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Und dann habe ich ihn auf dem Balkon vom Schloß stehen sehen, wie sie die Märzgefallenen vorbeigetragen haben, und er den Hut abnehmen mußte. Die ganze Zeit mußte er mit bloßem Kopf stehen. Ich sehe ihn noch und hör noch, wie unten fünftausend Stimmen auf einmal ›Flaps ab‹ schreien. ›Flaps ab!!‹ – So sank zur Marionette, was erst ein Kommödiante war! – Bis er ihn denn runter nahm.
»Und dann nachher, wie Wrangel auf dem Gendarmmarkt gesagt hat zu dem Bürgerrat: ›Meine Herrschaften, verduften Sie!‹«
Plötzlich fängt sie nach dem ›treuen Lagienka ...‹ an zu singen, aber doch schon sehr dünn, nicht mehr so laut, wie vorher die Marseillaise. – ›Denkst du daran, wie wir bei Waßmann kneipten und Pauke hielten im politischen Klub ... Wie Preußen wir in Deutschland einverleibten ... bis der November uns bracht auf den Schub? ... Ich denk daran, indessen nur noch selten ... weil's denken überhaupt gefährlich ist ... ich denke auch mitunter an ›die Zelten‹ ... damit man doch nicht allens janz verjißt.‹
»Zum Schluß ist das leider bisher das Schicksal aller Revolutionen gewesen ... Hoffentlich ...« Fritz Eisner schließt den Satz nicht.
»Den ganzen Vormittag habe ich daran gedacht, Bernhardi'n.«
»Mariannchen«, sagt die Bernhardi angstvoll. »Sie sollten doch nicht so viel reden. Das kann Ihnen schaden. Die Jüngste sind Sie doch gewiß nicht mehr. Sie sollen sich doch schonen, das hat mir Ihr Geheimrat auf die Seele gebunden, daß ich auf Sie aufpasse. Sie regen sich doch bloß auf, meine Freundin.«
»Quatsch, Bernhardi'n, ich wünschte Ihnen, Sie wären so jung wie ich.«
Fritz Eisner lacht. »Mir könnten Sie's auch wünschen, Marianne.«
»Den ganzen Vormittag habe ich daran denken müssen, wie es damals vor siebzig Jahren war. Aber das heute, das war doch gar nichts. Das war keine echte und richtige Revolution. Das war eine Morgenpromenade. Haben Sie denn was davon gesehen, Fritz?«
Fritz Eisner lacht noch mehr und Ruth stimmt ein. Sie biegen sich vor Lachen.
»Ach Gott, Marianne, ich muß mich ja so schämen vor Ihnen. Ich wußte, daß es um sieben losgehen sollte, und hab's absolut (ebsoluttt, wie eine englische Freundin, das heißt, sie war eine Schottin, die in Nizza geboren war, immer sagte) ebsoluttt habe ich es verschlafen. Als ich aufwachte« (beinahe hätte er wir gesagt), »war Deutschland schon beinah Republik.«
Die Alte schüttelt die goldgestickte Haube: »Da sind Ihre Onkels aber anders gewesen.«
»Liebe Freundin, damals wäre ich auch anders gewesen. Damals war's auch eine Bürgerrevolution, eine Revolution der Intellektuellen, die ja schon dreizehn und fünfzehn gemacht hatten – gegen die Reaktion, die Knute und die Unfreiheit des Worts. Neunzehnhundertundvierzehn ist aber der Krieg von dem Geier des Militarismus, der sich nicht mehr sicher in seinem eisernen Käfig fühlte, für das Großkapital, das sich nicht mehr so ganz sicher in seinem goldenen Käfig fühlte vor den sozialistischen Ideen, gegen den Willen der Intellektuellen aller Länder aufgezogen worden.
»Die Revolution damals war die Revolution Börnes und Heines und des jungen Deutschlands gegen die falsche Romantik eines witzigen, aber halbirren Romantikers auf dem Thron. Heute aber ist es das nicht. Heute hat's der Proletarier gemacht. Und heute sind wir – und wenn wir noch so sehr mitjubeln, und uns einreden, es wäre der glücklichste Tag unseres Lebens, doch nur für die: der Feind. Und all das, was unser Leben ist, und was wir lieben – so etwas, wie Ihr Haus hier und Ihre Bücher drin in fünf Sprachen, oder im Salon Ihr Dianagobelin und die Genellikartons ... all das, was wir so Kultur nennen, und ohne das unser Leben eine Sinnlosigkeit wäre, die man wie eine Feder wegpusten könnte ... da spucken ja die drauf ...!«
»Na, schön«, und dafür hätte Fritz Eisner sie küssen mögen: »deswegen machen sie ja Revolution, damit sie sich das Spucken abgewöhnen wollen.«
Fräulein Bernhardi beugt sich zu Fritz Eisner. »Eisner«, sagt sie, »wir wollen bald gehen. Vielleicht beruhigt sich dann Marianne eher. Ich gehe sofort schon, und Sie versprechen mir, daß Sie bald nachkommen. Aber sehr bald, bitte. Sie ist doch, das vergißt man immer, fünfundachtzig Jahre jetzt.«
»Und dann, Mariannchen«, sagt Fritz Eisner. »Sie wissen ja, ich liebe es, die Menschen und die Dinge par distance zu nehmen ... nur aus der Ferne klingt die Trommel schön!«
»Weißt du, Yorik. Das wird bei dir aber bald zur Manie«, wirft Ruth ein. »Ich finde, man kann den Dingen und den Menschen nicht nahe genug kommen.«
»Ach Gott, Sie junges hübsches Ding, Sie«, sagt die Alte und streichelt über Ruths Hand. »Beides ist falsch. Man kann ja auch nicht alle Bücher lesen. Manche Bücher würden wir gewiß sehr gern haben. Aber der Schrank ist verschlossen, und der Schlüssel ist verlegt. Und wir sehen nicht mehr als den Titel. Und darunter können wir uns nichts vorstellen. Und mit den Menschen ist es geradeso. Aber lieber und besser: Wenige Menschen gut kennen, als sich an hunderte verzetteln. Ich habe beides in meinem Leben versucht. Beim ersten kommt zum Schluß mehr heraus. Nicht wahr, Fritz? Aber darüber reden wir noch einmal in den nächsten Tagen, wenn Sie am Nachmittag mich mal aufsuchen werden, mein schönes Kind!« Sie gibt wieder Audienzen, denkt Fritz Eisner.
