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Die großen Ereignisse, die seit dem Aufenthalt unserer Freunde in dem Pfarrhause zu Vernau sich auf der Weltbühne abgespielt hatten, hatten in den äußeren Verhältnissen des Pfarrhauses nichts geändert. Nach wie vor waltete der Pfarrer seines verantwortungsvollen Amtes – eines Amtes, dessen segensreiche Bedeutung erst in jenen Tagen der Not vollauf von der Gemeinde gewürdigt ward –, und nach wie vor stand Rosa, von der alten Dore treulich unterstützt, seinem Hauswesen vor. Einfach und anspruchslos, still und zufrieden ihren häuslichen Pflichten lebend, ein echtes Hausmütterchen, wie sie der alte Herr oft scherzend nannte, wandelte sie eine Zeit wie die andere ihren Weg. Das einzige Vergnügen, das sie sich gönnte, war der Verkehr mit ihren Freundinnen, den Töchtern benachbarter Pfarrfamilien und einigen jungen Mädchen der Amtsstadt, mit denen sie sich in Gesinnung und Lebensanschauung eins wußte. Und doch schlummerte, wie in jeder jungen Menschenbrust, so auch in diesem Mädchenherzen die Sehnsucht nach einem Glücke, das nicht in dem Rahmen dieser friedevollen Häuslichkeit beschlossen war. Seit den Tagen, da jener geheimnisvolle Fremde in ihren Gesichtskreis getreten war, trug sie ein Bild im Herzen, das – sie wußte es – keine Macht der Welt wieder daraus verdrängen konnte. Sie wußte eigentlich so viel wie nichts von seinen Verhältnissen, hatte keine Ahnung wie es ihm weiter ergangen – dennoch wallte ihr Herz, wenn sie auch ihn sich unter den Tausenden dachte, die jetzt für die Freiheit des Vaterlandes hochherzig und hochgemut auf der Wahlstatt ihr Leben wagten. Unvergeßlich war der Blick, waren die Worte, womit sich Friedrich an jenem Morgen von ihr verabschiedet hatte, in ihrem Geiste haften geblieben. Von dieser Erinnerung zehrte ihr Herz alle die Jahre her; sie war es, die in das Dunkel der Gegenwart wieder und wieder ihren verklärenden Schimmer warf, die trotz der Unsicherheit der Zeitverhältnisse, trotz der Ungewißheit seines eigenen Loses die Pforten der Zukunft ihr mit dem leuchtenden Grün der Hoffnung umrankte. Immerhin geschah es, dank der verständigen Erziehung, die sie genossen hatte, nicht allzu oft, daß sie, sich wiegend in goldenen Zukunftträumen, in beglückenden Träumen von Lenz und Liebe, sich solcherweise an den Gebilden ihrer Traum- und Gefühlswelt berauschte. Sie schalt sich selbst wiederholt eine Törin, daß sie, ein einfaches Landmädchen, so überspannte, hochfliegende Hoffnungen nähren könnte, und genoß darin stets um so dankbarer das Glück, das ihr die Gegenwart bot, das ihr, der Waise, in dem traulichen Heim ihres Oheims mit seinen mancherlei häuslichen Freuden erblüht war.
Es war eines Abends, gegen Ende September, als sie von dem Besuche bei einer Freundin zurückkehrte. Ihr Gesicht war auffallend gerötet; ohne erst Hut und Mäntelchen abzulegen, eilte sie nach dem Studierzimmer des alten Herrn, der, über ihre Erregtheit verwundert, in fast erschrockenem Tone fragte:
»Kindchen, was hast Du? wie siehst Du aus?«
»Denken Sie,« rief Rosa, »die wunderbare Neuigkeit, lieber Ohm: auf der Kasseler Straße sind Kosaken gesehen worden. Was sagen Sie dazu?«
»Kosaken? Russen?« fuhr der Pfarrer in ungläubigem Erstaunen auf. »Nicht möglich, Kind!«
»Bertha und ihre Eltern behaupten es aber ganz bestimmt, Herr Ohm,« beharrte die Nichte. »Bauern des Dorfes hätten sie gesehen, wilde Männer mit struppigen Bärten und langen Lanzen; der Beschreibung nach kann es unmöglich Täuschung sein.«
Der Pfarrer war aufgestanden.
»Wenn das wahr wäre, Herr mein Gott!«
Jetzt selbst von einer plötzlichen gewaltigen Erregung ergriffen, durchmaß er mehreremale das Zimmer mit großen Schritten.
