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Lu gießt immer wieder ein, stopft ihn mit Schokolade, Ingwer, Ananas voll, ... ungekannte Köstlichkeiten! und außerdem durfte er sie eigentlich nicht essen. »Ich wußte gar nicht, daß Ihr Sinn so heilig ist, Fritz«, sagte sie, »eigentlich redete ich mir ein, Sie wären in letzter Zeit viel weltlicher eingestellt, Fritz!«

Aber Paul Gumpert kann seine Beziehungen zum Theater nicht verleugnen. Er neigt lächelnd den dicken blassen Kopf mit der Glatze zu Fritz Eisner hinüber. »Wir stehen gleich jenen in der Sünder Reihe«, meint er ... und dann nach einer Pause, indem er seinen dicken blassen Kopf mit der Glatze zu Lu hinüberneigt. »Verzeih'n wir drum, damit man uns verzeihe!« Und das Gespräch geht weiter.

Lu holt glatte Silbersachen in schlichten Empireformen, die sie erworben hat, nimmt alte Flakons und zierlichste Porzellandosen – ihre Spezialität – aus dem kleinen Eckschrank, Fulda, Höchst und Frankenthal ... zeigt französische Farbstiche und Rötelblätter ... man spricht über Expressionisten, Lu verteidigt sie gegen Paul Gumpert. Sagt, daß »jemand« aus ihrem Bekanntenkreis jetzt welche sammeln möchte. Die kommen sicher noch.

»Auf wie lange?« meint Fritz Eisner. Er ginge bis Pechstein noch mit, weiter nicht mehr. Sein Weltbild, sein Landschaftsgefühl wäre – so zu sprechen, wie Kerr meint – von den Impressionisten aufgesäugt worden. Er könne nun mal nicht hinter jeder neuen Fahne herlaufen.

»Alle zwanzig, dreißig Jahre«, unterbricht Lu, »stirbt ein Ideenmakrokosmos aus, schreibt Ihr irischer Freund George Moore.« Fritz Eisner lächelt: Richtig, er hat das Buch auch Nuck wieder geschenkt: ›Die Liebesleute von Orelay‹ steht auch drin.

Paul Gumpert spricht vom Theater. Er ist merkwürdig gut informiert darüber. Aber Lu sagt, daß sie wenig ins Theater jetzt käme, da ihr Mann von der Stunde der Kriegserklärung an kein Theater mehr betreten hätte. Er meint, wir hätten kein Recht zu so etwas hier drinnen, wenn die da draußen im Dreck liegen. Aber Fritz Eisner hat keine Lust über Theater zu reden und empfiehlt lieber Lu ein paar neue Bücher, die in der Schweiz erschienen sind, und die man der Tendenz wegen lesen müsse. Auch die »Weißen Blätter«. Er hatte die letzten Hefte gerade noch bekommen. Merkwürdig – oder nicht merkwürdig! –, das freie Wort in Deutschland muß in die Schweiz flüchten. Das freie Wort in Frankreich muß in die Schweiz flüchten. Und das Englands konnte im Lande bleiben. Ob die Bücher nebenbei gut oder schlecht wären, könne er nicht sagen. Denn eigentlich verstände er nichts von Literatur. Die anderen protestieren. Nennen es Koketterie. Aber Lu meint zum Schluß, daß er doch damit vielleicht recht hätte.

Von allem redet man. Aber es ist, als ob man sich verabredet hätte, weder vom Krieg noch von der Lage sonst zu sprechen. Das sind nur die täglichen Dinge. Dinge, die einen anständigen Menschen nichts angehen. Das fühlt jeder. Und die anderen bleiben. Sie sind die eigentlichen Werte. Krieg und Revolution sind Belanglosigkeiten dagegen.

»Wißt ihr«, meint Fritz Eisner und knabbert behaglich (aus diesem Sessel sollte man überhaupt nicht mehr aufstehen: »wenn du auf einem Sofa sitzt und du sitzt gut da, stehe nie auf«, sagt Turgenjew zu Ludwig Pietzsch, »denn du kannst nie wissen, ob du es noch einmal so gut in deinem Leben haben wirst«), behaglich knabbert er an einem Weißbrötchen mit Butter und Lachsschinken ... Gibt es denn so etwas noch. Weißbrot, Butter und Lachsschinken! Ein so seltenes Zusammentreffen, wie die Himmelskonstellation bei einem Venusdurchgang. »Wißt ihr, daß ich, wie wir hier sitzen und über Impressionisten und Expressionisten und Primitive und römische Gläser reden, eigentlich ein ganz klein wenig an die französischen Aristokraten denken muß, die Menuett tanzten und einander mit zierlichen Bonmots bewarfen, während die schon draußen die Guillotine schmierten, und Samson in der Tür erschien, um die Namen der Nächsten für den Karren aufzurufen.«

»Ach was«, näselte Paul Gumpert lachend und streckt sich behaglich, »Schwarzseher dulde ich nicht!«

»Früher sind die Revolutionen vom Bürger gemacht worden und vom Literaten – heute nicht mehr. Dieses Mal geht's auch nicht um die Aristokratie oder nur so nebenher, denn die zählt ja nicht mehr. Dieses Mal geht's um die Bourgeoisie; – und das sind wir. Das heißt, das ist nicht richtig. Ich zum Beispiel habe nie zur Bourgeoisie gehört, aber ich bin immer ein Bürger gewesen – auch in jenen Jahren, wo ich nur ein verirrter Bürger war. Immerhin, es täte mir sehr weh, wenn der Bürger aus der Welt verschwinden sollte. Sie, Lu, kämpfen, wie Sie mir mal sagten, darum, ›im Bürgerlichen zu enden‹, wie es in Schnitzlers ›einsamem Weg‹ heißt. Haben Sie noch mal an das Buch gedacht?«

Lu nickte. »Bittscheen, ich denk' sogar täglich daran«, sie kopierte einen Wiener – so etwas machte sie sehr lustig. Dialekte lagen ihr, »genädigster Herr von Eisner.«

»Ich fürchte, es wird bald sehr historisch geworden sein. Die, die es angeht, sind, glaube ich, schon heute aus der Welt verschwunden, existieren nur noch als Versteinerungen ihrer selbst. Also, Paul Gumpert, von uns dreien sind Sie der einzige Bourgeois. Für Leute meiner Art wird immer ein Platz sein, solange die Menschen Gedrucktes lesen können. Man wird sich eben umstellen müssen – das ist man ja jetzt gewohnt! – wie unser alter Freund mit der Samtjacke. Statt der Kriegsgedichte wird man Revolutionsgedichte mit schwieliger Faust und so machen. ›Marschiert Bataillone der Freiheit!‹ Für eine schöne Frau – selbst wenn sie elegant ist – wird man stets Verständnis aufbringen. Denn das liegt nun einmal im Menschen. Einen Arzt werden sie immer brauchen, solange es Blinddärme gibt ... aber«, Fritz Eisner kopierte Lulu, »da das Pri(v)atkap(it)al abgeschafft w(i)rd, so hat man für Kap(i)talsbestien kein ... Raum und kei(ner)lei (Ver)wendung mehr und wirst sie wohl an (die) Wannnd stellen.«

Lu gluckste vor Lachen wie ein Teekessel, »Ludwig das Kind!«, rief sie, »den habe ich noch nicht in mein Programm aufgenommen.«

»Nun«, meinte Paul Gumpert halb lächelnd, halb ernst, »das bringt mich auf einen Gedanken. Wenn dem so ist, so werde ich wohl mir doch den Gertgen ten Jans noch heute kaufen müssen. Man kann nie wissen.«

Fritz Eisner sieht zu Paul Gumpert hinüber, der in seinem Sessel melancholisch vor sich hinlächelt. In diesem Augenblick mag er ihn eigentlich, liebt er ihn fast. Denn trotzdem das Leben ihm recht gegeben hat, und er in fünfzehn Jahren eine Weltfirma sich aufgebaut hat, auf seinem Feld ein kleiner König ist, und ein reicher Mann geworden ist – ja, mehr als das! ... hat er ja doch, wenn man ihn länger beobachtet, in unbewachten Momenten noch genau so unglückliche Augen wie einst. Er hat ja alles erreicht, was er erreichen konnte; und trotzdem frißt es zum Beispiel an ihm, daß er nicht studiert hat, daß ihn seine Eltern nicht studieren lassen konnten. Er meint, er wisse deshalb zu wenig von der Welt, stellt sich vor, daß die Universität ihre Adepten unter die Weisen Griechenlands versetzt, denen alle Rätsel durchsichtig und klar sind. Ach Gott, sollte sie sich nur mal ansehen, manche jener Adepten! Dann würde er verdammt schnell diese und ähnliche Vorurteile begraben haben. Und weiter hat ihn der Krieg sehr mitgenommen. Hundertmal mehr, als er es sich und anderen eingestehen will. Nicht, was er erlebt hat: Der Knöchelbruch, das bißchen Hinken und der Stock mit dem Silbergriff und der Gummizwinge, das war nicht viel mehr als eine Panne gewesen, und es macht ihn sogar interessant (hinkt wie Lord Byron oder die Lavallière!) ... sondern, was Europa, was die Welt erlebt hat. Kann sich auch gar nicht damit abfinden, daß der Krieg das hohe Lied der Verlogenheit aller Politik und jeglicher Regierung sein soll. Denn Politik und Regierung, das sind doch Dinge, an die er bisher als unumstößlich geglaubt hat, und die sind plötzlich entlarvt. Und Paul Gumpert ist viel zu klug, um das nicht zu sehen.

Eigentlich schämt er sich für alle, und innerlich weint es immer in ihm. Die ganzen letzten Jahre schon. Man kann sein Schluchzen deutlich vernehmen, wenn man scharf hinhört. Auch wenn er lacht, wie jetzt gerade, klingt stets dieses Weinen mit, das da heißt: Ein ganzes Leben hat man sich aufgebaut, und was bleibt nun denn von alle dem noch? Nichts. Fast nichts. Nur ein melancholischer Johannes auf Patmos vielleicht, der in einem kleinen Bildchen (es mag auch nur eine alte Kopie sein), auf einem Stein am Bach in einer grünen Landschaft sitzt, eingewickelt in seinen Mantel, umflüstert von hohen dichten Bäumen, umgeben von Wiesen, die von tausend Blumen besternt sind. Und der einem ziehenden Wasser nachstarrt, als ob es all seine Hoffnungen ihm entführt hat. Nicht wahr? Irgend etwas muß doch in dieser elenden Welt standhalten?! Vielleicht ist die Kunst das einzige, was standhält?! Man kann nie wissen.

»Ja, lieber Paul Gumpert«, meint Fritz Eisner. »Man kann wirklich nie wissen! Vielleicht sind wir in zehn Tagen Franzosen. Oder Engländer. Oder werden in Scheiben geschnitten, wie es mit dem alten Österreich geschehen wird. Fallen auseinander wie eine faulige Apfelsine. Denn das Völkerrecht hat ja nur zwei Worte: Vae victis! Oder wir werden ein Appendix von Sowjetrußland. Sein westlichster Vorposten. Vielleicht sind wir auch nur, wie Hecker vor siebzig Jahren träumte, Republik. Er hängt an keinem Baume, er hängt an keinem Strick. Er hängt nur an dem Traume ... von der deutschen Republik! Und dann hätte all das wahnsinnige Morden doch irgendeinen Sinn gehabt.«

Lu protestiert wortlos.

Paul Gumpert zuckt zusammen. »Ach, Unsinn«, sagt er, denn das hat er in seine Dispositionen nicht mit einbezogen. So zwischen Majoren in der Textilversorgungsstelle verliert man leicht den Blick für die wirklichen Wirklichkeiten. »Aber Sie mögen recht haben«, setzt er dann nachdenklich hinzu. »Irgendwo, ich glaube, es war in der Regensburger Straße, haben die Leute schon eine rote Fahne zum Fenster herausgehängt. Vielleicht ist das nur etwas verfrüht gewesen. Gut: Dann Republik!«

»Aber, was wollen Sie denn? Das ist für Sie doch nur eine Formsache. In keiner Republik ist es bisher dem Kaufmann schlecht gegangen. Also, werden Sie noch reicher werden. Und außerdem, Republik ist – daran müssen wir uns langsam gewöhnen – zum mindesten eine bessere Vorstufe zu dem Reich, das wir ersehnen ... dem dritten Reich, ganz ohne Wölfe, aber auch ganz ohne Lämmer! ... als etwa die Monarchie es war. Jedenfalls, Paul Gumpert, ist es doch nicht anzunehmen, daß jemals ein so dummer Kerl, wie er durch Erbfolge Herrscher – schon das Wort sagt alles! – werden kann, jemals in einer Republik Präsident werden würde. Also, wird der auch nie ein so gehäuftes Maß von Unheil anrichten können, wie jener. Doch, wichtiger als alle Staatsformen für Sie, Paul Gumpert, ist, was ich Sie doch eigentlich mal fragen wollte: Ich habe so was läuten hören ... da sollen sie doch jetzt aus Holzmasse richtige Stoffe machen, so Kunstseide nennt man's. Und Baumwolle können sie auch schon künstlich herstellen. Meinen Sie, ob das schon was ist? Oder ob es überhaupt mal was wird? Ob das wirklich 'ne Zukunft hat? Das war doch mal eine große Sache! Könnte uns doch ganz unabhängig von jeder Rohstoffeinfuhr machen!«

Paul Gumpert lacht wieder, aber diesmal nicht melancholisch. »Also, wenn ich nicht schon einen Kompagnon hätte, würde ich Sie nehmen. Schauen Sie mal an, Frau Doktor, wie der kleine Eisner aufpaßt! Warum sind Sie denn nicht in der Branche geblieben? Also, ich kenne die Sache. Bisher gar nichts. Im Augenblick noch völlig aussichtslos. Vielleicht wird's noch mal verbessert. Aber ich habe jedenfalls keine Meinung dafür. Die Sache hat, was die Unternehmer nicht einsehen wollen, eine Achillesferse: Der Faden taugt nichts. Und denken Sie, daß irgendeine Frau jemals nach Kunstseide oder Kunstbaumwolle Verlangen tragen wird, wenn sie richtige Seide und richtige Baumwolle haben kann?! Ich nicht. Es ist eben kein echtes Gewebe, is nich griffig ... Und wenn man den Mist noch so billig herstellen könnte. Aber nun muß ich fort, und noch die Post unterhauen, und mal sehen, was sie tagsüber bei mir verbockt haben. Es ist nebenbei das erstemal, liebe Frau Lu, daß Ihr Generalstab versagt hat. Sie waren mir viel wichtiger, Eisner. Sie wissen gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin!«

Und damit ruckt er sich mit Mühe aus seinem Sessel hoch, stützt sich auf seinen Stock mit dem Silbergriff. »Ich muß fort! Dreiviertel fünf!! Höchste Zeit!!!« gähnt er vor sich hin. Und dann steht er fest. »So merkt man's am meisten noch, wenn man eine Weile gesessen hat.«

Fritz Eisner nestelt sich die Blume aus dem Knopfloch. »Sie wollten mich nicht zum Kompagnon machen, aber ich werde Sie trotzdem feierlichst hiermit in den ›Klub der violetten Aster‹ aufnehmen. Kommen Sie her. Es kostet nichts«, und damit steckt ihm Fritz Eisner das Blümchen in die blaue Rockpatte. »Sie haben keinerlei Verbindlichkeiten. Keine Sitzungen. Und nicht mal einen ersten Schriftführer. Es ist nur eine seelische Übereinstimmung zwischen den Mitgliedern notwendig, von der – das ist ja eben das Witzige! – solche selbst nichts ahnen brauchen. Sie sind doch über fünfundvierzig, Paul Gumpert, nicht wahr? Das ist die einzige Vorbedingung. Und solange diese kleinen violetten Astern blühen – also ungefähr bis zum fünfzehnten November – werden Sie von nun an immer eine ganz kleine violette Aster in ihrem Knopfloch tragen. Das sind alle Zeremonien, die dieser Klub erfordert. Und je länger Sie das tun, desto mehr werden Sie verstehen, was dieses unser Symbol bedeutet.«