»Marianne, hör mal, ich muß aber jetzt unbedingt fort, und man darf auch nicht so lange bleiben, weil die Straßen um acht Uhr ... es ist ja draußen Generalstreik heute ... Straßenbahnen gehen nicht mehr, ich weiß nicht einmal, ob die Stadtbahn geht ... so um halbneun spätestens ... von den Zivilisten geräumt werden sollen wegen der Schießereien, die es sicher heute nacht noch gibt.«
Die Alte lacht. »Ach, das haben Sie doch wieder von Ihrem Sterngucker mit den Himbeerstreifen!« Aber die Bernhardi beugt sich doch über den Stuhl und umarmt die Alte und küßt sie. »Morgen ist Sonntag«, sagt sie. »Morgen komme ich dann wieder. Ich will nur noch einen Bericht für die ›Presse‹ fertig machen. Du kriegst ihn dann auch. Auf Wiedersehen, meine Gute. Und habe nur keine Angst, wenn du Schießen nachher hörst. Hier kommen sie ja doch nicht her. Auf Wiedersehen, Eisner ... Mittwoch bring' ich Ihnen den Text zu den drei Bildbeigaben, Fräulein Block. Marianne hat mir so etwas erzählt?! Darf ich die Erste sein, die Ihnen dazu die Hand drückt, Fräulein Block? Schlaf gut, Marianne.«
»Beinahe die Erste«, sagt Ruth und wird rot.
Und dann bleiben sie noch einen Augenblick ... nicht viel länger, als bis sie draußen die Tür klappen hören, soll das sein ... allein bei der alten Dame, bei diesem Stück sagenhaft-alten Lebens, so sagenhaft alt schon, daß es sich vielleicht jede Sekunde wie ein Hauch verflüchtigen kann, und daß es jede Sekunde, da es das noch nicht tut, doch schon wie ein unverdientes Geschenk empfinden müßte.
Die Alte nimmt ihr dickes Buch im Leinenband, das auf dem Tisch liegt und zieht es zu sich heran.
»Wollen Sie sich nicht lieber etwas hinlegen, meine Freundin?« sagt Fritz Eisner. »Solch Tag wie heute, war doch etwas ungewöhnlich und aufregend, nicht wahr?«
»Nein«, sagt sie schroff. »Ich muß noch lesen. Vielleicht werde ich heute noch fertig. Ich habe ihn zwar schon siebenmal gelesen, aber ich könnte es gleich wieder von vorn anfangen. Vor zwölf werde ich heute mich nicht wieder hinlegen. Es kann aber auch zwei oder drei werden.«
»Was lesen Sie denn, gnädige Frau?« fragt Ruth.
»Den Don Quijote oder richtiger: Der scharfsinnige Ritter Don Quijote von der Mancha von Miguel de Cervantes Saavedra.«
»Oh«, meint Ruth. »Ich habe ihn noch nie gelesen. Muß man das eigentlich?«
»Ich weiß es nicht«, sagt die Alte. »Es liegt ja auch keine Notwendigkeit vor, daß man lebt.«
›Verdammt, hier hat Ruth etwas bei ihr verpurrt‹, denkt Fritz Eisner. ›Schnell ihr den Rücken decken, denn Marianne kann sonst recht unfreundlich werden.‹ Er hat das hundertmal miterlebt bei Menschen, die durch ein unbedachtes Wort ihre Gunst verscherzt sich hatten. Dann wurde sie bitter wie Ochsengalle.
