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Ruth ist vor einer bescheidenen weißen Villa stehengeblieben. »Du«, sagt sie, »spielte hier nicht gestern ein Mann – denn es war ein Mann, das hört man am Strich – das Adagio aus der D-Moll-Sonate von Beethoven ... Ja?«
»Ach ja«, Fritz Eisner fährt auf, pfeift die ersten, langgezogenen Töne vor sich hin. »Richtig, ja. Ich hatte erst gemeint, es wäre aus der Fünften, Nuckelino. Ich verstehe überhaupt nicht, wie ich mich so lange ohne dich in dieser so komplizierten Welt zurecht gefunden habe.«
Ruth preßt im Weitergehen den Arm von Fritz Eisner, will etwas sagen, kämpft es aber in sich nieder. Endlich meint sie ganz leise und nebensächlich: »Du, Fritz, ich weiß doch jetzt, wie es einem Cello zumute ist, wenn es gespielt wird.«
Eigentlich ist es hier draußen nicht belebter als sonst. Nur die Menschen schleichen nicht mehr. Sie marschieren, und sie sind nicht mehr gedrückt. Gehen nicht mehr aneinander vorbei, ohne aufeinander zu achten. Wenn sie auch hungerblaß sind, sie machen doch frohe und frische Gesichter und sehen wieder einander an.
An dem Bahnhof klebt auf der roten Ziegelmauer ein rotes Plakat. Es hat eigentlich niemand bisher abgerissen, trotzdem es schon so unsagbar gleichgültig geworden ist. Aber die Feuchtigkeit hat es über Nacht aufgeweicht und es ist der Länge nach eingerissen. Ein halbes Dutzend armseliger Frostspanner hängen noch dort, wo es sich umklappte, hängen am Leim mit welken und zerzausten, kleinen, grauen Flügeln. »In gewissen Kreisen besteht die Absicht unter Mißachtung« – dann fehlt ein Stück – »Arbeiter- und Soldatenräte nach russischem Muster« ... wieder fehlt ein Stück ... »Ich mache darauf aufmerksam, daß nach den gesetzlichen Bestimmungen ...« liest Fritz Eisner im Vorübergehen.
»Nuck, du weißt doch alles«, meint er. »Du behältst doch alles«, meint er. »Wie hieß eigentlich der Oberkommandierende in den Marken? Lin ... Lin ... Lin ...? Aber da geht grade der Riß durch.«
Doch Ruth weiß es auch nicht. Und außerdem ist es jetzt auch egal geworden. Von gestern auf heute Geschichte geworden, um die sich niemand mehr kümmert. Und außerdem noch: der Zug muß gleich da sein.
Die Revolution hat wirklich begonnen. Sämtliche alten Klassenunterschiede haben im Augenblick aufgehört zu bestehen. Zum mindesten auf der Stadtbahn. Denn alles drängt sich plötzlich in die Abteile der zweiten Klasse mit ihren zerschlissenen und zerfetzten Polstern hinein. Keiner will mehr hart sitzen. Soll mal einer wagen zu kontrollieren. Wird gleich eine gelangt bekommen. Es wagt aber keiner. Für wen soll er sich auch Unannehmlichkeiten aussetzen? Ist ja keiner da mehr. Zivilisten und Militär, die noch gestern durch eine Kluft getrennt waren und sich kaum miteinander in Gespräche einließen, plötzlich sind sie ein Eierkuchen.
Dabei schwatzt alles durcheinander. Drei Abteile sind zu einer großen Familie geworden. »Die Potsdamer Garnison geht nicht mit«, kommt es vom Nebencoupé. »Das Heer auch nicht. Es verlangt weiter zu kämpfen.«
»Der Waffenstillstand ist ja schon geschlossen«, ruft einer dazwischen.
»Jawohl ... sie trauen sich's nur noch nicht zu sagen.«
»Jott, jlauben Sie denn, daß se uns nach ein verlorenen Krieg noch was zuschenken werden?« brüllt ihn ein Arbeiter an. Beinahe gibt's einen Zusammenstoß.
»Kaiser Wilhelm hat Selbstmord begangen«, verkündet eine dicke Frau.
»Da hat er sich doch wenigstens einen anständigen Abgang verschafft«, kommt es von hinten aus dem Nebencoupé. »Friede seiner Asche.«
Was eigentlich nun geschehen soll, weiß niemand recht. »Aber jedenfalls«, sagt ein Mann mit einem verdrückten Gesicht und einer Kopfnarbe ... das heißt, er hat wohl dieses verzogene Gesicht wegen der Kopfnarbe, auf der er eine Lederkappe trägt, wie ein kleines, schwarzes Baskenmützchen ... »jedenfalls, die ganze Gewalt geht auf das Volk über. Die Macht bekommen nun die Arbeiter- und Soldatenräte. Heute tagen sie schon im Zirkus Busch.«
Fritz Eisner will sagen: Aber Kinderkens, wir haben doch nun gesehen, was bei Macht und Gewalt herauskommt. Sie wird immer mißbraucht. Was wir nötig haben ist Ordnung, Neuordnung, Umordnung, ruhig von innen her die Sache umbauen, aber nichts zertöppern.
Einer in blauen Lederhosen mit dunkleren Flicken, ein kaum Zwanzigjähriger, spricht das Wort Prolet zum erstenmal mit Stolz aus.
»Aber wir Proleten werden es ihnen besorgen«, ruft er, verkündet es drei Abteilungen auf einmal. »Diesen Schiebern und Blutsäufern. Zwei Millionen sind von Deutschland zu viel gefallen und Zehntausend zu wenig. Jetzt werden wir Proleten mal die Sache etwas in die Hand nehmen, damit es an die Richt'gen kommt. Unser Liebknecht, das ist unser Mann, der wird sich das nicht wieder aus de Finger drehen lassen.«
Keiner widerspricht, aber die meisten rücken ab. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen.
»Ick bin desertiert!« ruft der Junge mit der Leinenhose. »Aber feige bin ich nicht. Det könnt ihr alle glauben. Aber ick kämpfe, wofür ick will, und nich, wofür die Herren wünschen, daß ich kämpfen soll, um mit mein Blut den Kapitalisten die Kastanien aus'm Feuer zu holen. Das macht Aujust Jiesicke nicht.«
Nun schweigt er plötzlich verlegen und sieht sich nach allen Seiten um. Er ist unsicher geworden, weil er keine Zustimmung erntete. Er begreift gar nicht, daß man anderer Meinung sein kann. Er hat sich doch das mit Mühe und Not zusammengedacht, und die andern wollen ihm nicht recht geben. Sein Blick bleibt an Ruth hängen, die ihn aufmunternd anlächelt: »Ihr Vater hat aber 'ne schöne Tochter, Fräulein«, sagt er dankbar und blickt von Ruth, als ob er die Eloge auch an die richtige Adresse abgeben muß, zu Fritz Eisner herüber. Er will doch zeigen, daß er Manieren hat, wenn er auch ein Prolet ist.
Berlin kommt. Man sieht von oben in die ersten Straßenzüge hinein. Sehr viel Menschen fluten da in den breiten Schächten auf und ab. Lange sind nicht so viele Menschen wieder auf der Straße gewesen. Vielleicht seit ersten August vierzehn nicht. Sehr viele Frauen und Unmengen von Kindern, die schon mit roten Fähnchen – die Straßenindustrie arbeitet in so etwas bewundernswert fix ... oder war sie schon gerüstet etwa? – kleine Prozessionen bilden. Das erste Lastauto mit Arbeitern mit roten Armbinden und Soldaten darauf, mit einer großen, roten, flatternden Fahne – so etwas macht sich ganz hübsch in der Sonne – hält an einer Straßenecke am Bahnausgang. Ein Maschinengewehr sieht mit einem kleinen, tückischen Tierauge über die Brüstung. Die Soldaten haben schnell einen gewissen Revolutionsschmiß angenommen. Etwas Neuartiges, Verwegenes, mit umgehängten Mänteln und schiefen Mützen, selbst die Gewehre am Achselband tragen sie anders. Ein Mann im Stahlhelm spricht eben nicht schlecht da oben, läßt die deutsche Republik hochleben. Denn Scheidemann hat soeben vor dem Reichstag die Republik erklärt. Noch wäre nichts erreicht damit. Aber es würde erreicht werden. Doch Ruhe, Ruhe, Ruhe und Besonnenheit.
»Da ist er also dem Karl Liebknecht doch zuvorgekommen«, sagt ein Feldgrauer neben Fritz Eisner und kratzt sich. »Warum hat denn der nich gleich das heute morgen vom Schloß runter getan. Des gefällt mir nich. Oder Ihnen etwa, Herr?«
»Gott, es ist ja die Hauptsache, daß wir endlich die Republik haben. Das hätten wir doch eigentlich schon vor achtzig Jahren haben können. Wäre uns heute wohler.«
Aber alles ist doch furchtbar froh. So viel heitere und entspannte Gesichter hat man lange nicht in Berlin gesehen. Es sind zwar keine Gesunden, die hier Spazierengehen, aber Rekonvaleszenten, die sehen, es geht wieder bergan mit ihnen, und die glücklich sind, daß sie den einen Fuß wieder aus dem Grab gezogen haben, mit dem sie schon über den Rand getappt hatten.
Die fremdesten Menschen beginnen Gespräche. Die Hoflieferanten nehmen eiligst die Wappenschilder ab, oder verhängen sie mit roten Stoffen, denn es spricht sich doch langsam herum, daß der Kaiser mit einem Hofzug nach Holland entflohen ist. Man hört viele Beschimpfungen des Exkaisers.
Auch Ruth beteiligt sich daran. »Ach Gott, Nuck, seien wir doch ehrlich. Wir sind doch zum Schluß ebenso schuld wie die oben. Man soll eben keinem Menschen Macht über andere geben; sowenig wie Kindern Streichhölzer. Sie mißbrauchen sie. Einfach, weil es schwer ist, sie nicht zu mißbrauchen. Wir, das heißt meine Familie, ist eigentlich mit den Hohenzollern gut und schlecht ausgekommen. Meine Vorfahren haben ihnen Tabatieren, goldene und silberne und welche aus Lapislazuli mit Diamanten besetzt, verschachert, statt sie mir zu vererben, diese Esel. Aber meine Herren Onkel haben doch auf den Barrikaden schon gegen sie und den Kutscher Lehmann und ihre Preußen hier mit dem Kuhfuß geballert, und haben nachher sogar die Museumsinsel gegen den ollen Wrangel noch halten wollen. Ich sagte wollen ... damals als der November uns bracht auf den Schub ... und eigentlich haben wir uns gegenseitig seitdem doch wohl mit tiefer Sympathie gehaßt. Aber gerade ihr altes Berlin – und da sind sie ja doch nicht, so ganz draus fortzustreichen, – ist mir ja immerhin irgendwie ans Herz gewachsen. Und Potsdam – an dem sie ja nicht ganz unbeteiligt sein sollen – da hat doch unser Kunstsinn erst gehen gelernt. Wir wollen gewiß keine sentimentalen Regungen aufbringen. Aber wir wollen noch nicht ganz ungerecht sein. Hut ab bis zum Galgen, wie Bismarck sagt, aber hängen muß er. Er hat auch gesagt: Daß ein echter Hohenzoller auf den Stufen des Throns fechtend stirbt.«
Fritz Eisner und Ruth schwimmen im Strom. Unendlich viele Menschen sind auf der Straße. An allen Ecken stehen Redner. Man stellt sich einen Augenblick zu dem einen, dann zu jenem, wie in London Sonntagnachmittags im Hydepark. Autos sausen umher, und wo sie einen Soldaten treffen, der noch eine Kokarde an der Mütze hat, steigt einer ab und bittet den Kameraden, sie zu entfernen, macht sie selbst sanft oder unsanft ab. Ein alter Offizier ist blaß und grau, hat Schweißtropfen auf der Stirn, als man ihm die Epauletten mit einem Scherchen heruntertrennt. Man muß doch wohl diese Kokarden und Rangabzeichen sehr gehaßt haben, daß man sie nun so grimmig verfolgt.
Immer mehr rote Kokarden und Bändchen sieht man beim Volk. Was für ein schöner Tag ist doch heute. Aber hin und wieder hört man doch aus der Ferne schießen. Flintengeknatter und die dumpfen Detonationen von Revolverkanonen. Soll Unter den Linden und um den Marstall sein, den noch Offiziere besetzt halten und hin und wieder durch Luken und vom Dach herunterfunken. Auch aus dem Café Bauer heraus sollen sie geschossen haben. Wandervögel, junge verhetzte Burschen, die man schnell unschädlich gemacht hat. Aber Revolution ist doch viel angenehmer, als Krieg, trotz alledem. Da sind die Menschen wenigstens lustig.
Fritz Eisner und Ruth gehen in Nucks Wohnung. Dort liegt ein Brief von der Mutter. Sobald es ruhiger wird, und die Bahn wieder geht, will sie kommen. In Dessau ist schon so eine Art Sturm im Wasserglas gestern gewesen, schreibt sie.
Ruth ist doch sehr beunruhigt, und die Hände zittern ihr, während sie den Brief liest. Man wird doch mit ihr sprechen müssen. Ob sie das tun soll, oder Yorik? Was wird klüger sein?
Und dann sind sie am Nachmittag wieder auf den Straßen. Überall rote Fahnen jetzt, in dem preußischen, kaiserlichen Berlin. Selbst über dem Brandenburger Tor züngelt eine mächtige Revolutionsflagge. Um den Reichstag ist ein solches Gedränge, daß man kaum heran kann. Fritz Eisner möchte doch gern zu dem Rat der geistigen Arbeiter. Gott ja, eigentlich viel kann er nicht. Immerhin getraut er sich einen Satz so zu stilisieren, daß ihn ein einfacher Mann verstehen kann. Und das ist doch etwas. Die meisten seines Metiers können das nicht. Wo kommen plötzlich die vielen Matrosen jetzt her? Im ganzen Krieg hat es nie eine solche Menge von Matrosen in Berlin gegeben. Irgendwie hat man Angst vor ihnen, und freut sich doch mit ihnen, denn sie sind ja die Väter der Revolution. Man ruft Extrablätter aus. »Kinder, nicht auf den Rasen treten«, lautet das Kommando auf dem Pariser Platz (soweit also geht die neue Freiheit doch nicht).
Was politisch sich eigentlich abspielt in diesem Augenblick, weiß Fritz Eisner sich nicht zu deuten. Er verfolgt nur das Geschehen in der Welt in großen Zügen. Aber Nuck, die ahnt und kombiniert sofort, was da alles hinter den Kulissen vorgeht in den drei sozialistischen Parteien, denen im Augenblick noch Deutschland gehört.
An der Ecke Wilhelmstraße mitten im Menschengewühl schleicht leise und bedächtig Paul Gumpert dahin. Sieht sich an, wie sich das regiert. Ist ganz zufrieden – das sieht man an seinen Blicken –, hatte sich das schlimmer und gefährlicher vorgestellt. Seine Bilder werden sie ihm schon nicht zerschneiden und auf die Straße werfen. Geht doch alles ganz gemütlich, ordentlich und anständig zu. Beinahe bürgerlich. Fehlt nur, daß die Revolutionsordner durch rote Armbinden kenntlich gemacht werden.
