Alexander Herzen
Wer ist schuld?
Alexander Herzen

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Zweites Kapitel.

Die Biographie Seiner und Ihrer Excellenz.

Alexis Abramowitsch Negroff, Generalmajor a. D. und Ritter, ein dicker großer Mann, der nach dem Zahnen nicht ein einziges Mal krank gewesen, konnte als die beste und vollständigste Widerlegung der berühmten Makrobiotik von Hufeland gelten. Er führte die gerade entgegengesetzte Lebensweise, und diese stand zu jeder Seite des Hufelandschen Buches in diametralem Gegensatz – und doch war er immer gesund und blühend. Er richtete sich nur nach einer Regel der Hygiene: niemals die Verdauung durch geistige Anstrengung zu stören und vielleicht hatte er eben darum das Recht, alle andern Regeln nicht zu befolgen. Streng und jähzornig, in seinen Reden barsch und in seinen Handlungen oft hart, kann man doch nicht sagen, daß er von Natur ein boshafter Mensch gewesen; wer seine scharfen Gesichtszüge, welche sich in der Fleischfülle nicht ganz verwischt hatten, seine dichten schwarzen Brauen und die glänzenden Augen beobachtete, konnte auf den Gedanken kommen, daß das Leben in ihm mehr als eine Fähigkeit erstickt habe.

Für seine Erziehung hatte theils die Natur, theils eine Französin gesorgt, welche bei seiner Schwester wohnte. Mit vierzehn Jahren wurde Negroff bei einem Cavallerieregiment eingezeichnet. Da er von seiner zärtlichen Mutter viel Geld bekam, so führte er in seiner Jugend ein recht flottes Leben. Nach dem Feldzuge von 1812 wurde Negroff zum Oberst befördert; allein die Oberstenepauletten fielen damals auf Schultern, welche der Uniform bereits müde geworden waren. Der Militärdienst begann ihn zu langweilen; nachdem er noch eine kurze Zeit ausgehalten, fand er sich wegen zerrütteter Gesundheit zum fernern Dienst untauglich, erhielt seine Entlassung und nahm den Rang eines Generalmajors, einen Schnurrbart, an welchem beim Diner von allen Gerichten etwas hängen blieb, und seine Uniform für feierliche Gelegenheiten mit sich.

Als der General a. D. sich in Moskau niedergelassen, das nach dem Brande bereits wieder aufgebaut worden, eröffnete sich ihm eine endlose Reihe von Tagen und Nächten eines einförmigen leeren langweiligen Lebens. Es gab gar keine Beschäftigung, mit welcher er sich hätte befassen können oder wollen. Er ging aus einem Hause ins andere, spielte Karten, speiste im Klub, zeigte sich im Theater in der ersten Parquetreihe, erschien auf Bällen, schaffte sich acht prachtvolle Pferde an, pflegte dieselben, belehrte Tag und Nacht den Kutscher mit Wort und Hand und weihte selbst den Vorreiter in die Geheimnisse der Reitkunst ein. . . .

In solcher Weise verbrachte er anderthalb Jahre; endlich hatte der Kutscher auf dem Bocke sitzen und die Zügel halten gelernt, der Vorreiter verstand auf dem Pferde zu sitzen und es zu lenken, und so wurde Negroff von Langeweile verzehrt. Er entschloß sich, auf sein Gut sich zu begeben und dasselbe zu bewirthschaften; er redete sich ein, diese Reise sei nothwendig, um eine ernstliche Zerrüttung zu verhüten.

Die Theorie seiner Bewirtschaftung war sehr einfach: Tag für Tag zankte er den Verwalter und den StarostenSchultheiß, Dorfältester. aus, ritt auf die Hasenjagd und streifte mit der Flinte umher.

Da er durchaus nicht an Geschäfte irgend welcher Art gewöhnt war, so konnte er sich keine Vorstellung davon machen, was es eigentlich zu thun gab, und so befaßte er sich mit Kleinigkeiten und damit war er zufrieden. Der Verwalter und der Starost ihrerseits waren mit dem Herrn zufrieden; von den Bauern weiß ich das nicht; die schwiegen.

Zwei Monate später zeigte sich in den Fenstern des herrschaftlichen Hauses ein schönes Frauengesicht, anfangs mit verweinten, dann einfach mit reizenden blauen Augen. Zu derselben Zeit machte der Starost, der sich mit Dorfangelegenheiten gar nicht befaßte, den General darauf aufmerksam, daß die Hütte des Jemelka Barbasch in schlechtem Zustande sei und Alexis Abramowitsch möchte doch die väterliche Gewogenheit haben und dem Jemelka Bauholz geben.