»Sie lesen es gewiß in der Übertragung von Tieck. Das ist ja auch immer noch bei weitem die beste.«
Die alte Frau sieht Fritz Eisner mit ihren erstaun testen Augen an. »Ach Gott«, sagt sie und denkt: die Menschen kommen doch immer weiter herunter. Man soll ein Buch in einer Übersetzung lesen. Da geht doch das Beste verloren. »Ach Gott, Fritz, ich lese den Don Quijote natürlich im Urtext. Cervantes ist ja in einem sehr leichten Spanisch geschrieben. Calderón ist schon viel schwerer.«
Sie hat das Buch aufgeschlagen. »Sehen Sie, hier halte ich. Es ist die Geschichte, wie Sancho Pansa Statthalter von der Insel ist. Ich bin schon wieder beim dreiundfünfzigsten Kapitel. Bis hier bin ich gerade gekommen.«
Ruth beugt sich mit herüber und versucht sich vergeblich die Stelle zusammenzubuchstabieren, denn sie kann etwas Italienisch. Aber es geht nicht. »Was heißt das eigentlich, gnädige Frau?«
Die Alte beugt sich mit ihr zusammen über das Buch. ›Seltsam, die beiden Köpfe so nebeneinander. Von den zwei Menschen, von denen der eine viermal so alt ist, als der andere, und die beide doch aus meinem Leben einfach nicht wegzudenken sind, ohne daß es in sich zusammenfiele, wie ein Strohdach, das ein Wirbelsturm packt und um sich selbst dreht.‹
»Dummchen«, sagt die Alte ganz leise. Jetzt scheint sie so müde. »Das ist doch ganz simpel und leicht: ›Sagt meinem Herrn: Nackt bin ich geboren und nackt geblieben. Ich habe weder gewonnen noch verloren. Das heißt, ohne einen Heller bin ich in diese Statthalterschaft gekommen, und ohne einen Heller ziehe ich wieder davon. Macht mir Platz und laßt mich gehen.‹«
»Das hat sicher Cervantes anders gemeint, als wir es auffassen ... nicht symbolisch«, sagt Fritz Eisner, während er sich über seine alte Freundin beugt und mit den Lippen ihre eiskalte, schon wie gestorbene Stirn streift. »Auf, auf, Nuckchen. Mach dein Dienerchen, sonst kommen wir nicht mehr nach Hause, und werden noch aufgegriffen.«
»Das weiß ich nicht, Fritz«, ruft ihnen die Alte nach, als sie schon in der Tür sind.
Auf der Straße bemerkt Ruth plötzlich, aber sie sind schon fünf Minuten fort, daß sie ihren Schirm bei der alten Dame gelassen hat. Und mit ihren Sachen ist sie sehr peinlich. »Aber an Marley hast du natürlich gedacht«, sagt sie. »Warum machst du mich nicht aufmerksam?« Alle Frauen sind gleich. Aber jetzt können sie nicht mehr zurück ihn holen. Und außerdem können sie die Leute da nicht noch einmal herausklingeln, das stört doch unnütz.
»Laß sein, Nuck, den hole ich dir gleich morgen früh«, sagt Fritz Eisner und zieht Ruth mit sich fort. »Ich verspreche es dir.« Ruth ist auch müde und sicher hat sie Schmerzen. Aber sie sagt es nicht. Hin und wieder nur pfeift sie beim Gehen so ganz leise durch die breiten Schneidezähne. Das kennt Fritz Eisner an Nuck. Aber das Gummischweinchen hat ihnen doch fest das Gegenteil versichert.
»Siehst du, Nuck, das war der erste Tag, der uns beiden wirklich zusammengehörte. Er war etwas schwer. Es war ein wenig viel, aber es war ein neuer Tag, mit dem eine neue Welt anfing und eine alte zusammenbrach. Auch für uns beide. Und das ist zum Schluß die Hauptsache. Da kann man ruhig mal müde Füße bekommen.«
Und Nuck ist wirklich müde. Sie sind zu viel gegangen den Tag über. Das hat sie wohl angestrengt. Sonst kann sie einen ganzen Sonntag laufen wie ein Wiesel. Aber das macht das Pflastertreten. Sie meint, daß ihr die Füße ganz geschwollen wären. Draußen über Land geht es sich eben leichter.
»Du, Yorikchen«, sagt sie und löst sich wieder aus seinem Arm. »Vergiß nicht, daß ich den Brief nach Kopenhagen für dich schreibe. Von heute an führe ich deine Korrespondenz. Alle Menschen beschweren sich bei mir schon, daß du nie antwortest.«
Sie geht an den Schreibschrank – ein moderner Schreibschrank in einem modernen Salon ist wie eine Dame in Biedermeiertracht auf einem Kostümfest. Es sieht ganz nett aus für den, der nicht weiß, wie sie damals eigentlich gingen.