»Na, Paul Gumpert, alter Freund, sehen Sie, Sie sind doch in unserem Klub geblieben!« ruft Fritz Eisner und tippt ihm auf die violette Aster, die Paul Gumpert in die Patte seines Sommermantels gesteckt hat. »Wie war meine Prophezeiung gestern? Ist doch eingetroffen?«
»Aber was wird nun? Können Sie mir das vielleicht sagen? Ich habe mir so etwas seit gestern abgewöhnt. Eigentlich habe ich den ganzen Krieg über schief gelegen mit meinen Tips. Sehen Sie nur, Eisner, in den letzten vier Jahren hat doch niemand mehr gewußt, daß er sich noch frei bewegen kann, und plötzlich bewegt sich jeder da anders und wie er will. Was erwarten denn nur all diese Leute da? Verhungert, verdreckt, verlaust, hager – und doch froh. Es muß doch irgendeine Vorstellung in ihrem Kopf schon geben, die sie so froh macht.«
»Ach Gott, jeder glaubt heute eben an die Macht der Idee«, meint Fritz Eisner. »Aber, da in jedem Kopf eine andere Idee ist, glaubt jeder an eine andere.«
»In Rußland«, meint Paul Gumpert bedächtig, denn als Großkaufmann liebt er die Dinge in Ruhe zu betrachten, »ist es schon ein Jahr drunter und drüber gegangen. Das kann bei uns auch kommen.«
Ruth, die einen Augenblick abseits gestanden hatte, ist zu ihm getreten. »Was macht es?« sagt sie, »wenn das Chaos nur einen tanzenden Stern gebärt.«
Paul Gumpert sieht sie über den Kneiferrand freundlich an. »Schau her, mein Fräulein, Nietzsche haben Sie auch gelesen? Was diese jungen Menschen heute alles wissen.«
Ruth ist um die Antwort verlegen, aber Fritz Eisner springt für sie ein. »Wollen wir mal ehrlich sein, Paul Gumpert, daß von heut auf morgen sich schon viel ändern wird, glaube ich nicht. Staat schließt Recht aus. Und doch bin ich froh heute, weil ich mir sage, mit all denen da: vielleicht ist es doch die erste Stufe einer steilen Treppe, die wir nach Jahrtausenden hinaufsteigen; aber mehr ist es sicher noch nicht. Aber wozu reden wir eigentlich von so unwichtigen Dingen, Paul Gumpert? Das interessiert uns beide doch in allerletztem Grunde absolut nicht. Haben Sie den Gertgen ten Jans gekauft, Paul Gumpert? Das ist endlich für mich und Sie doch viel wichtiger. Das andere ist Tagesgeschichte. Das ist menschliche Ewigkeit.«
»Erinnern Sie mich nicht daran. Bis halb sechs hat ihn mir der Mann an die Hand gegeben. Ich klingle um zehn Minuten nach halb sechs an: Verkauft! Schön, sage ich: Ich biete dem Käufer dreitausend mehr. Denke, das ist nur eine Finte von dem Kerl, dem Goldbacher. ›Unmöglich.‹ Na, sage ich, vielleicht kann ich mich selbst mit ihm in Verbindung setzen. Wer ist es denn? Das dürfen wir ja eigentlich nicht sagen, flüstert Goldbacher. Aber, damit Sie nicht glauben, ich treibe mit Ihnen Schindluder, und wenn Sie es durchaus wissen wollen: Doktor Georg Groß. Einen Kunden wie den konnte ich unmöglich vor den Kopf stoßen. Das werden Sie mir nicht übelnehmen, Herr Gumpert. Ich bin Geschäftsmann. Gewiß, hätte ich das Bild viel lieber bei Ihnen gewußt. Sie sind ein alter Sammler und das ein neuer. Also, was so für Schmus noch gemacht wird, von solchen Leuten bei solchen Gelegenheiten. Na, legen wir's zu den übrigen. Habe ich mich dann eben doch mit dem Guardi getröstet. Wenn ich ihn angucke, denke ich: bin wieder in Venedig. Und das ist auch was wert. Ob die Decke in der Scalzi ... Sie wissen doch die Tiepolodecke ... ganz hin ist durch die Fliegerbombe? War' doch ein Jammer. Haben Sie nebenbei schon von Ballin gehört? Ist sicher noch nicht unter die Leute gekommen ... aber ich weiß es aus Hamburg ... Selbstmord, ist wohl mit dem alten Deutschland eben zusammengebrochen ... Und Victor Adler in Wien ... auch gestorben. Der hätte gewiß gern noch jetzt gelebt, grade jetzt. Durfte aber nur von dem Sinai aus sein gelobtes Land sehen. Vielleicht hat er auch wie Moses einmal seine Sache verraten ... wüßte zwar nicht ... Wundervoll doch die Symbolik, daß der Moses selbst es nicht mehr betreten durfte. Aber wer denkt heute an einen Menschen, der fortgeht. Man dreht sich ja nicht mal einen Augenblick mehr um. Haben Sie nebenbei das von Spaniers gehört?«
»Nein, was ist da ... Ist da was passiert?«
»Lu ist doch weg von ihrem Mann. Die Sache ist durch die Zofe herausgekommen. Dem schnappt er die Frau und mir meinen Gertgen ten Jans weg. Ich wünschte lieber, es wäre umgekehrt.« Paul Gumpen hat so ein kurzes, bullriges Lachen, wenn er so etwas herausstößt. »Ich hätte ihm den Gertgen ten Jans ausgespannt, und er mir meine Frau.«
Fritz Eisner fällt es ein, daß er Ruth ja noch gar nicht vorgestellt hat, und nimmt ihre Hand und weist mit den Augen zu Paul Gumpen herüber. »Darf ich bekannt machen? Fräulein Ruth Block ... Herr Paul Gumpert. Oder man stellt ja umgekehrt vor.«
Paul Gumpert sieht von Ruth zu Fritz Eisner und wieder zurück. Er ist kein schlechter Menschenkenner. Leutchen, die nur Beziehungen haben, sehen vor der breiten Öffentlichkeit nicht so aus. »Ist das offiziell?« fragt er. »Ja?« (Er bekommt keine Antwort.) »Dann gratuliere ich Ihnen, Meister, und Ihnen auch gnädiges Fräulein. Wissen Sie, ich will Ihnen den Kauf nicht vermiesen ... der Fritz ist ja heute noch so dito passabel, und auch gar nicht so unbegabt, wie jetzt immer behauptet wird. Aber wirklich begabt, war er so vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, wie er so alt war, wie Sie heute, und wie kein Aas, außer solch einem halben Dutzend junger Leute um ihn wußte.« Er klopft Fritz Eisner auf die Schulter. »Und, daß ich da mit bei war, schönes Fräulein, das freut mich noch heute.«
Fritz Eisner liebt solche Gespräche nicht. Dann fängt er an zu knurren.
»Lieber Paul Gumpert«, sagt er also: »Das gleiche hat mir gestern ungefähr schon das Gummischweinchen gesagt. Ich kann nur zweierlei daraus feststellen. Daß mir das damals niemand von euch gesagt hat. Also wird es wohl nicht so gewesen sein. Und daß ich heute nach eurer einstimmigen Meinung längst ein Esel bin.«
Paul Gumpert lacht sein bulleriges Lachen und klopft Fritz Eisner wieder auf die Schulter. »Das will ich damit auch nicht wieder so schroff behauptet haben«.
»Ihre verstorbene Schwester kannte ich. War ein bildschöner Mensch. Sah Ihnen etwas, aber nicht viel ähnlich. Sie sind noch schöner. Wissen Sie noch, Eisner: Lene Block als Apachin aus dem Lapin rôti bei Ihnen damals in den paar Zimmerchen in Ihrer ersten Wohnung in der Kaiserallee? ›Ach, wer bringt mir jene Tage ... jene Tage!‹ Wie sie da oben auf dem Berg von Kissen saß, die sie auf die Matratzen am Boden getürmt hatte, und ihr Schwager Egi (wie mag er da drüben über den Krieg weggekommen sein? Hören Sie etwas von ihm?) sie mit Blicken auffraß. Es war sozusagen die Schicksalsstunde seines Lebens. Ich habe ihn ja nie sehr gern gehabt. Er hatte, das muß man schon sagen, ein Gemüt wie ein Schlächterhund ..., wenn er auch ein famoser Gesellschafter war. Das Minus war bei ihm eben doch größer als das Plus. Aber heute muß ich bekennen: Es ist vielleicht besser, den Mut zu sich selbst zu haben, als sich langsam bei lebendigem Leibe in einer Ehe auffressen zu lassen. Alles Gute!« Paul Gumpert winkt freundlich mit seinem kleinen Händchen. »Und wenn's ruhig ist wieder, dann sehen wir uns. Ich muß Ihnen noch 'ne Menge neues Zeug zeigen. Das gilt nebenbei auch für Fräulein Block, diese Einladung.«
Soldaten kommen. Matrosen in langen Ketten. Irgendwo in der Ferne wird wieder mal geschossen. Die Menge drängt in mächtigen Schwaden in die Wilhelmstraße hinein und reißt Paul Gumpert, Fritz Eisner und Ruth im Augenblick auseinander.
Ruth sieht Paul Gumpert nach. »Da klappt wohl was nicht mit seiner Ehe?« sagt sie.
»Nicht viel mehr eigentlich, Nuck, als in allen alten Ehen in dieser Krisenzeit. Die meisten Frauen glauben eben, daß sie einen Mann haben ... wenn sie ihn haben.«
»Ist es denn wert, Yorikchen, daß man soviel Lärm um eine Sache macht, wenn zum Schluß doch nur das dabei herauskommt«, sagt Nuck nachdenklich im Weitergehen.
Ruth und Fritz Eisner wollen noch weiter vordringen. Aber in der Innenstadt, so um das Schloß herum, knattern doch immer wieder die Gewehre und die Maschinengewehre ihr verdammtes Tacktack, schnurren wie Nähmaschinen. Die Menschen fluten zurück und erzählen von Dachschützen und von wilden Kämpfen. Vielleicht übertreiben sie. Sicher ist etwas daran. Das kann man ja hören. Offiziere, Pfadfinder und Jugendwehr, Matrosen. Um den Marstall geht's. Auf dem Dach des Schlosses sollen noch welche liegen. Man sucht immer wieder ab. Kann sie nicht entdecken. Und stets wird von neuem nach einer Weile in die Menge heruntergeschossen.
»Was soll das nur noch?« meint Nuck, und sie ist schön, doppelt schön in ihrer Wut. »Laßt uns Frauen erst mal uns politisch organisieren, dann werden wir schon dafür sorgen, daß so etwas aus der Welt verschwindet. Zu ändern ist ja hier und heute doch nichts mehr. Was denken denn diese Leute sich?! Wozu spielen denn diese verrohten Offiziere und diese halben Kinder, die sie da mitzerren, noch weiter Krieg mitten in Berlin? Es tut ihnen doch niemand etwas! Welche Bestialität gehört dazu, einfach in spazierende, unbewaffnete Menschenmassen heimlich, aus sicherm Hinterhalt hineinzuknallen! Wen und was wollen sie denn jetzt noch verteidigen? Das deutsche Kaiserreich, das es nicht mehr gibt und dessen Herrscher schmählich geflohen ist? Oder das System, das sich bankerott erklären mußte?!«
»Liebes Kind, das solltest du Guido Schneider bei euch als Leitartikel für morgen vorschlagen; so würde er dir antworten: ›Sie vergessen, mein Fräulein, daß wir einundfünfzig Monate Krieg hatten und sogar noch haben ... und noch haben.‹ Siehst du, Nuck, wie sehen da die Sonne untergeht zwischen den Tiergartenbäumen. Das ist draußen die Zeit des Abendsegens. An der ganzen Front, so lang sie ist, knallt jetzt die Artillerie los von beiden Seiten. Was soll man denn nachher mit der unverschossenen Munition machen? Sie verkommt ja. Paß auf, sie schießen bis zur letzten Sekunde, in der der Waffenstillstand in Kraft tritt. Ich hatte einen Schulkameraden, der war stolz darauf, daß sein Vater der letzte Deutsche war, der damals vor Paris gefallen ist, sogar eine Minute nach Beginn des Waffenstillstands noch. Die Uhren drüben gingen wohl nach. Menschen sind ein komisches Gesindel, Nuck. Wenn du sie erst solange kennen wirst wie ich, wird es dir langsam klar werden, daß sie sich auch nicht mal durch Frauenstimmrecht ändern werden. Im Gegenteil – es wird dann heißen: Das ganze Dorf mauschelt.«
Nuck lacht, ist aber böse dabei. Hat Tränen in den Augen, die im Abendlicht rosig schimmern. Solche Tränen kommen bei ihr leicht, wenn sie sich über irgend etwas erregt.
»Du bist also gegen das Frauenstimmrecht, Fritz?«
(Fritz wird nur bei ernsteren Vorkommnissen von ihr gebraucht).
»Unsinn, mein Nuckchen, ich bin nur dagegen, daß die Frauen eben solches Stimmvieh wie die Männer werden. Man müßte sie, sozusprechen, vorher politisch erstmal sexuell aufklären. Aber wie schön doch mein alter Tiergarten ist. Eigentlich gehört ja doch ein Geheimrat fontanischer Prägung dazu und eine Spreewälder Amme. Wie es in meiner Jugend war. Und wie die Sonne – da in Richtung Hamburg – durch die kahlen Zweige schon guckt. Komm, wir wollen von andern Dingen sprechen. Oder wir wollen gar nicht sprechen, weil das nur stört. Und ich will dich Wege führen hier, wo selbst an einem Revolutionstag kein Mensch hinkommt. Wozu bin ich so oft in der Schule sitzengeblieben, wenn ich hier im Tiergarten nicht mal Bescheid wüßte. Hier im Tiergarten ist doch ein Stück Geschichte meines Lebens. Hier habe ich nämlich gelernt ... sehr frühzeitig! ... daß Bäume, Blumen und Gras nicht Bäume, Blumen und Gras, sondern Individuen, ja Persönlichkeiten sind. Und das hat mir sehr genützt. Auf der Schule hat man mir so etwas nie erzählt.
»Siehst du, es gibt ganze Teile vom Tiergarten, die weder den Krieg mitgemacht haben noch die Revolution mitzumachen die Absicht haben, und es geht sich sehr hübsch so auf ganz schmalen und ausgetretenen Wegen zwischen den Büschen, in denen noch die welken Blätter hängen ... so Arm in Arm dahin, wenn man dazu noch leicht gerührt ist über das Sonnenfeuerwerk da hinten, und, weil man dem Schicksal für seine Begleiterin danken muß.«
Langsam formt sich so in Fritz Eisner, was er tun wird: Er wird erst die Depesche abwarten. Er muß dann mit der Mutter von Ruth sprechen. Jedenfalls. Sie wird ihn aus der Tür werfen. Aber dann wenigstens hat er mit ihr gesprochen. Sie müssen ... wir müssen auch mal zu Doktor Spanier gehen. Vous comprenez, Madame, nicht wahr? Den kenne ich, der hält absolut dicht. Was man nicht von allen Ärzten so mit Sicherheit behaupten kann. Und dann wird es eben doch das Beste sein, wir machen uns hier unsichtbar, solange die Scheidung spielt. Ich möchte nicht gern, daß noch mehr geklatscht wird. Scheidung kann heute sehr schnell gehen. Das Gericht hat Übung darin. All die Kriegstrauungen müssen doch wieder auseinandergeschnitten werden. Man will jetzt sogar schon Schnellrichter dafür anlernen.
»Natürlich. Was in Deutschland kommt, weiß niemand. Heute ist noch ruhig. Aber wer kann sich ausmalen, was in vierzehn Tagen oder gar in zehn Monaten ist. Einig ist der Deutsche noch nie gewesen. Und wir ahnen ja noch heute gar nicht, wie arm, elend und zerbrochen nach diesem vier Jahre langen Ausbluten, nicht nur an Menschen, sondern mehr noch an Gütern und Geld – das ist doch alles ins Ausland verschwommen, unsere Scheine sind doch nur Fiktion ...«
»Gott, wenn erst Frieden ist«, unterbricht Ruth, »kann ich ja vollkommen machen was ich will. Dann bekomme ich doch auch noch das Geld aus England wieder frei, das Vater für mich da hat stehenlassen. Es ist doch Privateigentum.«
Fritz Eisner scheint das nicht so sicher. Aber wozu das jetzt sagen. »Außerdem«, fährt er fort, »wo wird Arbeit für die Millionen sein, die jetzt zurückkommen werden?! Munition drehen ist doch im Augenblick nicht mehr, und Torpedos und Tanks und U-Boote bauen wir nicht mehr, wir können ja noch gar nicht übersehen, wie herunter Deutschland in Wahrheit ist. Jetzt hat's noch daran ein paar Krücken. Aber wie soll es dann gehen, wenn wir ihm die Krücken wegnehmen müssen, und wir zu ihm sagen werden: So – nun marschiere los?! Dann wird es erst schlimm werden. Und in Berlin vielleicht am allerübelsten, mein Nuckelino. Und weißt du, draußen können wir uns ganz aufeinander einleben. Weil wir eben mehr aufeinander angewiesen sein werden. Hier werden wir doch immer wieder auseinandergerissen. Und Berge und Wälder und Wiesen im Mai, wenn die roten Nelken und die Salbei-Büsche blühen, die machen weder Krieg noch Revolution mit. Und die Bücher auch nicht. Ach Bücher – denk mal, ich habe da vorgestern so eine wunderliche Aufforderung bekommen – dazu muß ich aber zuviel lesen: Ich soll doch die Bücher, alle deutschen wichtigen Bücher, die erscheinen, jede Woche in einem großen Artikel für Dänemark besprechen in einem ganz großen Blatt. Warum wenden sie sich eigentlich an mich damit? Ich verstehe doch gar nichts von Literatur. Und von der jetzt erst recht nichts! Was die so Literatur nennt, nenne ich Gefrierfleisch. Ich lehne die Sache mit Kopenhagen doch ab.«
Aber Ruth ist Feuer und Flamme. Dann wird sie eben alle Bücher lesen, und dem Yorikchen sagen, was darin steht. Er soll es doch ja machen, und dann teilen sie das Honorar. Denn sie wäre jedenfalls für Gütertrennung. Wie jede moderne Frau es sein muß.