Der Wald war für Alexis Abramowitsch ein Gegenstand besonderer Sorge; selbst für seinen eigenen Sarg hätte er sich nicht leicht Holz herausschlagen lassen . . . Aber diesmal war er in guter Stimmung und so erlaubte er dem Barbasch, sich Holz für seine Hütte zu fällen, wobei er gegen den Starost bemerkte:

»Daß du mir aber darauf siehst, du rothe Bestie, daß nicht zu viel Holz genommen wird; für jeden Balken zu viel einen Rippenstoß.«

Der Starost eilte die Hintertreppe hinauf und theilte der Awdotja, Jemelka's Tochter mit, daß er einen großen Erfolg erzielt, und nannte sie Wohlthäterin und Beschützerin.

Die Aermste erröthete über das ganze Gesicht; aber in ihrer Herzenseinfalt war sie doch froh, daß ihr Vater eine neue Hütte bekommen sollte.

In unseren Quellen finden wir wenig Nachrichten über die Eroberung dieser blauen Augen und die Art, wie sie in das herrschaftliche Haus kamen. Ich glaube darum, weil solche Siege sehr einfach zu erringen sind.

Wie dem sei, auch das Landleben begann Negroff zu langweilen; er redete sich ein, daß er alle Mängel der Wirtschaft abgestellt und was noch wichtiger, derselben eine solche Richtung gegeben, daß sie auch ohne ihn sicher weiter schreiten könnte, und so traf er Vorbereitungen, wieder nach Moskau zu reisen.

Sein Reisegepäck hatte sich vermehrt: In einem besonderen Wagen fuhren die reizenden blauen Augen, und ein Säugling mit seiner Amme.

In Moskau wurden dieselben in einem Zimmerchen untergebracht, dessen Fenster nach dem Hof gingen.

Alexis Abramowitsch liebte das Kind, liebte Dunja, liebte auch die Amme – es war seine erotische Zeit! Aber die Milch der Amme wurde schlecht, sie litt beständig an Uebelkeit, – der Doctor behauptete, sie könne nicht mehr stillen.

Dem General war es sehr leid um sie: eine so ausgezeichnete Amme: so gesund und gut und dienstwillig, und da muß nun die Milch schlecht werden . . . ärgerlich!

Er schenkte ihr zwanzig Rubel, gab ihr den Ammenkopfputz mit und ließ sie zu ihrem Mann zurückkehren, damit sie sich curire.

Der Doctor rieth, die Amme mit einer Ziege zu vertauschen, – und so geschah es auch. Die Ziege war gesund. Alexis Abramowitsch mochte sie sehr gern leiden, gab ihr eigenhändig Schwarzbrot und streichelte sie, aber das hinderte sie nicht, das Kind fernerhin zu säugen.

Die Lebensweise des Alexis Abramowitsch war dieselbe, wie bei seinem ersten Aufenthalt: Etwa zwei Jahre hielt er's aus, aber länger war's ihm nicht möglich. Vollständiger Mangel an jeder bestimmten Thätigkeit ist dem Menschen unerträglich. Das Thier glaubt, seine ganze Beschäftigung bestehe darin zu leben, für den Menschen jedoch besteht das Leben nur in der Möglichkeit etwas zu thun. Obgleich Negroff von zwölf Uhr Mittags bis zwölf Uhr Nachts nicht zu Hause war, so quälte ihn doch die Langeweile; und diesmal wollte er nicht wieder aufs Land. Lange beherrschte ihn eine mißmuthige Stimmung, öfter als gewöhnlich gab er seinem Kammerdiener väterliche Ermahnungen und immer seltener verfügte er sich in das Zimmer mit den Fenstern nach dem Hofe.

Einmal kehrte er in ganz ungewöhnlicher Gemüthsverfassung nach Hause zurück. Er war mit irgend etwas beschäftigt; bald runzelte er die Stirn, bald lächelte er, schritt lange im Zimmer auf und ab und blieb dann plötzlich mit entschlossener Miene stehen. Es war ihm anzusehen, daß er innerlich mit einem Entschlusse fertig geworden. Und als er innerlich fertig war, begann er so laut zu pfeifen, daß der im anstoßenden Zimmer auf einem Stuhle schlafende Leibbursche vor Schrecken nach der Thür stürzte, welche der richtigen ganz entgegengesetzt lag und dann nur mit Mühe zur Besinnung kam.

»Fortwährend schläfst du, du fauler Lümmel,« sagte der General zu ihm, aber nicht mit jener Donnerstimme, bei deren Klang zugleich väterliche Blitze herabzuckten, sondern in ganz einfacher Weise: »Geh, sage Mischka, er solle morgen ganz früh zu dem deutschen Wagenbauer gehen und ihn zu mir holen.«

Es war deutlich zu sehen, daß Alexis Abramowitsch ein Stein vom Herzen gefallen war und er konnte ruhig schlafen.

Am andern Morgen gegen acht Uhr erschien der deutsche Wagenbauer, und um zehn Uhr war die Konferenz beendet, in welcher mit größter Umständlichkeit und Genauigkeit ein viersitziger Wagen bestellt worden, ein dunkelbrauner Wagen mit hellfarbigen Borden, goldenem Wappen, Paradebocksitz und dreifachem Ueberzug.