»Du, Yorikchen, was ist eigentlich ›Mob‹? Wo kommt das her?«
»Da bin ich völlig überfragt, wie es in Süddeutschland heißt. Nicht was es ist: Pöbel. Aber, wo das Wort herstammt, oder ob es überhaupt eine Abkürzung ist, da habe ich gerade gefehlt in der Schule. In all sowas bin ich weitgehend ungebildet. Noch viel ... viel mehr als wie du, mein Dummerchen. Aber warum willst du denn das wissen?«
»Ach, sieh doch mal. Hier ist doch eine Nachschrift von Mutter, die ich heute vormittag ganz übersehen habe. Sie schreibt mir eben, daß sie die beiden Häuser doch verkauft hat. Gott, sie wollte es eigentlich schon lange. Da muß ich dann auch was kriegen von. Ich glaube ein Drittel davon gehört mir. Sie schreibt dabei etwas, daß das jetzt doch, wo der Mob zur Herrschaft kommt, das allerrichtigste sei, was man tun könnte. Geld könne man immer mitnehmen. Häuser nicht. Das hätte ihr der Anwalt auch gesagt. Na, ich bin gewiß nicht böse darüber.«
»Oh«, sagt Fritz Eisner. »Wirklich?! Die Häuser hat sie also jetzt verkauft?!«
»Naja, wir haben immer so viel Mühe mit der Verwaltung gehabt. Und in der Kriegszeit jetzt während des Moratoriums hat doch die Hälfte der Mieter nichts oder nur ein Bruchteil gezahlt. Wir hatten doch schon immer die Absicht; aber jetzt hat sie endlich den Preis bekommen, den sie wollte. Wenn ich mich drum kümmere, zanken wir uns immer. Also, lasse ich sie das machen. Das heißt: den vollen Preis zwar nicht, aber weit über vier Fünftel, von dem, was sie wollte. Sie hat es durch einen Anwalt machen lassen. Der hat ihr auch sehr dazu geraten. Mittwoch oder Donnerstag ist schon die Auszahlung, oder Anfang nächster Woche, wenn jetzt in den unruhigen Zeiten die Formalitäten sich vielleicht etwas hinauszögern, schreibt sie.«
»Entschuldige, Nuckelino, ich verstehe nicht ganz. – (In solchen Dingen weiß ich ja noch weniger als von Sprachstämmen!) Der Dollar wird ungefähr zehn Mark jetzt sein. Also hat sie nicht vier Fünftel, sondern kaum ein Drittel des Preises bekommen.«
»Unsinn, Yorik. Wir leben doch hier nach Mark und nicht nach Dollar.«
›Henri Becque, die Raben‹, denkt Fritz Eisner, ›sowie Frauen etwas haben, wird es ihnen von diesen Gaunern, diesen Leichenraben, aus den Händen gedreht‹. Aber er sagt es nicht.
»Ach Gott, die Leute sind ganz sicher. Johann Wilhelm Liebenthal & Co. ist geldlich feinfein, und sein Agent, der Paul Meyer, machte auch einen vorzüglichen und durchaus reellen Eindruck.«
»Das ist sein Beruf, den zu machen. Und Johann Wilhelm Liebenthal & Co. wird sich sehr schnell wieder Jon William Liebenthal & Co. Limited nennen. Ich habe so ein wenig seit einigen zwanzig Jahren seine Laufbahn verfolgt. Gewiß, er ist heute ein Ehrenmann und ebsoluttt sicher. Aber ein gottverflucht dunkler.«
»Bei dir ist ja jeder ein Schwindler.«
»Er ist gar kein Schwindler. Wenn er ein Schwindler wäre, könnte man sich ja vor ihm schützen, oder ihm gegenüber zu seinem Recht kommen. Er hat bloß die eine Kunst, im richtigen Moment das Richtigste zu machen ... wenn es für die anderen das Falschste ist. Aber du bist müde, Nuck, komm, du gehst jetzt in dein Heiabett. Mir gibst du noch etwas zu lesen. Hast du den Westöstlichen da? Warte, ich suche ihn mir 'raus. So fünf, sechs Gedichte davon sind ein wundervolles Beruhigungsmittel. Und man sieht dann, welche Dinge die wirklich realen in der Welt sind ..., ›Wanderer gegen solche Not ... wolltest du dich sträuben ... Wirbelwind und trocknen Kot ... laß sie drehn und stäuben.‹«
Als aber Fritz Eisner so am nächsten Vormittag ... es war wirklich ein milder und sonniger Novembersonntag. Man konnte glauben, man wäre gar nicht in Berlin, sondern irgendwo am Rhein oder am Neckar, wenn man nur auf das matte wässerige Morgenblau des Himmels und das rötliche Gold der Sonne über den Fronten und Dächern und in den kahlen Straßenbäumen sah ... als er von da wieder heim kam, war er ziemlich ruhig, aber etwas gedrückt, doch durchaus nicht so, daß es Ruth gleich hätte merken können.
Die ganze Nacht war geschossen worden. Das hatte gestört. Und dazwischen mal gab's immer wieder eine Detonation wie in der Sinfonie mit dem Paukenschlag. Nicht gerade eine große. Nein, es waren ja nur Handgranaten, die jemand zu seinem Vergnügen an einem Dache hinunterwarf, wie Kinder Knallerbsen.
In Neujahrsnächten und Revolutionen muß eben geschossen werden. Das ist von alters her so.
Ruth hatte dabei, sie war wohl sehr müde gewesen, geschlafen. Aber Fritz Eisner war immer wieder davon aufgewacht und hatte sich endlich ziemlich früh von ihrer Seite gestohlen, um sie nicht vorzeitig zu wecken. Er war auch neugierig, was es draußen gäbe, und ob man irgendwelche wichtige Nachrichten hörte. Vorsorglich hatte er wieder die violette Aster, die des Nachts über sich in dem Wasserglas ganz gut erholt hatte, an die Rockpatte sich gemacht und dazu das rote Wäschebändchen, das ihm die Fahne der Revolution im Knopfloch symbolisieren sollte, eingeknüpft. Die Aster hatte sich eigentlich besser gehalten, hatte sich wieder erholt. Das rote Bändchen war etwas zerknautscht schon und ein ganz klein wenig angeschmuddelt, wie das eben nun mal eine Revolution meist nach vierundzwanzig Stunden schon ist. Irgend etwas mußte man schon draußen hören. Über den Waffenstillstand oder das Überspringen der Revolution auf das Heer, wie das es aufnähme. Da konnte es doch auch nicht anders sein als hier. Zum Frühstück jedenfalls würde er wieder da sein, hatte er dem Mädchen gesagt.