»Selbstverständlich, Nuckelino: Der Frau gehört alles, was dem Mann gehört; und dem Mann nichts von dem, was der Frau gehört. Das heißt Gütertrennung. Schon im alten Ägypten war das so. Wir haben ja die Eheverträge darüber.«
Nuck ist böse, aber sie lacht und versucht ihre Fäuste. Und daß sie lacht, macht Fritz Eisner schon glücklich. Laß sie ihn doch ruhig ein bißchen knuffen. Er ist dickfellig.
»Ja, ja«, sagt er endlich und fängt dabei immer die kleine Faust von Ruth mit der Rechten wie ein Tennisball aus der Luft, hält sie eine Weile in seiner geschlossenen Hand wie einen zitternden Vogel, der sich umsonst zu befreien sucht. »Du hast recht, c'est une idée. Wirklich ich werde es annehmen. Wenn du mir dabei hilfst. Dann haben wir auch gleich etwas zu lesen, wenn wir uns miteinander langweilen, und wer weiß, wann ich in dieser blödsinnigen Zeit mich zu einer größeren Arbeit wieder aufraffen werde.«
Und dann sind sie wieder mitten in der Revolution.
Der ganze Kurfürstendamm ist eigentlich schwarz in der Dämmerung. Ist ja November schon. Der Tag mag noch so schön sein, so um fünf herum trottet doch gemach die Dunkelheit heran, die sich langsam in Nacht verwandelt. Hin und zurück fluten die Massen; und vor allem um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, wo die großen Zufahrtsstraßen von sechs Richtungen zusammenstoßen, stauen sie sich immer wieder und können nicht recht abfließen. Der schwerfällige Turm reckt sich darüber in die blaugraue Finsternis hinein. Kaum angeleuchtet von der verminderten Beleuchtung, wirkt er unheimlich, unheimlich, wie diese lichtlosen, in grau verschwimmenden Fassadenreihen mit den Fenstern, die sich blind geweint haben.
Hie und da aber unten an der Joachimsthaler in der Ranke-, Kant- und Kleiststraße wachsen mitten aus Menschenmauern Leviathans von mächtigen Lastautos heraus, auf denen sich Pyramiden von Soldaten, von roten Fahnen überflackert, emportürmen. Maschinengewehre dazwischen, die mit Blumen bekränzt sind ... Dunkle Silhouetten gegen einen noch weniger dunklen Himmel ... bekrönt von den großen phantastischen Gesten des Redners da ganz oben mit den schiefen Feldmützen und den umgehängten Gewehren, die mit der Mündung nach unten weisen, und wie Pendel bei jeder neuen Geste feierlich hinüber und herüber schwanken.
An den Seiten dieser Leviathans aber je ein Mann mit einer Fackel, die er hoch in die Luft hebt, und die gelbrot, weißblau und ungleichmäßig schwelt, jetzt fast zu verlöschen scheint und jetzt wild aufflammt und alles überzuckt: einzelne Gesichter aus den Menschenmauern für Sekunden heraushebt, den Redner anstrahlt und wie die Flamme da selbst flackern macht ... und die für Sekunden die toten Augen der langen Fensterreihen sehen macht und scharf und tückisch blinzeln läßt. Hier eins und da eins. Jetzt eine ganze Reihe auf einmal. Und jetzt nur wieder ein paar runde Dachluken. Fackeln haben ein Stück Magie in sich. Und hier sind sie noch wie ein Sinnbild der Revolutionen in ihrer Übergrellheit, in ihrem Aufflackern, in ihrem Verlöschen und Wiederaufflackern.
In der ganzen Zeit später, sowie das Wort »Revolution« fiel, stand vor Fritz Eisner das Bild: Abendliches Halbdunkel, trübe Straßen in kümmerlichem und abgeblendetem Licht, Wälle von Menschen, die Silhouetten der besetzten und bestückten Lastautos unter den roten Fahnen. Und all das aufflackernd und sich wieder verschleiernd ... von Sekunde zu Sekunde wechselnd im Fackelschein, der im Augenblick die Welt in Brand setzen will und im nächsten schon wieder am Verlöschen ist.
Eines da hinten scheint auch Karbidlampen zu haben, eins Magnesiumfackeln, aber das da hat eben richtige Teerfackeln mit ihrem unheimlichen züngelnden revolutionären Rot.
Ruth muß sich an den Wagen herandrängen. Sie muß doch eben überall dabei sein. Fritz Eisner will nicht. Er liebt es, die Dinge aus der Ferne zu genießen. Aber es nützt ihm nicht viel. Wirklich, dieser Redner ist nicht schlecht. Er sagt zwar das gleiche wie alle: »Ruhe, keine Gewalttaten. Wir haben genug gemordet draußen. Gerechtigkeit für alle. Zusammenhalten. Die Politiker werden uns unsere Revolution, die erst beginnt, nicht nehmen. Dafür haben wir nicht den Kopf hingehalten und geblutet und unsere Brüder und unsere Gliedmaßen draußen gelassen.«
Richtig, der Mann da oben hat ja eine Prothese, eine künstliche Lederhand, mit der er da herumfuchtelt beim Fackelschein. Das sieht man jetzt erst, als er sie hebt: »Unser Führer Karl Liebknecht ... Das alte Staatsschiff hat Schlagseite bekommen«, ruft der Redner von oben von seiner Höhe dröhnend über die Menschenmenge dahin.
»Wir (wer)den d(afü)r sorgen, daß es ganz umkippt«, quiekst falsettierend, aber sehr durchdringend, eine Stimme von ganz vorn zu dem Redner hinauf und kippt dabei selbst um.
»Stille ... Maul halten ... Ausquatschen lassen ... Schnauze, Lausejunge«, wird von hinten gebrüllt.
»Lulu, Bengel, dich werden sie doch hier noch massakrieren«, ruft Fritz Eisner lachend und zieht den Jungen von vorn aus der ersten Reihe zurück. Dabei ist er aber doch insgeheim stolz auf seinen Neffen.
Aber Lulu – das ist sein Tag! – läßt sich nicht so leicht wegschieben und so leicht zurückziehen, muß weiter zuhören, er frißt den da oben ordentlich mit den Blicken auf: »Was habe ich dir gestern gesagt, Onkel F(r)itz?! Du hast es nicht glauben wollen«, tuschelt er und winkt ab: »Bitte, stör mich jetzt nicht.«
Hannchen hat sich auch jetzt nach vorn gedrängt. Sie hängt am Arm von Fräulein Hammel, die durch ein scharfes Stielglas die Gruppe da oben betrachtet. Hannchen trägt jetzt jedenfalls eine knallrote Bluse, die sie schnell aus dem letzten Winkel ihres Schrankes ausgegraben hat. Seit heute vormittag hat sie ihr Herz für den Kommunismus, für die Sowjets, für alles was rot und links ist, überhaupt erst entdeckt. Warum nicht? Eigentlich hat doch ihr goldener Junge diese Revolution gemacht, die das Joch der Knechtschaft für alle Zeiten von ihren Schultern abgeschüttelt hat. Wirklich, sie sieht sogar aus Sympathie für die Bewegung sehr rot aus und hustet aus Begeisterung noch mehr als sonst.
»Na, Hannchen, teure Schwägerin, hat deine Mutter den Rotwein bekommen?« fragt Fritz Eisner.
»Ja, aber du weißt doch, wie Muttchen ist, die hat nur gesagt: der muß doch ein sehr böses Gewissen haben, wenn er auf einmal mit so was anfängt. Wie komme ich zu der Ehre? Außerdem schickt man einen Korb voll Wein und nicht zwei Flaschen. Zwei Flaschen sind ja beinahe eine Beleidigung. Man darf ihr das nicht übelnehmen. Sie ist doch durch das alles sehr komisch und sehr verbittert geworden.«
»Weißt du, Hannchen, der Händler gibt ja nicht mehr ab. Ich habe es ja nur noch auf eine Karte von Doktor Spanier bekommen. Hast du nebenbei schon gehört, daß Lu von ihm weg seit gestern ist?«
»Gott sei Dank«, jubelt Hannchen. »Das habe ich schon lange für sie ersehnt, daß sie endlich von dem Mann frei wird.« Heute ist sie für jede Revolution. »Der Mann hat sie ja in einer Weise behandelt ... ich jedenfalls hätte mir so etwas von Egi nie bieten lassen. Aber er hat es mir auch nicht geboten. Nein, ich hätte mir das so lange nicht mit angesehen.«
Wozu widersprechen, denkt Fritz Eisner. Es ist ja kein Wort davon wahr. Wie hat sie sich das nur wieder so plötzlich ausgedacht? Das gute Hannchen.
»Hannchen, du bist goldig«, ruft Fräulein Hammel und drückt ganz unmotiviert einen breiten Kuß ihr plötzlich mitten ins Gesicht auf die rechte Backe. Hier auf offener Straße vor allen Leuten. Heute ist eben Revolution, da nimmt man es nicht so genau, denkt Fritz Eisner und sieht fort. Man spioniert doch nicht durch Schlüssellöcher.
»Hör mal, Hannchen, darf ich dir endlich mal Ruth Block vorstellen. Ich habe dir ja gestern ihr Bild schon gezeigt, und dir ja schon, fürchte ich, viel zuviel von ihr erzählt.«
Im Augenblick ist Hannchen ganz Dame, die ein junges Mädchen in Protektion nimmt. »Oh, Sie sind Redakteurin? Ich wollte ja auch mal Redakteurin werden. Aber ich habe dann vorgezogen, Frau Professor zu werden. Ihre verstorbene Schwester war ja durch Jahre – da waren Sie ja aber noch so klein – meine beste Freundin. Ich habe einen ganzen Tag geweint, wie ich gehört habe, daß sie da unten in Spanien so unglücklich, – es hieß doch, durch schlechtes Eis, das sie gegessen hätte – dann gestorben ist. Gott, der Krieg. Wirklich, alles, was man so kannte, ist hin und weg.«
Aber sie hat sie doch nur zwei Monate höchstens gekannt, denkt Fritz Eisner. Und es war doch ihre schlimmste Feindin damals ... Männer könnten nicht so reden ... die einfach über sie weggetrampelt ist, und dann Egi hat noch fallen lassen und abgeschoben hat. Na, lassen wir Gras drüber wachsen. Sie ist tot. Und ein wundervoller, kultivierter, großzügiger Mensch, eine geborene Künstlerin war sie ja trotzdem. Man soll überhaupt davon abkommen, Menschen – Männer wie Frauen – nach ihrem Geschlechtsleben zu bewerten.
Hannchen hat schon Ruth untergefaßt, und sie gehen zu Drei – Fräulein Hammel, Hannchen und Ruth – langsam den Kurfürstendamm herunter in dem Gewühl. Fritz Eisner geht mit Lulu hinterher, der ihm unter vielen Beschimpfungen von Leuten, die für Fritz Eisner kaum Namen sind, geschweige denn Begriffe, ein genaues Bild der augenblicklichen Lage entwirft. Dumm ist der Junge jedenfalls nicht. In seinem Alter hat er noch beinahe mit Murmeln gespielt.
Straßenhändler stürzen aus einer Seitenstraße hervor, schreien: »Die rote Fahne! Das Blatt der Berliner Revolution! Numero eins! Die rote Fahne! Die rote Fahne!«
»Siehst du, Onkel F(r)itz, das sind w(i)rr ... w(i)rr Prole(ta)rier ...«
»Junge, Junge, wenn du Proletarier bist, bin ich Großagrarier mit meinem Rosenkohlbeet im Garten.«
Aber Lulu macht zwar Zwischenrufe, aber er überhört sie. »W(i)rr Prole(ta)rier haben heute früh gleich den Lokalanzeiger besetzt und das Blatt da ... bedruckt. Das mußt du dir aufheb(e)n. Das bekommt mal Seltenheitswert. Kommt in unser Re(volu)tionsmu(seu)m ...« Das Wort war sehr schwierig.
Viele kaufen es. Man sieht am Satzspiegel schon, daß es im Lokalanzeiger gedruckt ist, und lacht, und amüsiert sich eigentlich mehr über diesen Husarenstreich, als es ernst zu nehmen.
Nach einer Weile kommt Nuck zu Fritz Eisner zurück, und sie nehmen Abschied voneinander. »Sie können die alte Dame«, sagt Fräulein Hammel, »nicht so lange allein lassen. Das liebe Wesen wäre doch sehr herunter, und außerdem hätten sie heute Fischklöße bekommen und Haferflocken mit Syrup, und ihr Hannchen solle doch auch nicht des Abends ausgehen ... eigentlich. Außerdem müßten um acht oder neun die Straßen geräumt sein, denn des Nachts würde es sicher wilde Schießereien geben. Welche hätten auch behauptet, daß treue Potsdamer und Oranienburger Regimenter im Anmarsch wären.«
»Na, Nuck, was hat Hannchen so zu dir gesagt?« fragt Fritz Eisner.
»Sie war sehr lieb, eigentlich. Ich bewundere das sogar an ihr. Endlich ist doch deine Frau ihre Schwester, Yorik. Muß doch wirklich auch Lena mal sehr gern gehabt haben. Irgend etwas hat sie schon los. Wenigstens ist sie ein Mensch. Wenn auch ein Mensch mit seinem Widerspruch. Immerhin Mensch. Und sie muß doch früher mal sehr schön gewesen sein. Man bewirbt sich doch noch heute sehr um sie. Sie hat mir gesagt, sie könnte die besten Partien machen, wenn sie sich entschlösse, gegen ihren Egi Scheidung zu beantragen. Aber dazu haben sie zu glücklich doch miteinander die ganzen Jahre gelebt. Was war das eigentlich mit diesem Professor Meyer damals für eine Sache, Yorikchen? War das eine Frauengeschichte ... oder was?«
»Ach, weißt du, Nuck, Genaues habe ich nie erfahren. Er konnte sich eben an deutschen Universitäten nicht halten wegen einer Differenz mit einem andern Professor, in der er als Privatdozent nicht klein beigeben wollte, wie man es von ihm erwartet hatte. Und da ist er dann nach Argentinien gegangen, weil er da 'was fand. Und man ihn nach Cordoba berufen hat. Erst für ein Jahr. Und dann ist er eben drüben geblieben. Hannchen ist doch krank geworden, so daß er sie wohl schon wegen des Klimas nicht hat nachkommen lassen. Das ist eigentlich alles, was ich dir sagen kann.«
Und damit hatte doch Fritz Eisner nicht gelogen. Es war auch alles, was er ihr sagen konnte.
Von einem Lastauto schon ziemlich unten jenseits der Leibnizstraße spricht wieder ein Feldgrauer mit einer roten Armbinde herab. Was er spricht, ist auf die Entfernung nicht recht zu verstehen. Jedenfalls ist er der Stimmgewaltigste von allen. Worte wie ›ein neues Evangelium der Freiheit‹ dröhnen über den weiten Kurfürstendamm dahin. Ein breiter Menschenring umsteht den mächtigen, dicht besetzten, von einer Karbidlampe gespenstig beglänzten Wagen.