Paul Gumpert lächelt während der feierlichen Rede Fritz Eisners still vor sich hin. »Ich hoffe mich eines Klubs, der so erlauchte Mitglieder hat, würdig zu zeigen.«

»Und Klubschwestern brauchen Sie nicht?« ruft Lu dazwischen, »wirklich nicht?«

Aber Paul Gumpert fühlt sich schon ganz als Vertreter der violetten Aster. »Nein, liebe Frau Lu, das ist Männersache, Klubschwestern brauchen wir nicht. Aber warum hat eigentlich Ihr Generalstab heute versagt? Kennen Sie in Berlin irgend jemand, Eisner, der nicht in den ganzen vier Jahren seine geheimsten Informationen vom Generalstab selbst hatte? Ich nicht. Also alles war Unsinn. Direkt aus den Pfoten gesogen. Kein Mensch in Berlin hat je etwas gewußt. Und wer etwas wußte, hat es nicht gesagt. Und auch das, was er nicht gesagt hat, war noch falsch. Aber diese Dame da, ahnte alles vorher ... wenigstens so im letzten Jahr. Sie muß doch ganz vorzügliche Beziehungen haben – direkte oder indirekte. Und heute hat sie das erstemal schief gelegen. Wie kommt das eigentlich?«

Lu lacht. »Weil ich diesmal wirklich nichts gehört habe«, sagt sie und wird rot, so wie brünette Menschen eben noch gerade rot werden können. »Ich bin ja erst seit gestern abend zurück.«

»Wo waren Sie eigentlich wieder, junge Frau Doktor Spanier«, meint Paul Gumpert und dreht sich nach der Tür zu, um zu gehen. »Gewiß, Sie sind nicht mehr so ganz jung, ich weiß es, aber Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn« ... wieder machte er seine traurigen Augen: eigentlich liebe ich doch mein M'chen immer noch, heißt das: so dumm und verfallen und nervös und zänkisch und verbeult sie geworden ist. Und das ist ja eben mein Unglück. Die Mia Bernhardi ist all das nicht. Sie ist piekklug, versteht halbe Worte besser als M'chen ganze, und ist strahlend schön und gesund und immer liebenswürdig und gleichmäßig gut zu mir ... ich fürchte sogar, sie liebt mich geradezu jetzt ... erst war es eine reine Vernunftsache von ihr: do ut des, wie wir in Quinta lernten ... und ich friere bei ihr trotz alledem noch. Ich wünschte, es wäre mir gegeben, die Dinge weniger ernst zu nehmen. »Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich Sie so tituliere, junge Frau Doktor Spanier! Wo waren Sie eigentlich? Jetzt ist doch nicht mehr die Zeit, zu verreisen, und dann ist es doch zu unsicher geworden. Da ist man gerne zu Hause. Man weiß doch schon seit drei Wochen nicht mehr, was der nächste Morgen bringen kann.«

»Ach Gott, gehen Sie doch nicht mit mir so streng ins Gericht, Paul. Sehe ich nicht wieder vorzüglich aus? Ich war furchtbar herunter. Ich war jetzt nur ein paar Tage noch auf einem Gut von Freunden bei Neu-Brandenburg. Da futtere ich mich immer mal so auf zwischendurch. Ich wünschte, mein Mann täte es auch. Dju hat's eigentlich nötiger als ich. Er ist furchtbar abgearbeitet.«

»Bei Neu-Brandenburg«, sagt Paul Gumpert nachdenklich. »Da müssen Ihre Freunde doch jetzt sogar einen Berliner zum Gutsnachbarn bekommen haben. Hat sich nicht der eine Inhaber von dem Bankhaus Groß und Neumann – das heißt, sie machen alles, was gerade kommt – da bei Neu-Brandenburg jetzt ein Jagdgut gekauft?«

»Ich habe nichts davon gehört«, meint Lu sehr ruhig, »es wird aber wohl nicht wahr sein, sonst hätte ich es gehört. So etwas spricht sich da doch schnell herum. Wenn mir nicht mein Mann geschrieben hätte, daß er mich jetzt lieber in Berlin und bei sich hat, als irgendwo anders, wäre ich sicher länger geblieben. Idealzustände. Bis nach Neu-Brandenburg ist jedenfalls die Kunde von Brot- und Fleischmarken noch nicht gedrungen. Und diese Buchenwälder jetzt viel schöner als im Sommer: ... rostbraun und violett in der Abendsonne, wie die herrlichsten alten französischen Ledertapeten. Das wäre was für Sie gewesen, Paul Gumpert.«

Aber Paul Gumpert humpelt zur Tür, ohne sich nochmal umzusehen. Er schämt sich ordentlich. Wie dumm war seine Frage. Wie ungeschickt hat er sich wieder benommen. Er hätte doch wissen müssen, daß man an solche Dinge nicht rührt.

Und auch Fritz Eisner horcht auf, während er Paul Gumpert nachwinkt (er kann noch etwas bleiben!) und »Klub der violetten Aster!« ruft. Fiel da nicht wieder der Name Groß?! Und hat nicht das Gummischweinchen vormittags solche Klatschgeschichten erzählt? Und: ›wir stehen gleich jenen in der Sünder Reihe?‹ Eigentlich tut es Fritz Eisner doch leid: Dieser brave Doktor Spanier! Und Lu? Wozu ist das nötig?!

Lu aber sieht Paul Gumpert nach, wie der mit seiner Glatze und seinem etwas gekrümmten Rücken (früher war das Fritz Eisner nie aufgefallen. Aber wie hatten diese vier Kriegsjahre die Menschen altgemacht!) zur Türe gehinkt ist.

»Ein so guter Junge ... merkwürdig, alle Leute, die ich einfach so Junge nenne, haben mit der Zeit Glatzen oder graue Schläfen bekommen«, sagt sie, »wirklich ein weißer Rabe. Ein Kaufmann, der anständig geblieben ist, sogar jetzt im Krieg, und es doch zu etwas gebracht hat. Aber er nimmt alle Dinge so schwer. Nicht mal von seinem Reichtum hat er eigentlich was. Fühlt sich nicht wohl damit.«

»Ich kann das verstehen. Ich würde mich auch nicht dabei wohl fühlen«, meint Fritz Eisner. »Die Lyoneser Weber weben seit über zweihundert Jahren die schönsten und teuersten Seidenmuster der Welt. Nun sollte man glauben, daß sie endlich in Palästen wohnen. Im Gegenteil, sie sind ganz arme Hunde geblieben, die in gräßliche Massenquartiere zusammengepfercht sind. Aber die Besitzer der Webereien, die leben dafür in Palästen. Es ist doch zum mindesten, liebe Lu, eine absonderliche Welt, in der nur ein Mensch gerade wie ein Mensch oder ein ganz klein wenig besser leben kann, wenn fünfhundert seinethalben geprellt und betrogen werden, und wie die Schweine leben müssen, nur, um ihm das zu ermöglichen. Und ob das nun Seide oder Baumwolle ist, ist im Effekt gleich.«

Lu setzt ihr maliziösestes Lächeln auf. »Seit wann sind Sie von Ihrem Neffen erblich belastet, Fritz? Sie haben vorher wohl bei Ludwig dem Kind Privatunterricht genommen. Gewiß, die Lyoneser Weber machen die schönsten und teuersten Muster der Welt. Aber wer sagt Ihnen, daß sie das ohne die Leute in den Palästen tun würden, oder es je getan hätten?« und sie gießt Fritz Eisner nochmals Tee ein und stopft immer wieder neue Brötchen in ihn hinein (jetzt tut man so was, ohne zu fragen, ob es auch gewünscht wird, denkt Fritz Eisner). »Aber gewiß, mein Freund, das wissen wir ja alle. Vischer, Friedrich Theodor, sagt zwar, das Moralische versteht sich von selbst, in Wahrheit versteht sich in der Welt nur das Unmoralische von selbst. Und Fritz Eisner, es billigt ja auch keiner von uns. Aber zum Schluß freut sich jeder, den es trifft, insgeheim, daß er eben dieser Fünfhundertste und nicht etwa der Zweihundertfünfundachtzigste oder Vierhundertdreiundsiebzigste ist. So, wie man sich in einer Lotterie freut, wenn man auf sein Los einen Gewinn und keine Niete gezogen hat; trotzdem man genau weiß, daß der Gewinn nur aus den Einsätzen derer bestritten werden kann, die die Nieten ziehen. Und Sie, Fritz Eisner, sind doch auch nur ein Bürger. Also warum mißgönnen Sie es einem andern, es zu sein?«

Während dieser Rede hat Lu bei Fritz Eisner Inventur aufgenommen (es ist doch unmöglich, daß ein Mann mit seinem Namen so herumläuft!).

»Wollen Sie einen Anzug von Dju, Fritz? Sie brauchen sich nicht zu genieren. Der hat noch so viel, der merkt's gar nicht, wenn da einer fehlt. Ich such' Ihnen mal einen 'raus. Sie müssen ihn natürlich ändern lassen, denn mein Mann ist doch gut einen Kopf größer als Sie.«

»Ach nein«, meint Fritz Eisner, er ist gar nicht gekränkt, denn es ist gang und gäbe, daß man sich gegenseitig alte Anzüge anbietet, »ach nein, man wird ja doch bald wieder welche sich machen lassen können. Außerdem drahte ich sofort nach London, sowie der Frieden ausgebrochen ist, an meinen Schneider. Gott strafe England! ... Victor and Boney ausgenommen!«

»Aber nun erzählen Sie mir mal, was es bei Ihnen eigentlich Neues gibt, Fritz? Wenn wir unser Sommerhaus in Babelsberg frei hätten – na, wir werden es ja auch mal wieder für uns haben –, hätten Sie jeden Abend von Nikolassee zu uns herüberkommen können. Haben Sie's nett da. So haben wir uns doch Monate lang kaum gesehen. Also, was gibt es Neues, Fritz?«

»Fontanes Gesammelte Werke, Band 1. Vor dem Sturm. Morgen gibt es vielleicht Revolution. Aber das habe ich Ihnen schon des öfteren berichtet, Lu. ›Und geht in Scherben wie das alte Reich‹, wo ist das eigentlich her? Sonst weiß ich nichts. Aber das ist genug.«

»Ach Gott, Fritz. Das interessiert doch keinen Menschen. Der Krieg, dieser Krieg hat für mich nie existiert. Und die Revolution wird für mich ebensowenig existieren. Es gibt Dinge, die man verpflichtet ist, sich wegzudenken, wenn man sich nicht aufhängen will oder ins Irrenhaus kommen will. Und dazu gehört – neben dem Tod und der Zeit! – an erster Stelle dieser widerliche Krieg. Ich meine, wie faßt denn Annchen die Sache auf? Sie wollen nun nicht wieder zu ihr und den Kindern zurück. Die kleine Ruth Block soll ja ungewöhnlich klug sein, – ich kannte sie nur als Kind – und sehr schön geworden sein. Nun will ich bloß mal sehen, ob die nicht in sechzehn Tagen das fertig bringt, was Annchen nicht in sechzehn Jahren fertig gebracht hat. Aber glauben Sie trotzdem wirklich, daß das ein Wechsel auf lange Sicht wird? Stellen Sie es sich einmal umgekehrt vor, Fritz. Sie wären zweiundzwanzig und die Frau wäre siebenundvierzig. Wieviel Zeit würden Sie dem geben? Drei Monate? Oder selbst fünf Monate. Also rechnen Sie bei einer Frau das Doppelte? Und dann? ... Wenn Sie dreißig wären, wäre diese Dame fünfundfünfzig Jahre. Nicht auszudenken! Eigentlich haben wir es ja alle kommen sehen. Vor zehn Jahren ... vor fünfzehn Jahren wäre es richtiger gewesen. Aber jetzt ist es etwas reichlich spät schon. Und wenn es auch jeder, der nicht gerade ganz blind ist, verstehen muß ... immerhin: man trennt sich nicht gern von alten Gewohnheiten. Und werden Sie nun wieder nach Berlin ziehen, Fritz? Warum sind Sie denn eigentlich damals weggegangen? Warum haben Sie so ohne alle Vorrede an Ihre Freunde einfach Ihre Wohnung hier aufgegeben? Sie gehören doch hierher? Ich weiß, Sie haben trotzdem das große Glück gehabt, die Unzufriedenheit nicht zu verlieren und über all Ihre Erfolge die Problematik des Lebens nicht eine Sekunde zu vergessen. Aber was soll denn jetzt mit Ihnen werden?«

Fritz Eisner ist das Gespräch nicht angenehm. Er vermißt es, wenn Menschen keinen Anteil an ihm nehmen. Und er nimmt es stets übel, wenn sie es tun. Dann zieht er, wie eine Schnecke, die Hörner ein. Und wenn das nichts nützt, verkapselt er sich in sein Haus. »Ich weiß noch gar nichts, Lu«, meint er leise und mürrisch, »wer kann heute überhaupt sagen, was er morgen tun wird.«

»Wozu machen Sie so was?« ruft Lu, »alter Junge, wozu?« Und streicht ihm wie unabsichtig über die Hand. Fritz Eisner denkt: Wozu machen Sie so etwas? wozu? »Schade, Fritz, eigentlich haben Sie mir sehr gefehlt. Ich hätte Sie gebraucht. Warum sind Sie in den letzten Monaten nicht mehr gekommen? Sie sind ein schlechter Kerl! Immer, wenn ich sie brauchte in meinem Dasein, sind Sie nicht da gewesen. Eigentlich, Fritz, haben wir uns beide doch unser Leben verfehlt. Immer hat der andere zur falschen Zeit an der falschen Ecke auf den andern gewartet.«

Fritz Eisner nickt (sie hat recht ... die da!). Und wenn man mit siebenundvierzig rot werden könnte, würde er rot werden.