Diese ganzen abgehalfterten Militaristen hatten zwar immer einen Unterschied zwischen Heer und Volk konstruieren wollen und sich selbst widerlegt, wenn sie von einem »Volksheer« sprachen. Was das Volk also wollte, wollte auch das Heer. Und das Volk hatte gegen die Kandare revolutioniert. Also würde es auch das Heer tun. Nur die Potsdamer Garde mit ihrer verjährten Tradition ... da könnte etwas nicht klappen. Da könnte es vorerst mal Schwierigkeiten und Konterrevolutionen noch geben, wenn die zurückkämen, sagte sich Fritz Eisner. Aber all diese Regimenter waren doch zehnmal im Krieg fast aufgerieben und dann immer wieder neu aufgefüllt worden. Sie waren doch nach ihrer Zusammensetzung nicht mehr die, die sie vorher im Frieden gewesen waren. Nein, auch da gab es wohl nichts mehr zu fürchten.
Auf der Straße waren schon viele Menschen. Und alle zogen sie in der gleichen Richtung nach dem Stadtinnern zu, nach den Linden, dem Reichstag, dem Tiergarten, dem Schloß, dem Zeughaus, dem Brandenburger Tor hin. Während doch sonst gerade, an einem Sonntag früh alles in entgegengesetzter Richtung zu marschieren oder zu fahren pflegt, so daß die Straßenbahnen, die in die Stadt fahren, hundeleer meist sind, und die, die aus der Stadt fahren, dafür überfüllt. Die Leute schienen sich seit gestern sichtbarlich erholt zu haben, sahen wirklich schon besser aus. Haben frohe Gesichter und viele lachen sogar und machen Witze.
»Wegen Unpäßlichkeit eines Schusterjungen ist für heute die Revolution abgesagt«, ruft ein rundlicher Mann immerfort. Und alles jubelt ihm zu. ›Merkwürdig, wie lange sich doch im Volk Witze erhalten‹, denkt Fritz Eisner. ›Wo gibt's heut noch Schusterjungen in Berlin? Seit achtzehnhundertachtundvierzig; also, über siebzig Jahre. Ein nettes Alter für einen Witz.‹
Dann aber war Fritz Eisner eingefallen, daß er doch Nuck eine Freude machen könnte und ihr den Schirm von Marianne abholen. Er kann ja Anna herausklopfen und braucht seine alte Freundin nicht zu stören. Damit könnte er auch seine plötzliche Flucht, über die Nuck sicher auch ungehalten wäre, begründen und statt des Schmollens ... »Warum hast du mich nicht mitgenommen, Yorik?« noch klingenden Dank von ihr ernten. Als er wegging, hatte er ja noch gar nicht geahnt, was er eigentlich doch für ein aufmerksamer Mensch und besorglicher Liebhaber wäre.
Das Haus stand offen. Die Korridortür stand offen. Er hätte sich den Schirm, ohne daß einer etwas davon merkte, selbst aus dem Ständer nehmen können und wieder weggehen, aber so etwas schickt sich nicht. Und dann hatte er gerufen, bis Anna kam, ganz still angeschlichen kam mit ihren kleinen verrückten Augen. Und dann hatte ihn Anna noch einmal hineingeführt zu Marianne, die noch genau so auf dem Sessel saß, wie sie sie gestern abend gegen neun verlassen hatten.
Es sah aus, als ob sie sehr intensiv gelesen hatte und dabei ein wenig eingenickt war. Denn der Kopf war etwas nach vorn zu dem Buch hinuntergesunken. Das Lesezeichen – und darin war sie sehr genau immer – lag wenigstens achtzig Seiten weiter vor. Aber sie hatte doch wohl zuletzt noch einmal zurückgeblättert. Richtig, da war doch die Stelle, die sie gestern Ruth übersetzt hatte: »Ohne einen Heller bin ich gekommen und ohne einen Heller verlasse ich euch. Ich habe nichts gewonnen und nichts verloren. Macht mir Platz und laßt mich gehen.«
Wirklich, es ist schwer zu entscheiden, ob Cervantes diese Stelle nicht doch etwa symbolisch gemeint haben sollte.
»Wann ist es geschehen? Anna?«
»Es muß so gegen zweien gewesen sein«, sagt sie. »Denn wie ich um zehn Minuten nach zwei gekommen bin, um se zu erinnern, sie soll in Bette jehen, war se noch janz warm. Und 'ne halbe Stunde vorher hat se mir noch anjeschnauzt: ich soll mir scheren und jetzt schlafen. Sie jinge nachher alleine hinter. Ich hab' ihr jestern noch jekränkt mit de Kündigung, weil ich doch eine arge Sünderin bin, Herr Eisner. Aber meine zerknirschte Seele hat heute schon sechsmal den siebenundsechzigsten Psalm gebetet, auf daß der Herr die Last der Sünden von mir nehmen möge.«
Schade, denkt Fritz Eisner, daß das Marianne da nicht mehr hören kann. Sie hätte es sofort als neue Nummer in ihr Programm »Die verrückte Anna« aufgenommen.