»Du, Nuckchen, den Brüllaffen müssen wir uns noch anhören, da drüben.«
Es ist ein älterer Soldat mit einem grauen, hastigen und sehr nervösen Gesicht. Er spricht gebildet, phrasenstark und gewandt. Wirklich der erste Redner. Er wäre fähig, die Leute zu jeder Dummheit zu bringen. Er hat den Mund voller Goldzähne und irgendwie doch sehr vertrackte Bewegungen beim Sprechen, die etwas von einer falschen und krankhaften Pathetik haben. Was für seltsame Menschen doch solch eine Revolution plötzlich nach oben treibt.
Ganz vorn, unter ihm, in der ersten Reihe steht ein mächtiger Kerl mit einem Havelock und schaut andächtig, den Kopf ins Genick gelegt, zu dem Sprecher hinauf. Ein alter Bursche wie ein See-Elefant, der seine dicke, schwere Patsche einem kleinen, schneiderhaften, grauhaarigen Männchen in einem gelben Sommermäntelchen, aus dem ein gebundener Foulard – wie eine Kinderschleife aus einem Klappkragen – hervorsticht, auf die Schulter gelegt hat.
»Gott, Herr Sanitätsrat«, ruft Fritz Eisner. »Sie sind wirklich kein falscher Prophet gewesen!«
»Mensch, wissen Sie denn das noch nich: Titel sind seit heute früh abgeschafft. Stören Sie mir nich in meine Studien hier, Eisnerchen. Ick sammle Material.«
Ach, das ist ja wahrlich auch der Alte mit der Samtjacke, den er da mit seiner Patsche gefangen hält. Sieht eigentlich ganz gut, wohlgenährt, anständig und gegen seine Art, adrett aus. Freut mich eigentlich, daß er so gut durch die schwere Zeit sich durchgebracht hat.
»Gott, lieber Freund, wie lange habe ich Sie nicht gesehen.« Fritz Eisner lacht ihn an. Es hätte wenig gefehlt, er hätte ›gratuliere‹ gerufen. »Was machen Sie denn. Wie fühlen Sie sich nun heute? Ich bin eigentlich heute wahnsinnig vergnügt, daß wir doch endlich einmal so weit ... sind.«
»Sie lachen«, sagt der Alte und schüttelt traurig sein kleines, graues Ziegenbärtchen. »Mir ist eine Welt zusammengestürzt, und ich bin innerlich nur eine einzige Träne noch.« Der Alte wendet sich ab.
»Mensch, Eisnerchen«, flüstert das Gummischweinchen, läßt aber dabei keinen Blick von dem Sprecher oben. »Sie müssen doch das Eine lernen, auf berechtigte Empfindungen Ihrer Mitmenschen auch an einem Tag, wie dem heutigen, Rücksicht zu nehmen. Er liest Ihnen ja ooch keene Kriegsjedichte vor! Wat meinen Sie: Hat der jetzt 'n Ausfall! Wat se noch nich gedruckt haben in Merseburg, kriegt er doch ooch nich bezahlt. Ick habe ihm ja schon längst gesagt, er soll sich beizeiten auf Revolutionslyrik umstellen. Nu sind ihm die andern drei Nasenlängen voraus ... Aber kennen Sie denn den da oben nich? Nee? Besinnen Se sich mal! Des ist doch der Jott Merkur, unser oller Johannes Hansen, den se doch wieder jetzt in Krieg aus 'n Trallerkasten 'rausgelassen haben. Ick seh'n mir jenau an. Det ist nämlich 'n Jrenzfall. Wer 't nich weiß, merkt's ja nicht. Det is nämlich durchaus nich dumm, wat der Junge da oben sagt. Jetzt markiert er den Jeistig-Jesunden ... Er macht das täuschend.«
»War er denn jemals beim Militär oder draußen?« fragt Fritz Eisner erstaunt. »Sie sagten doch gestern.«
»Ach, Quatsch ... so 'ne olle Uniform kann doch sich heute jeder anziehen.«
Plötzlich wendet sich der Alte mit der Samtjacke wieder Fritz Eisner zu. »Hören Sie«, sagt er. Er hat so eine etwas altmodische und gewählte Art, zu reden. »Hören Sie, kommen Sie doch einmal in das Nollendorfkasino des Abends wieder. Sie würden mir eine Freude damit bereiten. Wir müssen mal darüber sprechen. Wir haben ja früher so manchen literarischen Strauß da ausgefochten. Aber Sie reden nicht so leicht hin, wie die anderen jungen Leute. Sie gehören zu den Denkenden unseres Berufes. Ich weiß, Sie beschäftigen sich innerlich auch mit solchen Dingen, die uns Dichtern auf den Nägeln brennen. Wir müssen uns doch beide mal darüber aussprechen: Wie stehen Sie zu den jungen Leuten heute?! Vielleicht überzeugen Sie mich. Ich finde, es ist ein wüstes und trauriges Kapitel. Ich versichere Ihnen, diese jungen Menschen heute schreiben etwas, was die Nation nicht im geringsten angeht.«
Und damit entwindet sich der Alte mit der Samtjacke der schweren Patsche des Gummischweinchens, die immer noch auf seiner Schulter ruhte, lüftet mit der Grazie eines österreichischen Erzherzogs sein kleines, grünes Hütchen mit dem Rasierpinsel, reicht dem Gummischweinchen die Hand in grauen Zwirnhandschuhen, und winkt Fritz Eisner kollegial – der Dichter dem Dichter! – zu ... und trippelt davon. Nuck hat er nicht eines Blicks gewürdigt.
»Um Himmels willen«, sagt Ruth. »Er ist böse auf mich. Er nimmt es mir übel, daß ich seine Kriegsgedichte nicht gebracht habe. Alle Woche hat er mir ein halbes Dutzend geschickt; aber es ging doch wirklich nicht.«
In diesem Augenblick sieht erst das Gummischweinchen, daß jene junge Dame da zu Fritz Eisner gehört. Richtig, er ist ihr ja schon mit ihm im Theater begegnet. Er ist vollkommen im Bilde.
Und im Augenblick ist er wie ausgewechselt. Ein ganz anderer Mensch. Denn wie viele alte, wohlhabende und gebildete Junggesellen jener absterbenden Zeit, die ihr Leben lang nur zu käuflichen oder sehr minderwertigen Frauen Beziehungen gehabt haben, hat er eine altmodische und fast an Anbetung und Vergöttlichung grenzende Verehrung für die Dame, das junge, schöne, gepflegte Mädchen, kurz, für die Frau aus gutem Hause.
Das Gummischweinchen ist eigentlich ein feiner und bescheidener Frauenverehrer, der von sich selbst viel zu wenig hält, auch durch viel zu viel Schmutz in diesem Leben hindurchgegangen ist, um nun mit solch einer Verehrung etwa ein Angebot seiner Person je verbinden zu wollen. Gott, man will ja auch keinen Tizian erwerben, wenn man ihn bewundert, oder von ihm träumt. Und man wüßte ja auch gar nicht, wo man ihn bei sich zu Hause hinhängen sollte. Das ist nur etwas für Millionäre. Aber vielleicht wird man deshalb doch im Innersten tiefer von seiner Schönheit getroffen, als der Millionär, dem er auf der Auktion zugeschlagen wurde.
Fritz Eisner stellt vor.
Nuck fröstelt etwas.
»Hören Sie, Herr Rat. Sie haben mich gestern aufgefordert, Sie zu besuchen. Können wir ein bißchen mit Ihnen gehen, und uns bei Ihnen aufwärmen. Das heißt, wenn Sie jetzt nach Hause gehen.«
»Ich muß auch nach Hause ... ich fiebere«, sagt das Gummischweinchen und sieht dabei mit einem ganz schnellen Blick Fritz Eisner über die Kneiferränder an. ›Ach so‹, sagt der Blick,›wenn mich ein Bekannter mit seiner Freundin besuchen will, so bin ich informiert.‹
Fritz Eisner will dem Gummischweinchen etwas zutuscheln.
›Mensch, Eisner‹, sagt ein zweiter Blick des Alten über die Kneiferränder fort. ›Sie sind wohl ein Anfänger. Bei so etwas redet man doch unter gebildeten Menschen nicht.‹
Ruth und das Gummischweinchen sind gleich tief in einem politischen Gespräch. Denn Ruth weiß genau, wie diese jungen Menschen es heute überhaupt wissen, in allen Schlichen und Personalien Bescheid trotz Lulu –. Nuck ist Feuer und Flamme, und der Dicke mit der Knollennase geht ruhig und bedächtig neben ihr, in jedem Blick Verwunderung für ihre kluge Sicherheit und für das helle Licht in ihren Augen.
»Ich glaube nicht an die Sache«, sagt er endlich, »gnädiges Fräulein«, in einem Hochdeutsch, das Fritz Eisner noch nie aus seinen dicken Lippen kommen hörte, »so sehr ich sie begrüße, Fräulein. Der Deutsche ist kein Zoon politikon. Er macht aus Nichtigkeiten Wichtigkeiten, und übersieht stets das Notwendige. Sehen Sie, ich als Arzt kenne so was aus meiner Praxis: Am Krankenbett Deutschlands stehen im Augenblick zwei Arzte. Das ist die ganze Geschichte. Der eine will ihn aufwecken, den armen kranken, ausgebluteten Kerl von Deutschen und dann gesund machen. Und der andere ihm ein Schlafmittel einflößen, damit er weiter döst. Und wie ich die Sache ansehe, wird der mit dem Schlafmittel endlich doch die Überhand bekommen. Vorher wird aber noch viel Wasser die Spree herunter und viel Blut fließen. Und glauben Sie nur nicht, daß das der letzte große Krieg in der Welt ist. Jetzt wird ein Schrei durch die Welt gehen: Die Waffen nieder! Und schon in vier Wochen werden sie hier und allenthalben in der Welt darüber nachsinnen: Wie vervollkommnen wir sie. Und bei uns hier in Deutschland, da wird es genau so gehen, wie mit den bayerischen Wallfahrern im Simpel, die von Andechs, schwer verprügelt, mit einem zerschlagenen und zerbrochenen Kruzifixus heimkommen: Dös nächste Moal gehen wir mit dem gußeisernen Herrgott nach Andechs!«
Ruth lacht – sie lacht doch so gern.
Und das merkt das Gummischweinchen sofort. Er möchte sie wieder lachen hören. »Vielleicht werden bald die Könige aufhören und die Kaiser. Was wird aber dann der letzte Monarch, der übrigbleibt, tun? Was wird aus den Monarchen besuchen? Er kann sich doch unmöglich alle Tage selber besuchen, und auf beide Backen küssen?! Und wie küßt man sich selbst auf beide Backen?«
Ruth lacht ausgelassen. Wirklich, dieser alte dicke Knabe ist famos. Man kann schon Zutrauen zu ihm haben.
»Fräulein, ich beschwöre Sie eins: Lassen Sie die Hände von der hohen Politik. Ich habe mich lange genug mit ihr herumgeschlagen. Das einzelne Leben (sagt schon so ungefähr Heine) ist viel zu kurz, um da irgendwelche Änderungen in der Struktur der menschlichen Dummheit wahrnehmen zu können oder gar selbst zu veranlassen.
Suchen Sie sich ein kleines Spezialgebiet mal 'raus. Bleiben Sie nur bei ihren Frauendingen, die Sie doch interessieren, und wo Sie – sehen Sie, man beobachtet Sie ganz genau – arbeiten. Und wenn Sie da irgend etwas erreichen, eine Kleinigkeit nur, dann werden Sie in das goldene Buch der Menschheit eingetragen. Neben Ehrlich und Behring. Ich bin Arzt und ich sehe täglich, was dabei zum Beispiel an Mädchen und Frauen über Bord geht ... Schreien Sie so lange, bis man Sie hört: Zu den allerprimitivsten Forderungen des Rechts auf Persönlichkeit gehört es, daß kein Mensch gezwungen werden kann, gegen seinen Willen sich fortzupflanzen. Und daß weiter kein Mensch gezwungen werden kann, mit einem ungeliebten Ehepartner zusammenzuleben. Ein Staat, der beides nicht anerkennen will, überschreitet seine Befugnisse dem Individuum gegenüber. Schreien Sie das in die Welt hinaus, bis man Sie hört. Die gleichen Befugnisse überschreitet er, die er in zahlreichen Möglichkeiten nicht ausnutzt, indem er zum Beispiel erst an ganz wenigen Stellen dahin gelangt ist, allzu minderwertiges Menschenmaterial von der Fortpflanzung auszuschließen. Wissen Sie, jeder Staat tut ja das Böse von selbst und muß zum Guten gezwungen werden. Menschen, die da sind, schießt er tot. Aber die Überzähligen und Überflüssigen, die auf die Welt wollen ... ja mengelieren Sie sich nur mal mit als Arzt ... da kommen Sie, wenn's aufkommt, nie wieder aus dem Gefängnis heraus. Schreien Sie das in die Welt 'raus. Nicht einmal, tausendmal, bis es anders wird. Da haben Sie eine Lebensaufgabe. Da haben Sie ein Ziel als Frau für Ihre Schwestern zu kämpfen. Aber lassen Sie die Finger von der hohen Politik. Sie haben so süße, feine, kleine, saubere Händchen. Warum wollen Sie sich die schmutzig machen? Und nachher gar nicht mehr sehen, daß sie schmutzig sind.«
Ruth Block ist sehr rot geworden, aber das Gummischweinchen bemerkt es nicht, weil er es eben nicht bemerken will.
»Also, Frau Bumke«, seine Haushälterin heißt zwar gar nicht Frau Bumke, aber das Gummischweinchen redet sie so an. Es sagt, das wäre kürzer als ›Hag‹, denn so heißt sie. Und wirklich, das Gummischweinchen hat recht gehabt in seinem Stoßseufzer gestern, denkt Fritz Eisner: Sie schielt wie ... nein, ein Bock kann gar nicht so schielen; höchstens eine Flunder in gewissen Stadien ihrer Entwicklung, wenn sie aus dem Rundfisch ein Plattfisch wird und die Augen langsam über den Kopf marschieren. »Liebe und verehrte Frau Bumke, machen Sie uns einen schönen Tee, und 'raus mit de Bilder! Keine Müdigkeit vorschützen! Was so im Hintergrund an Keks und Gelee und so aus dieser schönen Jegend noch schlummert. Die junge Dame hat's kalt, und ich hab heute auch wieder Fieber. Also, uns beiden wird es sehr gut tun. Und hier unser illustrer Gast wird mithalten ... Und knipsen Sie jleich mal den elektrischen Ofen drin an.«
In seinem Haus gibt es kein Hochdeutsch. Das würde Frau Bumke auch gar nicht verstehen. Das alte Wesen entschwindet. Und dann sitzen sie im Zimmer weich in alten Polstersesseln um den runden Tisch. Wirklich, das Gummischweinchen ist sehr behaglich eingerichtet, in Möbeln, die vielleicht anderthalbmal so alt sind, wie er selbst, der ein hoher Fünfziger doch wohl ist; und die schon dadurch, daß sie von den Eltern, ja vielleicht von den Großeltern kommen, und unentwegt in menschlicher Gesellschaft waren, etwas von menschlicher Wärme angenommen haben.
Fritz Eisner nimmt sehr schnell Inventur auf. Den Königin-Luise-Stich von Ruschewey möchte er haben. Sonst nichts. Die Möbel ganz nett ... aber keine gute Zeit mehr. Und sehr reiche Leute müssen es nicht gewesen sein damals, die Ollen. Mutter pflegte zu sagen und die Nase zu ziehen: So was stand in meiner Jugend in Portierstuben! Aber die alte Moderateurlampe mit dem grünen Glasschirm, die ist lustig. Die könnte man als Arbeitslampe brauchen.