»Wozu haben Sie damals Annchen geheiratet? Warum haben Sie mich damals nicht genommen? Vielleicht wäre aus Ihnen und mir mehr geworden. Ich weiß, ich war damals noch verspielt und verlogen, aber im Grunde war ich doch genau derselbe Mensch, der ich heute bin. Und dann später, wie ich Sie brauchte, – Sie erinnern sich wohl?! – sind Sie mir ausgewichen, Fritz. Und jetzt waren Sie auch nicht da. Und ich weiß genau, wir wären später in all den Jahren nur gute Freunde geblieben.«

»Ich weiß das nicht so genau, Lu.«

»Und damit hätten wir uns beide genug schenken können und wären weniger hungrig gewesen. Und jedesmal, wenn ich in meinem Leben Ihre Hand halten wollte, habe ich immer wieder ins Leere gegriffen. Sie sind ein schlechter Kerl! Gesellschaft können Sie die allerbeste haben und laufen diesem Mädchen nach!«

Fritz Eisner hat sehr still zugehört. Er versteht. »Haben wir, kluge kleine Frau ... denn Sie sind ja doch nur ein armes Hascherl, so schön Sie geworden sind ...«

»Ach, was hat eine Frau von Schönheit?!« Ist sie melancholisch oder spielt sie die Melancholische – »Schönheit ist wie vierblätteriger Klee. Entweder er wird übersehen, und dann hat er nichts davon, daß er nicht dreiblätterig ist, oder ... er wird abgerissen!«

»So schön und so verwöhnt und so viel Erfolg und so viel Reichtum Ihnen auf die Füße gelegt wurden ... haben wir – wenn ich mich recht erinnere –, dieses Gespräch nicht schon einmal geführt?! Heute vor dreizehn oder vierzehn Jahren. Nicht wahr? Nur, daß damals ein Cézanne an einem dämmerigen Julinachmittag in einem Kunstsalon zuhörte. Ein wundervoller Cézanne nebenbei, mit meergrünen Äpfeln. (Sie hätten ihn kaufen sollen!) Und heute ist dieses kleine liebe Mädchen, dieses halbe Kind mit seinen flaumigen Apfelbacken von Renoir da. Ich könnte Ihnen noch fast jedes Wort sagen, damals von Ihnen. Aber ich könnte Ihnen auch sagen, was ich Ihnen einmal zur Antwort gab: Ich stehle keine silbernen Löffel, wenn ich den Besitzer kenne, und mögen sie noch so verlockend und blinkend sein.«

»Ach, Sie sind ein Narr, Fritz, verstehen Sie denn nicht, daß ich Sie eben gern gehabt hätte, und Dju dann nur noch mehr lieb?! Es ist merkwürdig, es ist bei mir gerade umgekehrt wie in Ibsens Theaterstücken: Da steht der Mann immer zwischen zwei Frauen; es ist mein Schicksal gewesen, mein Lebtag immer zwischen zwei Männern stehen zu müssen.«

»Ich begreife durchaus, Lu, man hat ein Haus. Das Haus hat ein Dach. Und da oben ist irgend etwas, was dazu gehört ... eine Stange, ein Stück Eisen, ein Draht mit einer vergoldeten Spitze ... Es ist da. Man weiß es kaum. Eigentlich sieht man es gar nicht mehr. Aber wenn der Himmel schwarz wird, und ein Gewitter kommt, und die ersten Blitze zu zucken beginnen, so danken wir dem lieben Gott und Benjamin Franklin, daß wir so sicher unter unserem Dach sind. Gewiß, der Blitzableiter hat eine Funktion. Immerhin, ich habe ihn nie um seine Rolle beneidet. Aber Sie sind so schön, so schön geworden und geblieben, daß ich auch damit, mit dem Posten eines Blitzableiters auf dem Dache Ihres Hauses zufrieden gewesen wäre.« Eine Wolke von Duft schlug zu Fritz Eisner von Lu herüber. »Und Sie lieben immer noch Treffle?! Ich auch. Das allein wäre schon vielleicht ein Grund gewesen, wenn es das Schicksal so mit mir und mit Ihnen gespielt hätte ... doch Lu, das tat es nun einmal nicht, und ich werde Sie also nicht davor bewahren können, wenn doch mal der Blitz in Ihr Haus schlägt. Wissen Sie noch, was Sie damals sagten, Lu? Ich wenigstens könnte Ihnen noch jedes Wort wiederholen. Sie waren sehr verzweifelt damals. Ich dachte, es würde für ewig aus sein. Aber wie kommt das nun jetzt wieder? Es liegen doch fünfzehn Jahre bald dazwischen. Ich verstehe, daß Sie nichts sagen. Psychologie ist wohl immer noch nicht Ihre starke Seite?«

Lu schweigt beharrlich. Aber Fritz Eisner sieht, sie will sprechen und sich entlasten.

»Aber Lu, man sollte die Dinge in diesem Augenblick überhaupt nicht so blutig ernst nehmen. Wer wird morgen noch an solche Lappalie wie eine verrenkte Ehe denken?! Wir werden an so vieles Neues dann schon zu denken haben. Unser alter Freund, das Gummischweinchen, hat überhaupt heute gesagt, daß er im Revolutionsrat – Huh! – sofort beantragen will, daß sämtliche bestehenden Ehen mit einem Federzug geschieden werden. Grund bei jeder nimmt er a priori an. Und die, die dann noch zusammenbleiben wollen, sollen einfach wieder zusammengehen, schlägt er vor. Er sagt, es wäre praktischer so, weil dann die Standesämter weniger zu tun kriegen würden, als die Gerichte mit ihren Scheidungen. Und Gerichte haben einen großen Apparat, kosten Geld. Beim Standesamt genügt ein ausrangierter alter Major!«

Lu lacht mitleidig eine kleine rieselnde Quelle von Gelächter. »Ach Gott, der arme, arme alte Kerl. Na, gut wenigstens, daß er seinen Humor noch nicht verloren hat, und noch besser, daß er eigentlich doch nicht weiß, wie es mit ihm steht. Dju hat ihn vor einer Woche durchleuchtet und ihm eingeredet, er findet nichts, und sein Fieber immer am Abend, das wäre nur noch solch ein kleiner harmloser Rückfall von seinem Paratyphus ... Dabei hat er einen ausgewachsenen dicken Leberabszeß ... eben infolge der Sache ... oder weil er doch Potator und so alles, was es sonst noch gibt, war. Und das Sonderbare: Bei einem Patienten hätte er es nie geglaubt, und bei sich glaubt er's ... oder tut wenigstens so.«

Fritz Eisner weiß sehr wenig vom Verlauf von Leberabszessen, und selbst, wenn er etwas davon gewußt hätte: man ist – wenigstens, so weit es das Schicksal der andern betrifft! – sehr stumpf geworden. »Ach Je'chen«, sagt er, als ob es sich darum dreht, daß ein Kind hingefallen ist und sich das Knie aufgeschürft hat. »Ach je, na vielleicht rappelt er sich wieder! Eigentlich machte er keinen sehr kranken Eindruck heute. Aber trotzdem hat unser altes Gummischweinchen unrecht, denn, liebe gute Lu, alte kleine Ginsterkatze, es gibt nämlich so etwas wie unumstößliche Naturgesetze. Da schreien die Leute jetzt so über die Auflösung der Ehe in Rußland. ›Liebe im Sowjetstaat‹ und so ... nicht ein Wort ist von richtig: Menschen, die auseinander müssen, hält kein Gesetz der Welt auf. Und solche, die zusammengehören, gehen nicht auseinander, und wenn darauf eine Belohnung ausgesetzt wäre. Und so wird es bei Ihnen auch sein. Endlich wissen Sie ja beide, was Sie aneinander haben.«

»Lieber alter Junge, Sie sehen – wohl weil Sie Schriftsteller sind! – die Dinge immer unendlich einfach, und meinen, das Leben wäre so unkompliziert, wie es in Romanen ist. Da war neulich eine Gerichtsverhandlung und der Richter fragte den Angeklagten, ob er sich schuldig fühle. Und da sagte der sehr simple Angeklagte: Er fühle sich schuldig und zugleich unschuldig. ›Ja‹, sagte der Richter, ›das geht hier nicht. Entweder eines oder das andere!‹ Sie kommen mir mit solchen Theorien vor wie dieser weise Richter, Fritz.«

»Wissen Sie, Lu, ich habe so ein pathologisches Gedächtnis für Einzelheiten. Sagten Sie nicht einmal von Dju: ›Da ist nun dieser wundervolle Mensch, den ganzen Tag lang seh' ich ihn nicht und doch gehört er mir, wenn ihn die andern nicht haben. Es hat vielleicht Männer gegeben, die ich mehr geliebt habe, aber er zwingt mich dazu, ihm nicht untreu sein zu können ... Er soll mir eine Schürze umbinden und mich in sein Labor stellen, ich will ihm wenigstens die Gläser spülen, wenn ich nicht mehr seine Frau sein darf‹. Und fielen nicht Worte, wie ›Barmixer‹ und ›Mit Jurisprudenz verbrämter Schieber‹?«

»Gewiß, solche Worte fielen. Aber sie stimmen heute längst nicht mehr. Sie vergaßen, ich bin heute nicht mehr fünfundzwanzig und die Dinge sind nicht so einfach mehr weder für mich noch für jenen. Das war damals in seiner Yankeeperiode. Sie stimmen so wenig, wie das bei mir oder bei Ihnen, bei Dju oder bei Paul Gumpert alles stimmt. Wir sind doch alle in den fünfzehn Jahren anders geworden und heute ist Georg genau solch Mensch, wie Sie und ich und Paul Gumpert. Sehr leise und sehr diskret und sehr zart zu Frauen. Sie haben ihn ja heute mittag schon gesehen, nicht wahr? Er Sie jedenfalls.«

»Dann hatte ich also doch recht, ihn die kommende Note zu nennen«, meint Fritz Eisner, aber Lu hört nicht.

»Und er hat mich eigentlich in den fünfzehn Jahren so wenig vergessen, wie ich ihn vergessen konnte. Wie anders doch die Zuneigungen älterer Menschen sind, als die junger, wie viel schwächer und wie viel tiefer zugleich. Ein junger Mensch ist noch viel mehr an die Liebe gebunden, und wir eben doch viel mehr an das Objekt der Liebe. Ich glaube, daß ich seit Jahren nur noch für Georg existiere, ohne daß ich für ihn existiert habe oder ... hatte.

Ich glaube, er würde mich, wenn er könnte, zu der verwöhntesten Frau Berlins machen. Und Fritz, halten Sie mich nicht für oberflächlich, aber so etwas schmeichelt zum Schluß jeder Frau. Gewiß, mir ist es nie schlecht gegangen ... aber für mich war Geld doch immer noch ein Begriff ... da ist es das nicht mehr. Jemand, der wie Sie außerhalb des Lebens steht, ahnt ja gar nicht, was dieser Krieg so in einzelnen Händen für Vermögen aufgehäuft hat. Dagegen waren unsere Eltern, und wenn sie für sehr reich galten: – Bettler.«

»Also hat Lulu doch recht ... oder war es das Gummischweinchen?! Daß immer die vielen für die Sache sterben, von der die andern, die wenigen, leben.«

»Und Dju, gewiß, er ist ein so prächtiger Mensch, wie er immer war, und er hat mich auf seine Art sehr gern; aber er ist doch etwas zu enttäuscht vom Leben. Vielleicht, weil er doch zu ehrgeizig war. Ich freue mich jedesmal, wenn ich seinen guten alten Kopf mit der klugen Stirn sehe. Aber ich denke manchmal, was würde er heute sagen, wenn ich ...«

»Ahnen Sie, Lu, wie lange ich das schon weiß? Erinnern Sie sich an den Sommernachmittag, als ich mit Hannchen hier war, weil Ihr Mann sie das erstemal untersuchen wollte. Damals war noch ein Röntgenapparat etwas ganz Neues. Das ist wohl jetzt über fünfzehn Jahre her. Und noch ein anderes war neu. Das hatte Ihr Mann eben von einem Patienten bekommen: Ein Giletteapparat! Und wie wir – erinnern Sie sich? – ihn auseinandergeschraubt hatten, bekamen wir ihn beide, Ihr Mann und ich, im Augenblick nicht recht wieder zusammen, und Sie lachten noch über unsere Ungeschicklichkeit, nahmen ihn uns fort, und hatten ihn mit einem Handgriff wieder ineinandergeschraubt. Und da sagte ich mir: Halt! ...«

Lu war aufgesprungen, sie war ganz blaßgrün geworden, so tief war sie plötzlich erschrocken. Fritz Eisner verstand das gar nicht. »Ich bin Ihnen sehr dankbar«, stotterte sie, »daß Sie mich daran erinnern, Fritz. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, ich muß nochmals hintergehen, ehe Dju zum Tee kommt. Sie wissen ja, er zieht sich noch immer dazu um. Und ich tue es auch. So will es unser Hauszeremoniell, und von dem gehen wir nun mal nicht ab, und wenn die Welt untergehen sollte.« Sie versuchte zu lachen. »Oder meinen Sie, ich habe Ihnen zu Ehren mich in die grüne Fahne des Propheten gehüllt und mich mit dem Jadeschmuck der Prinzessin Pei hi ho behangen?«

Doch Lu ist noch nicht auf dem halben Wege zur Tür – immer diese Berliner Zimmer, die im Knick liegen – als die sich, wie in Spukhäusern auf Jahrmärkten, schon vor ihr öffnet. Türen, die von selbst aufgehen, wirken gespenstisch. Erst bewegt sich nur die Klinke, drückt sich von selbst herunter, und dann erst schiebt sich die ganze Tür halbrund herum und bleibt offen stehen.

Fritz Eisner sitzt so, daß er den Eintretenden nicht sieht, daß er ihm durch den Türflügel verdeckt bleibt, und so wirkt die Langsamkeit, mit der das geschieht, wie mit der Zeitlupe ihm doppelt unheimlich, drohend und geheimnisvoll. Um Himmels willen, wer da kommt, kann schon lange vor der Tür gestanden haben! Und selbst, wenn er erst einige Augenblicke dort gestanden hat, so muß er doch gehört haben, was hier gesprochen wurde ... zum mindesten noch das Letzte.

»Aber Dju ... wo bleibst du denn? Ich wollte dich schon holen. Dein Tee wird doch ganz kalt« (dabei flackert ein Flämmchen unter der Silberkanne), sagt Lu und geht, um Zeit und Ruhe zu gewinnen, an den Lichtschalter und knipst die in der Wute versenkte Deckenbeleuchtung ein; und das Zimmer schrickt in der neuen Helligkeit auf und alles wird klar und doppelt deutlich.

Wie ist er nur da hinter in diese Seite der Wohnung von seinen Ordinationsräumen gekommen? denkt Fritz Eisner. Muß doch, ohne daß sie etwas davon bemerkt haben, draußen den Glasgang entlang gegangen sein ... Hat vielleicht eine ganze Weile um sie herumspioniert schon. Und dann denkt er: Merkwürdig, wie schnell sich Frauen doch in neue Situationen einpassen können! Lus Stimme ist wirklich ganz warm geworden, und ihr Gesicht lächelt, und keineswegs mit der Maske der Gewohnheit. Spielt sie das nur noch, oder fühlt sie wirklich so?

Doktor Spanier sieht etwas erstaunt auf Fritz Eisner, ist wider seine Art frostig im Gruß. Man könnte daraus schließen ... er hätte einen anderen erwartet und argwöhnt nun: Also auch der!! Aber korrekt bleibt er, denkt Fritz Eisner, durchaus korrekt. Blödsinnig korrekt. Ich möchte nicht so korrekt sein, um all seine Tüchtigkeit! Etwa von jener Korrektheit ist er plötzlich, wie man sie sonst nur bei hohen Beamten trifft, die, wenn der Tod sie einmal auffordern sollte, ihm zu folgen, sich erst noch einmal die Krawatte zurechtziehen werden und auf ihre Lackschuhe blicken werden, ob sie auch keinen Spritzer von der Straße darauf haben ... denn das könnte einen schlechten Eindruck bei den himmlischen Vorgesetzten machen.

Gott, war das ehedem ein hübscher brauner Kerl. Damals, als er das erstemal in der Livree eines Lakaien mit den geklauten Sektflaschen aus den Rockschößen in meinen Gesichtskreis kam bei der Einweihung der Destille, dem ersten Budenfest oben in meiner ersten Wohnung, in der Kaiserallee.

Und dabei dachte man doch an seinen Vorfahren, den Ephraim Bonus, den jüdischen Arzt, Magier und Kabbalisten, den einst Rembrandt gemalt hatte, wenn man ihn ansah. Hatte schon einen verdammt feinen Kopf damals, der Doktor Spanier. Machte seinem Namen Ehre. Hätte in Alicante am Hafen herumlungern können.

Und jetzt ist er ein abgearbeiteter und überarbeiteter hagerer Mann mit grauen Schläfen, scharf gebürsteten, stark in der Stirn gelichteten Strähnen Haars, und mit zwei tiefen Falten, die sich von den Backenknochen an über die Wangen weg zum Mund ziehen und sich beim Sprechen noch weiter vertiefen. Früher hat man seine paar leichten Schmisse gar nicht bemerkt. Und heute fallen sie Fritz Eisner auf, als ob es neue Falten an den Schläfen und an den Backen wären, die sich da bilden wollen. Schlecht sieht er aus. Zum Erschrecken schlecht. Hundeelend. Und nicht einmal korrekt angezogen ist er heute. Die Lackschuhe könnten blanker sein. Der linke Strumpf darüber schlägt sogar eine Falte und die Weste ist nur halb zugeknöpft. Was muß es da gegeben haben, daß er, dieser tipptoppe Doktor Spanier seine Weste nur halb zuknöpft, und daß der Schlips hängt, so daß man das goldene Kragenknöpfchen sieht?! Lu strahlt aus allen Poren Liebenswürdigkeit zu ihm herüber, und ihre Backen bekommen plötzlich wieder Farbe, aufrichtige Farbe.