»Kann ich irgend etwas hier helfen?«
»Ach nee, der Jeheimrat ist ja schon um achte dajewesen. Und Justav und Paul und Ede und Maud haben auch schon telefoniert, daß sie jleich kommen wollen, nach allem hier sehen. Jestern war keener von sie da!« (Manchmal ist wirklich die alte Anna gar nicht so verrückt!)
Die Familie! Immer das gleiche! Wie die Aasgeier! Solange man lebt, sind sie für einen nicht da. Aber sowie man tot zusammengestürzt ist, kommen sie von allen Seiten angeflogen! denkt Fritz Eisner. »Also, guten Morgen, Anna.«
Ja und dann hatte er noch eine Weile in das Nollendorf-Café von draußen hineingesehen wie im Halbtraum. Er hatte nur bemerkt, ohne es eigentlich besonders zu registrieren (es war ihm erst nachher zum Bewußtsein gekommen), daß der Alte mit der Samtjacke sehr armselig und sehr bedrückt am Zeitungsständer stand.
Er hatte eine Anzahl der um die Stäbe gedrehten Zeitungen wie einen Liktorenbündel unter den Arm geklemmt und huschte nachdenklich und tief enttäuscht mit unruhigen, suchenden kleinen Mäuseaugen über eine Zeitung hin, die er gerade entrollt hatte, und die er, trotz des Liktorenbündels, in einer durch Jahre ausgebildeten Technik nicht nur sicher zu halten, sondern auch zu blättern wußte. Er hatte den Kopf gesenkt. Seine Platte war wie eine Tonsur von einem dicken, grauen Haarwulst umrandet. Und er sah so wirklich wie ein melancholischer Marabu aus. Es fehlt nur, daß er auf einem Bein stand. Von heute ab stand wieder nirgends mehr eine Zeile, weder von ihm noch über ihn. Und das war es wohl, was ihn plötzlich so tief bedrückte.
»Also, hier hast du deinen Schirm, mein süßer Nuckelino. Es ist gut, daß ich ihn dir geholt habe. Er wäre sonst in die Erbmasse gegangen. Und das macht dann immer Schwierigkeiten, bis man so etwas herausbekommt. Ich bin gar nicht traurig. Nur solch ein wenig wie benommen davon bin ich. Ich habe das Gefühl: gestern hatte ich noch irgendwo ein Dach hier in Berlin über dem Kopf. Und heute guckt mir mit einemmal der leere Himmel durch die abgedeckten niedergebrannten Dachsparren. Aber, wenn ein Mensch so alt werden konnte, und so lange Mensch bleiben konnte, so soll man nicht traurig sein ... so soll man nicht traurig sein ... wenn er fortgeht, sondern sich freuen, daß man ihn solange behalten konnte.«
»Richtig«, meint Nuck. »So etwas hat ein anderer schon besser mal gesagt. O meine leuchtenden Stunden ... nicht weinen, weil sie ...«
Fritz Eisner unterbricht sie: »Gewiß, ich habe den andern vor zwanzig Jahren sogar sehr gut gekannt und habe ihn – er wurde höchstens so achtundzwanzig. Ich höre ihn noch husten. Er bekam eine ganze wilde Miliartuberkulose – ich habe ihn sogar beerdigen helfen. Aber trotzdem ist es nicht wahr, was er gesagt hat. Ebensowenig wie es wahr ist, was ich gesagt habe. Das behauptet nur unser dummer Verstand. Aber unser kluges und richtiges Gefühl heult eben doch. Worüber aber, sagt es uns nicht. Vielleicht heult es nur über sich selbst.
Solang die alte Frau lebte, Nuck, wußte ich, sie war da. Ich ging ja nicht immer zu ihr. Aber ich wußte, ich konnte jede Minute zu ihr gehen. Da saß ein altes, kümmerliches Stück Leben noch, klug, hart und scharf, scheinbar ohne jede Wärme, aber voll von Anteil für mich. Es war die letzte Stelle in Berlin, zu der ich mich noch hingehörig fühlte. Da die Verwalterin sie nun verlassen hat, und da sie mir verschlossen bleiben wird, habe ich eigentlich nichts mehr hier in Berlin, wo ich irgendwie festgewachsen bin. Alles ist mir hier schon so unwirklich, als ob es nur noch Erinnerungen wären, die sich anmaßen, mein Leben zu sein.«
Und dann gingen noch so ein paar Tage hin. Die, die sich versteckt hielten und erst in die Mäuselöcher gekrochen waren, kamen langsam wieder heraus und schauten sich um. Eigentlich hätte sich gar nichts geändert. Und die Sonne schien immer noch. Das ist ja alles gar nicht so schlimm. Bisher war niemand etwas geschehen, und all diese Leute wußten ja gar nicht, was sie wollten. Sie, die anderen, die Alten, die Herrscher von ehedem, waren nur wie Korken gewesen, die man einen Augenblick unter Wasser gedrückt hatte. Sowie man die Hand los ließ, schwammen sie eben wieder obenauf. Und jetzt würden sie sich nicht nochmal 'runterdrücken lassen. Das sah man schon.