»Herr Gott, wenn das wahr wäre!« wiederholte er. »Was für Dinge müssen geschehen sein, daß das – das möglich ist … Und wie hat man uns wieder mit erlogenen Siegesnachrichten geäfft!«
»Gelt, Herr Ohm,« fragte Rosa, und ihre Augen leuchteten, »jetzt hat die Geschichte in Kassel bald ein Ende?«
»Gott gebe es, Gott gebe es, Kind! … Herr Gott, sollt' es möglich sein?«
Und erregt nahm er seine Wanderung wieder auf.
Rosa schlüpfte aus dem Zimmer, die Neuigkeit Dore mitzuteilen. Der Alten, die gerade in der Küche beschäftigt war, fiel vor freudigem Schreck eine Schüssel mit frischem Salat aus der Hand, daß sie klirrend zerbrach und der Inhalt samt Brühe umherfloß. Entsetzt über ihr Ungeschick schlug sie beide Hände über dem Kopfe zusammen.
»O Kindchen,« rief sie verzweifelt, »da sehen Sie nun – das Unglück, o das Unglück!«
»Unglück, Dore?« Rosa lachte. »Ganz im Gegenteil, Dorchen. Scherben bedeuten Glück, sagen die Leute. Freue dich, Dore, Hessenland wird wieder frei, hurrah!«
Und in ausgelassener Lustigkeit ergriff sie die Alte an den Schultern und tanzte mit ihr die Küche entlang …
Der Tag sollte jedoch nicht zu Ende gehen, ohne eine neue ganz ungeheuerliche Überraschung zu bringen.
Die Dämmerung war eingebrochen, die Hausgenossen hatten in des Pfarrers Studierstube sich gerade zum Abendbrot niedergesetzt, als auf dem Wege von Friedendorf her drei Reiter das Dorf heraufjagten und gleich darauf in den Pfarrhof einbogen. Verwundert fuhren die Schmausenden vom Tische auf und eilten ans Fenster. Sie erblickten einen Reiter, der zwei Pferde an den Zügeln hielt; die Uniform war ihnen fremd. Seine Genossen waren nicht mehr zu sehen; sporenklirrend waren sie bereits die Treppe herauf, die zum Hause führte. Der Pfarrer eilte die Tür zu öffnen – da standen sie schon auf der Schwelle, und eine vor freudiger Erregung zitternde tiefe Männerstimme rief in die Stube herein:
»Grüß Gott, lieber alter Freund, Fräulein Rosa, grüß Gott! Na, kennen Sie uns nicht?«
Und schon fiel Herr von Gehren – er war es – dem vor Verwunderung ganz erstarrten Pfarrherrn um den Hals. Sein Begleiter näherte sich mit tiefer Verbeugung dem Fräulein; beider Augen begegneten sich – und plötzlich flog es wie der Schein eines freudigen Erkennens durch ihre Züge. Das Gesicht bald blaß bald rot vor tiefer Erregung, stieß sie bebend die Worte hervor:
»Ist's möglich, unser damaliger –«
»Handwerksbursch, alias Professor von Grandenborn,« fiel jener ihr lächelnd ins Wort. »Ja ja, er ist's – der Flüchtling, der einst hier so unvergeßliche Tage verlebte. Wie hätte ich an dem Hause vorübergehen können, das –« er stockte; flüsternd fuhr er fort: »das wiederzusehen mich jahrelang eine so heftige Sehnsucht zog?«
Er beugte sich nieder, die Hand zu küssen, die sie, über und über erglühend, ihm in holder Verwirrung entgegenstreckte, und trat zurück, den Hausherrn zu begrüßen, den der Freund inzwischen freigegeben hatte. Eine mächtige Bewegung zuckte durch die Züge des alten Herrn. Tränen rannen über seine Wangen, und seine Stimme zitterte, als er die Begrüßung des ehemaligen Flüchtlings erwiderte.