»Sie kieken sich doch hier so um, Eisnerchen. Naja, ein Sammler wie Sie und Doktor Spanier bin ich nich. Und nu erst der Paule Gumpert! (Was aus 'm Menschen alles werden kann?! Ich kannte ihn noch, wie er für Sichels ›Bettlerin vom Pont des arts‹ mit de Glubschaugen schwärmte.) Wie der erst recht nich. Aber ich sammle doch. Jawoll, ich habe ein Spezialgebiet. Da bin ich unübertroffen darin in janz Europa. Da sind ja Ihre Chodowieckes und Demarteaus und Daumiers einfach Neuruppiner Bilderbogen dagegen. Ja, nu spitzen Se! Aber das sage ich Ihnen doch nicht, was es ist. Ich lasse Se noch ein bißchen zappeln. Nachher hole ich Ihnen meine Brillanten aus meinen Safe ... Können Sie mir nebenbei erklären, woher ich das Fieber so um Abend rum habe. Ich zahl' Ihnen zwanzig Mark, wenn Se 's mal 'rauskriegen, Eisnerchen. Der Spanier sagt: Kleine Rückfälle von meinem Paratyphus, ganz bedeutungslos. Ick sage mir: Non. Naja, wenn ich noch Morphinist wäre, denn würde ich auf was anderes tippen. Aber das habe ich mir doch Jott sei Dank seit über zehn Jahren wieder abgeschminkt. Sonst wäre ich ja auch nich so dick geworden und sähe so wohl aus. Also, junger Freund, was ist das? Ick beunruhige mir nich. Über die Statistik bin ich raus. Lange raus. Nach de Statistik müßte ick schon fünfzehn Jahr tot sein, weil das Durchschnittsalter doch man vierundvierzig nach de letzte Berechnung vor 'n Krieg war. Und ich habe jetzt genug Menschen sterben sehen, um die es mehr schade war als um ...« Das Gummischweinchen verspricht sich und sagt »mich«, verbessert sich aber schnell in »mir«. »Nee, ick beunruhige mir jar nicht. Aber ich bin Arzt. Und als Arzt, da möchte ich doch zum mindesten wissen, woran ich sterben wer' ... schon wegen den Totenschein, daß ick den eventuell – alles muß seine Ordnung haben – nachher verbessern kann ... Apropos Totenscheine. Das eine möchte ich ja doch noch: Ick möchte noch so ein paar Dutzend Totenscheine ausschreiben.«
»Pfui, Sie sind aber wirklich roh, Herr Sanitätsrat«, wirft Nuck dazwischen, die auf diesen Ton noch nicht eingeschworen ist.
»Lassen Se einen doch ausreden, schönes Fräulein ... Aber man muß mir jestatten, daß ick se mir persönlich aussuche!!«
»Dabei möchte ich Sie doch gern beraten, lieber Doktor«, ruft Fritz Eisner lachend dazwischen.
»Aber wenn wir nu beide auf denselben tippen? Wat dann? Zwei Totenscheine vor einen is doch wieder zu ville. Des muß allens seine Ordnung haben«, sagt das Gummischweinchen und gießt sich den vierten Kognak ein und stülpt ihn hinter (Potator ist er ja doch geblieben. Daher also nach dem Paratyphus der Leberabszeß, denkt Fritz Eisner). »Was sagen Se nebenbei zu Kollegen Spanier!?«
»Oh«, ruft Fritz Eisner, »was gibt's da?«
Nuck macht ein böses Gesicht. Sie liebt es nicht, wenn Yorik sich etwas dreimal hintereinander erzählen läßt und tut, als ob er noch nichts davon wüßte. Dazu ist sie zu wahrheitsliebend.
»Die Lu ist doch wahrhaftig weg zu dem Andern, zu dem Doktor Georg Groß. Er legt sogar Wert darauf – er ist doch immer so ein korrekter Mensch gewesen, der Kollege Spanier – daß er es war, der sie rausgesetzt hat. Und dabei tut's ihm doch schon heute leid, und er ist kreuzunglücklich, – jar nich wieder zu erkennen. Menschen sind zu dumm. Er liebt sie, und sie liebt ihn. Er weiß es. Sie weiß es. Und beide markieren jetzt die Stolzen. Statt sich zu sagen: Das ist ja alles heller Wahnsinn, was wir hier machen! Vierundzwanzig Stunden wollen wir beide mal Trappisten spielen ... Vierundzwanzig ... nicht zwölfe! Und in der fünfundzwanzigsten Stunde werden wir gar nicht mehr dran denken für die nächsten zehn Jahre je wieder auseinander gehen zu wollen.«
»Es gibt doch Dinge, die ein weiteres Zusammenleben trotz Liebe unmöglich machen.« Nuck ist also anderer Ansicht. Aber sie ist eben noch sehr jung.
»Ach, wissen Sie, Fräulein, auch der klügste Mensch – und Kollege Spanier ist klug, piekklug – ist ja eigentlich ein dummes Luder. Wenn auch der Einzelne immer noch tausendmal klüger als de Herde ist. Es gibt keinen Weltteil, den ich nich kenne. Überall trifft man nette und kluge Menschen. Doch die sind ja auch bloß bis zu einem gewissen Punkt klug. Bei dem einen liegt er höher. Bei dem andern sehr tief, so daß man jleich drauf stößt. Da ist er bei jedem. Auch bei dem Kollegen Spanier. Aber die echte Dummheit fängt doch erst bei der Herde an. Sehen Se, alle die, die da draußen jetzt mitschreien und glückliche Jesichter haben und sich wie die Irren gebärden, haben ja auch Hurra gebrüllt im August neunzehnhundertvierzehn. Das ist das, worüber ich heute nich wegkomme. Wenn ich einem einzelnen Menschen sage: Siehst du da drüben das Haus, das gehört Lehmann, dem Schuft. Geh hin und reiß es ein. So wird er mir antworten: Entschuldige, Lehmann ist nicht anständiger und nicht unanständiger als du und ich; und er wird gar nicht daran denken, es zu tun. Er wird mich aber dafür, je nachdem, verprügeln, in das Gefängnis oder in die Klapskiste bringen. Oder nur im Weitergehen sagen: Such dir für deinen Unfug einen Dümmeren aus! Was geht mich Lehmann an. Ich habe durchaus keine Lust, etwas wie ein Haus, das soviel Arbeit macht, es aufzubauen, sinnlos einzureißen, ob das nu Lehmanns Haus oder meins ist, und mich zudem noch dafür von Lehmann vielleicht totschlagen zu lassen. Machst du mich dann etwa wieder lebendig? Scher dich zum Teufel, du Hund!
Wenn ich das aber dreihundert Leuten sage, so schreien dreihundert Menschen sofort besinnungslos ›Hurra‹, stürmen das Haus von Lehmann, und sind noch glücklich, und lassen mich hochleben, wenn dabei nur zweihundertfünfzig tot gehen, aber Lehmann hin ist und sein Haus dem Erdboden gleich gemacht ist.
Das ist das, worüber ich bis heute nicht weggekommen bin, Eisnerchen, daß der Mensch ja auch nur so ein janz, janz armseliges und een janz, janz dummes Herdentier ist, wie die Lemminge in Norwegen, die einfach ins Meer rennen und ersaufen. Unsere heutigen Staaten – des sind ja nur Abteilungen in een Warenhaus, die alle jejeneinander arbeiten. Und des muß doch mit den Deibel zugehen, wenn das janze Warenhaus nich alle paar Jahre in Konkurs gerät, und immer wieder jestützt werden muß, und von vorne anfangen muß. Jroßmachtpolitik wie bei Bismarcken, des haben sich die andern vielleicht noch bieten lassen, weil da ein Kerl hinter war.« Er schlug auf den Tisch mit seiner mächtigen, wie aufgeblasenen Hand, daß das halbvolle sechste Gläschen Kognak beinahe umkippte. »Aber Jroßmaulpolitik, des haben die andern nich vertragen. Reden wir nich weiter drüber. Nu ist es ja vorbei ... Mein schönes Deutschland!!!
Ach, sprechen wir von etwas anderem. Sie meinen also, ich bin kein Sammler. Ich bin nämlich ein bedeutender Kollektioneur, und zwar Spezialist längst vor Palmström. Ich lege Wert darauf, daß ich früher war als Palmström. Ich habe die Priorität. Palmström steht an einem Teiche ... und entfaltet groß ein buntes Taschentuch ...«
»Auf dem Tuch ist eine Eiche ... dargestellt, so wie ein Mann mit einem Buch«, unterbricht Ruth. Sie gehört zu den Morgensternianerinnen.
»Und kein Fühlender wird ihn verdammen ... wenn er ungeschnäuzt entschreitet«, fällt Fritz Eisner in den Chor ein.
»Ja, aber ick jehöre eben zu denen, die oft unvermittelt nackt ... Ehrfurcht vor dem Schönen packt. Warten Se, Eisner.« Das Gummischweinchen steht schwerfällig auf. »Verdammt«, knurrt er, »das sticht doch wieder in de Leber! Warten Se, Eisnerchen, jetzt kommt der jroße Augenblick.« Er geht an das alte Mahagonispind (Man sollte den Aufsatz abnehmen, dann wäre es noch ganz hübsch, denkt Fritz Eisner) und hebt drei große Mappen, wie sie Handzeichnungensammler haben, heraus da. Feierlich, wie ein Priester die Hostie aus dem Ziborium ... »Also, Eisnerchen, ich bin der größte Spezialist für – bedruckte Taschentücher, den es in Deutschland gibt. Andere mögen mehr haben. Bessere werden Sie nirgends finden. Ich habe Stierkämpfertücher und Matrosentaschentücher mit Hawaiimädchen. Ich habe die seltensten alten Zimmermannstücher, und welche von Fuhrleuten und Postillonen und solche mit Zunftzeichen, und Freimaurertücher, und sogar korsische Straßenräubertücher mit weißen Totenköpfen auf Schwarz. Die ganze Schlacht bei Sedan habe ich auf einem Taschentuch. Und die Kaiserproklamation von Versailles. Ich habe dieselben Tücher mit russischen, deutschen, englischen und spanischen Unterschriften. Ich habe sie in allen Flaggenfarben. Ich bin nicht völkisch beschränkt. Ich habe international gesammelt. Honduras habe ich so gut wie San Marino. Passen Se uff: Das wird Ihnen Spaß machen. Sehen Se, davon verstehen Se wieder nischt. In Manet und Rembrandt kann sich jeder auskennen, Eisnerchen. Aber sagen Sie mir mal, ob das Taschentuch hier aus Spanien oder Italien stammt? Na? Das is jar nicht so einfach, wie Sie jlauben.«
Fritz Eisner lacht. Aber dann fängt er doch in den sauber gebündelten Leinen- und Baumwoll- und groben Drillichtüchern zu blättern an. Manche mögen bald hundertjahre sein aus der Zeit der beginnenden Kattundruckerei mit wunderlichen Figuren, alten Segelschiffen und Trachten und von einer ungewollten Primitivität, die Fritz Eisner fast an Henri Rousseau erinnert. Und Nuck beugt sich auch über die bunten Tücher hin, so daß sich ihre beiden Köpfe fast streifen. Das Gummischweinchen betrachtet sie eine ganze Weile.
»Wissen Se, Eisnerchen, wie ich Sie da sitzen sehe, und das wunderschöne junge Fräulein Block, das immer so nett und treu zu Ihnen 'rüber sieht, wenn Sie den Mund aufmachen ... wissen Se, woran ich da denke? Ja? Kennen Se Wien? Da in einem kleinen Kabinett im Kunstmuseum hängen sich gegenüber Rubens und seine Helene Fourment. Naja, sie ist blond und rosig und dicklich, das ist Ihre Ruth Block nich, und nur vegetativ und reichlich unbeseelt – das is se och nich – aber schön sind se beide trotzdem ... Un Rubens is so ein alter, feiner, überlegener Diplomat, der sich Mühe gibt, jung zu sein, und dabei Säcke unter den Augen hat, noch mehr, wie ich heute, und der sich ungern daran erinnern läßt, daß er auch Maler ist. Das ist ihm nicht fein genug. All das stimmt nicht für Sie, Eisner, so wenig wie Fräulein Ruth Helene Fourment ist. Und es stimmt doch.
»Und wenn man dann hereingeht in den großen Rubenssaal, da hängt gleich um die Ecke ...«
»Die ›Ruhe auf der Flucht‹ mit dem reifen Apfelbaum«, ruft Fritz Eisner. »Ich kenn's: Herrlich!«
»Jewöhnen Sie dem Mann doch das viele Reden ab, Fräulein Block. Sie sind der einzige, der über ihn so was vermag.
»Also, da hängt das ›Venusfest‹. Wissen Se, so der große Reigen in dieser nächtlichen Landschaft ist eine traumhafte Geschichte. Vielleicht das allerschönste, was Rubens je jemacht hat. Haben Se sich mal das angesehen? Jenau? Sie jlauben also, Sie kennen's? Ist Ihnen da was aufjefallen? Die beiden Figuren ganz links, die letzten, die sich in den küssenden Reigen mit eingeschmiegt haben, tragen je ein kleines Püppchen in der Hand. Und das eine Püppchen ist eben wohl Rubens selbst. Und das andere ist Helene Fourment. Ich mein' schon, sie sind's. Das ist mir immer sehr nahe gegangen.« (Wirklich, das Gummischweinchen ist doch wie alle alten Potatoren sehr rührselig.)
Und damit vertieft sich Fritz Eisner in diese absonderliche bunte Sammlung. Bis man so alle durch hat, denkt er, können Stunden vergehen. Da sind ja prachtvolle Stücke darunter. Das mit dem Indigo hier und dem Altrot muß sicher für Java gemacht sein.
Das Gummischweinchen wirft einen verstohlenen Blick zu Fritz Eisner herüber. »Kommen Se, Fräulein Block«, sagt er ganz leise. »Ich weeß schon ... ich ahne so was ... Sie sehen jerade so aus. Ick bin darin ein alter Praktiker, Physiognomien zu lesen. Sie brauchen sich vor mir nich zu genieren. Ich könnte ja beinahe Ihr Großvater schon sein. Waren Se schon einmal in meinem Sprechzimmer drüben? Ich habe mir einen neuen Röntgenapparat jetzt angeschafft. Ein Prachtkerl. Da können Se de Knochen in Ihrer Hand ebenso deutlich drin sehen wie Ihre Hand selber.«
›Es wäre wirklich lustig, wenn man darüber mal was schriebe. Ein bißchen abseits; aber amüsant ist es schon, diese Volkskunst.‹ »Weißt du, Nuck«, sagt Fritz Eisner laut. »Die südamerikanische Mappe mußt du dir wirklich doch ...« Fritz Eisner blickt auf. Wo sind sie denn eigentlich hin? denkt er. Aber dann fällt ihm ein, weswegen er ja nun 'mal hier ist. Und er bekommt plötzlich die ganze zerrende Nervenunruhe, die Wartezimmerkrankheit.