Fritz Eisner war noch einmal im Reichstag. Vielleicht wäre da irgend etwas zur Verwirklichung seiner Ideen zu tun. Das hätte ihn in Berlin gehalten. Aber aufgeregte Literaten schrien direktionslos durcheinander. Das war nichts für ihn. Der ganze Reichstag war ein Feldlager geworden, durch das ewig die Menschen- und Soldatenströme pulsierten. So etwas an wüstem Schmutz und Papieren, Speiseresten, Kommißbrotscheiben, Tornistern und Handgranaten, Wolldecken und Kochkesseln, einzelnen Schnürschuhen, die da herumlagen zwischen den Soldaten mit den roten Binden, die auf dem Boden schliefen, war sehr interessant und sehr malerisch, aber sehr unerfreulich.
Eine alte Reinemachefrau fand gerade eine Handgranate, die jemand verloren hatte. Und da sie eben nicht ein alter Soldat, sondern nur eine alte Reinemachefrau war, die seit Jahren ihr Bestes tat, mit Eimer, Wasser und Bürste, hier, im Reichstag, der aber das Wesen einer solchen Handgranate unbekannt war, so ließ sie sie wieder auf den Boden fallen. Es gab einen furchtbaren Knall. Aber es geschah Frau Ziegenbein gar nichts. Nur eine Staubwolke und ein namenloser herumfliegender Dreck füllte im Augenblick die ganze Wandelhalle. Man suchte Beerfelde, den Hauptmann Beerfelde. Und jeder, der nach ihm rief, sprach den Namen anders aus. Man erhoffte von ihm sehr viel. Er war ein Idealist: ›Haut mir den Kopf ab‹, hat er gesagt, ›wenn ich etwas Dummes mache. Es brennt an allen Ecken und wir müssen einig sein.‹ Idealismus ist die hohe Schule der Enttäuschungen. ›Nie, nie, nie darf es dazu kommen, daß man von den Truppen der SPD, den Truppen der USP und den Soldaten des Spartakus spricht.‹
Als Fritz Eisner fortging ... irgendwo in der Ferne wurde wieder geknattert ... drehte er sich nochmal nach der Säulenfront des Reichstags um. Eine Inschrift stand immer noch nicht an ihrer Stirn. Das hatte Wilhelm nicht gewollt. Auch die Kuppel, die höher sein sollte, hatte er mit eigener Korrektur aus dem Bauplan ja gestrichen. Weil sie sonst vielleicht das Schloß hätte überragen können. Und suprema lex regis voluntas!
»Ich habe die Inschrift«, sagte Fritz Eisner, »jetzt habe ich sie: Hier wird das Pferd am Schwanz aufgezäumt.«
In der Reichskanzlei war es nicht viel anders. Man war höflich. Gewiß würde man vielleicht später einmal auf eine Kraft und auf einen Namen, wie er ihn hätte, vor allem, da er sich vorher nicht gegenparteilich festgelegt hätte, zurückgreifen. Wenn erst die Dinge sich mehr konsolidiert hätten. Aber sie waren sicher noch nicht sehr konsolidiert, denn gerade, als Fritz Eisner die Kanzlei verließ, versuchte eine Abteilung von Matrosen und Spartakisten diese zu erstürmen. Aber im letzten Augenblick ließen sie hüben wie drüben die Handgranaten am Gürtel.
Annchen schrieb, wenn sie darin einwillige, so täte sie es nicht im Haß, sondern in dem unerloschenen Gefühl einer alten Zuneigung (davon habe ich nicht viel mehr in den letzten Jahren gespürt). Sie würde gewiß einen Menschen, der von ihr fortstrebe, nicht anbinden wollen. Das wichtigste wären aber die Kinder. Sie käme ja gar nicht in Frage. (Diese Worte hätten sonst Fritz Eisner mißtrauisch gemacht, aber es gibt niemand, der nicht im Zweifelsfalle aus einem Brief das herausliest, was er herauslesen will.) Es wären gewiß nur einige unbedeutende Fragen rein materieller und persönlicher Natur noch zu erledigen zwischen ihnen. Aber in der Sache selbst bedauere sie aus tiefstem Herzen und weinend, in den Wunsch einer Scheidung einzuwilligen.
»Gewiß, sie mag krank und unmöglich sein. Aber au fond ist sie ja doch ein anständiger Mensch, Nuck!«
Nuck sagt nichts als: »Das habe ich nie bestritten.«
Und Fritz Eisner hört dabei wieder heraus, was er hören will. Frauen kennen sich untereinander ja besser. In keinem Mann steckt das, was in einer Frau ist. Aber in jeder Frau das, was in allen Frauen ist. Und so versteht jede jede, so fern sie sich auch sonst stehen mögen.