»Welch ein Wiedersehen!« stammelte er. »Nein, Sie, mein teurer Herr Professor, noch einmal, dazu unter solchen Umständen unter meinem Dache begrüßen zu dürfen – meiner Seel', an die Freude hätte ich nimmer gedacht! Sie, damals ein politisch Verfolgter, verkappt in die Maske eines Handwerksburschen, jetzt einer der Helden, die berufen sind, dem Tyrannen das blutige Handwerk zu legen – welche Wunder müssen geschehen sein, die diese Wandlung von damals auf heute ermöglicht haben? Ich heiße Sie ebenso wie meinen alten Freund, Herrn von Gehren, willkommen!«
Er schüttelte ihm die Hände. Einer plötzlichen Gefühlswallung nachgebend, fiel ihm Friedrich von Grandenborn um den Hals, küßte ihn auf die Wange und rief:
»Mein lieber teurer Wohltäter, wie sehr, o wie sehr danke ich Ihnen!«
Dore trat ein. Sie war während der Begrüßung hinausgegangen. Mit tränenüberströmtem Gesicht, ein Tragbrett mit zwei neuen Gedecken in den Händen, näherte sie sich dem Tische.
»Dore, das hast Du brav gemacht,« rief der Hausherr fröhlich, »Du denkst an das Praktische. Ich hoffe, Du lässest auch den dritten, den Soldaten auf dem Hofe, nicht zu kurz kommen. Und nun –«
»O die gute alte Dore,« unterbrach Friedrich den Sprechenden, »meine treue Wärterin von dazumal – grüß Euch Gott, Mütterchen!« Er streckte ihr die Hand entgegen.
Dores Auge leuchtete. Sie stellte das Tragbrett auf den Tisch, fuhr verlegen ein paarmal mit der Schürze über ihre schwielige Hand, knixte und reichte sie ihm mit den Worten dar: »Grüß Gott, gnädiger Herr! Na, und nun gelt, Mamsellchen, jetzt hab' ich mal wieder Recht gehabt? Hab' ich's nit immer gesagt, der Musje is kein Handwerksbursch?«
Alle lachten.
»Na, Dore,« rief der Freiherr, »und mich habt Ihr hoffentlich auch nicht vergessen?«
»O wie sollte ich doch?« Sie schüttelte ihm kräftig die Hand und schlüpfte dann eilig hinaus, um mit Rosa, die sich inzwischen entfernt hatte, das Mahl zu vervollständigen.
»So, und nun nehmen Sie Platz, meine Herren!« bat der Hausherr und rieb sich überglücklich die Hände. »Lassen Sie sichs gefallen, unser bescheidenes Mahl mit uns zu teilen. Nein, ist das eine Freude!«
Er flüsterte Rosa, die wieder eingetreten war, etwas zu. Sie nickte und eilte, ein reizendes Lächeln auf den Lippen, hinweg. Die Herren legten ihre Mäntel, Dolmans und Säbel ab und machten es sich am Tische bequem. Gleich darauf kehrte Rosa mit Gläsern und ein paar stark verstaubten Flaschen zurück. Der Hausherr entkorkte die Flaschen, schenkte die perlende Flüssigkeit ein und erhob sein Glas. In tiefer Bewegung hob er an:
»Meine Herren, teuerste Freunde, diesen Tropfen eines guten alten Rheinweins habe ich mit Fleiß verwahrt und aufgespart auf den Tag, an dem ich die Erfüllung einer meiner letzten und zugleich schönsten Erdenhoffnungen würde erleben dürfen: die Befreiung meines Vaterlandes von dem schmachvollen Joche der Fremdherrschaft. In dieser Stunde glaube ich, daß diese Hoffnung, festgehalten alle die Jahre her, mich nicht betrog. Die Erfüllung – das verbürgt mir Ihr heutiger Besuch – steht vor der Tür. Lassen Sie uns, meine Herren, anstoßen auf eine glückliche Zukunft, auf –«
Die Stimme versagte ihm.
»Auf den Sieg des Rechts und der Wahrheit!« ergänzte Herr von Gehren den Satz.
Mit hellem Klange stießen die Gläser an einander. Das war eine fröhliche Mahlzeit! Die Speisen – eine Mehlsuppe, Schwarzbrot und Gartensalat, Gerichte, denen Dore auf Rosas Geheiß noch einen schnellgebackenen Eierkuchen und als Nachtisch ein Kompot von Früchten hinzugefügt hatte – konnten kaum einfacher sein; dennoch mundeten sie den beiden Offizieren trefflicher als die köstlichsten Leckerbissen an der vollbesetzten Tafel eines Schlemmers. Frohsinn und Dankbarkeit würzten das Mahl.