»Na, mein Junge«, zwitschert sie und gießt Dju von oben herab einen Goldquell von Tee ein. »Noch viele Patienten, mein Junge?« Das ist ihr Lieblingswort, und es klingt bei ihr immer so, als ob uns eine Frauenhand die Wangen tätschelt. »Tuberkulose hat so erschreckend zugenommen unter den jungen Menschen«, ruft sie wie entschuldigend zu Fritz Eisner hinüber. »Mach doch heute mal früher Schluß, Dju!«

»Früher Schluß machen, das werde ich vielleicht heute auch.« Und es klingt sehr nervös und sehr doppeldeutig.

Lu wirft Fritz Eisner einen jener stummen Ehefrauenblicke zu, die heißen: ›Da sehen Sie es wieder, es ist nicht leicht mit diesem Manne (man achte auf das Schluß-E!!) auszukommen. Bin ich nicht dabei freundlich und nachsichtig mit ihm?! An mir liegt es wahrlich nicht.‹

»Jedenfalls ist es nett, Fritz Eisner, daß Sie sich mal wieder unserer bescheidenen Hütte erinnern.« Jede Silbe wird im gleichen Ton wie die vorhergehende gesprochen. Dieser Ton ist unfaßbar. Durchaus nicht unfreundlich; aber man könnte damit Glas schneiden. »Früher sind Sie zeitweise bedeutend öfter gekommen!«

Wirklich, man muß seelisch schon sehr taub sein, um nicht zu hören: »Sind wohl jetzt abgehalftert? Weil Sie einen Nachfolger bei meiner Frau erhalten haben?!«

Fritz Eisner möchte auf den Tisch schlagen, daß von den feinen, alten Täßchen die Henkel abspringen: ›Zum Donnerwetter, Doktor Spanier, wissen Sie denn nicht, daß ich ebensowenig wie Sie es vielleicht tun würden, bei Bekannten silberne Löffel stehle.‹ Aber dann würde der nur meinen, daß er ihn wohl mißverstanden hatte. Seines Wissens hätte er gar nicht von silbernen Löffeln gesprochen, sondern nur seinem Erstaunen darüber Ausdruck gegeben, daß seine Besuche so selten geworden seien, weil wohl, wie es verlautet, er ja mit seinen persönlichsten Interessen jetzt anderweitig sehr engagiert sei. Oder so ähnlich. Bei diesem Burschen muß man sehr vorsichtig sein. Er sticht einen wie weiland Hamlets Totengräber sonst mit Silben tot.

»Haben Sie draußen etwas Neues gehört, Eisner?«

»Denke mal, Dju«, springt Lu ein. »Fritz.« (Spanier sieht ohne eigentlich den gesenkten Kopf zu heben, von Eisner zu seiner Frau und von seiner Frau zu Fritz Eisner. Nur mit einer leisen Bewegung der Pupillen: ›Wie kommst du dazu, Fritz zu ihm zu sagen.‹) Aber Lu betont noch mal: »Also, Fritz behauptet, das alte Gummischweinchen wüßte es aus der Fabrik von Schwarzkopf ganz genau: Auf morgen sieben Uhr wär Revolution angesagt. Wir sollten doch morgen lieber zu Hause bleiben, Dju.«

»Ach Gott«, meint Doktor Spanier seufzend und ungläubig und trommelt dabei nervös mit den Fingern auf irgendeinen Gegenstand, den er in der Rocktasche hat, und der hohl, aber doch nicht ganz hohl klingt. »Ach Gott, wenn es noch eine ärztliche Diagnose wäre, würde ich sie eher ernst nehmen; aber seine politischen Diagnosen sind doch meist ziemlich ungenau. Er redet gern etwas viel, der gute Sanitätsrat. Ich bin zwar nur ein einfacher Feld-, Wald- und Wiesenarzt, sozusagen (trotz Röntgen) und mag von Medizin deshalb nicht viel verstehen; aber ich kenne das, was Sie so Volk nennen, Eisner, deshalb besser, als Sie alle. Bei uns gibt es keine Revolutionen. Seien Sie über diesen Punkt beruhigt.« Immer noch trommelt er dabei mit den Fingern auf den Gegenstand, den er in der Tasche hat.

»Hör mal, Dju, du mußt aber essen, du siehst heute noch blasser als vorher aus. Wieg dich doch mal ... du hast sicher wieder abgenommen. Das geht doch nicht. Wärst du doch mit mir mitgekommen, wie ich es wollte. Es wäre wirklich für dich ... und ...« Lu unterbricht sich, »wirklich, es wäre für dich besser gewesen. Du darfst dich nicht so ruinieren. Du mußt nicht immer auf die anderen, sondern auch einmal auf dich Rücksicht nehmen. Was hast du davon, wenn du nachher auf der Nase liegst, Liebling?! Wirklich, ich bin sehr besorgt um dich!«

Nein, Lu schauspielert nicht. In dem Ton liegen fünfzehn Jahre Zusammenleben. Wenn nur sie dieser Spanier besser verstehen würde: »Begreifst du denn nicht«, heißt der Ton. »Wenn du bei mir bist, bist du und nur du noch da.« Außerdem heißt er: »Ich fühle mich schuldig und unschuldig!«

Aber Doktor Spanier macht Müdigkeitsaugen und läßt die Finger nur weiter in der Tasche auf dem Gegenstand – vielleicht ist es ein Kästchen! – einen Marsch spielen.

»Ja«, sagt er dabei, »es ist möglich, sogar wahrscheinlich, daß ich nicht gerade gut aussehe. Das kommt jetzt so. Nebenbei, um nicht immer von so wertlosen und gleichgültigen Menschen, wie ich es bin, zu reden« (das ist eine neue Nuance bei ihm, denkt Fritz Eisner). »Haben Sie zufällig mal etwas von Ihrer Frau gehört? Wie es ihr geht?! Annchen war nämlich vor ein paar Wochen, als sie das letztemal in Berlin war, bei mir. Wenn Sie ihr schreiben sollten«, sein Ton wird sehr jovial und warm gönnerhaft, »schreiben sollten, so grüßen Sie sie von mir, und ich ließe ihr sagen, sie soll gleich einen Revolver nehmen, das ist praktischer, rationeller und billiger, und für die Umgebung einfacher und angenehmer, als die blöden Veronals – oder wie die anderen Tabletten ›ohne schädliche Nebenwirkung‹ alle heißen mögen. Und hat außerdem den gleichen Endeffekt.«

Was ist denn plötzlich das? Von diesem Zynismus in ärztlichen Dingen kennt Fritz Eisner den Doktor Spanier noch nicht. Im Gegenteil, er ließ sonst immer die Glaubensfahne an die Unfehlbarkeit der Medizin hoch im Winde flattern.

»Ihre Schwiegermutter – ich habe ja persönlich nie eine genossen« (Gott, wie schrecklich muß es sein, mit so etwas behaftet durch ein Eheleben zu gehen!). Also, solche Töne hat er noch nie angeschlagen! »Ihre Frau Schwiegermutter ist sehr herunter. Lunge ist auch nicht gut ... Vielleicht sogar etwas angegriffen. Aber bei alternden Leuten heilt ja so etwas leider meist wieder aus. Wäre besser, es täte es bei den Jungen. Es kann jedenfalls nicht schaden, wenn Sie ihr mal was zur Stärkung bringen ... paar Pullen juten Rotwein! Ick jebe« (seit wann berlinert der? denkt Fritz Eisner) »Sie hier eine Karte von mir an meinen Weinhändler mit, sonst hat er nämlich nichts mehr vor Ihnen. Warten Sie, ich schreib Ihnen die Marke auf. Im anderen Fall jibt er Ihnen nämlich rote Tinte mit Spülwasser, der Hund. Oder er hat überhaupt nichts mehr für Sie.« Und er schmiert mit seinem goldenen Krayon, das an der Châtelaine (sie gehört zu ihm, und sie ist unwegdenkbar von seiner Person) wie ein Tier an die Kette geschlossen ist, etwas mit seiner Arztschrift auf die Rückseite einer Visitenkarte, und reicht Fritz Eisner das Blättchen über den Tisch fort. »Mehr als zwei Flaschen gibt er doch nicht von dieser Marke ab! Aber, picheln Sie es nun nicht etwa allein im Kreise Ihrer Freundinnen aus ... daß mir keine Klagen einlaufen!« Und er sieht Fritz Eisner über die breiten scharfen Kneifergläser mit einem langen Blick an, und das erste alte Lächeln, und manchmal konnte das so scharmant sein, wie das von Lu ... und das war das Entzücken aller, die sie kannten ... das erste alte Lächeln huscht über sein Gewittergesicht. »Sie müssen nebenbei jetzt viel Unglück im Spiel haben, Eisner«, sagt er langsam und nachdenklich. »Wird doch jetzt in Berlin soviel gejeut! Ich sollte es wirklich mal versuchen.«

Aber Fritz Eisner schätzt es durchaus nicht, daß andere in seinen Privatsachen zu wühlen beginnen. »Was ist denn mit dem Lulu?« meint er beiläufig, während er aufsteht. »In fünf Minuten fünf!«

»Das kann heute bei den anormalen Zeiten noch niemand sagen. Ich habe ihn auch eher aus prophylaktischen Gründen aus der Schule genommen.« Jetzt ist er ganz Arzt. »Die Hauptsache ist auch sein Milieu, und die ererbte nervöse Disposition.« Er sieht Fritz Eisner fragend an, als ob er jetzt erst bemerkt hat, daß jener aufgestanden ist. »Müssen Sie schon fort? Schade!« Und es zuckt ihm über das ganze Gesicht, als ob er zu weinen anfangen wolle. Die Menschen sind so hemmungslos geworden. Und was trommelt denn der Kerl immer noch in seiner Tasche, denkt Fritz Eisner. Aber damit nimmt jener solch ein kleines Saffianetui mit Goldbuchstaben drauf (ist da eine Injektionsspritze drin, oder ein kleiner Browning? Ach nein, die verwahrt man anders ... Es wird nur ganz simpel ein Giletteapparat sein!) vorsichtig aus der Tasche heraus und stellt es ebenso vorsichtig neben sich auf den Tisch zwischen Tasse und Teller. Ein sonderbarer Mann!

»Also, auf Wiedersehen, teurer Meister!« Wie kommt er nur auf dieses ekelhafte ›Meister‹. Das bürgert sich plötzlich ein gegen mich, heißt: ›Adieu, du alte rostige Dachrinne, du.‹ – »Auf Wiedersehn – unter den roten Fahnen der Revolution!«

Was ist nur in diesen Doktor Spanier gefahren, denkt Fritz Eisner, während er Lu die Hand reicht, er hätte sich doch sonst lieber den Daumen abhacken lassen, als einen Besuch nicht bis zur Tür zu bringen, und ihn dort dem Diener zur weiteren Abfertigung für Mantel, Hut, Stock und Trinkgeld zu übergeben.

Aber auch Lu denkt nicht daran, mit aufzustehen. Sieht wie hypnotisiert mit ihren Ginsterkatzenaugen nur auf das Lederetui. Jetzt ist sie von neuem ganz graugrün vor Blässe geworden. Keine freundlichen Leute! Teufel auch, was gehen mich eigentlich auch ihre privaten Angelegenheiten an. Werden das auch ohne mich wieder ins Lot da untereinander bringen.

Draußen im Vorflur ist Paul nicht da. Aber es hängen eine Menge Mäntel, Schirme und Hüte von Patienten da herum noch. Wo, in aller Welt, hat denn der Paul nur meine Sachen hingehängt? Ach, da neben der Tür, auf den privaten Kleiderrechen, hinter dem Vorhang. Also: ... Ehrenwort, er will ja gar nicht mehr hören, während er so langsam in die Ärmel sich hineinwindet, was da drinnen gesprochen wird. Aber er kann seinen Ohren nicht verwehren, die Worte aufzunehmen:

»Du solltest wirklich«, kommt es mit der Glasschneiderstimme durch die Tür, keineswegs laut, aber sehr deutlich, »wirklich, du solltest das Hausmädchen entlassen, Lu. Sofie ist trotz der acht Jahre, die sie um dich ist, schlecht von dir erzogen worden: Packt deine Sachen aus, und stellt mir da das, was mir durchaus nicht zukommt, mitten auf den Waschtisch in mein Schlafzimmer. Bitte, gib es seinem Besitzer – da du es wohl irrtümlich nur miteingepackt hast (denn was sollst du zum Schluß damit anfangen?) sofort zurück. Du weißt nichts davon?! Aber auf dem Etui steht ja der Name des Besitzers: Doktor Georg Groß. Könnte es ja auch behalten. Gefällt mir sogar vorzüglich. Ich möchte aber nicht gern in den Verdacht kommen, mir goldene Gegenstände anzueignen. Ich wußte vorher gar nicht, Lu, daß es auch goldene Giletteapparate gibt. Oder ist es nur Talmi und frisch vergoldet ... wie dort alles?! Ich lege – nebenbei! – keinen gesteigerten Wert darauf, daß du von diesem Weg noch einmal nach hier zurückkommst. Das wollen wir feststellen. Nicht wahr, mein Liebling?!«

Fritz Eisner hat Stock und Hut gefunden und den großmustrigen verschnittenen Ulster kaum zugeknöpft. Schleicht heimlich und betreten, als ob er ein Paletotmarder wäre, zur Glastür, zieht die leise auf, windet sich durch den Türspalt und zieht die ebenso leise wieder hinter sich zu. Gleitet – fast ohne die Füße zu heben. Er schleicht mit weichen Knien die Stufen hinunter. Oben regt sich noch nichts! Steht dann unten im Vestibül zwischen den falschen, den unechten von Monogrammen verkratzten Marmorsäulen eine ganze Zeit.

Der Mann da, ist eben sehr nervös, sehr herunter, wird sich das gewiß noch mal überlegen inzwischen. Vor fünfzehn Jahren ist er ja darüber weggekommen. Warum jetzt nicht mehr? Aber man muß sich doch mal in seine Lage versetzen. Damals war er wohl seiner selbst ganz sicher noch. Heute ist er älter, viel älter und das eben nicht mehr. Und dann ist er eben enttäuscht. Man hat ihn so lange übergangen, bis er gar nicht mehr in Frage kam. Und vielleicht ist er gar nicht so tüchtig, wie er sich früher vorkam. Ich kann das nicht entscheiden. Enttäuscht ist er, wie eben alle Leute mit zu viel Ehrgeiz zwangsläufig enttäuscht werden müssen. Warum das alles nur? Zum Schluß wird niemand der Leidtragende sein, außer ihm. Sie wird nur die Treppe hinauffallen. Man spricht sich doch wenigstens aus über so etwas. Und wenn man an Lu denkt, dann versteht man schon den Wiener Bankier, der gesagt hat: »Ich bin als Bankmensch lieber an einem guten Unternehmen mit fünfzig Perzent« – der Wiener sagt ja Perzent – nicht Prozent! Zu komisch!! »Lieber mit fünfzig Perzent an einem guten Unternehmen beteiligt, als an einem schlechten mit hundert Perzent!« Schade, schade, schade!!! Man möchte heulen. Aber was geht mich denn eigentlich dieser Doktor Spanier und seine Lu dort an?! Habe doch nun wirklich mit mir selbst genug zu tun, nachgerade!