Aber in diesem Augenblick kommen das Gummischweinchen und Ruth auch schon wieder herein. Sehen beide sehr gleichgültig und ruhig aus. Fritz Eisner schämt sich: dieser alte Gauner hat das doch verdammt geschickt eingefädelt. Leimt ihn da so einfach mit den Taschentüchern. Beide setzen sich seelenruhig hin. Nuck ist gar nicht bedrückt. Lächelt ihn an, als ob sie sagen will: ›Armer Junge, man spielt immer mit dir, alle, die Männer, die Frauen. Das hat man davon, wenn man »Dichter« ist. Die anderen halten einen für ein Kind, das sie nett unterhalten kann, und das bei ernsten Gesprächen unter Erwachsenen aus der Tür gedrängt wird: Da, spiel du draußen ein bißchen.‹
»Eisnerchen«, sagt das Gummischweinchen und trinkt den achten Kognak. »Das schlägt das Fieber 'runter. Haben Sie eine von Ihren englischen Zigaretten, Meister?« (Donnerwetter, der hat doch ganz verglaste Augen plötzlich!) »Was sagen Sie zu meiner Sammlung? Das haben Sie nicht hinter mir vermutet. Also, nun wollen wir mal ganz vernünftig alle drei uns ein bißchen über den Fall unterhalten. Es kann sein. Es kann ebensogut nicht sein. Die individuellen Wahrnehmungen der jungen Dame können auch andere Grundlagen haben. Feststellen konnte ich nichts. Aber das ist auch zu Beginn nicht so einfach und sicher.« Er fängt plötzlich an, etwas lallend zu sprechen. Verliert die Kontenance. »Ick war doch mal 'ne Hoffnung, un ick bin een jewissenhafter Mann, und deshalb habe ich so was wie 'ne Anamnese aufgenommen. Jesund is Ihr Fräulein Braut, Eisnerchen. Da machen Sie sich keene Sorgen. Kerngesund. Ich habe selten so einen gesunden Menschen jesehen. Aber – nichwahr? – Ein paar Kleinigkeiten jefallen mir doch nich so janz. Was ist mit der Stimme los? Woher kommt die Empfindlichkeit in der Lebergegend? Warum ist die Milz etwas vergrößert? Da müssen wir doch mal die roten Blutkörperchen nachzählen lassen. Was war mit der Jugenderkrankung? Da klappt was nich. Und wie kommt solch blauer Fleck, wie überm linken Knie zustande? Und wie das viele Nasenbluten? Wenn se doch nich vollblütig ist. Und der Blutdruck is auch nich so janz, wie er bei einer jungen, janz jesunden Frau – sein muß. Sie war mal ein interessanter Fall, sagt sie. Des is meist unangenehm für den Patienten. Des zahlt sich nich aus. Junge, Junge, Junge, – da klappt doch was nich!« Er versucht sich zusammenzureißen. »Das Fräulein ist sozusagen beinahe gesund. Also, im ganzen fehlt ihr ja nichts«, sagt er und sperrt die Augen auf. Guckt ins Licht, um ja nicht wieder müde zu werden. Aber es nützt nichts. Er wird wieder schlaff und hemmungslos. »Bei so was«, beginnt er wieder zu lallen, »können doch Sophagusvaricen mal kommen. Sie wissen nich, wat det is? Des brauchen Se auch jar nicht zu wissen. Jenug, daß wir so was wissen. A la longue ist das keine günstige Diagnose.« Das Gummischweinchen fährt sich über die Stirn. »Was habe ich da eben gesagt?! Herrgott, ich bin krank. Ich hab' Fieber. Ich verwechsle ja das mit dem einen Fall von heute vormittag. Fehlen tut Ihnen, gnädige Frau, eigentlich nicht das geringste. Sie brauchen das Kind ja bloß anzusehen, Eisner, dann werden Sie nicht daran zweifeln. Aber nun kommt das wichtigste: Die junge Dame sagt mir (sehen Sie, jetzt geht's mir schon wieder besser), Sie haben die Absicht, bald zu heiraten. Sie hat mir alles erzählt. Tun Sie's sehr schnell. Tun Sie's noch schneller, damit Sie, wenn es so sein sollte, wie die reizende junge Frau annimmt, was ich nicht bejahen und nicht verneinen kann, es noch beizeiten rückgängig machen können.
»In der Ehe und in der eigenen Wohnung ist so etwas für die junge Frau und für den Arzt viel einfacher. Es ist ja nicht gerade nötig. Aber wenn Sie nicht Gewicht drauf legen, nochmal Vater zu werden – mir würde es zum Beispiel ein Mordsspaß machen; aber ich habe leider mein ganzes Leben lang nur für andere Leute die Kinder geholt ... nötig ist es ja durchaus nicht. Keine Spur. Die meisten Kollegen sind solche Esel, daß sie sogar nicht mal sehen würden, wie nötig das ist. (Ach, verzeihen Sie, nicht mal ein Gläschen Kognak vertrage ich mehr.) Aber man kann nie wissen, wie bei einer solchen Konstitution der Hase doch mal später laufen tut. Wir wissen ja nicht, was die Krankheit damals war. Und so etwas kann doch durch eine Geburt wieder in Bewegung gesetzt werden, und kann dann später vielleicht einmal zu letalen Komplikationen führen. Also ...« jetzt macht das Gummischweinchen die vertrauenserweckende und große Geste des Arztes, die auch gelernt sein muß. »Gehen Sie beruhigt nach Hause, Eisnerchen ... und Sie, Fräulein Block, auch ... Ich kann nichts finden. Sie sind ganz gesund und fidel!« Er sieht sich erschrocken um. »Habe ich vorhin großen Unsinn geredet? Nich mal ein Gläschen Kognak vertrage ich mehr, und fiebern tue ich auch. Beruhigen Sie sich.« Er lacht sehr freundlich und fast entschuldigend. »Mit dem Kind ist es nichts, und fehlen tut Ihnen auch nichts mehr.«
Noch einmal wendet er sich zu Fritz Eisner. »So etwas ist mir doch in letzter Zeit schon einmal passiert. Ich hab' kein Gedächtnis mehr. Ich werf' einfach die Fälle durcheinander.« Er lacht müde und patscht dabei Fritz Eisner treuherzig auf die Schulter. Er macht das wirklich vorzüglich. Er hat eben als Arzt die Erfahrung von Jahrzehnten im Lügen, so daß Fritz Eisner, der erst sehr mißtrauisch und tief erschrocken war, nun wieder ganz beruhigt ist, und laut zu lachen beginnt; und auch Nuck ist heiter. Außerdem ist sie ja von früh an gewohnt, ein interessanter Fall zu sein.
»Also, wenn Sie sich das nochmal bestätigen lassen wollen, gehen Sie doch vielleicht zu meinem Kollegen Spanier in den nächsten Tagen. Wir haben so ein Austauschverhältnis, wenn er mit einem Patienten nichts machen kann, schickt er ihn eben nochmal zu mir. Und wenn ich mit einem Patienten nichts machen kann, schicke ich ihn eben zu ihm. Und dann können wir eben beide dem Patienten nicht helfen. Uns schadet nichts und dem Patienten nützt nichts. Aber man muß doch sein möglichstes tun. Wozu war man denn mal 'ne Hoffnung!?«
›Gott, das Gummischweinchen ist nicht gerade betrunken‹, denkt Fritz Eisner, ›aber seine Hemmungen sind doch noch mehr gelockert als sonst.‹
Plötzlich aber fängt das Gummischweinchen ganz leise an mit den Zähnen zu schnattern. »Wissen Sie«, sagt er, »ich werde mich doch etwas hinlegen. Das ist in zehn Minuten vorbei. Diese verfluchten Fieberattacken gegen Abend jetzt immer.«
Er bringt sie aber, so sehr sie protestieren, Fritz Eisner und Ruth, die die Hand des Gummischweinchens festhält, im Dank und nicht aus der ihren dabei läßt, bis zur Tür.
»Wie geht's Ihnen jetzt, lieber Freund?« fragt Fritz Eisner.
»Mir geht's wie einer abgeschossenen Granate. Ich krepiere bald«, sagt das Gummischweinchen. Und dann: »Schade, daß der Krieg nun doch schon zu Ende ist.«
»Aber, Herr Sanitätsrat«, ruft Ruth, » ich denke, er hat viereinviertel Jahr zu lange gedauert.«
»Ach Gott, ich meine ja nur«, seufzt das Gummischweinchen, »weil Leichenbegängnisse kostenlos bisher von der Militärbehörde gestellt wurden. Und ob sie das später in dem neuen Regime jetzt noch tun werden, bleibt doch durchaus fraglich. Aber das eine, Fräuleinchen, wollte ich Ihnen doch noch einmal ans Herz legen: Ihr Fritz Eisner ist ein anständiger, wenn auch etwas angejahrter Junge. Gott, ein großes Kind eigentlich (das einzige, was er mit Goethe gemein hat). Ein Genie ist er nicht gerade. Aber davor kann er nichts. Aber eins: Sie müssen ihm das viele Reden abgewöhnern. Er läßt einen ja nie zu Worte kommen.«
»Aber gestern haben Sie doch gerade gesagt«, ruft Fritz Eisner, der schon einen Treppenabsatz tiefer ist, herauf, »daß Sie sich mit mir so gern unterhalten, weil ich Sie wenigstens auch mal reden lasse.«
»Was gestern war, ist nicht heute«, ruft das Gummischweinchen in das Treppenhaus herunter. Jetzt ist er plötzlich wieder ganz fidel, und scheint auch nicht die Spur mehr betrunken. »Gestern hatten wir zum Beispiel noch ein deutsches Kaiserreich, und heute haben wir eine deutsche Republik ... gestern hatten wir Krieg, und morgen werden wir vielleicht schon Waffenstillstand haben ... gestern hatten wir noch Militärdiktatur, und heute haben wir Revolution ... gestern war Wilhelm noch an der Spitze seines Heeres, und heute ist er Deserteur in Holland ... gestern war Ebert noch Sattlergeselle, und heute ist er schon beinahe Reichspräsident ... wenn wir sowas kriegen werden. Merken Sie sich das eine für Ihr Leben. Nehmen Sie es als Andenken von Ihrem alten Gummischweinchen mit auf den Weg: Gestern ist nie heute.«
»Siehst du, Nuck, jetzt ist er wieder der, der er immer wahr: Ein origineller Bursche ... ein unfehlbarer Diagnostiker ... und ein Kohinur an menschlicher Anständigkeit. Aber vorhin, da muß er doch knallbetrunken gewesen sein. Diesen Unsinn, den er da zusammengeredet hat. Er kann doch sonst endlos viel vertragen. Denk dir, ein alter Morphinist, Matrose, war auch dann lange Schiffsarzt, der auf allen Meeren herumgesoffen hat, und mit den Kaffern in Südafrika, noch vor Cecil Rhodes, die schwersten Gins getrunken hat, der soll plötzlich von so ein paar dünnen, armseligen Kriegskognaks so betrunken werden?! Das verstehe ich nicht.«
Draußen sind noch mehr Leute als vordem. Ruth hat sich an Fritz Eisners Arm gehängt und drückt sich gegen ihn an.
»Freust du dich, Yorikchen?!«
»Warum?«
»Na, es ist doch bestimmt nichts. Ich habe mich natürlich getäuscht, Yorikchen. Nun bist du wieder ganz frei und kannst machen, was du willst. Du kannst jede Minute von mir fortgehen. Ich jedenfalls habe keine Ansprüche mehr an dich. Ich gebe dir noch einmal Bedenkzeit: du kannst in diesem Augenblick von mir fort. Begleite mich noch bis zur nächsten Laterne, und dann sehen wir uns nie wieder. Drahte Annchen, es wäre ein Irrtum von dir gewesen mit dem Brief und fahr zu deinen Kindern.«
»Aber, mein süßer Liebling. Wieviel Kognak hast du getrunken? Keinen? Da muß dich der Duft von denen, die das Gummischweinchen genehmigt hat, schon so benebelt haben. Für was hältst du mich denn? Ich sagte dir ja gestern, daß es nur reiner und dreimal filtrierter Egoismus von mir ist, weil ich so etwas wie du bist, nicht wieder hergeben will, und du erzählst mir Geschichten von einem sagenhaften Baby, das bisher nur in deiner Phantasie Realität hatte, und an das ich nie geglaubt habe.«
»Ich dachte ...«
»Nuckelino, wie kommst du dazu? Du hast nicht mehr zu denken und nicht mehr zu handeln ... nach unserem Pakt. Ich denke für dich und ich handle für dich. Also komm. Willst du noch zu meiner alten Freundin mitgehen? Es kümmert sich sicher keine Seele heute um sie. Ihr Sohn ist tot. Die alte Anna ist mehr als merkwürdig mit ihrem siebenundsechzigsten Psalm. Und wer wird sonst heute zu ihr kommen? Die alte Frau wird sich ängstigen, und außerdem habe ich dich schon bei ihr angemeldet gestern. Ich muß heute nochmal nach ihr sehen.«
Nuck schmiegt sich an Fritz Eisner, legt ihm, wie ihr das Lena immer von den Liebespaaren in Paris erzählt hat, über den Rücken weggreifend, die Fingerspitzen der linken Hand auf die rechte Schulter und läßt sich im Gehen fast mitziehen, halb aus Müdigkeit, halb aus Zärtlichkeit und dem plötzlichen aufwallenden Anschmiegungsbedürfnis der Schwangeren.
»Ich hätte dich ruhig freigegeben, Yorikchen. Ich hätte wirklich nicht ein Wort zu dir gesagt darüber. Und was ich dann getan hätte, Yorikchen, würde dich nichts mehr angehen. Du hättest dir keinerlei Vorwürfe zu machen brauchen. Aber so, Yorikchen – komm – ich muß dir einen Kuß geben – so ist es ja auch gut, nicht wahr? Oder glaubst du es etwa nicht? Wage zu sagen, daß du es nicht glaubst, blasser Schurke!«
Die großen, kahlen Ulmen spiegeln sich als dunkle Brücken auf der öligen Wasserfläche, die von den Reflexen der Laternen unregelmäßig angerötet ist ... Und man hört sogar das Quäken und leise Schnattern der unruhigen kleinen Mandarinenten, die die Nacht zum Tag machen und hungrig da unten an der Böschung entlang gondeln. So lautarm ist es selbst heute hier. Die Häuser sind fast alle dunkel. Die erschrockene Marmornymphe geistert weiß durch halbkahle Büsche an jener Stelle, die Fontane so liebte. Auch die hübsche und reserviert vornehme Hitzigvilla des Doktor Georg Groß ist ganz verfinstert, und die Jalousien sind alle heruntergelassen. Es sieht aus, als ob man verreist ist oder als ob noch alles, Herr, Portier, Chauffeur, Gärtner, Koch und Privatsekretär, nicht reklamiert, sondern draußen im Felde wäre. Aber hinter den Jalousien ist doch Licht, das in schmalen Streifen, wie Giletteklingen, durch die Ritzen sickert.
Fritz Eisner hat das Gefühl, er müßte hineingehen: ›Könnte ich Frau Doktor Spanier sprechen? Lu, packen Sie Ihre Sachen und gehen Sie nach Haus: Ihr Mann wartet!‹ Aber man tut ja so etwas doch nicht.
Über die dämmrige Wolke des Tiergarten hinten kommt ganz leise das Geknatter von Schüssen, und dazwischen so etwas wie das dumpfere Bullern von Detonationen.
»Siehst du, Nuck, ich hoffe, ihr findet Gefallen aneinander. Sie ist ein wenig wunderlich zwar und kann – das sage ich dir vorher – sehr abweisend gegen Menschen sein, die ihr aus unerklärlichen Gründen nicht gefallen. Aber sie ist trotzdem das einzige Wesen in Berlin, auf das du mit Grund eifersüchtig werden könntest. Und auf das es sich auch lohnte, es zu sein. Eigentlich habe ich heute Angst um sie. Was soll solch ein armes, hilfloses, uraltes Menschenkind, das kaum noch humpeln kann, denn tun? Und nun denke dir: Vierundachtzig Jahre oder noch länger – genau sagt sie es nicht – lebt sie in einem ganz anderen Vorstellungskreis. Und plötzlich soll sie eines Morgens aufwachen, und alles ist nicht mehr wahr, was gestern noch wahr war! Gewiß sitzt sie heute wie ein kleines, verängstigtes Heimchen in der Ofenecke und zuckt zusammen, sowie sie auf der Straße einen Tritt hört: ›Jetzt kommen sie!‹ Es wird ja keiner kommen. Es tut ihr gewiß niemand 'was. Aber wie ist das solch einem alten Hirn noch beizubringen? Siehst du, dahinten wohnt sie. Du mußt das Haus mal bei Tage sehen. Ein sehr alter Garten gehört dazu.« (Dahinten schwimmt zwischen den himmelhohen Gartenbäumen eine Reihe erleuchteter Fenster, wie von einem Dampfer, der in der Nacht über das Wasser treibt. Das einzig strahlend Helle in der ganzen Gegend.) »Siehst du, Nuck, kein anderes Haus hat sonst Licht gemacht aus Angst. Selbst das Treppenhaus, das immer sonst dunkel ist, – sie ist ja ihr einziger Mieter, – ist doch ganz hell. Sieht hübsch aus das weite Treppenhaus mit all seinen brennenden Wandleuchtern, weiß und golden und mit seinen Gipsabgüssen. Ist eben noch aus der Zeit, wo selbst im Tiergarten der Grund und Boden nichts kostete. Aus der Raumverschwendung hier würde heute ein Architekt allein schon eine Villa mit Garage bauen.