»Nun sagen Sie mir aber doch,« nahm, nachdem der erste Hunger gestillt war, der Pfarrer das Wort, »wie ich das große Glück mir erklären soll, daß ich Sie so unverhofft bei mir sehe. Wir hörten von einer großen Schlacht bei Dresden, in der die Verbündeten sollten total auf das Haupt geschlagen sein. Dann tauchten wieder Gerüchte auf, die von Siegen der Alliierten berichteten. Sie wurden jedoch im Moniteur sofort dementiert oder doch so unbedeutend geschildert, daß man wieder einmal nicht wußte, woran man war, was man von dem Zeitungsgefasel denken sollte.«
»Ganz die alte Napoleonische Lügentaktik,« lachte Herr von Gehren. »Nun, die Sache ist bald aufgeklärt.«
Er berichtete den Verlauf der letzten Ereignisse. Aufmerksamere Zuhörer hat wohl selten ein Redner gefunden, als Herr von Gehren an jenem Abend im Pfarrhause von Vernau. Ihre Blicke hingen an seinen Lippen. Wie aber horchten sie auf, als jener am Schlusse seiner Mitteilungen des Auftrags erwähnte, der die Freunde in diese Gegend geführt hatte!
»Wir zogen,« fuhr der Erzähler fort, »über Mühlhausen in das Werratal, wo unsere Ankunft einen wahren Sturm der Begeisterung hervorrief. General Bastineller, der an der Werra ein westfälisches Korps befehligt, wagte keinen Angriff; unangefochten setzten wir unsern Marsch fort. In Eschwege wurde ein Stündchen gerastet, doch die Hoffnung unseres Freundes, seine dort lebenden Angehörigen, besonders Mutter und Schwester, wiederzusehen, erfüllte sich nicht. Die Damen seien verreist, hieß es; wohin jedoch, darüber konnte uns niemand im Hause Aufschluß geben, und zu weiteren Nachforschungen fehlte uns leider die Zeit. Es war, auf Parole, eine arge Enttäuschung. Auch ich hätte gar zu gern ihre Bekanntschaft gemacht. Na, es war nichts … Noch in Eschwege trennten wir uns von dem General. Während jener die Richtung auf Kassel einschlug, eilten wir mit unsern Husaren und einigen Kosaken südwärts, den Duc de la Garde aufzuheben, haben jedoch hier abermals eine Enttäuschung erlebt. Auf Parole, der Kerl muß Lunte gerochen haben; das Nest war leer, weder in Stube noch Kammer, weder in Keller noch Speicher etwas Lebendiges zu entdecken. Das Schloß, wirklich ein prachtvoller Bau, bot ein Bild der Unordnung dar, alle wertvolleren Sachen, Möbel, Bilder und dergleichen, waren verschwunden, Lebensmittel jedoch noch genug vorhanden, an denen sich jetzt, indes wir hier weilen, unsere Husaren gütlich tun. Soviel den Duc betrifft, ist also unsere Expedition als gescheitert zu betrachten, leider!«
Eine Stille folgte seinen Worten.
»Merkwürdig,« nahm Pfarrer Bohnewald endlich das Wort, »so haben Sie, mein Herr von Gehren, gewissermaßen doch recht behalten mit ihren damaligen mir so sonderbar erschienenen Mutmaßungen. Nein, diese mit ihrem Reichtum, ihren Titeln prunkenden Herren sich als elende Spione, mit dem Verdachte beabsichtigten Meuchelmordes belastet, als Verbrecher gebrandmarkt zu denken – – es scheint schier unglaublich … Aber durch Ihre Erzählung, lieber Freund, fällt ein seltsames Licht auf einen Vorgang, der sich vor einigen Tagen auf dem Schlosse abgespielt hat; vielleicht wird auch Ihnen, meine Herren, wenn Sie die Geschichte erfahren, manches erklärlicher sein. Rosa, erzähle einmal den Herren, was Ihr, Du und Dore, kürzlich erlebt habt.«
Errötend kam Rosa dem Wunsche nach.