Und damit klinkt Fritz Eisner die schwere Haustür auf. Draußen ist das graue Straßenbrausen und Lärm und durcheinanderwuselndes Leben. Und die ersten Laternen blinzeln im stumpfen Abendblau schon darüber hin.

Achter November! Eigentlich merkwürdig mild doch noch für diese Jahreszeit. Richtige l'heure bleue jetzt, wie auf einem Pariser Bild aus dem Salon d'Automne von 1906. Aber nicht so elegant und weich, eben doch nur Berliner Sezession 1910. – Mit deinen ersten grellgelben Lichttupfen von Laternen und den langen, in verwaschenem Graublau verwehenden Straßenzügen. Scharmanteste Stunde der Großstadt. Die einzige Stunde, in der sie zur Landschaft wird. Sehnsuchtsstunde des Malers, der oben in seinem Atelier die Pinsel auswäscht und die Palette abkratzt ... des Poeten, der noch kein Licht machen will und besseres träumt, als er je schreibt ... und all der Liebenden, die im Büro schmachten, und die Minuten zählen, bis sie ihr Pult abschließen können. Zärtliche Flanierstunde des abenteuerlüsternen Anatol von einst!

Wie wenig doch immer das Leben vom Leben weiß. Von Basel bis hinter Antwerpen steigt jetzt ein brüllender Schleier von Granaten in die Luft und sucht sich im Schlamm Leiber, um sie zu zerfetzen ... Münder, um sie mit ihren Gasen zu ersticken ... und Lungen, um sie zu zerfressen. Welche weinen über den frisch aufgerissenen Formularen des Todes. Welche hungern und fluchen. Der Laufbursche aber hier pfeift sich etwas aus der »Rose von Stambul«. Oder aus den »Drei alten Schachteln«? So etwas wird man nie auseinanderhalten! Vor einem Kino stehen die Leute, viel Urlauber darunter, Kette, als ob es dort Butter gäbe. Und zwei Menschen, die bald zwei Jahrzehnte Nacht für Nacht sich umschlungen hielten, und noch im Schlaf sich anlächelten, kehren sich kühl und sachlich mit spitzen Reden den Rücken. Wie wenig doch das Leben vom Leben weiß!

»Noch keine Abdankung des Kaisers!« brüllt ein Zeitungshändler. »Aufruf ... Prinz Max von Baden!«

»Der Kaiser ins Hauptquartier geflohen!« (das geflohen ist sein Zusatz) überschreit ein anderer ihn.

Aber ein patriotischer Brüllaffe von Zeitungsmann schlägt sie beide an Lautheit: »Ein Engländernest gesäubert. An den anderen Fronten nichts Neues!« (Kein Wunder: Es gibt keine anderen Fronten mehr.) Wie lieb und herzig doch der Ausdruck ist: Ein Nest gesäubert!

Kinder kommen mit einer grauen Dame in Schwarz, zwei zarte Mädelchen von acht und zehn mit blaß-lila Seidenkleidern, die unter den Radmäntelchen hervorsehen.

»Das schönste war doch der Glassarg«, sagt die Große. »Denk' nur, Omi, ein Sarg mit lauter Fenstern. Da haben wir aber gelacht!«

»Nein, Omi«, ruft die Kleine, »das schönste war der ... da ... da ... das schönste war der kleine bucklige Zwerg, der, wo so gehupft hat. Da haben wir aber gelacht!!«

»Der hat mir auch besser gefallen als der Sarg, Elli«, meint die graue Dame in Schwarz und schluckt; vielleicht weil ihr Magen rebelliert, vielleicht weil sie innerlich noch immer weint.

Dieses Jahr fängt man früh an mit Weihnachtsvorstellungen, denkt Fritz Eisner. Sie haben ganz recht, gnädige Frau: Es genügt, wenn Sie leiden. Aber die Kinder brauchen nicht da mit hineingezogen zu werden. Finde es sogar heroisch von Ihnen, daß Sie mit den Enkeln in »Schneewittchen« gehen, trotzdem es noch keine sechs Wochen her ist, daß Ihr Sohn fiel. Gott ja, Ihrer Frau Schwiegertochter konnten Sie es wohl doch noch nicht zumuten; und mit dem Hausmädchen allein wollten Sie sie nicht gehen lassen. Das ist so lieblos.

Der Weinhändler sitzt auf hohem Roß, ist zuerst wenig freundlich, stößt die Karte weg, hat nichts mehr – nur für Kunden! Sagt: An Fremde verkauft er nichts. Da könnte ja jeder kommen. Dann, als er gnädig die Visitenkarte sich doch ansieht und liest, daß es für eine Kranke sein soll, entdeckt er wortreich sein mitleidsvolles Herz zu fünfzig Prozent Aufschlag – der Mensch ist gut! – und verspricht sogar zu schicken.

Der Blumenladen nebenan braucht auch plötzlich seine Chrysanthemen für bestellte Kränze. Menschen haben plötzlich lieber Ware als Geld. Aber die schnippische Verkäuferin läßt sich dann doch herab, eine große silberige und rosadurchflochtene, wie aus verwirrten und verbogenen Glasfäden gesponnen, Fritz Eisner zu überlassen. Mit einer Rede, daß man keine Kohlen für die Gewächshäuser hätte, und daß sie ihnen eigentlich noch mehr kosten. Doch sie ist wirklich sehr schön, diese Riesenblume. Und schöne und extravagante Dinge haben keinen Preis. Außerdem liefert sie allein durch ihre Existenz Fritz Eisner schon den Beweis dafür, daß Liebe und Schönheit identisch ist. Zusammenhänge, die schon der alte Erasmus Darwin ahnte, als er meinte, daß Schönheit das ist, was mit dem, was wir lieben, verbunden ist.

Das mächtige Zeitungshaus – einst, als Fritz Eisner hier seine ersten Artikel hintrug, war es schmal; aber es hat mit den Jahren ein Nachbarhaus nach dem andern dazu gefressen und immer breitere Schultern bekommen ... der schwere Bau liegt grau und eigentlich ziemlich tot da. Vorn die Redaktionsstuben sind vielfach um diese Zeit verwaist. Und dann soll wohl auch mit dem Licht gespart werden. Man weiß nicht, wie lange die Elektrizität noch Kohlen haben wird.

Der alte Türsteher ... solche Leute sind immer angegraute Riesen! ... blickt von oben herab auf Fritz Eisner. So, wie er das nun schon seit über zwanzig Jahren tut. Denn ihr beiderseitiges Größenverhältnis hat sich in ihrer Bekanntschaft nicht geändert. Passiert, denkt er, denn er hat seit gestern Order, nicht jeden heraufzulassen. Man kann nie wissen: Solch eine kleine Bombe kann heute jeder legen. Aber der hier – wenn er auch kein Redakteur ist, der hier den Tag über wohnt – geht immer ein und aus, seit urlangen Zeiten. Selbst wenn er auch mal schon ein, zwei Jahre nicht gekommen ist, er gehört doch dazu ... zum Haus.

Fritz Eisner aber blinzelt ihn an, kneift das eine Auge ein und sagt nichts als »Na, Herr Strehl?«

Und Herr Strehl versteht, nickt und beugt sich zu ihm hinunter, bringt den Kopf, groß wie ein Zentnerkürbis, gegen Fritz Eisners linkes Ohr: »Morjen jeht's hier also ooch los!« sagt er leise – wenn man berücksichtigt, daß alle Dinge und Maßstäbe relativ sind. Denn jeder im Umkreis von zehn Metern hätte das Geheimnis hören können. Aber es huschte nur ein Laufmädchen vorbei. Selbst die Laufjungen, halbe Kinder noch, waren ja schon draußen.

Wie oft hatte Fritz Eisner die Unruhe mitgespürt, die dieses Riesenhaus erfüllen konnte! Beim Ausbruch des russisch-japanischen Krieges. Beim Hauptmann von Köpenick. Das war hier wie ein Erdbeben. In den letzten Tagen vor Kriegsausbruch; mit der ganzen Steigerung der Nervosität vom kleinsten unbestimmten Prickeln bis zur unerträglichen Erregung, in die dann alles hineingezogen wurde, vom Verlagsdirektor, dem Chefredakteur, bis zum Türsteher und dem allerjüngsten Radfahrerburschen, der auf die ersten Extrablätter wartete. Er kannte das, diese Erregung, in der die Minuten sich zur Endlosigkeit dehnen können, und in der trotzdem eine Nacht wie eine Minute vorüberfliegt. Das hier ist Brennpunkt, der die Strahlen sammelt. Hier weiß man ja alles Stunden früher, und ahnt alles Tage früher.

Aber heute ist das Haus wie gelähmt, als ob noch Sauregurkenzeit wäre. Es geht so etwas wie schlechtes Gewissen durch Treppen und Gänge. Man läuft nicht, man schleicht. Der Fernschreiber klappert unentwegt in einem Vorraum. Aber niemand denkt daran, nachzusehen, was er Neues brächte. Die Papierbänder häufen sich auf und krusseln sich zusammen. Wen geht es noch etwas an, was da amtlich gelogen wird.

Ja, ja, die Presse hat schlimme Tage gehabt, schlimme Jahre, denkt Fritz Eisner, während er durch die hohen Treppen und langen halbdunkeln Gänge tappt. Das Beste, was sie wußte, durfte und wollte sie nicht schreiben. Sie hat bös an der Kette gelegen; ist auf den amtlichen Pressekonferenzen schwer getäuscht und betrogen worden ... hat immer weiter in Kriegsbegeisterung machen müssen. Und die kleinsten Pinscher von Redakteuren sind dabei die blutrünstigsten und annektionsfreudigsten gewesen. Sie hat »Durchhalten« predigen müssen, wie sie schon Jahre nicht mehr daran glaubte. Sie hat immer neue Ideen und Vorwände erfinden müssen, um den Leuten daheim den letzten Hundertmarkschein für die letzte Kriegsanleihe aus der Brieftasche, und den letzten Taler und das letzte Goldstück aus dem Strumpf zu ziehen. Ungefähr so, wie man einem Kind, das nicht essen will, die Happen beibringt: Der ist für die Mutti! ... Und der ist für den Pappi! ... Und der für den Bello! ... Und der für das Kätzchen! Und nun nur noch der, weil der letzte Bissen doch so gut geschmeckt hat!! Jetzt, noch Anfang November, da jeder schon wußte, wie nutzlos es war, dem bankerotten Unternehmen auch nur einen Pfennig Kredit zu geben ... Na, da nennt man's eben: Friedensanleihe ... basta!!

Die Stille auf den schlechtbeleuchteten Gängen ist heute hier unheimlicher, als es sonst das Leben und die wildeste Hast je sein könnte, denkt Fritz Eisner. Aber vielleicht sind sie auch nur doppelt still durch den schallverzehrenden Gummibelag. Hin und wieder huscht ein Laufmädchen mit Papieren und Depeschen, eine Sekretärin mit Stenogrammblock, ein verspäteter oder verfrühter Redakteur über den Gang und verschwindet in einem andern Zimmer. So wie ängstliche Mäuse, die von Loch zu Loch huschen.

»Der Kaiser«, ruft einer im Vorbeihuschen dem andern zu, »hat nun doch zugunsten seines ältesten Enkels abgedankt.«

»Das wird ihm nichts mehr nützen«, meint der Skeptiker drüben. »Fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufen.«

»Das hat ihm ja schon der alte Goethe prophezeit!« ruft der andere, lacht und verschwindet. Das ist so die Art unter Redakteuren.

Aber eigentlich hat doch die Presse der ganzen Welt ebenso versagt, hat gehetzt, geschimpft und gelogen, als ob die Wahrheiten nicht schon an sich genügt hätten, und grausiger und unglaubwürdiger als alles waren, was menschliche Phantasie ersinnen und menschlicher Verstand umspannen kann. Diese Wahrheiten jedoch hat die Presse überall verschwiegen. Gewiß, also, es war bei uns nicht viel schlimmer gewesen als anderswo, meint Fritz Eisner, während er auf einem Treppenabsatz haltmacht. Das Ganze war eben ein schmähliches Kapitel für die Menschlichkeit. Jeder wußte das. Und keiner durfte das äußern. In den ganzen vier Jahren. Und nun schreien sie mit einemmal, seit acht Tagen, und halten am Bismarckdenkmal Versammlungen ab: »Wir sind vom Volk verraten worden« (wer ist »wir«), reden von »Schmachfrieden« und »Verzichtfrieden«, diese Herren, so wie jemand, der gestohlen hat, schreit: »Haltet den Dieb!«

Gott ja, ist so still, so gewitterig still hier oben jetzt. Heute sind diese hier auf der Zeitung wohl auch etwas verwirrt, weil sie nicht recht wissen, was das Volk plötzlich vor hat. Aber, so ist das Wesen der Zeitung nun einmal: Morgen werden sie sich sehr schnell schon umgestellt haben. Ein echter Redakteur ist auf alles gefaßt, weiß von allem, und ist an allem innerlich unbeteiligt. Es gibt keine Tatsache, der er sich nicht beugt. Wenn die Welt unterginge, urplötzlich, würde der Redakteur eben seinen alten Leitartikel aus dem Druck ziehen und seinen neuen beginnen: »Wie wir schon vorgestern angedeutet haben, ist die Welt nunmehr um drei Uhr achtzehn mitteleuropäischer Zeit untergegangen.«

Fritz Eisner klinkt endlich ganz oben irgendwo eine aus der langen Reihe von Türen auf. Er braucht draußen weder nach der Nummer noch nach dem Schild mehr zu sehen. Er würde sie nie verfehlen. Er fände sie wie eine Tür bei sich zu Hause im Dunkeln schon. Und wie er dieses Zimmer kennt, in jeder Phase seines Seins. Dieser Raum, der fast leer ist, einen Arbeitstisch, einen Schrank, einen Stuhl für den Besuch noch extra, ein Regal, eine Lampe und ein Fenster, vor allem aber ein Fenster hat! Dieses Fenster geht nicht nach der Straßenseite, sondern nach irgendeinem der vielen Höfe, nach der Druckerei und den Maschinensälen zu. Deshalb ist ja auch das Zimmer, sowie die Maschinen laufen, von einem summenden und vibrierenden Geräusch, einem unerträglichen Ton gewordenen Zittern erfüllt. Als ob man darin unter einer riesigen, aber geheimnisvollen Luftpumpe säße, fühlt man sich dann. Aber, wenn man täglich acht Stunden oder zehn darin lebt, merkt man es bald nicht mehr ... sagt Nuck. Auch der Hof zählt dann eigentlich nicht, ist nur ein tiefer, enger Schacht ... dieser Hof E ... in den man selten noch hinab sieht, weil einen sonst graust. Unten stapeln sich die holzumschlagenen Rollen von Druckpapier auf schmierölbetropftem Asphalt zwischen Handwagen und Lastautos, die auf ihre Arbeit warten.

Drüben aber sind tagein, tagaus – das ändert sich nicht, oder kaum erkennbar in den Jahreszeiten – flache Dächer mit Kies, und solche mit Schindeln und Dachziegeln, und dazu ein bißchen welkes Kraut, das da in einem Winkel an einem Schornstein angeflogen ist ... Wie genügsam doch das Leben ist! Und über all dem langweilt sich eine Unmasse von Himmel. Durchaus neutraler Himmel. Himmel an sich. Zusammenhanglos mit allem andern hier. Jetzt ist er zum Beispiel nur eine rötliche ungewisse Dämmerung, wie sie stets zur Abendzeit über der City schwelt.