Der viersitzige Wagen hatte nichts mehr und nichts weniger zu bedeuten, als daß Alexis Abramowitsch entschlossen war zu heirathen.

Dieser Entschluß offenbarte sich gar bald in unzweideutigen Zeichen. Als der Wagenbauer fort war, rief er seinen Kammerdiener. In langer und ziemlich confuser Rede – (was Negroff zu großer Ehre gereicht, denn in dieser Confusion spiegelte sich etwas von dem, was die Menschen Gewissen nennen) – eröffnete er demselben seine Wohlgeneigtheit für seine treuen Dienste, sowie seinen Entschluß, ihn in exemplarischer Weise dafür zu belohnen.

Der Kammerdiener konnte nicht begreifen, wo er damit hinauswollte, verbeugte sich und sprach ehrfurchtsvoll etwa folgendes:

»Wem hätte ich denn sonst treu dienen sollen, als Euer Excellenz, Sie sind unser Vater und wir Ihre Kinder.«

Diese Komödie langweilte Negroff und so eröffnete er dem Kammerdiener in kurzen aber ausdrucksvollen Worten, daß er ihm erlaube, die Dunja zu heirathen.

Der Kammerdiener war ein kluger, pfiffiger Mensch, und obgleich ihn die unerwartete Gnade seines Herrn sehr überraschte, so hatte er doch in zwei Minuten alle Chancen pro und contra, berechnet und bat Negroff, ihm für soviel Güte und Wohlwollen die Hand küssen zu dürfen. Der Bräutigam in spe begriff, um was es sich handelte; »aber,« dachte er, »die Dunja kann noch nicht vollständig in Ungnade gefallen sein, wenn man sie nur zur Frau geben will. Ich stehe meinem Herrn nahe und kenne seinen Charakter; und zudem – eine so hübsche Frau zu haben, ist auch nicht übel.« Kurz, der Bräutigam war einverstanden.

Dunja gerieth in Erstaunen, als ihr gesagt wurde, sie sei Braut. Sie weinte, härmte und grämte sich, da ihr aber nichts übrig blieb, als zu ihrem Vater in das Dorf zu fahren oder die Frau des Kammerdieners zu werden, so entschloß sie sich zu dem letzteren. Nicht ohne Beben konnte sie daran denken, wie ihre ehemaligen Gefährtinnen über sie lachen würden; sie erinnerte sich, daß sie zur Zeit ihrer Macht und ihres Ruhmes von ihnen im Flüstertone die »Halbherrin« genannt worden.

Acht Tage später fand die Trauung statt. Als am andern Morgen die Neuvermählten mit Confect in den Händen Negroff ihre Aufwartung machten, war dieser in ganz fröhlicher Stimmung und schenkte dem jungen Paar hundert Rubel und sagte zu dem Koch, der gerade zugegen war:

»Merk dir's, Esel; ich weiß zu belohnen und auch zu strafen: er hat gut gedient, darum hat er's jetzt gut.«

Der Koch antwortete: »Zu Befehl, Euer Excellenz,« aber auf seinem Gesicht stand zu lesen: Ich prelle dich zwar bei jedem Einkauf, aber mich lockst du nicht auf den Leim; ein solcher Narr bin ich nicht!«

Am Abend gab der Kammerdiener ein Gelage, von welchem die ganze Dienerschaft noch zwei Tage lang nach Branntwein roch. Und in der That hatte er keine Ausgaben gescheut. Uebrigens kam für die arme Dunja ein peinlicher, bitterer Augenblick. Das kleine Bettchen und mit ihm ihr Töchterchen sollten in die Gesindestube wandern. Dunja liebte ihr Kind über alle Maßen, mit der ganzen Herzlichkeit einer unverdorbenen Seele. Sie fürchtete sich vor Alexis Abramowitsch; die übrigen Leute im Hause aber fürchteten sich vor ihr, obgleich sie niemandem jemals ein Leid zugefügt; in ihrer dunkeln Haremsgefangenschaft verschmachtend, hatte sie ihr ganzes Liebesbedürfnis, all ihre Ansprüche ans Leben auf ihr Kind übertragen. Ihre unentwickelte, gleichsam erstickte Seele war gut; still und scheu, sich durch keine Beleidigung verletzt fühlend, konnte sie doch eins nicht ertragen – die Härte, welche Negroff dem Kinde gegenüber an den Tag legte, sobald dieses ihm nur irgendwie lästig wurde; dann erhob sie die Stimme und zitterte – nicht vor Furcht sondern vor Zorn. In solchen Augenblicken beobachtete sie Negroff, und es war, als ob Negroff seine demüthigende Lage fühlte; denn er überschüttete sie mit Scheltworten, warf die Thür laut ins Schloß und ging fort.