»Unsere Dore und ich,« begann sie, »waren in den Wald gegangen, Heidelbeeren zu suchen, die gerade am Moosberge in üppigster Fülle wachsen. Wir hatten, beide eifrig pflückend, uns von einander getrennt; auf einmal kommt die Dore ganz verstört, bleich vor Entsetzen, den Berg heruntergerannt. Verwundert, halb im Scherze frage ich sie, was ihr fehle, sie hätte wohl am helllichten Tage das Gespenst vom Schlosse, den verwunschenen alten Herrn gesehen? Aber sie ergriff in heller Aufregung meinen Arm und zog mich fort: ›Mamsellchen, kommen Sie, kommen Sie – es ist nicht geheuer im Walde!‹ und rief dabei ein über das anderemal: ›o Gott, o Gott!‹ ›Ei, Dore,‹ frage ich erschrocken, ›was hast Du nur?‹ ›Ich werd's Ihnen erzählen, Kindchen,‹ keuchte sie, ›aber jetzt nur fort – fort aus dem Walde!‹ Dabei stöhnte sie in so herzbrechender Weise, daß mir selbst wirklich anfing, bange zu werden. Erst als wir das offene Feld erreichten, wurde sie ruhiger, und nun kam stoßweise die schreckliche Mordgeschichte heraus. Während sie in einem Dickicht Beeren pflückte, hätte sie, zufällig aufblickend, einen kohlrabenschwarz gekleideten Mann gesehen, der, ganz in der Nähe am Rande des Dickichts an eine Eiche gelehnt, mit glühenden Augen vor sich hingestarrt hätte. Der Schreck sei ihr durch die Glieder gefahren bei dem Anblick; aber dann habe sie sich besonnen, es müsse der Herren einer vom Schlosse, der Duc de la Garde, sein. Aber aus Angst, von dem Herrn entdeckt zu werden, hätte sie nicht gewagt, ein Glied zu rühren. Plötzlich hätte sie Hufschlag gehört. In hellem Galopp sei ein Reiter den Waldweg heraufgesprengt, der sei so schrecklich erhitzt gewesen und das Roß mit Schaum bedeckt: wie er des Herrn sei ansichtig geworden, hätte er Halt gemacht, der Herr sei auf ihn zugegangen und habe ihm etwas zugerufen in einer fremden Sprache, das wie eine Frage geklungen habe. ›Tut perdü,‹ habe der andere geantwortet. Mit dem Worte sei er vom Pferde gesprungen, habe aus seinem Busen ein Papier hervorgelangt und es dem Herrn übergeben. Der sei sogleich ganz aschfahl geworden, hätte mit zitternden Händen das Papier entfaltet, jedoch kaum einen Blick auf die Schrift geworfen, als er, einen Ausdruck furchtbarer Wildheit im Angesicht, mit einem schrecklichen Fluche davon gestürzt sei. Als sie, die Dore, sich darauf nach dem andern umgesehen habe, sei auch er verschwunden gewesen, wie durch die Lüfte davon geführt. Da, erzählte sie, hätte sie das Entsetzen gepackt. Wie sie, über Stock und Stein stürzend, mit heiler Haut davongekommen, sei ihr selber ein Rätsel. So unsere alte Dore. Ich war zuerst geneigt, das Ganze für ein Gebilde ihrer lebhaften Phantasie zu halten – sie ist so ängstlich, dabei etwas abergläubisch –, aber auch ich hatte die Hufschläge gehört und wußte deshalb nicht, was ich aus der Geschichte machen sollte. Aber am andern Tage lief ein seltsames Gerücht durch das Dorf: das Schloß sei ausgestorben. Es war wirklich so: noch in derselben Nacht hatte die Herrschaft mit Kind und Kegel das Schloß verlassen. Niemand hat seitdem wieder etwas von der Gesellschaft gesehen.«
Rosa schwieg. Die Krieger, die während ihrer Erzählung kein Auge von ihr verwandt hatten, sahen einander betroffen an.
»Das ist ja eine sonderbare Geschichte,« bemerkte Friedrich von Grandenborn. »Sollte trotz der Internierung der Marquis vielleicht Gelegenheit gefunden haben, seinem Spießgesellen Nachricht zu geben?«
Herr von Gehren zuckte die Achseln. »Sicher, wie soll man sich's anders erklären?« sagte er. »Na, wissen Sie, bei den Österreichern, bei den gemütlichen Herren Holters, denen Fürst Wittgenstein den Kerl überließ, ist manches möglich. Werden wieder mal nicht aufgepaßt haben, das leichtsinnige Volk. Hoffentlich haben sie ihn nicht selber entschlüpfen lassen. Das wäre dann erst eine verwünschte Geschichte, auf Parole!«
»Der Tausend auch,« rief Friedrich aufgebracht, »wenn das – es wäre wirklich zu toll. Nun müßte nur noch unser Handstreich auf Kassel mißglücken, dann wäre die Blamage erst vollständig.«
»Ihr Handstreich auf Kassel,« nahm Pfarrer Bohnewald nach einigem Besinnen das Wort, »wird, ich hoffe es zuversichtlich, guten Erfolg haben – jedenfalls den Erfolg, daß dem leichtsinnigen Könige und seinem ebenso leichtsinnigen Hofstaate einmal ein gehöriger Schreck eingejagt wird. Ich hoffe jedoch noch mehr. Vielleicht gelingt es Ihnen, nachdem der verräterische Duc Ihren Händen entschlüpft ist, dafür den König selbst mitsamt seinem Eulenneste von Schranzen und Schmarotzern aufzuheben. Lassen Sie uns darauf anstoßen, meine Herren.« Er erhob sein Glas: »Auf ein glückliches Gelingen!«
Sie stießen miteinander an.