Es liegt noch ein Brief von Fränze bei, der Ältesten. Fritz Eisner reicht ihn Ruth herüber. »Du machst wieder deine traurigen Hundeaugen, Yorikchen.«
»Gar nicht. Ich amüsiere mich sogar sehr über den Brief. Sieh mal, sie schreibt doch schon wie eine Große mit ihren dreizehn Jahren: ›Soll ich ein Pferd kaufen für sechs Mark, ein Maschinengewehr für acht oder ein Auto für fünfundzwanzig, liebster Pepperepeps. Meine Freundin, Doris von Eckhardtstein, sagt, ein Maschinengewehr wäre ein schönes Kriegsandenken. Ihr Vater hätte sich dreie gekauft. Ich will mir dann im Garten einen Stall für das Pferd bauen, dann reite ich immer in die Schule, das ist billiger als bahnfahren. Dein Arbeitszimmer ist die Schreibstube. Aber der Schreibesoldat hat mit seinen Knöpfen hinten am Rock schon Deinen ganzen alten, braunen Sessel hinten kaputt gemacht. Neulich wollten sie, wie sie sagten, ihren Hauptmann umlegen (was ist das?). Im Soldatenrat hat nur, wie Emil sagt, eine Stimme gefehlt. Dann hätten sie's getan. Es wär' ein sehr schlimmer Hund gewesen, meint er. Onkel Emil ist eigentlich Steiger im Bergwerk, aber er ist bei der schweren Artillerie gewesen. Und er zeigt mir, wenn wir Spazierengehen, im Wald immer die Stellen am Waldrand, wo er meint, daß für seine Kanonen eine gute Deckung gewesen wäre. Unsere Josephine will mit ihm in seine Heimat gehen, und er will sich dann von seiner Frau scheiden lassen und sie heiraten. Aber ich glaube es nicht, daß er es tun wird. Teddy hat unserem letzten Hühnchen den Hals langgezogen. Ich küsse Dich tausendmal, aber ich ziehe Dir nicht den Hals lang‹ ... Weißt du, ich möchte doch näher bei meinen Kindern sein. Ich denke, wir werden so übermorgen spätestens von Berlin weggehen. Wo wollen wir hin? Nuck?«
Nuck besinnt sich eine Weile: »Wollen wir nach München gehen, da habe ich auch Bekannte.«
»Schön, gehen wir nach München. Lieber wäre ich zwar in ein Land gegangen, in dem man keine Bezugsscheine für Klosettpapier mehr braucht. Aber da das für die nächsten zehn Jahre ausgeschlossen ist, daß man aus Deutschland 'raus kann, wir fliegen eben in einem zerplatzenden Luftballon, wie du sagst, so muß es, auch so gehen. Und endlich ist ja München auch schön. Es ist ganz nett da. Es gibt überall Hotels, Pensionen, möblierte Zimmer. Und, wenn man aus dem Koffer lebt, sieht man überhaupt erst, wie wenig der Mensch braucht, und wieviel doch mit Bleigewichten an uns hängt.«
Und dann geht Fritz Eisner nochmal auf die Zeitung und sagt, daß Fräulein Block und er demnächst heiraten werden. Er ärgert sich nebenbei, denn die Zeitung ist gerade mal wieder militärisch besetzt. Von welcher Seite weiß er nicht. Und man wollte ihn selbst auf die Legitimation des Hauses hin nicht mehr herauflassen.
Und Ruths Mutter schreibt, daß sie doch wohl lieber noch bei ihrer Schwester bleiben wird, da ja in Berlin die Leichen unbeerdigt in Haufen Unter den Linden und in der Friedrichstraße liegen. Das hätte sie von einem glaubwürdigen Augenzeugen.
Und Fritz Eisner schreibt ihr einen wohl stilisierten Brief, daß er, da die Scheidung eingeleitet wäre ... und dem war auch so ... nur, wann sie beendet sein würde, das wußten bisher noch die Götter ... Also, daß er die Absicht habe, ihre Tochter zu heiraten, und daß sie von Berlin weggingen, und sich außerdem jetzt schon als verehelicht betrachten.
Und die Dame schreibt ihm, daß sie weder dafür noch dagegen sei. Ihre Tochter ist großjährig und er alt genug, um zu verantworten, was sie tun.
Nach ihrer persönlichen Erfahrung gehen Scheidungen nie so glatt, wie man wünscht oder hofft.
Und dann saßen sie eines Morgens in der Bahn. Sie war kalt und überfüllt von Soldaten, die heimkehrten. Und Fritz Eisner kaufte sich noch eine ganze Tasche voll von Zeitungen. »Der freie Soldat«, Zeitung für Soldaten und Matrosen. »Die Rätezeitung«, »Die Republik«. Und wie all diese Eintagsfliegen noch hießen. Und dazu die Zeitungen aller Richtungen. An Lesefutter wird es ihnen sicher nicht fehlen unterwegs. Eher an anderem.
Plötzlich aber beginnt Fritz Eisner, wie er die erste Zeitung aufschlägt, wahnsinnig zu lachen. Er kann sich nicht beruhigen. Er bekommt gar keine Luft, so lacht er.
»Sage mal, mein geliebter Hund, meine kleine, angebetete Frau du, hältst du denn das überhaupt für wahrscheinlich, überhaupt für denkbar, und tatsachenentsprechend, daß es solchen Menschen wie das Gummischweinchen nochmal gegeben haben soll? Daß er sozusagen in Doublette vorhanden war?! Siehst du, ... hier steht: ›Den Tod meines geliebten Zwillingsbruders, des Sanitätsrats Doktor ...‹ Also das ist wirklich wahnsinnig komisch. Nicht mal das Gummischweinchen war ein vollkommenes und alleiniges Original ... Original fahr hin in deiner Pracht!«
Und dann fängt Fritz Eisner plötzlich an zu schluchzen. Die Soldaten sehen ihn an, als ob er verrückt geworden wäre. »Erst lacht er und nu flennt er«, sagt einer.
Und als er das Taschentuch von den Augen nimmt, sieht Fritz Eisner gerade noch das rotgelbe gottverdammte Bezirkskommando I Berlin in der Generalpapestraße seinen Blicken entschwinden ... Diesen unerschöpflichen Brunnen der Tränen!