Als nun das Bettchen fortgetragen werden sollte, schloß Dunja die Thür zu, warf sich schluchzend vor ihrem Heiligenbilde auf die Knie, ergriff ihrer Tochter beide Händchen und bekreuzte sie.

»Bete,« sprach sie, »bete, mein Herzenskindchen; wir beide werden viel Kummer zu leiden haben; heilige Mutter Gottes, nimm dich des kleinen Kindchens an, das an allem unschuldig ist . . . Und ich dummes Geschöpf dachte: Ist sie erst groß, dann wird mein Herzenskind in einer Kutsche fahren und seidene Kleider tragen; hinter der Thür würde ich dich dann betrachtet und es dir verheimlicht haben, mein Engel, daß du eine Bäuerin zur Mutter hast . . . Jetzt aber wirst du nicht zu deiner Freude groß werden: Vielleicht machen sie dich bei der neuen Herrin zur Wäscherin und deine Händchen werden von Seife gebeizt . . . Herr mein Gott, was hat das kleine Wesen gegen dich gesündigt?« . . .

Und Dunja fiel schluchzend zu Boden; das Herz wollte ihr brechen; erschreckt klammerte sich das Kind an sie, weinte und sah sie mit solchen Augen an, als wenn es alles begriffe . . .

Eine Stunde später stand das Bettchen in der Gesindestube und Alexis Abramowitsch befahl dem Kammerdiener, sich von dem Kinde »Papa« nennen zu lassen.

Aber wer war die glückliche Auserwählte?

In Moskau giebt es eine ganz besondere Gattung des menschlichen Geschlechts. Wir sprechen hier nicht von jenen mäßig reichen, adeligen Häusern, deren Bewohner vollständig vom Schauplatz verschwunden sind und durch ganze Geschlechter in verschiedenen Querstraßen ein bescheidenes Dasein fristen; einförmige Ordnung und ein gewisser verhaltener Groll gegen alles Neue bildet den Hauptcharakter der Bewohner dieser Häuser, welche mit ihren schiefen Säulen und unsauberen Hausfluren ganz hinten auf einem Hofe stehen. Diese heruntergekommenen Adelsfamilien bilden sich ein die Repräsentanten unserer nationalen Eigenthümlichkeit zu sein, weil ihnen »Kwaß ebenso nothwendig ist wie Luft,« weil sie im Schlitten und im Wagen zwei Lakaien mit sich nehmen und das ganze Jahr hindurch von den Vorräthen leben, die sie aus Pensa oder Simbirsk bezogen haben.

In einem dieser Häuser wohnte die Gräfin Mawra Iljinischna. Einst hatte sie sich im Strudel der Aristokratie bewegt, war kokett und schön gewesen, hatte Zutritt bei Hofe gehabt, mit dem Dichter Kantemir geliebelt, der ihr in syllabischem Versmaß ein Madrigal, das heißt ein »Lobcarmen« ins Stammbuch geschrieben, in welchem auf »Göttin Minerva« in der folgenden Verszeile die Worte »er da« reimten.

Allein von Natur außerordentlich kalt und auf ihre Schönheit eingebildet, wies sie alle Freier ab und wartete auf irgend eine glänzende Partie.

Inzwischen starb der Vater, und ihr Bruder, der das ungeteilte Vermögen verwaltete, hatte in zehn Jahren fast alles verpraßt und verspielt. Das Leben in der Hauptstadt wurde zu theuer; man mußte sich bescheiden einrichten. Als die Gräfin ihre heikle Lage vollständig begriff, war sie dreißig Jahre alt, und da entdeckte sie auf einmal zwei schreckliche Dinge: Das Vermögen war zerrüttet und ihre Jugend dahin.

Da machte sie einige verzweifelte Versuche, unter die Haube zu kommen – sie schlugen fehl. Nun verschloß sie im tiefsten Busen einen furchtbaren Groll und siedelte nach Moskau über, da, wie sie sagte, der Lärm der großen Welt ihr lästig geworden und sie nur noch nach Ruhe verlange.

Anfangs trug man sie in Moskau auf den Händen und es galt für einen Beweis gesellschaftlicher Bedeutung, bei der Gräfin vorzufahren. Allein nach und nach entfernte ihre giftige Zunge und ihr unerträglicher Hochmuth fast alle aus ihrem Hause. Vernachlässigt, von allen verlassen, wurde die alte Jungfer noch mehr von Unwillen und Haß erfüllt, umgab sich mit verschiedenen schmarotzenden alten Weibern, Frömmlerinnen und Müßiggängerinnen, sammelte aus allen Ecken und Enden der Stadt Klatschereien, gerieth in Schrecken vor dem sittenlosen Jahrhundert und rechnete sich ihr ewiges Jungfernthum als hohes Verdienst an.