Aber Fritz Eisner kommt jetzt noch lange nicht dazu, Ruth Block so zu begrüßen, wie er es gewünscht hätte, muß sogar erstaunt tun, sie hier noch zu treffen, und so als ob er nur zufällig hier vorüberkäme, und muß was ihm am schwersten fällt – ›Sie‹ sagen. Und dabei fühlt er im Augenblick mit einem ganz körperlichen Schmerz in der Herzgrube, und mit Augen, die ihm vor leiser Rührung in den Winkeln brennen, ihre nahe Gegenwart. Ein junger Mensch nimmt von so einer schönen, jungen Lebenspartnerin Besitz wie von einem Deputat, das ihm zukommt. Für einen älteren, so um die Fünfzig, bleibt es immer das unverdiente Geschenk. Fritz Eisner weiß plötzlich, wie er neben den Tisch tritt wieder, was er stundenweise vergessen hatte heute, nämlich, wie sehr er doch an diesem dunklen ›schönen‹ großen Menschenwesen da hängt, und daß überhaupt alles sonst, ohne jenes Menschenwesen da, nur Halbdunkel und Gleichgültigkeit ist. Im besten Falle Lebensersatz. So wie man jetzt Eierersatz, Ölersatz, Mehlersatz, Pudding- und Soßenersatz hat. Man würgt es herunter, und es wird einem speiübel danach. Wahrlich das einzige, was doch dem Mann, dem besseren Menschen, noch geblieben ist aus diesem Chaos seines seelischen Zusammenbruchs durch den Krieg, ist eben die Frau. Und dann vielleicht in einiger Entfernung eine gotische Holzfigur, oder der delikate Linienfluß auf einem Utamaro, das Metallüster eines persischen Topfs, eine Zeile Goethe und ein Reim von Rilke. Das ahnen ja selbst ein Paul Gumpert und ein Doktor Georg Groß, die im Geld wühlen, und sich Leute halten müssen, die das Geld täglich umschippen, damit die Papierfetzen nicht schimmelig werden.

Fritz Eisner muß die Chrysantheme still auf den Tisch legen und ›Sie‹ sagen, fragen, ob Fräulein Block noch zu tun hätte. Neben Nuck sitzt nämlich (sie haben die Köpfe im Lichtkegel der Arbeitslampe dicht beieinander ... über der grellen Tischplatte, die mit angedruckten Bogen, umrahmten weißen Blättern, Seitenspiegeln, Probeabdrücken von Illustrationen auf Glanzpapier, Klischees und Mappen dicht belegt ist) ... sitzt nämlich auch im weißen Arbeitskittel, nur daß der von Nuck – in solchen Dingen ist sie närrisch! – aus Schappseide ist ... sitzt also solch ein schlanker, blondschopfiger Kakadu von einer Hilfsredakteurin. Ihr wilder, hochgetürmter, weißblonder Wuschel von Haaren über ihren schmalen Schläfen, und der schwere schwarze Knoten lackschwarzer, ganz glatter, wie japanischer Flechten, den Nuck – denn sie liebt halsfreie Kleider – über dem üppigen Nacken hat ... etwa wie die Nana von Feuerbach, aber doch nicht ganz so! ... läßt Fritz Eisner plötzlich an einen alten Kindervers denken: »Ein schwarzes und ein weißes, und wenn das Kind nicht artig ist« (es gibt da verschiedene Versionen ...) ja dann beißt das schwarze es eben.

Aber das schwarze wird mich nicht beißen, mich nicht! Diese große, schwere, frühreife, doch schon frauenhafte Menschenblume! Nicht glaukopis, die Eulenäugige, eher boukopis. Eher Juno, die kuhäugige Juno, als die mädchenhafte Athene. Aber die gab ihr nur das Äußere, die Gestalt, das Auge ... Ihr frühwacher Geist, ihre Klugheit und Dialektik, ihr Wesen, etwas hart eigentlich, sehr geradlinig, etwas herrisch, aufrecht, innen wie außen, von starken Gefühlen als Hasserin wie als Liebende, das hat ihr doch die Glaukopis verliehen. Diese Beweglichkeit des Verstandes, die in kürzester Zeit Dinge aufnimmt, verarbeitet, einordnet, dieses Fädenanspinnen zu Hunderten und Hunderten von Menschen ... diese Sucht nach der Vielheit der Welt und Erkenntnisse. Merkwürdig, was Nuck doch in dieser kurzen Bewußtseinssphäre ihres jungen Lebens von fünf, sechs Jahren – denn länger kann sie noch nicht wach sein! – schon alles in sich aufgenommen und eingetrunken hat!!

Gewiß, sie ist hier oben am falschen Platz, und was sie tut, tut sie eigentlich nur, um ihr Teil Arbeit am Leben abzuleisten, und von zu Haus ganz unabhängig zu sein, und, um ein Sprungbrett zu haben, für das, was sie selbst einmal will. Das hier erfüllt sie nicht. Aber sie macht es vorzüglich, schnell und anständig und zuverlässig, sogar mit neuen Ideen. Also so, wie Nuck eben jede Arbeit leisten würde. Eigentlich aber will sie woanders hin, in die Politik und die Frauenbewegung hinüber, fängt schon hie und da an, eine bescheidene Rolle zu spielen. Im Frauenstimmrecht zum Beispiel. Ist natürlich radikale Pazifistin.

Während sie mit dem Pinsel einen glatten, blanken Andruck von einem überaus wohlgepflegten und sympathischen Soldaten vor einem ebenso wohlgepflegten und sympathischen Soldatengrab auf ein umrandetes Blatt in die linke Ecke schiebt, es kritisch betrachtet, abreißt und dann schwupp auf die rechte Ecke pappt, meint sie, ohne den Kopf zu heben: »Was macht nebenbei Marley, Herr Eisner? Sind Sie nicht mehr im Klub der violetten Aster? Seit wann?«

»Doch, ich habe ihm sogar ein neues Mitglied zugeführt. Das erzähl' ich Ihnen nachher. Aber seit wann ist heute Redaktionsschluß?« Das ist eine harmlose Frage, aber sie heißt in wortgetreuer Übersetzung: ›Zum Donnerwetter, pack doch schon endlich den Krempel zusammen und komm. Wir haben uns doch lange genug nicht gesehen und gesprochen. Meinst du nicht auch? Volle acht und eine halbe Stunde. Wie soll man denn das aushalten, Nuck?!‹

»Also denken Sie sich«, sagt sie mit ihrer sonoren und merkwürdigen, fast männlich rauhen Stimme, und sie lacht dabei fast das beste von ihren Worten weg, denn eigentlich lacht sie gerne, »also denken Sie an, jetzt plötzlich um halbdrei noch, kommt Ordre: alles, was noch auf den Krieg entfernt Bezug hat in den nächsten drei Nummern, die ich schon vorbereitet hatte, muß 'rausgeworfen werden, vierundzwanzig Seiten müssen neu gemacht werden. Wir müssen uns ganz auf Friedensglück und heimkehrende Truppen umstellen (habe, Gott sei Dank, in all den drei Jahren, solange ich hier bin, wenn es einmal nach Frieden roch, immer schon etwas auf Vorrat mir schreiben lassen, mal wird's ja doch gebraucht, dachte ich), und so komme ich jetzt wenigstens nicht sehr in Verlegenheit. Mütterlein, die Braut, die treue, die untreue, die umsonst wartende: Er kommt nicht mehr! Der Vierjährige: Mama, wer ist denn der hübsche fremde Soldat? Hier rührender Abschied von Quartierwirten ... in Klammern: Belgien, Polen, Frankreich, Italien, Araber ... überall hat man uns ja geliebt!! Soldatenabschied von dem Grab des Kameraden. Ruhe sanft in ferner Erde! Ach nein, in fremder Erde! Wie wünschen Sie es, Herr Eisner? in Versen, in Bildern oder in Prosaskizzen? Mit oder ohne Erdgeruch und Heimatglockenklang? Allens da. In Cicero, Borgis oder mit fetter Woellmer ... Schwabacher oder Fraktur. Wir hier glauben zwar nicht daran. Aber wir möchten doch gerne, daß wenigstens die Frau Untersteueranwärter Schulze daran glaubt. Sehen Sie, die Frau Untersteueranwärter Schulze hat's nicht gut im Leben, trottet sehr ärmlich, kleinlich, und unsagbar stumpfsinnig dahin. Vielleicht ist überhaupt ihr Mann gefallen. Und wenn er nicht in Oberost einen guten Posten erwischt hat, hat er selbst an dem Krieg nicht viel verdient. Und da bringen wir doch wenigstens einen kleinen Schimmer von Glück in ihr Dasein, wenn wir ihr erzählen, wie man aus einer alten Konservendose immer noch eine neue Blumenvase machen kann, und aus Brotresten eine Bismarck-Torte, und aus den alten Schlipsen einen Umhängeschal. Und wenn sie sieht, daß selbst Gefangene malerisch und vergnügt aussehen können, und daß der böse, aber notwendige Krieg auch seine neckischen Seiten haben konnte!«

»Na, und über Revolution bringen Sie nichts, Fräulein Block?«

»Nein, das Wort Revolution darf vor Ihrer Majestät der Frau Untersteueranwärter nicht erwähnt werden. Ihre Majestät braucht Sonne!«

Nuck hat indessen immer weiter solche Kitschbildchen auf die Seiten geleimt und allerhand Rätselworte, wie Borgis, Petit, Speck, Durchschuß, Leiste darunter und daneben, geschrieben mit ihrer übergroßen Cäsaren-Handschrift.

»Aber Sie können doch unmöglich die drei Nummern noch heute einrichten, Fräulein Block!« Also das winkt doch sehr deutlich mit dem Zaunpfahl: Wirst du denn den Unfug da noch nicht zusammenpacken, Nuck? Als ob das, was wir uns zu sagen hätten, nicht wichtiger wäre.

»Eigentlich hatte ich es mir vorgenommen, Herr Eisner, es heute noch zu Ende zu machen. Denn man kann nie wissen, was kommt«, meint Ruth Block langsam und sieht zu ihm auf. Jetzt erst sieht sie die Chrysantheme. »Wie schön so was ist!« meint sie und lächelt dankbar und für den Augenblick ganz und gar glücklich zu Fritz Eisner hinüber, der sich auch an einem Winkel des Tisches schmunzelnd über die Blätter gebeugt hat. »Die Farbe ist neu. Solch ein Abendkleid müßte man haben. Solch ähnliches hat Lena schon vor vier Jahren gehabt ... Aber es kann wirklich auch bis morgen bleiben«, setzt sie langsam hinzu ... und ihre großen Augen verraten sie mehr als der Ton ihrer Worte: Sie sind dunkel und warm und lächeln. Und doch fühlt Fritz Eisner – er könnte nicht sagen, woran er es sieht, er empfindet es nur! – diese wunderschönen, großen und strahlenden Augen mit dem stolzen und doch lächelnden Blick müssen heute geweint haben. Seit heute früh, da wir uns trennten, viel und lange geweint haben. Was gibt es da nur wieder? Nun ja, es ist wohl zu verstehen, wenn solch ein junges Ding mit solchem alten, verheirateten Kerl, wie er es ist, herumzieht und nicht los von ihm kommt, und er nicht von ihr, da gibt es eben ganz aus sich Tränen. Tränen eigentlich ohne bestimmte Anlässe. Die Situation bringt's so mit sich. »Der alte Narr hat seine Hände in einem Menschenschicksal gehabt«, sagt Ibsen. Oder er sagt es eben nicht. Gott, wenn man so sein Leben zurücksieht: Wieviel Frauentränen sind so um jeden von uns vergossen worden. Auch wenn wir selbst nie mit Wunsch und Willen hart zu einer Frau waren. Ich habe es nie über mich gebracht, eine Frau, die mir Liebe geschenkt hatte, später schlecht zu behandeln. Denn, wenn auch der Pokal schlecht und zerbrechlich war, der Trank war doch süß. Dieser Lebensregel hat schon der Halbjude Michel Montaigne vor langen Jahrhunderten nachgelebt. Und gewiß ist er doch so wenig diesem Schicksal entgangen wie irgendeiner von uns, die ihm darin gefolgt sind. Ach Gott, das wird vorübergehen. Aber sie soll nicht weinen. Schönheit soll nicht weinen. Eigentlich soll niemand weinen. Wir sind da, um unser Dasein auszuleben und jede Freude daraus zu schöpfen, die es bieten kann, nicht, um daran Anstoß zu nehmen.

Der schlanke, blondschopfige Kakadu räumt schnell die Blätter und Mappen zusammen, schließt sie in die Schubfächer des Schrankes. »Nun kann ich wohl gehen, Fräulein Block?!« sagt sie mit einem Blick auf Fritz Eisner: Na also, Kinder! Für wie dumm haltet ihr mich denn eigentlich? Aber ich bin diskret, heißt dieser Blick. Zugleich ist sie aber doch sehr stolz, daß ein Mann, der soviel dicke Bücher geschrieben hat, die überall ausliegen, so ganz ohne alle Ziererei mit ihnen hier oben plaudert. Jetzt will sie doch mal sich von ihm was aus der Leihbibliothek holen. Denn da sie noch nicht lange beim Fach ist, imponiert ihr noch Gedrucktes gewaltig.

Und dann sind sie beide allein in dem engen, unter dem Stampfen und Rollen der Rotationsmaschinen vibrierenden, wie vor Nervosität zitternden Raum. Soweit man in solch einem Riesenhaus, das die Sitte des Anklopfens nicht mitmacht, allein sein kann. Und dieses schwarze, große Mädchen im flatternden Seidenmantel wirft sich hastig und so, als ob sie es allzulange und schwer entbehrt hat, gegen Fritz Eisner und streichelt ihm leise die Backen. Wie wenn sie damit sagen wollte: Jetzt, da du wieder da bist, ist doch eigentlich alles gut, und die Welt sieht für mich schon wieder ganz anders aus. Und während sie das tut, wirbelt sie schon ein Dutzend Fragen durcheinander: »Hast du heute was erlebt? Wo bist du gewesen? Wen hast du gesehen? Wieder Isehoppelinchen?« (Diese erfundene Figur, die nie jemand gesehen hat und der alles zugeschrieben wird, lebt seit hundert Jahren in vertrautem Verkehr nur mit der Familie Eisner.) »Hast du Brief von Haus bekommen gehabt? Was hast du Neues gehört? Hast du endlich deinen Roman angefangen? Nein? Warum bist du eigentlich immer so faul? Du bist doch der faulste Kerl unter Gottes Sonne. Und dabei kann man keine Zeitung aufmachen, ohne auf seinen Namen zu stoßen. Und nebenher schmiert er noch solche ganze Bibliothek zusammen. Wann machst du denn das eigentlich? Solange ich dich kenne, hast du noch nie eine Feder in die Hand genommen. Und wenn ich mir mal so etwas ganz besonders Feines ausgeklügelt habe oder gesehen habe, und denke wunder, wie ihm das imponiert, sagt mein Freund hier: Band drei, Seite zweihundertsiebenunddreißig. Und richtig, da steht es schon seit fünfzehn Jahren, sechsmal präziser und zehnmal feiner. Ich kann doch nichts dafür, Yorik« (denn für den hat sie eine Vorliebe, und sie meint, daß ihre Affäre auch so angefangen hat wie die in der ›Empfindsamen Reise‹ zwischen Yorik und der schönen Handschuhmacherin ... mit einem sehr langen magnetischen Blick über den Tisch fort ... nur daß sie weniger harmlos ausgegangen ist) »nichts dafür kann ich, daß du schon fünfundzwanzig Jahr länger auf der Welt bist als ich. Ich habe mir jetzt sogar überlegt, ob wir das nicht vielleicht so ändern können, daß wir einfach teilen. Du gibst mir von dir zwölfeinhalb ab, dann passen wir viel besser zusammen. Dann sind wir beide nämlich gleich alt. Ach nein ... mach nicht wieder deine traurigen Hundeaugen. Denkst du an deine Kinder? Dann machst du auch immer solche Augen. Wir passen auch ja so zusammen, Yorik! Nicht wahr?« Und jetzt küßt sie ihn – sie wartet keine Antwort ab, wird rot ... denn sie kann wirklich noch rot werden, da sie nicht auflegt, jetzt, wo es doch alle Frauen tun ... will ihn selbst vom Fragen ablenken – und sieht doch dabei ängstlich über seine Schulter fort nach der Tür hin, ob sie nicht etwa aufgeht und sie überrascht werden.