»Na, Anna, wie geht's der gnädigen Frau? Hat sie sich sehr erschrocken, wie sie gehört hat, daß Revolution war? Haben Sie hier viel von den Schießereien gehört?«
»Erschrocken?! Das ist keine gottgefällige Frau, Herr Eisner. Das ist eine hundertfältige Sünderin. Ich habe ihr gesagt: ›Madame, beten Sie dreimal den siebenundsechzigsten Psalm, das tut die Christenseele in Nöten und Gefahren.‹ Und da hat sie zu mir gesagt: ›Anna, halt's Maul‹, und hat draußen von Lehmann doch all unsere schönen Astern aus dem Garten abschneiden lassen und einen dicken Kranz für das Marmorbild drin im Salon gemacht, für die runde Marmorplatte mit dem abgeschnittenen Kopf drauf; den haben wir 'rumbinden müssen. Des soll doch der ... wie sagt sie doch immer ... der Lasalle sein, den sie doch noch gut gekannt hat.« Anna dämpft ihre Stimme. »Sie soll auch mal 'was mit ihm gehabt haben. Des hat mir die Köchin anvertraut. Die is ja länger hier. Und denn ...« Anna hebt ihre Stimme wieder. »Setzt sich doch die olle Frau hin und singt vor sich ganz alleine, singt, grölt, schreit in einem fort immer ein Lied von Landpartie, den janzen Nachmittag schon. Wenn man denkt, sie ist stille, fängt sie wieder von vorne an. Ich wollte schon den Geheimrat kommen lassen. Die ist ja nicht richtig mehr im Kopf. Bei mir hat 's auch so angefangen. Und alles Licht haben wir anmachen müssen, damit es recht festlich ins Haus is. Wo doch keener hier in die janze Jegend heute auch nur auf'n Klosett anzuknipsen wagt. Und nach Ihnen hat se auch schon dreimal gefragt: ob Sie nicht da wären. Se hat dabei schon Besuch drin. Passen Se uff, die würgt Ihnen wieder einen 'rin. Und Wein haben wir 'raufholen müssen, sojar die letzte Flasche Cliquot aus'n Keller. Nächsten fünfzehnten ist der Erste, da jehe ich spätestens. Also nächsten Ersten jehe ich, wenn se des nich mehr annehmen will. Des habe ich ihr auch schon jesagt. Und was tut se? Se lacht mer aus. Und denken Se das nur: 'ne olle Frau, die jetzt fünfundachtzig vor 'n paar Tagen jeworden is, die singt, grölt immer ein französisches Lied. Ich hab' ja nischt davon verstanden. Das ist doch eine Sünde gegen Gott. Gewiß, man darf fröhlich sein, aber man soll doch, wie es in der Schrift steht, fröhlich im Herrn sein, Herr Eisner. Das einzige, was ich draus verstanden habe, war immer wat von Landpartie.«
»Allons enfants de la Patrie, le jour du gloire est arrivé«, singt Fritz Eisner laut, und Ruth fällt mit ein.
»Ja, ja, des war's«, ruft die verschrumpelte Anna ganz entsetzt, und wenn sie eine Katholikin gewesen wäre, so hätte sie sich sicher bekreuzigt. »Jenau des hat sie den janzen Nachmittag immer für sich jesungen, so daß wir es sogar unten in de Küche bei 'n Kaffee gehört haben. Darf ich Ihr Fräulein Braut auch melden drin, Herr Eisner?«
Kanaille, woher ahnt denn die alte Anna wieder so etwas?
»Sie ist nicht meine Braut, Anna, da würde mir meine Frau ja schön die Augen auskratzen. Aber Sie können trotzdem melden: Fritz Eisner mit Gefolge.«
Doch das war gar nicht mehr nötig.
»Contre nous, de la tyranni..e« kommt es gleichsam als etwas eigenwilliges Echo – nie hätte Fritz Eisner geglaubt, daß die Alte noch so laut singen könnte ... Yvette Guilbert übertreibt nach unten, wenn sie ihre »grandmère« wie eine Grille zirpt – kommt es aus dem Eßzimmer. Das heißt, bei andern wäre es der Eßsaal gewesen. Da aber die Gemäldegalerie Eßsaal hieß, weil man hier so fünf-, sechsmal im Jahr im großen Kreis an einer mächtigen Hufeisentafel eigentlich bis zum Krieg noch all die Freunde des Hauses über vier Jahrzehnte lang (hier begann zum Beispiel auch die Affaire Hans von Bülow – Cosima – Richard Wagner) bewirtet hatte ... bei Kerzenlicht, das die Menzels und Knaus und Corots und Troyons, die Böcklins, die Stucks, die Prellers und Schirmers, den mächtigen, saftschweren Daubigny, die samtige Buntheit des Diaz, die Stauffer Berns, den Reynolds, die Hosemanns und die Krügers ... und was da noch alles durcheinanderwuchs an den hohen Holzwänden ... selbst ein bravouröser Makart dabei ... bei Kerzenlicht also, das all diese Gegensätze wundersam miteinander versöhnte in dem Gesamtton seines rötlichen Schimmers, und das sie zu den Kindern, wenn auch nicht einer Zeit, so doch einer großen, heute längst verklungenen Kultur machte ... da der also eben seit alters her der Eßsaal hieß, so konnte man doch den andern, in dem man kaum mehr als sechsunddreißig Personen wirklich behaglich setzen konnte, eben nur das Eßzimmer nennen. Sofern man es nicht darauf anlegte, die Geschichte und die Geographie des Hauses in Verwirrung zu bringen.
»Aux armes citoyens ... formez vos bataillons«, kam's weiter von drinnen, und jetzt beteiligte sich – wenn auch widerwillig mitsummend nur – eine andere Frauenstimme daran. Wirklich besonders verschüchtert klang das nicht von der alten Dame.
»Aha, die Bernhardi ist auch da«, sagt Fritz Eisner.
»Eisner, kommen Sie rein. Was heißt denn das, Fritz? Habe schon den ganzen Tag auf sie gewartet!« Besonders freundlich klang das nicht.
Die Bernhardi war eine alte, kluge Schriftstellerin, die ehedem große Erfolge gehabt hatte, und immer noch brav sich durchschlug. Fritz Eisner und sie standen in Beziehungen, wie sie nur unter Schriftstellern möglich sind. Er hatte sie menschlich, trotzdem sie Antipoden in der ganzen Einstellung zu Welt und Leben und Staat waren, gern, und haßte das, was sie schrieb. Und damit ihm diese Meinung, die er von ihr als Mensch hatte, nicht etwa untergraben werden möchte, las er keine Zeile von ihr. Während jene wieder den Schriftsteller an ihm schätzte, jede Zeile von ihm las, wo sie sie erwischen konnte, und nie verabsäumte, zu kommen, wenn Fritz Eisner im roten Salon am Kamin seine neuen Romane bruchstückweise seiner alten Freundin an den Sonntagnachmittagen, bevor sie an die Verleger gingen, vorlas. Dafür aber war sie menschlich von ihm nicht allzu angetan. Er war ihr zu unmoralisch und zu radikal. Und auf diese Art kamen er und die Bernhardi eigentlich doch vorzüglich miteinander aus. Denn welcher Schriftsteller bleibt gleichgültig, wenn ihm als Schriftsteller Interesse entgegengebracht wird?!
Aber heute freute sich Fritz Eisner gerade nicht sehr über dieses Zusammentreffen. Denn die brave Bernhardi, die vor dem Krieg eine etwas linksgerichtete und eine mindestens gerecht denkende Frau gewesen war, hatte im Anfang des Krieges einen General in einem Badeort getroffen, der seine von der Etappe oder von den Gefährdungen des Hauptquartiers zerrütteten Nerven dort wieder zurechtrücken mußte. Sie hatten sogar an einem schönen Abend gemeinsam – ob noch andere dabei waren, ging aus ihren Erzählungen nicht hervor! – auf dem Balkon des Hotels gestanden und philosophierend in die Klarheit der Sterne geblickt, wobei die Bernhardi staunend von der tiefen Gläubigkeit in der Seele eben jenes Generals Kenntnis genommen hatte; was sie veranlaßte, von der Stunde an vom Baltikum bis Antwerpen und Bukarest alles für Deutschland zu annektieren, was in Europa und den umliegenden Kontinenten nicht niet- und nagelfest war.
Als aber nun die Amerikaner in den unglückseligen Krieg mit eingriffen, da hatte Fritz Eisner gesagt: ›An der ganzen Sache interessiere ihn überhaupt nur noch, was die Bernhardi in Amerika annektieren würde. Ob Chicago? Oder Los Angeles? Oder nur Milwaukee? Wo sowieso die Bierbrauer alle deutscher Abstammung wären und schon kein Englisch, geschweige denn Amerikanisch verständen?!‹ Und da die alte Marianne nichts Eiligeres zu tun hatte, als es sofort ihrer Freundin, der Bernhardi, lachend zu erzählen, so waren also seitdem ihre einst freundlichen Beziehungen reichlich gespannt. Und gerade heute, da die Armee vor dem Zusammenbruch stand und Ludendorff sich unsichtbar gemacht hatte ... heute, da man irgendwelche Politiker und namenlose höhere Reichsbeamte vorschickte, um coûte que coûte, das bankerotte Unternehmen dieses Krieges zu liquidieren ... gerade heute, da er recht behielt aus Hunderten von Kontroversen und Gesprächen, und der General mit seiner ernsten Gläubigkeit vor Gottes Allmacht im gestirnten Himmel kläglich desavouiert worden war ... heute gerade mußte er der Bernhardi hier in die Arme laufen. Gewiß, er war auch nicht eine Sekunde für den Krieg gewesen ... aber er hätte sich doch gefreut, wenn er diesem Sterngucker und dem alten Fräulein Bernhardi zum mindesten ein ganz klein wenig mehr hätte recht geben können, als er es leider nun heute tun mußte.
Gott sei Dank, sie summt jetzt wenigstens – wenn auch nur leise und zaghaft vorerst! – schon mit Marianne die Marseillaise mit ... die Bernhardi! Frauen sind ja immer Affektmenschen, die noch leichter, als wir Männer der Suggestion des Augenblicks unterliegen.
»Tag, liebe Freundin«, sagt Fritz Eisner und beugt sich über den Sessel, in dem das alte Wesen mit ihrem Goldkäppchen, eine Fuchsdecke über den Füßen, wie der segnende Isaak bei Rembrandt, und einen Stock mit einer Gummizwinge auf dem Schoß, sitzt, und er küßt sie auf die Stirn. Seit der Sohn gestorben ist, ist er, ohne daß etwas darüber gesprochen wurde, zu dieser Begrüßungsform übergegangen. Und wenn beide noch zehn Jahre leben werden, so werden sie vielleicht auch noch einmal ›du‹ zueinander sagen. Merkwürdig – darüber hat Fritz Eisner oft nachgedacht –, daß seit dem Tod seiner Mutter vor acht Jahren die Beziehungen zu der alten Frau hier, und besonders in den letzten Kriegszeiten, noch anders geworden sind, als sie es früher schon waren. Nicht, daß jene an deren Stelle gerückt ist; aber sie hat doch, ohne daß er sich darüber Klarheit gab, einen Platz in ihm an dieser Stelle bekommen, die sonst leer geblieben wäre. Sie ist weder Mutter für ihn noch Mutterersatz. Aber sie macht es ihm leichter, ihr Fehlen zu ertragen.
Fritz Eisner stellt ihr Ruth vor, die sich über ihre Hand beugt, diese kleine, blutlose Hand eines kranken, alten Äffchens. Sie spricht gar nichts, die Alte im Stuhl und betrachtet Ruth nur sehr scharf eine ganze Weile, und ihr Blick ist doch noch ziemlich gleichgültig. Sie weiß, was vorgegangen ist, und ahnt, was vorgehen wird. Aber das Schicksal dieses Mädchens da steht für sie nicht zur Diskussion. Ob sie recht oder falsch handelt, sehr glücklich, kreuzunglücklich wird, oder daran zugrunde geht, ist für sie von durchaus subalterner Bedeutung. Sie könnte in den Schmutz getreten werden, sie würde sich nicht nach ihr umsehen, geschweige denn sie aufheben. Auch der große Altersunterschied, daß er doch über doppelt so alt als sie, spielt bei ihr keine Rolle. Sie ist gewöhnt, sehr lange Zeiträume als Faktoren in die Lebensrechnung zu stellen. Daß jene die Schenkende ist, erkennt sie nicht an und würde es nie anerkennen. Frauen sind hart gegen Frauen. Und, sowie es sich um Liebesdinge dreht, besonders hart.
Sie will mit diesem Blick ganz anderes erforschen: Wird sie meinen Freund da fördern, hindern, nützen, schaden, glücklich und frisch wieder, oder bald unglücklich und alt machen, froh oder traurig? Wird sie ihm treu bleiben oder ihn betrügen? Ist sie das, was er benötigt? Nicht nur das junge Blut, das ihn lockt? Ist es nicht nur eine Laune von ihm, die ihm bald wieder zur Qual werden wird? Von solchen hat sie auch genug gewußt, solange sie die Hand über ihn hält. Vor allem aber: wird sie guten oder schlechten Einfluß auf seine Arbeit gewinnen? Ihn fördern oder lähmen? Denn dieses, sein Schaffen, ist ihr alles. Ist für sie sein einziger Lebenssinn. Er selbst ist für sie eigentlich nur das Futteral, in das es eingepackt und versandfähig gemacht wurde. Würde er aufhören, nachlassen, sich auch nur nicht mehr weiter entwickeln, so wäre er eine leere Hülle, die man einfach beiseite werfen kann. Sie ist doch immer sehr ehrgeizig für ihn gewesen. Seit seinem ersten Erfolg, nachdem sie ihn erst kennen lernte ... trotzdem sie doch schon vor sechzig Jahren eine Freundin seiner Mutter gewesen war. Damals aber war sie genau schon doppelt so alt als er.
Gewiß, wie viele sehr alte Menschen, liebt sie auch Schönheit an jungen Menschen außerordentlich. Aber sie hat viel zu viel von jener Schönheit gesehen in den drei Menschenaltern, um nicht immer wieder durch sie hindurchzublicken. Im Maskenball des Lebens hält sie längst nicht mehr die Vorbeitanzenden an: ›Halt, schöne Maske!‹ Sondern sie fragt nur noch: ›Schöne Maske, wer bist du?!‹
Aber irgendwie muß doch die Alte im Sessel mit dem gestickten Goldkäppchen von der Auskunft, die ihr ihr keineswegs getrübter Blick gegeben hat, nicht ganz unbefriedigt gewesen sein. Denn sie sagt plötzlich schroff und in ihrem seltsamen Befehlston: »Sie werden gut zu ihm sein. Jetzt nicht. Aber wir sprechen noch darüber, mein Kind. Ich kenne ihn besser, wie ihn eine Mutter kennen kann. Besuchen Sie mich einmal nachmittags.« Denn sie ist gewohnt, Audienzen zu geben. Und damit wird dieses Thema für heute nicht mehr erwähnt. Darf nicht mehr erwähnt werden. Es genügt: Ruth ist bei ihr aufgenommen.
Jetzt erst kommt Fritz Eisner dazu, Fräulein Bernhardi ... sie ist solch ein graues, unauffälliges Menschenkind, über dem doch eine nennenswerte Energie liegt, und in dem doch eine erstaunliche Vitalität steckt, zu begrüßen. Erst denkt man, sie ist nur so eine Abart von pensionierter Volksschullehrerin. Aber dann erkennt man schnell: sie ist doch mehr. Zäh und beweglich wie Leder, und unerhört fleißig, lernt sie so nebenher perfekt Russisch, oder bringt sich bei, mit der linken Hand ebenso schnell zu schreiben wie mit der rechten. Sie könnte doch mal aus der Straßenbahn fallen ... nicht wahr? Immer wieder – wo man es nicht vermutet – stößt man auf ihren Namen. Sie geht zwar nirgends in die Tiefe; aber sie behält alles, woran sie einmal vorbeigestreift ist, und findet alles sogleich »glühend interessant«.