Ihr gräflicher Bruder, der den Rest seines Vermögens inzwischen vollständig verschwendet hatte, entschloß sich, um seine Verhältnisse wieder zu ordnen, zu einer für jene Zeit heroischen That – er heirathete eine Kaufmannstochter.

Vier Jahre lang machte er derselben tagtäglich ihre Herkunft zum Vorwurf, verspielte bis zum letzten Kopeken ihre Mitgift, jagte sie dann aus dem Hause, ergab sich dem Trunk und starb.

Ein Jahr später starb auch die Frau und hinterließ ohne alles Vermögen eine fünfjährige Tochter. Mawra Iljinischna nahm das Kind zu sich, um es zu erziehen. Es ist schwer zu sagen, was sie dazu bewog: War es Familienstolz, Theilnahme für das Kind oder Haß gegen den Bruder – wie dem auch sei, das Loos des kleinen Wesens war nicht beneidenswerth. Das Kind ward aller Freude ihres Alters beraubt, eingeschüchtert, geängstigt, gequält. Der Egoismus alter Jungfern ist entsetzlich: An ihrer ganzen Umgebung möchten sie sich dafür rächen, daß in ihrem erstorbenen Herzen so viel welke Blätter geblieben sind. In trostloser, langweiliger Oede wuchs die kleine Gräfin heran; zu ihrem Unglück gehörte sie nicht zu jenen Naturen, welche sich in Folge äußeren Druckes entwickeln. Als sie zu verstehen anfing, da hegte sie in ihrem Innern zwei mächtige Gefühle: Ein unüberwindliches Verlangen nach äußern Vergnügungen und einen heftigen Haß gegen die Lebensweise der Tante.

Beide Gefühle waren verzeihlich. Mawra Iljinischna verschaffte ihrer Nichte nicht nur keine Zerstreuung, sie raubte ihr auch noch sorgfältig alle Freuden, alle unschuldigen Genüsse, welche diese selbst fand; sie glaubte, das junge Mädchen sei nur dazu da, ihr laut vorzulesen, wenn sie schlief, und sie die übrige Zeit zu bedienen; sie wollte ihre ganze Jugend verschlingen, gleichsam alle frischen Säfte ihrer Seele aufsaugen – zum Lohn für eine Erziehung, die sie ihr nicht gegeben, ihr aber jeden Augenblick zum Vorwurf machte.

Die Zeit schwand dahin. Die junge Gräfin ward heiratsfähig, ja sogar sehr heirathsfähig – sie zählte bereits dreiundzwanzig Jahre. Sie empfand vollkommen das Bedrückende, Langweilige, Einförmige ihrer Lage, und ihr ganzes Sinnen und Denken drehte sich nur darum, wie sie aus dem Hause ihrer Tante, dieser Hölle sich befreien sollte. Selbst das Grab schien ihr besser zu sein; sie trank Essig, um die Schwindsucht zu bekommen, aber das half ihr nichts; sie wollte ins Kloster gehen, aber es mangelte ihr an Entschlossenheit.

Bald nahmen ihre Gedanken eine andere Richtung. Die alten französischen Romane, die sie irgendwo in einem Kleiderschrank der Tante entdeckt hatte, machten ihr klar, daß es außer dem Tode und dem Kloster noch ganz bedeutende Trostmittel giebt. Sie schlug sich den Totenkopf aus dem Sinn und begann von einem lebenden Kopf mit Schnurrbart und Lockenhaar zu träumen. Tausend romanhafte Bilder quälten sie Tag und Nacht; sie arbeitete sich vollständige Novellen aus: Er entführt sie, sie werden verfolgt, »man verbietet ihnen, sich zu lieben – da knallen Schüsse . . . Mein auf ewig!« sagt er, die Pistole fest mit der Hand umklammernd u. s. w.

Um dieses Thema drehten sich in zahllosen Variationen alle andern Träumereien, all ihre Gedanken und Pläne, und mit Schrecken wachte an jedem Morgen die Aermste auf, denn sie sah, daß niemand sie entführte, niemand zu ihr sagte: »Mein auf ewig!« – und ihre Brust hob sich so schwer und Thränen strömten auf ihr Kissen herab, und mit einer gewissen Verzweiflung trank sie auf Befehl der Tante Molken, und mit noch größerer Verzweiflung schnürte sie sich dann, wohl wissend, daß niemand mit Wohlgefallen ihre Taille betrachte.

Einen solchen Gemüthszustand vermochten die Molken nicht vollständig zu besiegen, er führte geradeswegs zur Sentimentalität und Ueberspanntheit. Die Gräfin begann nun alle Dienstmädchen unter ihren Schutz zu nehmen und die schmutzigen Kinder des Kutschers ans Herz zu drücken – eine Liebesperiode, nach welcher einem Mädchen nichts anderes übrig bleibt als entweder sofort zu heirathen, das Tabakschnupfen zu lernen oder Katzen und geschorene Hündchen zu lieben und weder zum männlichen noch zum weiblichen Geschlecht zu gehören.