»Bravo, lieber Freund,« rief Herr von Gehren. »Hoffen wir das Beste. Vielleicht, daß uns ein glücklicher Zufall am Ende auch noch den Duc in die Hände spielt. Apropos, da fällt mir soeben die alte Geschichte, jener nächtliche Einbruch, wieder ein; welchen Erfolg hat eigentlich die damalige Untersuchung gehabt?«
Des Pfarrers Stirn umwölkte sich. »Gar keinen,« erwiderte er. »Nicht eine Spur ist bei der Untersuchung herausgekommen. Uns aber hat sie noch viel Schererei gebracht.«
Herr von Gehren machte ein merkwürdiges Gesicht. »Dacht' ich mirs doch,« sagte er und trommelte mit den Fingern auf dem Tische. »Ja, ja, die vortreffliche westfälische Polizei!«
Er stand auf. »Es wird jedoch Zeit, daß wir aufbrechen. Wollen Sie, bitte, das Gratias sprechen, lieber Freund.«
»Wie, Sie müssen schon fort?« fragte schmerzlich überrascht, Pfarrer Bohnewald in bedauerndem Tone. »Ich hoffte ganz bestimmt, wenigstens die eine Nacht Sie als meine Quartiergäste behalten zu dürfen.«
Rosa war bleich geworden. Erwartungsvoll sah sie den Freiherrn an.
»Es geht nicht, lieber Freund,« versetzte dieser. »Wir müssen zu unseren Leuten zurück. Bevor morgen der Tag anbricht, müssen wir vor den Toren von Kassel stehen. Der General wird sicher schon dort sein.«
Der Pfarrer widersprach nicht länger. Sie brachen auf. Als Friedrich von Grandenborn sich nach Rosa umsah, war sie verschwunden. Bedauernd baten die Freunde den Oheim, ihr einen Gruß zu vermelden. Da, als beide, nachdem sie sich bereits von dem Pfarrer verabschiedet hatten, den Flur betraten, kam Rosa die Treppe herab. Sie hatte geweint. Noch hingen die verräterischen Tropfen an ihren Wimpern.
»Sieh doch,« rief Herr von Gehren, »da ist ja unsere kleine Fee. Wir glaubten schon auf das Glück verzichten zu müssen, persönlich von Ihnen Abschied zu nehmen. Leben Sie wohl, Fräulein Rosa! Fristet uns Gott das Leben, werden Sie sicher noch von uns hören.«
Er reichte ihr die Hand.
»Gott behüte die Herren,« sagte sie leise. Aus ihrer Stimme klang es wie verhaltenes Schluchzen.
Herr von Gehren entfernte sich. Der Pfarrer begleitete ihn. Friedrich zögerte noch. Er hatte des Mädchens Hand ergriffen; sie zitterte in der seinigen. Er sah sie an; schüchtern, das Gesicht halb abgewandt, um das verräterische Zucken ihrer Lippen zu verbergen, schlug sie vor seinem Blicke die Augen nieder. Hingerissen von Liebe und Leidenschaft, wäre der sonst so ruhige Mann um ein Haar der Versuchung erlegen, sie an seine Brust zu ziehen; gewaltsam kämpfte er das Drängen seines Herzens nieder. Mit einem Blicke, in dem sich die tiefe Glut seiner Empfindungen spiegelte, flüsterte er:
»Fräulein Rosa, teuerstes Mädchen, leben Sie wohl!«
Er beugte sich nieder, hauchte einen Kuß auf ihre Hand und eilte hinaus. Herr von Gehren saß schon zu Pferd. Wenige Augenblicke später trabten beide, von dem Reitknecht gefolgt, die Straße hinab.
Der Pfarrer und Dore sahen im Abenddunkel den Kriegern nach, so lange noch etwas von ihnen zu sehen war. Rosa blieb unsichtbar.