Fritz Eisner jedoch hat die ganze Zeit nur geschwiegen, hat sie immer mehr sich abhaspeln, immer verwirrter werden lassen: »Also, Nuck«, sagt er endlich langsam; und wenn Blicke liebkosen können, so tun sie es. »Das, was du wissen willst, das erzähle ich dir alles nachher, ganz genau. Erst mußt du mir aber sagen: Warum hast du heute geweint?«

Nuck lächelt, doch es gelingt ihr schlecht: »Aber, was willst du denn, Mensch, ich habe doch gar nicht geweint.«

»Nuckelino ... Ich habe nicht gefragt, ob du geweint hast, sondern warum du geweint hast?«

»Ach Gott«, sagt sie, »meine Mutter hat mir geschrieben. Aber das ist ja wirklich nicht so wichtig. Komm, wir wollen gehen. Ich möchte keinem hier mehr mit dir in die Arme laufen. Was gibt es eigentlich Neues draußen?«

»Kann ich den Brief nicht doch vielleicht einmal sehen?«

»Nein, nein, ich habe ihn gar nicht mehr. Er war nicht nett. Ich glaube, sie ahnt oder weiß alles, was zwischen uns gespielt wird. Aber ... das ist ja wirklich völlig gleichgültig. Was sollen wir uns damit noch belasten, mein alter Junge.« (Wieder küßt sie ihn.) »Erwähnen wir das nicht weiter. Zwischen mich und mein Volk soll sich kein Blatt Papier drängen. Nicht wahr? Das hat schon Friedrich Wilhelm der Vierte gewußt. Wenn wir zusammen sind, so sind wir zusammen. Und außerdem gibt es Dinge, Yorik, die jeder mit sich selbst abzumachen hat, und die bleiben eben ganz weit draußen, wenn wir zusammen sind. Hoffentlich hält Mutter noch recht lange in Dessau aus. Denn, was nachher werden soll, habe ich keine Ahnung. Ich habe ihr jedenfalls geschrieben, daß es hier jetzt gerade sehr, sehr schlecht wäre ... überhaupt nichts zu bekommen. Und daß man jeden Tag Krawalle befürchten könnte. Sie hätte es da tausendmal besser. Und sie sollte nur bei Tante Klärchen bleiben, solange es ihr und der Freude macht. Ich glaube zwar nicht daran, an diese Krawalle. Aber sie kamen mir, wie Mortimer, sehr gelegen. Und dann redet sich Mutter doch ein, eine Wohnung ist nicht dazu da, um darin zu wohnen, sondern nur, damit sie reine gemacht wird. Wenn sie mit dem einen Ende fertig ist, läßt sie mit dem andern schon wieder anfangen. Das ist solche Krankheit von ihr, solch Putzfimmel, damit hat sie schon meinen armen alten Vater damals immer aus dem Haus getrieben – ich erinnere mich noch ganz deutlich an die Szenen, trotzdem ich ja da erst ganz klein war. Und mich wird sie auch damit herausjagen.«

Komisch, denkt Fritz Eisner. Nuck hat heute so eine Art, die Dinge aufzutragen und den Pelion auf den Ossa zu häufen, die mir an ihr unbekannt ist: Gewiß, sie wird wohl einen Brief von ihrer Mutter bekommen haben. Und vielleicht stehen auch solche Andeutungen darin ... denn die Menschen sind ja doch sehr liebe Wesen, und warum soll der alten Frau (das heißt, sie ist kaum vier Jahre älter als ich) nicht irgendwer geschrieben haben, der uns zusammen mal sah: Höre mal, meine Gute ... Deine Tochter ... ich würde!! Und kennen tut man mich in Berlin auch wie einen bunten Hund. Aber Nuck ist nicht aus solchem Stoff, daß sie etwa deshalb weint. Dazu ist sie viel zu stolz und verschenkt sich viel zu skrupellos und großzügig an mich. Bekäme es fertig, der Mutter kurz und bündig zu schreiben: Ja, so ist es, Mutter. Und das beste ist es für alle Teile, wenn wir nicht darüber sprechen werden. Darüber bin ich hinausgewachsen. Ebenso, wie ich auch von dir kein Geld mehr fordere, sondern mein privates, eigenes habe und verdiene, so wünsche ich auch, mein privates Leben zu haben. Ist doch, wenn auch keine latente Feindschaft, wie heute oft zwischen Vater und Sohn, und Mutter und Tochter, so doch eine tiefe und eigentlich kühle Fremdheit zwischen ihnen. Man weiß nicht, ob man so etwas beneiden oder beklagen soll. Ich jedenfalls habe mit meiner Mutter mal besser gestanden, trotzdem ich ihr mehr Sorgen gemacht habe.

Aber was hat es für einen Sinn, deshalb in sie zu dringen? Vielleicht kommt sie viel schwerer darüber weg, wenn ich sie frage, denkt Fritz Eisner, als wenn ich sie einfach gehen lasse. Und wie sie sich schon wieder mit der Chrysantheme freut, steckt sie sich ins Haar und spielt, indem sie die Augenbrauen hochzieht und sich Schlitzaugen macht, Geisha damit, und bekommt plötzlich ein ganz japanisches Gesicht, sogar einen Emailleglanz in den Augen. Warum ist sie bei dieser Mimik nicht Schauspielerin geworden, eigentlich. Aber, ob das mit der Stimme geklappt hätte? Und dann steckt sie sich die große Silberblume doch an den Mantel, den sie sich so wie einen Militärmantel über die Schultern hängt. Es ist ein wundervoller, leichter, heller Tuchmantel, stammt gewiß noch aus der Pariser Zeit von Lena ... sieht ihr darin wirklich ähnlich ... aber doch etwas zu dünn für einen Novemberabend.

»Also Nuck, du meintest, Krawalle gibt's nicht. Nein, gibt es auch nicht. Aber soweit ich es weiß, wird es morgen Revolution geben. Ich habe das aus ganz sicherer Quelle.«

»Unsinn, Yorik. Das hat jeder. Der ›Vorwärts‹ bringt morgen nochmals einen Aufruf, daß die Arbeiter nicht auf die Straße gehen sollen. Und der hat die Arbeiter in der Hand. Aber S. M. muß wohl fort, den hält schon niemand mehr.«

Und sie stülpt dabei den großen breitkrempigen Hut sich auf. Solche Art von rauhem Cowboyhut, cafeaulaitfarben mit einem schmalen goldgrünen Rand. Sie weiß, daß er ihr sehr gut steht (man soll nur nicht denken, daß sie auf so etwas nicht achtet!), weil er die Augen etwas überschattet und sie trotzdem aus dem Halbschatten heraus noch größer und leuchtender macht. Nuck nennt ihn ihren Anitaaugsburghut und trägt ihn in allen Frauenversammlungen, allwo er schon zu einer gewissen Volkstümlichkeit – wer ist das junge schwarze, interessante Mädchen mit dem Hut eigentlich? – gelangt ist. Sie gibt ihm stets künstlich eine etwas saloppe und verwitterte Form. In Wahrheit aber kauft sie sich sofort, sowie einer auch nur ein wenig abgegriffen ist, einen neuen und läßt den letzten wieder aufdämpfen, trägt ihn aber dann nie wieder, so daß sie ein ganzes Hutlager von dieser Spezies im Schrank schon hat.

»Ach Gott, mein braver, dummer Nuck: S. M. ist kein Problem mehr. Jetzt in dieser Stunde reiten die Toten schon verdammt schnell. Man fragt nicht mehr, ob er unschuldig oder schuldig am Krieg geworden ist. Nicht gedacht soll seiner werden! Was jetzt kommt, sind wichtigere Entscheidungen als all die, von denen die Herren Großschlächter überall in all den vier Jahren gefaselt haben. Nach all dem wird von morgen an kein Hahn mehr krähen. Paß auf, jetzt wird denen erst einmal die große Rechnung präsentiert. Morgen ist kritischer Tag erster Ordnung.

Aber komm, alter Hund, ich freue mich doch furchtbar, daß ich dich wieder habe. Du weißt ja: der Dichter gewöhnt sich an sein Publikum, als wäre es ein vernünftig Wesen. Wenn ich es mir recht überlege, hab' ich doch den ganzen Tag ganz plump und dumm Sehnsucht nach dir gehabt. Auch wenn ich es nicht gemerkt habe. Also gib mir deine Mappe und ... weißt du was, komm heute mal zu mir heraus. Morgen brauchst du ja doch erst um Mittag uf Arbeet zu jehen. Wer weiß, was es morgen früh hier in Berlin gibt? Bei mir in Nikolassee jedenfalls werden die Kohlmeisen vor meinem Fenster zwitschern. Vor deinem Fenster werden es vielleicht die Maschinengewehrkugeln tun.«

Doch Nuck will Fritz Eisner die Mappe durchaus nicht lassen, nein, die trüge sie heute.

»Aber wo sind meine angestammten Rechte?«

»Ach was, Revolution!« sagt sie. Er wäre immer so unvorsichtig damit (wozu diese Aufregung und diese plötzlich heißen und roten Backen?), und neulich wäre schon eine tiefe Schramme in das Leder gekommen, die sie kaum herausgebracht hätte.

Gewiß, sie ist mit ihren Sachen sehr, ja übertrieben eigen. Etwas vom Putzfimmel der Mutter muß doch auf sie übergegangen sein. Aber warum hat sie denn das ihm nicht früher schon gesagt? Und dann: er hat sie wirklich nicht gemacht, die Schramme. Ist doch sonst in solchen Sachen nicht gerade maulfaul ihm gegenüber. Vielleicht ist da der Brief von der Mutter drin, und Nuck fürchtet, er könnte ihn gegen ihren Willen lesen. Eigentlich kränkt es mich mehr, daß sie mir dies zutraut, als daß sie mir die Mappe nicht lassen will! denkt Fritz Eisner, gibt den Kampf um die Mappe auf, denn sie haben sich weidlich damit hin und her gezerrt – und tritt hinter Ruth ziemlich mürrisch und verstimmt auf den – Licht muß gespart werden! – halbdunkeln Gang hinaus und geht unmotiviert davon, läßt seine Freundin zurück. Das kann auch so scheinen, als ob es eitel Vorsicht ist, damit man sie hier nicht zusammen sieht. Aber Nuck kaut die Lippen und fühlt, daß dem nicht so ist.

Aber schon auf der Treppe ist sie wieder neben ihm, und Fritz Eisner empfindet den Schritt und den gleichen Rhythmus des Schreitens ganz dicht bei sich – selbst wenn sich weder Arme noch Fingerspitzen auch nur berühren. Und schon dieser gleiche Rhythmus entzückt ihn. Es ist so wunderhübsch, neben sich ein Wesen ... eine Frau zu spüren, die das gleiche Maß der Bewegungen hat; Mann und Frau, die das nicht haben, sollten sich eigentlich nie heiraten. Sie stimmen nicht zueinander. Und Nuck ist nicht größer und nicht kleiner als ich. Für eine Frau also ziemlich groß schon. Und ich brauche nur den Kopf etwas zur Seite zu drehen, so blicke ich ihr voll in das Gesicht hinein, gerade in die großen, blanken Augen hinein. Kleine Frauen können süß und betörend sein, Puppen, mit denen wir Tag und Nacht spielen wollen, rosige, mollige Kinder, die wir in den Arm nehmen und hin und her, immer hin und her wiegen müssen. Aber, wenn man neben ihnen geht und wendet plötzlich den Kopf, sind sie nicht mehr da. Und man sieht ins Leere oder in einen wahnsinnigen Federhut hinein, oder auf eine lächerliche Frisur hinab. Wie doch solche scheinbare Nebensächlichkeit, ein paar Zoll mehr oder weniger, ein Schritt schneller oder langsamer, kürzer oder länger, unsere ganze Gefühlswelt bestimmen kann. Ich glaube, ich habe mich endlich mit Annchen doch nur deshalb so ganz auseinanderleben können, weil unser Schritt sich nie zu einem Klang zusammenfinden konnte. Und da ist nun etwas, das geht neben mir in meinem eigenen Schritt, das atmet mir entgegen und lächelt mich an. Und so etwas soll man je wieder von sich fortlassen müssen!

»Ach ja, Yorik, also gut: dann wollen wir zu dir heute herausfahren. Wir machen uns einen netten Abend. Hast du ein bißchen Wein da?« (Seit wann trinkt Nuck Wein? denkt Fritz Eisner. Das ist ein Novum.) »Hast du auch Marley nicht vergessen? Nein, da ist er ja. Ich glaube, du hängst dich auf, wenn du ihn je verlierst. Überhaupt liebst du die Dinge mehr als die Menschen. Ob das nun der Stock Marley ist oder ein alter zerbrochener Topp mit: sieh nur mal das Cachet! Jede Nacht ist dieser Junge nun bei mir, und ich bin doch eigentlich noch nie bei dir gewesen. Ich freue mich furchtbar darauf. Wie viele Zimmer hast du der Frau abgemietet? Drei doch? Stören tut uns da niemand? Also bestimmt nicht? Denn man lernt die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen ... man muß zu ihnen gehen, um zu wissen, wer sie sind. Na, gebildeter Mann, wo ist das her?« Jetzt faßt sie ihn unter. »Ach was, die Leute werden sich sowieso über uns noch die Münder fusselig reden, armes Yorikchen.« (Was hat sie nur, denkt Fritz Eisner, aber schon lenkt sie ab.) »Sollen sie wenigstens Grund haben und noch sehen dürfen, daß wir uns gern hatten. Paß auf, ich werde dich noch vor versammelter Mannschaft kompromittieren.« Und damit küßt sie ihn sogar mitten auf der Treppe, und jede Sekunde kann doch einer von unten ihnen entgegenkommen oder einer kann hinter ihnen hergeschlichen sein.

Fritz Eisner streichelt sie (es gibt Frauen mit Kirschenwangen und mit Pfirsichwangen, das sind ausgesprochen Pfirsichwangen, denkt er), »guck einer an, Nuckelino kennt sogar die Maximen und Reflexionen. Ja aber nun muß ich dir doch erzählen, Kindchen, was ich heute alles erlebt habe, damit jede Falte meines Herzens – du liebst doch solche Worte! – klar vor dir liegt. War mit dem Gummischweinchen zusammen, dem alten zynischen Sanitätsrat, von dem ich dir schon so viel erzählt habe: Ick war mal 'ne Hoffnung, jawoll war ick! Ob er noch Morphinist ist, weiß ich nicht. Ich glaube, er sauft jetzt. Was soll er auch tun in dem Jammer? Und von dem hab' ich meine Weisheit wegen morgen Rautschrautschrautschitschi Revolution!! Und der hat sie wieder von dem Chefingenieur, dem kleenen dicken Doktor von Schwarzkopp. Und bei Schwarzkopf war der erste große Munitionsstreik. Im August 1917 glaube ich. Und da soll es wieder anfangen. Das leuchtet mir ein. Also ist er gut informiert. Außerdem – was soll noch kommen – wenn nicht Revolution? Überall sonst, in Kiel, Lübeck, Schwerin, Hamburg, München, Wien, Ungarn ist sie doch schon. Auch wenn ihr es nicht bringen dürft. Das sickert ja doch durch. Oder meinst du etwa, wie meine Tante Jenny ganz pikiert sagte, als die Kleine ihrer Schwiegertochter – also ihr Enkelkind – doch an Blinddarmentzündung operiert wurde: Blinddarmentzündungen liegen sonst nicht in unserer Familie!!! – Was sollen wir denn anders kochen?