Zum Glück war das Erstere das Loos der Gräfin. Ihre Erscheinung war gar nicht übel und namentlich in dieser Epoche mußte sie auf unsern Helden Eindruck machen: Das »Sehnsüchtige« ihres ganzen Wesens, ihre schmachtenden Augen, das ungleiche Wallen ihres Busens thaten es Negroff an. Er sah sie einmal bei der Heiligengeistkirche – und das Schicksal seines Lebens war entschieden.

Der General erinnerte sich seiner Fähnrichsjahre, suchte jede mögliche Gelegenheit, die Gräfin zu sehen, wartete ganze Stunden vor der Kirche und wurde ein wenig verwirrt, wenn dann endlich aus einem antediluvianischen Gefährt, das von hochbeinigen, dürren Mähren gezogen wurde, welche die Fähigkeit zu sterben verloren hatten, zwei Lakaien die alte Gräfin, die in ihrer Haube wie eine Krähe, aussah, heraushoben, und die junge Gräfin, die einer Centifolie glich, nicht herausspringen ließen. Der General hatte in Moskau eine Cousine . . . und wer in Moskau eine Cousine hat, die dort ansäßig und ziemlich reich ist, der kann fast jedes Mädchen zur Frau bekommen, wenn er einen Rang und Geld und sie noch keinen Bräutigam hat.

Der General vertraute sein Geheimnis der Cousine – und diese nahm wahrhaft schwesterlichen Antheil an ihm. Seit zwei Monaten verging sie vor Langeweile und da fiel ihr plötzlich wie vom Himmel eine Freiwerbung zu.

Sie ließ sofort in einer Droschke die Frau eines gewissen Titularraths zu sich holen. Die Titularräthin kam; die Cousine jagte die Stubenmädchen aus dem anstoßenden Zimmer, damit niemand sie belauschen könnte. Nach Verlauf einer Stunde verließ die Titularräthin mit erhitztem Gesicht die Cousine, und nachdem sie den Mädchen hastig erzählt hatte, um was es sich handelte, stürzte sie aus dem Hause.

Am andern Tage früh neun Uhr war die Cousine über die Unpünktlichkeit der Titularräthin empört, da sie um elf Uhr kommen wollte und noch nicht erschienen war. Endlich fand sich der ersehnte Gast ein und mit ihr noch eine andere Person in einer Haube; mit einem Wort, die Sache wurde mit ungewöhnlicher Schnelligkeit und in gebührender Ordnung abgemacht.

Im Hause der Gräfin wurden wichtige Veränderungen vorgenommen. Die Vorhänge aus Segeltuch wurden von den Fenstern entfernt, um gewaschen zu werden; die Thürschlösser aber sollten mit Ziegelpulver und Kwaß (als Surrogat für Essig) geputzt werden.

Im Vorzimmer, wo es schrecklich nach Leder roch, weil dort vier Lakaien Hosenträger verfertigten, wurde das Doppelfenster ausgehoben. Mawra Iljinischna, die von allen verlassene, war entzückt, daß ein General, und noch dazu ein sehr reicher um ihre Nichte werbe. Um aber ihre Würde zu wahren, ließ sie sich kaum herab, die Werbung zu gestatten.

Eines Morgens befahl die Gräfin ihrer Nichte, sich sorgfältiger zu kleiden, den Nacken etwas mehr zu entblößen, und betrachtete sie dann selbst vom Kopf bis zu den Füßen.

»Warum soll ich denn heute Toilette machen, Mama? Bekommen wir vielleicht Gäste?«

»Das geht dich nichts an, mein Herzchen,« antwortete die Gräfin, aber in freundlichem, liebenswürdigem Tone.

Das Musselinkleid der Nichte brannte fast von dem Feuer, das ihre Adern durchrollte; sie errieth, ahnte, wagte nicht zu glauben, wagte nicht zu zweifeln . . . Sie mußte hinausgehen in die frische Luft, um nicht zu ersticken. Im Flur vertraute ihr das Stubenmädchen, daß heute ein General erwartet werde und daß dieser General um sie freie . . .

Plötzlich fuhr ein Wagen vor . . .

»Palaschka, ich sterbe, ich sterbe!« rief die junge Gräfin.

»Ach gehen Sie doch, gnädiges Fräulein! Wer wird denn sterben, wenn ein Freier kommt und noch ein solcher Freier . . . Habe ich's nicht immer gesagt: Unsere Gräfin muß einen General haben, fragen Sie nur alle, fragen Sie nur.«

Wessen Feder vermöchte alles zu schildern, was das arme Mädchen während der »Brautschau« empfunden! . . . Als sie sich ein wenig wieder erholt hatte, war das erste, was sie überraschte, der Frack des Alexis Abramowitsch; sie hatte so fest an seine Uniform und seine Epauletten geglaubt . . .

