort herrscht, muß in der Tat alles Maß übersteigen. Die Finanzlage des Staates soll mehr als jämmerlich sein, und dabei werden in Kassel Feste über Feste gefeiert und daneben noch fabelhafte Summen an Günstlinge, an elende Emporkömmlinge verschleudert. Hab' ich da neulich eine Beschreibung des diesjährigen westfälischen Karnevals gelesen. Kinder, mag das ein Aufwand gewesen sein. Man denke sich: Männer wie der Minister Reinhard als Anführer des Faschingzuges paradierend, hohe und höchste Herrschaften am Hofe die spanische Quadrille, Schäferballets und dergleichen tanzend, dazwischen Marktschreier, Hanswürste und Possenreißer in Menge, ein Bey mit Harem und Mameluken, ein Jahrmarkt, fleißig besuchte Büffets, am Ende Tafel des Königs und der Königin … Und das alles in einer Zeit, wo jeden Augenblick der Ausbruch des österreichischen Krieges zu erwarten war, der Krieg in Spanien Opfer über Opfer fordert, das Volk in immer größere Verarmung versinkt und das Königreich am Vorabend einer Katastrophe steht; in einer Zeit, wo die fortschreitende Unzufriedenheit sich in allerhand Insurrektionen Luft zu schaffen sucht – man meint, die Menschen wären geradezu närrisch geworden. Aber was red' ich da viel von den Kasseler Fastnachtspossen? Wenn doch unsere kleinen deutschen Fürstenhöfe endlich zur Vernunft kommen wollten! Wie machen sie es da in Weimar? Inmitten alles des Hammers umher ein Kunstenthusiasmus, als hätte man gar kein Auge für die ungeheuren Wunden, aus denen unser Deutschland blutet, als ob für unsere Kunstheroen und Kunstmäcenaten so ein Ding wie dieses geknechtete, zertretene, blutende Deutschland gar nicht vorhanden wäre … Na, ich will stille sein. Der Aerger packt mich, so oft ich daran denke.«
Er stand auf. »Wann reisen Sie, Kamerad?« wandte er sich an den Handwerksburschen, der, einen eigentümlich gequälten Ausdruck im Gesicht, stumm vor sich hinstarrte. Wie aus einem Traume erwachend, hob er langsam das Auge zu dem Fragenden empor. Der Freiherr wiederholte die Frage, doch sonderbarerweise in einem Blick und in einem Tone, daß sie fast wie eine Aufforderung zur Beschleunigung der Abreise klang. Verstand ihn der junge Mann? Jedenfalls hatte er seinen Entschluß gefaßt.
»Noch vor dem nächsten Morgen,« lautete seine ruhige Antwort. Die verwunderte Miene des Pfarrers bemerkend, fügte er gleichsam zur Erklärung mit bittendem Blick hinzu: »Der Herr Pfarrer wird, ich bitte darum, mich gütigst entschuldigen. Da meine Füße so weit geheilt sind, so wäre es wirklich unrecht, Ihnen und Ihrem Hause, lieber Herr Pfarrer, noch länger zur Last zu fallen. Ich schulde Ihnen ohnehin schon so unendlich viel Dank … Gestatten Sie, daß ich noch heut Abend von Ihnen und den Ihrigen Abschied nehme? Sobald der Mond aufgeht, werde ich reisen.«
»Sobald schon, mein Freund?« bemerkte der Pfarrer gütig. »Sie sind uns durchaus keine Last gewesen, im Gegenteil. Und wenn von Danken die Rede sein soll – ich selbst bin es, der hier zu danken hat. Aber ich will Ihrem Vorhaben, zu dem Sie gewiß Ihre Gründe haben, nicht länger hinderlich sein. Ein Paar passende Schuhe – die Ihrigen sind, wie ich bemerkt habe, viel zu weit – habe ich Ihnen bereits besorgt; auch werde ich Ihnen eine Salbe mitgeben, die Füße vor neuem Wundwerden zu schützen.«
Tiefe dankbare Rührung im Blick, sah der Fremdling den Sprechenden an. Er stammelte ein paar Dankesworte, doch der Pfarrer wehrte ab.
»Keinen Dank, mein Lieber, bitte, bitte! Was ich aber sagen wollte: den Abend verleben Sie diesmal bei uns. Darf ich bitten?«
»Sie sind – wirklich – zu, zu gütig, lieber Herr Pfarrer,« erwiderte der junge Mann beinahe verwirrt. »Wenn Sie gestatten, komme ich auf ein Weilchen hinunter.«
» Bon,« fiel der Edelmann ein, »so braucht man ja eigentlich noch nicht Abschied zu nehmen. Auch ich reise morgen. Ich gehe jetzt, meinen Koffer zu packen.«
»Bleiben Sie sitzen!« rief er, als der Handwerksbursch Miene machte, sich zu erheben, und drückte ihn mit beiden Händen sanft auf den Sitz zurück, »nur keine unnütze Höflichkeit!«
Weg war er. Keiner der beiden andern hatte den weißen Gegenstand bemerkt, der bei den Worten seiner Hand entglitten war.
Verdutzt sah der Handwerksbursch nach der Tür, durch die der Freiherr verschwunden war. Auch der Pfarrer war aufgestanden.