Nuck kennt sie auch schon, denn sie hat öfter für sie geschrieben. »Man wird an ihr nie Überraschungen und nie Enttäuschungen erleben«, hat Nuck gesagt. »Und was will man denn mehr? Das sind die Leute, die wir ...« (Wer ist wir?! ...) »am besten brauchen können.«
»Na, liebes Fräulein Bernhardi«, meint Fritz Eisner in großem Pathos, »ich strecke Ihnen die Friedenshand entgegen, wie weiland unser nunmehr holländischer Freund dem Feinde.« Und er schüttelt ihr die Hand. »Vergraben wir das Kriegsbeil und machen wir wenigstens vorerst beide einen Waffenstillstand, wie die jetzt draußen grade; und hoffentlich zu besseren Bedingungen, wie die uns heimbringen werden. Ich glaube, in diesem Augenblick sind wir seit einundfünfzig Monaten das erstemal der gleichen Ansicht, zum mindesten einer Ansicht, die sich wie eine Gleichung auflösen läßt. Über den verlorenen Krieg mögen Sie zehnmal so unglücklich sein, wie ich. Denn ich kann nicht ganz so unglücklich, wie Sie, sein, weil ich Deutschlands Weg auch über einen gewonnenen Krieg für falsch gehalten habe. Aber wir beide sind ja zum Schluß doch nur deshalb unglücklich, weil er Deutschland wieder um fünfzig Jahre zurückwirft. Es ist wie im großen Gänsespiel. Wer auf neunundneunzig kommt, geht fünfzig Nummern zurück, und wartet, bis alle andern ihn überholt haben. Und außerdem sind wir beide wohl dadurch unglücklich (wenn es auch jeder von einer anderen Gruppe glaubt), daß sich durch diesen Krieg die Mentalität des Deutschen so grauenhaft verwandelt, oder vielleicht auch nur offenbart hat. Das ist die eine Seite der Gleichung, Fräulein Bernhardi.
»Über die Revolution aber bin ich zehnmal so froh wie Sie, liebverehrtes Fräulein Kollege, weil Sie nach menschlichem Ermessen Garantien bietet, daß dieser Wahnsinn ohne Rückfälle bleiben wird. Einfach, weil die Grundlagen dafür fehlen werden.
»Das also ist eine ganz richtige Gleichung, wie wir sie in der Schule gelernt haben, in der plus zehn und minus zehn sich aufheben.
»Von heute an, Fräulein Bernhardi, werden wir nur noch völlig einer Meinung sein.«
Fritz Eisner hebt ein Sektglas, das halbgefüllt auf dem Tischchen steht. Er markiert den Vereinsredner. Das ist eine seiner Glanznummern. Er bläht sich ordentlich dabei auf vor Phrase, Unbildung und Selbstgefälligkeit. »Möge also, meine Herren und Damen, die junge deutsche Volksrepublik, um deren grüne Wiege sich unsere besten Hoffnungen drängen ...«
Die alte Frau lacht, daß sie sich beinahe verschluckt. »Sehen Se, Bernhardi'n. Sehen Se, da haben Se's wieder jekriegt. Fritz hat recht. Die ganze Zeit faselt doch die Bernhardi'n immer davon, das Volk wäre dem tapfern Heer in den Rücken gefallen. In wenigen Tagen wär ja auch das zusammengebrochen. Ich lese die Politiken, den Rotterdamer und den Berner Bund. Da steht's schon lange anders, wie 's Ihnen Ihr Freund, der Sterngucker mit de Himbeerstreifen, erzählt hat.«
Was bleibt der Bernhardi übrig: sie lacht auch. In diesem Haus gerät man seit Jahrzehnten in den Diskussionen wild aneinander, und tut zum Schluß ja doch nur, was die Herrin dieses Hauses will und vorschreibt.
»Also, Eisner, denken Sie sich, ich komme hierher, weil ich meine, die Marianne ist in tausend Ängsten: wer singt die Marseillaise ... wie eine Petroleuse ... und bekränzt das Relief von ihrem Freund Lasalle vorn im roten Salon?! ... Meine Marianne!«
»Wo wär der jetzt, wenn er noch lebte? Ständ er bei Liebknecht oder bei Scheidemann?« sagt Fritz Eisner langsam und nachdenklich.
»Wo Ferdinand wäre?! Das kann man schwer sagen. Es wäre gar nicht unmöglich, daß er bei Ludendorff stände, wenn er sich weiterentwickelt hätte. Ein sehr friedlicher Mensch war Ferdinand nie. Wenn er aber, wie Heine meint, stationär im Himmel geblieben wäre, so würde er immer noch, wie Heine sagt, die alten verschimmelten Argumente der Bismarckianer wiederkäuen.«
Sie hackt doch immer noch auf Bismarck herum.
»Na, meine Freundin? Haben Sie sich denn gar nicht ein bißchen erschrocken, heute früh, wie Sie's hörten? Und Sie müssen doch auch hier so was wie Schießen ganz aus der Nähe gehabt haben?«
»Warum soll ich mich erschrecken, Fritz? Ich habe doch vor siebzig Jahren schon die Revolution mitgemacht. Da war es ganz anders. Vor unsern Haus hat's doch angefangen.«
»Gott ja«, ruft Ruth. »Richtig, das ist ja kaum auszudenken! Wie alt waren Sie denn damals?«
»Man fragt eine junge Dame nicht nach ihrem Alter. Ich war beinahe schon ein Backfisch. Sie können es sich nebenbei ausrechnen: vorvorgestern habe ich wieder mal Geburtstag gehabt ...« sie kichert vor sich hin ... »wenn ich Ihnen sagen würde, Fräulein Ruth, der wievielte es war. Und dann müssen Sie ein halbes Jahr abzählen, denn heute ist November, der neunte November neunzehnhundertachtzehn und damals war's der achte März achtzehnhundertachtundvierzig, eben die Märzrevolution ... Also, Bernhardi«, fährt sie fort, »ich bin doch ganz froh, daß mir die Anna endlich mal vorhin wieder gekündigt hat. Aus dem Testament streichen werde ich sie deshalb nicht, aber vielleicht wird man sie doch los. Erst legt sie mir den alten Männe zwei Tage lang heimlich auf die Zentralheizung. Sie will mir 'ne Freude machen und ihn lebendig beten mit ihrem dreiundsechzigsten Psalm, statt das arme Vieh von Lehmann unter die Erde bringen zu lassen, wie ich's ihr gesagt habe. Und neulich habe ich doch Geburtstag gehabt, (dadurch komme ich eben drauf) und wie ich hier hereinkomme, steht ein riesiger Plectogynientopf von den drei Mädchen auf dem Tisch. Plectogynien sind eigentlich gar keine pflanzen mehr, sondern alte Jungfern in Pflanzenform, blühen tun sie nie, und immer sind sie tot und verstaubt. ›Ach, wie reizend von Euch, Anna‹, rufe ich. ›Aber was liegen denn da für kleine Zettelchen noch rings um den Tisch rum? Was soll denn das?‹ Ich nehme eines hoch. ›Der guten Marianne herzlichste Glückwünsche zum fünfundachtzigsten Geburtstag. Der Herr segne Deine Wege für und für. Muttchen.‹ ... Hans von Bülow ..., Ferdinand Lasalle ..., mein Vater ..., Onkel Emil ..., meine Schwester, die seit x-Jahren tot ist, Männes Vorgänger, Alfred Meißner, selbst mein eben verstorbener Sohn Adolf, alle alle haben sie mir gratuliert zu meinem Geburtstag und sogar mit den schönsten Bibelsprüchen. Sie müssen abscheulich fromm drüben gewesen sein. ›Der Herr segne Deinen Ein- und Ausgang.‹ – ›Bald werden wir im Herrn vereinet sein.‹ – ›Lasset die Kindlein zu mir kommen.‹ Geistig in Unkosten gestürzt haben sie sich nicht sehr. ›Merkwürdig‹, denke ich. ›Warum schreiben die denn eigentlich alle die gleiche ungebildete Handschrift? Mein Vater hat doch sonst immer wie gestochen geschrieben.‹ ›Ja‹, sagt Anna und tut ganz verschämt, das alte Laster ... es fehlt bloß, daß sie den Finger in den Mund steckt, die Anna. ›Ja, Muttchen, war doch die erste, die es mir aufgetragen hat, und dann sind so nach und nach die andern auch gekommen. Aber manche wollten sich gar nicht von mir recht sprechen lassen, so scheu sind sie. Oder so stolz. Denn sie können sehr stolz sein, die Jeister.‹«
Fritz Eisner schreit vor Lachen, denn die alte Dame macht ihre alte Anna wirklich wie eine routinierte Schauspielerin nach.
»Naja, ich habe auch gelacht und Anna gefragt, ob ich mich bei jedem persönlich bedanken soll, oder, ob sie das für mich tun wird! ›Ja‹, hat sie gesagt. ›Wenn se wieder kommen, bestell ich es.‹ So, als ob ich sage: ›Sehen Sie, Fritz, ich habe die Chinateller da oben auf dem Bord neu ordnen lassen.‹«
Richtig, sie hatte sie etwas umstellen lassen. Mehr nach den Farben geordnet. Herrliche Kanghü- und Mingschüsseln. Familie rose und verte und puderblaue und jadegrüne Stücke dabei. Jedes einen kleinen Raubmord wert. Wie sie heute im Handel gar nicht mehr vorkommen. Dabei haben sie vor fünfzig, sechzig Jahren bei den Hamburger Teeimporteuren, die so etwas nebenher sich mitschicken ließen, ein paar harte Taler, oder höchstens mal einen Friedrichsdor gekostet.
Nuck ist ganz wie bezaubert von ihnen: »Daß man so etwas einfach besitzen kann, Yorik«, flüstert sie ihm zu.
»Das Haus, in dem griechische Münzen sind, ist durchweht vom Atem der Götter.« Ach ja, Gerhart Hauptmann schrieb das mal. Sehr fein gesagt, denkt Fritz Eisner. Aber eigentlich gilt es doch für alle schönen und erlesenen Dinge. »Durchweht vom Geiste Buddhas ..., könnte man hier sprechen.«
»Naja, gelacht habe ich ja auch«, sagt die alte Frau wieder und gluckst wie ein Hühnchen, das einen fetten Wurm sich erscharrt hat, in der Erinnerung nochmal selig vor sich hin. »Ich hab's mir gar nicht allein gegönnt. Aber, wer kann das wissen, am nächsten Geburtstag zitiert sie sie mir vielleicht alle noch wirklich und geisthaftig zur Gratulationskur, und das wäre mir wieder nicht angenehm. Manche davon habe ich gar nicht ausstehen können. Und dann: Wozu? Tote soll man tot sein lassen. Jetzt ist es doch gar nichts gewesen. Aber damals, es war so ein schöner Sonntag vormittag, und ich sitze vorn am Fenster, auf dem Fensterbrett mit der bezauberten Rose‹ von Schulze ... wie man das so las, als junges Mädchen ... und sehe so ab und zu mal durch den Spion auf die Straße herunter – wir wohnten in der Spandauer Straße acht ... – wie man das so tat als junges Mädchen ... ob ›er‹ nicht Fensterpromenade macht. Mit einemmal wälzt sich da unten ein schwarzer Strom von Menschen die Straße herunter, vorneweg ein ganz wilder Kerl – ich könnte ihn noch zeichnen – mit aufgerissener Weste und bloßer Brust: ›Waffen! Waffen! Zeughaus! Bürger raus! Man fordert Euer Blut! Man fordert Euer Blut!‹ Und plötzlich beginnen sie auch schon, die Fischtienen 'ranzurollen, und die Omnibusse und die Lastwagen und Postwagen umzuwerfen. Reißen drüben das Gerüst vom Haus, das sie eben streichen. Reißen die Pflastersteine aus dem Boden, und fangen an von all dem Gerümpel einen mächtigen Wall, gerade vor unserm Haus, unter meinem Fenster, aufzutürmen. Das ist furchtbar schnell gegangen. Und Hunderte von Männern haben dabei geholfen. Meine beiden Brüder und Ihre beiden Onkels, Fritz, und der älteste Schwager von Ihrer Mutter, der gerade zu Besuch war, sind auch gleich mit runtergelaufen ... Ich habe doch auf der Hochzeit Ihrer Mutter mit damals aufgeführt. Ich kann noch jedes Wort. So schön habe ich gesungen und so falsch, daß der Musikmeister Schlottmann, der es uns einstudiert hat, sich vor Wut die Krawatte abgerissen hat, und damit nach mir mitten aus dem Publikum raus geworfen hat, weil er gerade nichts Schwereres zur Hand hatte.« (Sie kommt doch jetzt manchmal vom Hundertsten ins Tausendste, aber ich höre ihr immer wieder gern zu, denkt Fritz Eisner.) »Ja ... wo war ich doch stehengeblieben: Ja, richtig ... und schon haben sie Gewehre gehabt und Eisenstangen und alte Plempen und Kuhfüße und plötzlich knattert es die Spandauer Straße herunter: ›Fenster zu! Weg von den Fenstern!‹ geht's. Und in dem Augenblick sangen alle Glocken ringsum, von der Parochialkirche, der Heiligengeist-Kapelle, der Spittelkirche, der Garnison- und Klosterkirche, und von der Marien-Kirche ... alle Glocken fangen wie wild und betrunken zu läuten an. ›Bürger raus. Man fordert Euer Blut!‹ schreit's überall aus tausend Kehlen zugleich ... ›Ach, Unsinn‹, sage ich. ›Paß auf, Papa, die schießen nur so zum Spaß in die Luft.‹ Aber da fallen mir auch schon die Glasscherben vom Fenster auf den Kopf, und mein Vater packt mich samt dem Stuhl und kippt mich einfach vom Fenstertritt runter, so daß ich – man trug damals so lange weite Kleider – kaum wieder auf die Füße komme. Und das war gut. War sogar vorzüglich. Denn im nächsten Augenblick war auch schon eine Infanteriekugel mitten im Ausschnitt der verstorbenen Tante Hermine, die gemalt überm Sofa hängt. Gerade da, wo ich aufstehen wollte. Auf allen Vieren bin ich bis zur andern Tür gekrochen. Hinten konnte man nicht bleiben und dann war man noch zu erregt dazu, und man mußte doch wissen, wie es wird. Die ganze Nacht ist das Geschieße gegangen. Wir haben im äußersten Winkel vom Zimmer gesessen. Immer wieder ist es lichthell im ganzen Zimmer geworden von den Salven unten. Und im nächsten Augenblick wieder stichdunkel. Die Laternen haben sie natürlich gleich alle kaputtgeschossen. Und gegen morgen, oder war's schon nach Mitternacht so um zwei, drei, ist es immer stiller geworden. Und nur noch auf dem Alexanderplatz hinten hat es hin und wieder so dumpf noch wie Kanonen geklungen, und dann haben auch die aufgehört. Mein Vater hat beinahe geweint, wie er gesagt hat: ›So – jetzt ist das Volk wieder besiegt.‹ Und plötzlich ist von Neuem ein Geschrei gewesen, wie am Vormittag: ›Bürger! Die Reaktion ist gefallen! Das Militär muß abziehen!‹ Der General ... ja wie hieß der Kerl doch? Bernhardi'n, Sie kennen doch alle Generäle? Auch nicht? ... Na, es ist ja gleich, wie er hieß. Jedenfalls hat er seinen Degen an den Tierarzt Urban ... also ich kannte ihn vom Sehen ... ein kleines, harmloses Männchen ... als Zeichen, daß er sich ergibt ... Die Bürgerwehr hat gleich das Schloß besetzt. Friedrich Wilhelm der Vierte ist auf den Schloßhof gekommen. Ihr Onkel Weinberg, Fritz, hat da auch mit Wache gehalten. Und trotzdem er wie ein Espenlaub gezittert hat. (Nicht Ihr Onkel Weinberg, sondern Friedrich Wilhelm der Vierte ... aber, wenn sie den andern, den Prinz Wilhelm, der als Postillon Lehmann nach England geflüchtet ist – nur in Krefeld haben sie ihn erkannt und wollten ihn massakrieren ... wenn sie den gekriegt hätten, der wär nicht mit heilen Knochen aus Berlin rausgekommen. Der war furchtbar unbeliebt damals.)
»Jaja, wo war ich doch?« (Manchmal verliert sie eben doch den Faden.) »Richtig, trotzdem er nur so geflogen ist, hat er für jeden seiner Wächter noch ein Wort gehabt. ›Wie heißen Sie?‹ hat er Ihren Onkel gefragt, Fritz. ›Weinberg, mein Herr‹, denn er war in diesem Augenblick nicht sehr für Majestäten zu sprechen, dafür waren ihm des Nachts zu sehr die Kugeln um den Kopf geflogen ... (›An meine lieben Berliner! ... Ein unglückseliges Mißverständnis!‹) ... ›Dieses Jahr gut geraten‹, sagt er und wankt weiter.