Uebrigens konnte Negroff damals auch ohne Uniform noch gefallen; obgleich er bereits an die vierzig grenzte, hatte er sich doch Dank seiner sehr guten Gesundheit wunderbar conservirt, und obgleich von Haus aus nie allzu gesprächig, besaß er doch jene gefälligen Umgangsformen, welche allen Militärs eigen sind, namentlich denen, die bei der Cavallerie gedient haben; sonstige Fehler, welche die Braut etwa an ihm entdecken mochte, wurden reichlich wieder wett gemacht durch den prachtvollen, diesmal elegant zugestutzten Schnurrbart.

Die Hochzeit kam zu Stande. Acht Tage nach der Brautschau erhielt die Gräfin Mawra Iljinischna die Besuche ihrer Bekannten, welche ihr zu gratuliren kamen – Leute, die man längst für todt gehalten, krochen aus ihren Höhlen hervor, wo sie dreißig Jahre lang hartnäckig mit dem Tode gekämpft, ohne sich zu ergeben, wo sie dreißig Jahre lang ihren Launen gefröhnt und Geld gesammelt. Abgemagerte, gelähmte, engbrüstige und stocktaube Menschen. Die Gräfin hatte für alle denselben Spruch:

»Dieses Ereignis hat mich nicht weniger in Erstaunen gesetzt als Sie; ich dachte nicht daran, meine Koko so früh zu verheirathen: sie ist ja noch ein Kind; aber, meine Liebe, es ist Gottes Wille so! Der Bräutigam ist ein ehrenhafter, solider Mann und er könnte ihr Vater sein: sie ist noch so unerfahren. Sein Generalsrang und sein Reichthum sind mir Nebensache. Auch unter Gold fließen Thränen. Doch das muß ich sagen, ich genieße nun die Frucht meiner gottesfürchtigen Erziehung.« (Hier hielt sie sich ihr Taschentuch an die Augen.) »Ja in der That, was wirkt nicht die Erziehung! Hätte man von einem so sittenlosen Vater – Gott habe ihn selig – und von einem Kaufmannsweibe ein solches Kind erwarten können? Sie werden's nicht glauben: sie hat noch keine vier Worte mit ihm gesprochen, und ich ertheilte ihr nur meinen Rath; sie aber, mein gutes Täubchen, widersprach nicht mit einem Worte; »wenn Sie es wünschen, Maman,« sagte sie, »gut, dann heirathe ich ihn . . .«

»Das ist ein wirklich seltenes Mädchen in unserer verderbten Zeit!« antworteten in verschiedenen Tonarten die Bekannten und Freunde der Mawra Iljinischna, und dann ging's über den guten Ruf anderer her mit Klatschereien und gewissenlosen Verleumdungen.

Mit einem Wort, nach kurzer Zeit brachte der mit vier schwarzen Pferden bespannte braunrothe viersitzige Wagen den General Negroff, der in voller Uniform steckte, sowie seine Gemahlin Glafira Lwowna Negroff in luftigem mit Bändern geschmücktem Brautkleid nach ihrer prachtvoll ausgestatteten Wohnung. Ein Sängerchor, Illumination, Musik, Gold, Glanz und Wohlgerüche empfingen die junge Frau; die ganze Dienerschaft stand in den Corridoren und drängten sich, um die Neuvermählten zu sehen. Auch die Frau des Kammerdieners war darunter; ihr Mann war als oberster Beamter des Vorzimmers im Cabinet seines Herrn und in dem gemeinsamen Schlafgemach beschäftigt.

Einen solchen Reichthum hatte die Gräfin niemals in der Nähe gesehen, und dies alles gehörte ihr, und auch der General gehörte ihr, – die junge Frau war glücklich, vollständig glücklich. Ihre Träume waren in Erfüllung gegangen, so oder so.

Einige Wochen nach der Hochzeit schenkte eines Morgens Glafira Lwowna, blühend wie ein aufgegangener Kaktus, in weißem mit breiten Spitzen besetztem Hauskleide den Thee ein. Ihr Gatte, in goldgesticktem Schlafrock, eine große Bernsteinspitze zwischen den Zähnen, lag auf einem Faulbett und dachte darüber nach, was für einen Wagen er zu Ostern bestellen sollte, einen gelben oder einen braunen. Ein gelber würde sich recht hübsch ausnehmen, indeß ein brauner wäre auch nicht übel.

Auch Glafira Lwownas Gedanken waren sehr mit irgend etwas beschäftigt. Sie vergaß die Theemaschine und stützte träumerisch das Haupt auf die Hand; bald zuckte eine Röthe über ihre Wangen, bald verrieth sie sichtliche Unruhe. Endlich bemerkte der Mann ihre ungewöhnliche Stimmung und sprach:

»Du bist nicht so recht bei Laune, Glaschinka; fühlst du dich nicht wohl?«

»O ganz wohl,« antwortete sie, und dabei richtete sie mit der Miene eines um Hilfe Bittenden die Augen auf ihn.