Ja, und dann, warte mal, bin ich bei meiner alten Freundin da in der Tiergartenstraße, ich habe dir ja ihren Brief gezeigt – gewesen. Aber sie war um ein Uhr noch nicht auf, und da hab' ich mich denn mit dir« (das bereitete sie doch immerhin vor) »für die nächste Zeit mich einmal angemeldet. Und dann war ich bei Hannchen und Lulu ... d(ie)se p(oli)tischen Stinktiere!! ... und überall habe ich meinen warnenden Unkenruf für morgen ertönen lassen. Und dann war ich noch weiter bei Doktor Spanier mit Paul Gumpert – du weißt doch, diesem großen Baumwollmann – zusammen, der einen herrlichen Primitiven kaufen will. Und habe bei Lu zeitechte, garantiert französische Rokokomöbel aus Würzburg bei Schokolade und Tee und Lachsbrötchen bewundern müssen, die sie durch den Doktor Groß hat. Diesen Doktor Groß, dem ihr ja auch neulich bei einer Finanzumfrage das Recht einräumtet, sich orakelhaft auszuquatschen. Beruf: Wirtschaftsführer! Früher sagte man Strauchritter zu sowas. Jedenfalls hat er sie ihr wohl billiger besorgt. Und nun kommt das Traurige, die Ehe ist da kaputt. Wie ich fortging, hörte ich zufällig noch, wie der Doktor Spanier also – die Lu also – die Frau Doktor Spanier also – freundlich ersuchte, aus seinem Haus zu gehen und nicht wieder zu kommen. Nimmt dieses Unglückswesen, das sich wohl mit dem Doktor Groß getroffen hat, doch seinen goldenen Giletteapparat mit. Und ihre Zofe – sie müßte, da hat Spanier recht, besser gezogen sein, – stellt ihn, wie sie den Koffer auspackt, dem Mann auf den Waschtisch. Ich habe ja schon von jeher gesagt, man soll keine goldenen Giletteapparate haben! Das fällt auf. Und wenn man schon einen solchen hat, darf er nie in Kästen mit dem eingepreßten Namen des Besitzers liegen, das ist unverantwortlich!«

Nuck schnappt Fritz Eisner das Wort vom Mund weg. Solche Dinge sind das Lebenselement jeder Frau.

»Und das Traurigste an der ganzen Sache ist, daß sie sich beide eigentlich doch wahnsinnig gern haben, und weder sie von ihm fort möchte, noch er sie eigentlich rauswerfen will. Infolgedessen schmeißt er sie raus, und sie wird nie wieder zu ihm zurückkommen. Das sehe ich jetzt schon. Schade! – Das ist doch bei denen nicht wie bei mir nur noch eine Form ohne Inhalt, sondern es sind ja doch zwei ganz aufeinander eingespielte Wesen. Menschen sind etwas sehr Sonderbares, Nuck. Tun immer das, was sie eigentlich nicht tun wollen. Nicht wahr, mein süßer Hammel? Nicht wahr? Und außerdem wollte mir doch Lu einen abgelegten Anzug von ihrem Mann schenken (hat sie gesagt!). Und das wird doch nun leider auch nichts werden. So wird man geschädigt. Ja, und dann habe ich noch für meine geliebte Frau Schwiegermutter Rotwein besorgt und für dich diese Chrysantheme. Beides unter Schwierigkeiten. Und ehe ich es vergesse: Ich habe meinen Freund Rosenemil getroffen, der die Branche gewechselt hat und sich auf Kriegszitterer umgestellt und niedergelassen hat. Das ist neu. Noch nicht so überlaufen wie Blumen, meint er, und da verdient man einen gehörigen Batzen Geld. Das ist also meine Beichte eines Toren. Und was hast du alles getrieben?!«

»Weißt du, Yorik«, sagt sie, und es klingt verdammt stumpf plötzlich. »Die Beichte einer Törin ist leider die übliche und sehr kurz nur. Hat eigentlich Gretchen gebeichtet, gebildeter Mann?« (Was will sie damit sagen, denkt er.) »Außer dem Brief von meiner Mutter und einer Einladung zu einer Besprechung im Frauenstimmrecht – wir wollen eine Partei die ›Frau‹ gründen.«

»Das erste und wichtigste, was ihr tun könnt im kommenden Deutschland, Nuck«, unterbricht Fritz Eisner.

»Und neben dem Ärger, daß ich plötzlich fast alle Nummern für die drei Zeitschriften noch einmal umwerfen muß, war auch rein garnichts im Leben dieser Törin los.«

Und damit schiebt Ruth ihren Arm in den seinen. Jetzt sind sie auf der Straße. Auf wen soll sie da noch Rücksicht nehmen?! Und im Augenblick, wie sie ihren Arm, der noch weich und warm durch Kleid und Mantel hindurchlebt, in den seinen schiebt und auf ihm ruhen läßt, durchrieselt Fritz Eisner ein fast schmerzhaftes Glücksgefühl: Warum soll denn so etwas nun nur endlich doch Episode bleiben? Warum kann man denn so etwas nicht immer haben?!

»Aber sprechen wir nicht weiter davon, Mann. Du bist doch mein Mann? Oder bist es nicht? Wir wollen uns heute einen netten Abend machen, mein Yorikchen. Wollen wir uns noch etwas mitnehmen? Laß mich es kaufen. Ich hab noch Geld. Vielleicht von Kempinski im Laden. Da gibt's am ehesten was. Da kennt mich der eine Verkäufer. Irgend etwas wird er schon für mich unterm Ladentisch haben. Kandierte Früchte, Sardinen, Lachs, Orangen oder einen echten Benediktiner. Weißt du, Austern esse ich gerne. Ich glaube, sie sind nicht mal teuer. Und wenn du keinen Wein im Haus hast, so halbe Flaschen tragen sich ganz leicht. Ach ja, mein alter Seehund. Ich habe doch so lange nicht mehr geschlemmt. Heute abend will ich nochmal schlemmen!«

»Hast du denn überhaupt schon etwas zu Mittag gegessen, Nuck?« (Wovon das Mädchen nur eigentlich lebt?)

»Ach, für mich übergenug, Yorikchen. Einen ganzen großen Teller Linsensuppe, oder es nannte sich wenigstens so – im Kasino. Mehr brauche ich nicht. Weißt du, so durch das ewige Durcharbeiten gewöhnt man sich langsam das Essen ab. Aber heute müssen wir uns mal einen schönen Abend bei dir machen. Laß mich das Souper nur zusammenstellen. Paß auf, es wird gar nicht so mager ausfallen.«

Henkersmahlzeit! huscht es Fritz Eisner durch den Kopf. Er verwehrt sich innerlich dagegen, es zu denken; aber es nützt ihm nichts. Wer weiß, wie die Mutter heute in dem Brief dem Mädchen zugesetzt hat. Und sie muß doch bald auftauchen, und dann muß es eben irgend einmal zum Eklat zwischen ihnen kommen. Und das will sie wohl lieber doch vermeiden. Henkersmahlzeit!! Für mich oder für sie, oder für uns beide?

Eigentlich haßt Fritz Eisner die Stadt, Stadt überhaupt. Gewiß, er weiß genau, was sie bedeutet. Und daß ohne sie das Wort ›Kultur‹ in der Welt nie vorhanden gewesen wäre, wir noch beinahe in der Steinzeit leben würden, und daß mit ihrem Verschwinden das Wort Kultur wieder aus der Welt ausgemerzt wäre. Aber, er kann nicht mehr in ihr sein. Höchstens ein paar Wintermonate einmal. Er braucht das Draußen, die Ruhe, das Grün zur Selbstbesinnung. Zum Alleinsein mit sich und den Dingen. Er ist zulange Jahrzehnte mitten im Lärm und Gewoge gewesen, um nicht endlich etwas menschenscheu und pflastermüde geworden zu sein. Doch diese eine Viertelstunde so mit Nuck durch das graue, zwischen den Straßenschluchten wogende Leben zu gehen, um Postschluß herum, um Büroschluß herum, wenn die großen Geschäftshäuser und Warenpaläste aufzustrahlen beginnen und doch schon alles wieder in die Vorstädte hinausflutet ... das liebt er noch immer fanatisch.

Dazwischen dann so mit Nuck hindurchschlendern, und nicht dabei sein müssen ... nicht selbst der Lehrling sein mit der Kalikomappe, der noch eine Stunde am Schalter sich puffen lassen muß, bis er seine Einschreibbriefe an den Mann bringen kann, nicht der mit dem Stahlhelm oder die Geschminkte, die knurrenden Magens vergeblich heute wartet, zu sein ... überhaupt, unbeteiligt eigentlich im Leben außen zu stehen, und zuzusehen, wie andere in diesem brodelnden Kessel umhergetrieben werden – schon als Kind habe ich nie mitgespielt, aber sehr gern zugesehen! – das wenigstens reizt mich immer wieder.

»Eigentlich wäre es falsch, Nuck, sagen zu wollen«, träumt Fritz Eisner halblaut vor sich hin, »daß das jetzt hier nun anders ist, wie sonst in den letzten Wochen. Denn das Leben geht ja immer weiter. Sein Puls wird kaum jemals lahmer.

Trotzdem, Nuck, erinnerst du dich so an die letzte Stunde einer Silvesternacht, bevor's Zwölf schlug. Vielleicht reden wir das uns nur ein: Alles sieht ja genau so aus, wie sonst, und doch ist es nicht das Gleiche. Die Zeit steht still. Man hört gleichsam, wie sie leise abbröckelt. Und alles ist schon wie unwirklich und uralt geworden. Man sieht zum Fenster hinaus, um den ersten Glockenschlag ja nicht zu versäumen. Und man ist leise beängstigt und sehr trübetimpelig. Und niemand kann mit dieser toten Stunde eigentlich etwas mehr anfangen. Dabei ist sie fast in nichts unterschieden von ihren Vorgängerinnen. Fühlst du nicht, daß so etwas auch hier jetzt in der Luft liegt? Oder rede ich mir das nur ein? Ich finde, das hier ist alles heute schon so furchtbar unwirklich.«

Bei Kempinski jedoch läßt Nuck ihre Beziehungen und ihre Augen spielen, und zaubert wirklich einige erstaunliche Dinge, aus geheimen Ecken und hinter den Attrappen und leeren Konservendosen der Regale hervor, die Fritz Eisner nie mehr erwartet hätte. Auch Burgunder ist plötzlich noch da. Zu ganz zivilen Preisen.

Und dann sitzen sie eng nebeneinander in einer rumpelnden Straßenbahn mit verklirrten Scheiben, Nuck dreht recht unauffällig ihren schmalen Goldreifen um, so daß der Goldreif nach außen ... und der kleine Brillant nach innen kommt, hüten ängstlich ihre Pakete, eingequetscht zwischen zwei Reihen menschlichen Stumpfsinns. Mit denen da drüben wird man keine Revolution machen können! Aber was heißt überhaupt Revolution machen? Revolution ist ja nur ein Weg, kein Ziel. Was soll werden? Ist überhaupt schon ein Plan da? Wer hat das Programm in der Hand schon? Und, wenn er es hat, wie kann man es durchführen? Und wer soll es durchführen?

Als ewiger Zuschauer, Daseinszuschauer von Beruf, mustert Fritz Eisner so diese zwei Reihen menschlichen Stumpfsinns hüben und drüben. Er nennt das unter Larven die fühlende Brust suchen. Ein aussichtsloses Geschäft heute. Eine Zeitung liest auch – trotzdem, was sich da draußen vorbereitet (und jeder ahnt es ja) – eigentlich kaum jemand. Alles ist stumpf. Die Frauen aber lesen trotz des Gerüttels und des schlechten Lichts ganz versunken und alles um sich vergessend ... sie fahren deshalb sogar weiter, als sie eigentlich es müßten ... irgendwelche abgegriffenen Schmöker und Dutzendromane.

Seltsam – diese Frauen lasen doch eigentlich sonst nicht! Aber die hier nach Hause fahren, haben keine Männer. Nicht Entspannung, Freude am Wortkunstwerk, Ablenkung und Zerstreuung ist für sie das Buch, sondern Wirklichkeitsersatz, Gefühlsersatz, Männerersatz. Und als das ist es ihnen ein lebenswichtiger Bestandteil geworden in dieser Ersatzwelt, die ihnen ein Surrogat nach dem andern aufgezwungen hat. Das hier sogar für ihre Gefühle und Illusionen.

Ruth empfindet wohl ein ähnliches: »Weißt du«, flüstert sie, denn noch bespricht man solche Sachen nicht laut in einer Straßenbahn: »Es ist ja ganz egal, was kommt. Nur wissen, diese elende Massenschlächterei wird morgen oder übermorgen, oder überhaupt mal aufhören. Wie bist du denn eigentlich nur so darum herumgekommen, ohne daß man dich, wie die älteren Redakteure bei uns, gleich reklamiert hatte? Du hast doch wirklich eigentlich einen elenden Dusel gehabt, Yorikchen, daß du nicht eine Stunde dabei gewesen bist. Denn der Krieg, der war doch wie solch Treibriemen, wenn er einen auch nur an dem äußersten Rockzipfel erst packte, schmiß er einen schon an die Decke vom Maschinensaal und brach einem die Knochen.« (Das war neulich nämlich bei ihnen vorgekommen).

»Doch, Nuck, ich bin eine Stunde dabei gewesen. Aber ich rede nicht gern darüber. Es war sehr merkwürdig. Wie soll ich dir das klarmachen: Ich bin nur deshalb nicht herausgekommen, nur weil jemand da für mich gestorben ist. Du weißt doch, ich habe sogar vor grauen Zeiten einmal Soldat gespielt, als preußischer Spion in der keniglich bayr-schen Armee bei die Maxer. Und do hob'n s' ane Lungenentzindung net erkannt und verschleppt bei mir, die Herrn Rammel von Militärarzt, solange hob'n s' verschleppt bei mir, bis der Herr Ober-Stabsarzt zu die andern Arzt, nachdem er mi hot schnauf n lassen, g'sagt hat: ›Schaun S' meine Herrn, der ganze rechte Lungenflügel geht jo net mit!‹ Und da haben s' mi dann wieder aus die bayr-sche Armee naussigfeiert, weil i untauglich un zudem noch a Preiß war. Aber doch net so ganz. Soe haben s' mi hinter den Landsturm allerletzten Aufgebots zurückdatiert, damit ich, wie's mir der Herr Feldwebel g'sagt hat, im Ernstfall on Sack Kartoffeln kriegen könnt und mit schmeißen! Denn an Hamur, den hat der Herr Feldwebel g'habt. Aber wie der Krieg is losgangen, do hab ich doch so nach die Tag vierzehn mein Pappkartönchen genommen, weil s' meinen Jahrgang aufgeboten haben. Und wenn s' mi auch net grade für die Front bei die Saupreißen hier gleich g'nummen hätten, weil ich doch on alter Mann war, und does mit die Lunge da doch so ganz und gar nie wieder ins Lot kommen is, mit so aner leichten Verwachslung – wenn ich auch trotzdem, wie an spineta Teifi, immer auf die Tennisplatz umenand g'sprungen bin, so hätten s' mi, – damit hatte ich mich abgefunden – meiner Bildung entsprechend, Kartoffeln schälen lassen, oder oanen Bahndamm zuerst mal bewachen lassen, oder Monturen auf einer Kammer klopfen lassen. Und ich hatte mich sogar schon darauf gefreut, dem Vaterlande den entsprechenden Ersatz in Gelds den es dem Manne für die Stiefel, die er mitbrächte, sofern sie ›kriegsgebrauchsverwendungsfähig‹ befunden werden sollten, zu zahlen sich erbötig erklärt hatte ... diese fünf Mark dem Vaterlande mit großzügiger Geste zu schenken.

 


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