»Also, auf Wiedersehen, Freund – Kleinhans!« sagte er, lächelte bedeutsam und reichte ihm die Hand. »Ich lasse Sie rufen.«
Er verließ gleichfalls das Zimmer.
In tiefen Gedanken blieb der Handwerksbursch zurück. Als er sich endlich erhob, fiel sein Blick auf ein weißes Papierblatt, das, in Briefform zusammengefaltet, auf dem Deckbett lag. Er hob es auf und las zu seiner Verwunderung die mit markiger Hand in großen Buchstaben geschriebene Aufschrift: »Meinem wackeren Kameraden.« Als er das Blatt auseinanderschlug, flatterte etwas Buntes heraus – ein Hundertfrankenschein, wie sich nachher erwies –; auf der Innenseite aber standen die Worte:
»Gefahr im Verzuge! Dem flüchtigen Vaterlandsfreunde allezeit zu Dienst, Schutz und jedweder Hilfe bereit
Joachim von Gehren, Freiherr,
Schloß Falkenhagen bei Blankenburg in Thüringen.«
Kopfschüttelnd steckte er das Blatt und den Geldschein zu sich. Aber sein Angesicht leuchtete.
Den Abend verlebte er in der Familie. Es war ein schönes Beisammensein. Pfarrer Bohnewald erzählte von den Ereignissen, die bei dem Ausbruche des Dörnbergschen Aufstandes sich in der nahen Kreisstadt abgespielt hatten, von der heldenmütigen Karoline von Baumbach und ihrer Freundin, der Freiin von Stein, die beide für ihre Teilnahme an dem Aufstande – die erstere hatte für die Aufständigen die Fahne gestickt – durch Gefangenschaft büßen mußten. Des flüchtigen Professors wurde wie auf Verabredung nicht weiter gedacht. Der Wanderbursch hörte dem, was die beiden Herren verhandelten, aufmerksam zu; er selbst nahm nur wenig an den Gesprächen teil. Auch Rosa verhielt sich auffallend still; unser Fremdling, der sie heimlich beobachtete, bemerkte, daß sie blaß und ernst aussah. Ihre Wimpern waren gesenkt; von zu Zeit aber flog – eine Wahrnehmung, die ihn beglückte – ein schüchterner Blick warmer Teilnahme zu ihm herüber.
Als man sich – etwas früher als sonst – Gutenacht sagte, geschah es mit besonderer Herzlichkeit. Der Gedanke, ob man einander wohl je im Leben wieder begegnen werde, bewegte die Gemüter. Der warme Händedruck und der dankbare Blick, mit dem der Wanderbursch, ohne seines Fundes zu erwähnen, sich von dem Freiherrn verabschiedete, bezeugte diesem, daß seine Absicht verstanden worden war.
Es war gegen zwei Uhr in der Nacht, als unser Fremdling sich nach kurzem Schlummer von seinem Lager erhob. In bloßen Socken schlich er, die schlummernden Hausbewohner nicht zu stören, die Treppe hinab. Ein Lichtschimmer fiel auf den Flur. Der Ursache nachspürend, bemerkte er, daß in der Küche schon Licht brannte. Er wunderte sich, trat zögernd näher und sah durch die halboffene Tür Rosa am Herde stehen. Ein unsagbar warmes Gefühl durchströmte ihn bei dem Anblick. Ein leiser Ruf: »Fräulein Rosa!« erreichte ihr Ohr. Sie wandte sich um. Tränen standen in ihren Augen.
»Sie sind noch früher aufgestanden als ich?« fragte er. Eine tiefe Rührung zitterte durch seine Stimme.
»Ich werde Sie doch nicht ohne Morgenimbiß ziehen lassen,« sagte sie einfach. »Kommen Sie nur herein, die Suppe ist soeben fertig.«
»Aber das wäre doch nicht nötig gewesen, Fräulein Rosa. Sie haben mich ja schon am Abende mit allem nötigen so reichlich versorgt.«
»Das ist für den Weg,« erwiderte sie. »Ohne etwas Warmes sollen Sie doch nicht in den feuchten Morgennebel hinausgehen.« Ihr jähes Erröten zu verbergen, wandte sie sich hastig ab und füllte den Teller.
Er schlüpfte in die neuen Schuhe, die ihm der Pfarrer verehrt hatte, und trat in die Küche. Als er gegessen hatte, stand er auf. Sie begleitete ihn über den Flur und öffnete die Haustür. Er reichte ihr die Hand.
»Leben Sie wohl, Fräulein Rosa,« sagte er mit verschleierter Stimme und sah ihr bewegt mit tiefernstem Blick in die Augen. »Wills Gott, kommt früher oder später noch einmal ein Tag, wo ich meiner Dankbarkeit in besserer Weise, als ich es jetzt vermag, werde Ausdruck geben können. Leben Sie wohl und vergessen Sie des armen Wanderburschen nicht, dessen Herz in unauslöschlicher Dankbarkeit ewig für Sie und«, setzte er schnell sich besinnend hinzu, »Ihren teuren Herrn Oheim schlagen wird.«
Das Wort hat Rosa ihr Lebenlang nicht vergessen. Ihre Blicke folgten ihm den Hof hinab. Noch einmal wandte er sein Angesicht und schwenkte grüßend den Hut. Im nächsten Augenblicke war seine schlanke Gestalt um die Ecke verschwunden.