»Was wünschest du dir? Es geht dir etwas im Kopf herum.«

Glafira Lwowna stand auf, trat zu ihrem Mann, umarmte ihn und sprach im Tone einer tragischen Schauspielerin:

»Alexis, gieb mir das Versprechen, meine Bitte zu erfüllen.«

Alexis gerieth in Erstaunen.

»Wollen sehen; wollen sehen,« antwortete er.

»Nein, Alexis, schwöre mir bei dem Grabe deiner Mutter, meine Bitte zu erfüllen.«

Er nahm die Pfeifenspitze aus dem Munde und sah sie erstaunt an.

»Glaschinka, ich liebe solche weitläufige Umschweife nicht; ich bin Soldat: was ich vermag – das thu' ich; aber sag's mir gerade heraus.«

Sie verbarg ihr Antlitz an seiner Brust und flüsterte unter Thränen:

»Ich weiß alles, Alexis, und vergebe dir. Ich weiß, daß du eine Tochter hast, ein Kind verbotener Liebe . . . Ich begreife: Die Unerfahrenheit, jugendliche Leidenschaft (Lubonka zählte erst drei Jahr! . . .) Alexis, sie ist dein Blut, ich habe sie gesehen: sie hat deine Nase, deinen Nacken . . . O, wie ich sie liebe! Laß sie meine Tochter sein, gestatte mir, sie zu mir zu nehmen, sie zu erziehen . . . und versprich mir, diejenigen, von denen ich's erfahren, nicht dafür zu strafen. Liebster, ich bin entzückt von deiner Tochter; erfülle mir meine Bitte, schlage sie mir nicht ab!«

Und ihre Thränen flossen wie ein Strom auf seinen Schlafrock . . . Seine Excellenz geriethen aus der Fassung und wurden im höchsten Grade verwirrt, und bevor sie wieder zur Besinnung gekommen, hatte seine Frau ihm die Erlaubnis abgenöthigt und ihn beim Grabe seiner Mutter, bei der Asche seines Vaters und bei dem Glücke ihrer zukünftigen Kinder schwören lassen, daß er seine Erlaubnis nicht zurückziehen und nicht erforschen wolle, wie sie es erfahren.

Das Kind, das zur Lakaientochter degradirt worden, wurde wieder zum Fräulein befördert, und das Bettchen siedelte wieder in die Bel-Etage über.

Lubonka, welche zuerst angeleitet worden, ihren Vater nicht Vater zu nennen, wurde jetzt dahin abgerichtet, ihre Mutter nicht mehr Mutter zu nennen – sie sollte mit dem Gedanken aufwachsen, daß Dunja ihre Amme sei.

Glafira Lwowna kaufte selbst in einem Laden auf der Schmiedebrücke Kinderkleider, putzte Lubonka wie eine Puppe heraus, drückte sie dann an ihr Herz und begann zu weinen.

»Arme Waise,« sagte sie zu ihr, »du hast keinen Papa und keine Mama, ich werde dir alles sein . . . Dein Papa ist dort!« – und dabei zeigte sie gen Himmel.

»Papa hat Flügelchen,« lallte das Kind.

Glafira Lwowna weinte noch heftiger und rief aus:

»O himmlische Unschuld!«

Die Sache verhielt sich jedoch ganz einfach: An der Decke war nach uraltem Brauch ein mit Füßen und Flügeln zappelnder Amor dargestellt, der Bänder um den schwarzen Eisenhaken schlang, an welchem der Kronleuchter hing.

Dunja wähnte sich auf dem Gipfel des Glücks. Sie betrachtete Glastra Lwowna als einen Engel; in ihre Dankbarkeit mischte sich nicht die Spur einer feindseligen Empfindung; sie fühlte sich nicht einmal dadurch beleidigt, daß die Tochter ihr entfremdet wurde; sie sah sie in Spitzen, sie sah sie in den herrschaftlichen Zimmern – und sie sagte nur: »Wie kommt es doch, daß meine Lubonka ein so schönes Kind geworden? Mir ist, als könnte sie ein anderes Kleidchen gar nicht mehr tragen; welch eine Schönheit wird sie werden!«

Dunja besuchte alle Klöster und flehte überall Gott an, die gute Herrin bei guter Gesundheit zu erhalten.

Viele werden das Verfahren der Exgräfin für eine heroische That halten. Ich dagegen bin der Ansicht, daß ihr Schritt die größte Unbesonnenheit, wenigstens eine eben so große Unbesonnenheit war, wie ihre Verheirathung mit einem Menschen, von dem sie weiter nichts wußte, als daß er ein Mann und General war. Der Grund lag augenscheinlich in ihrer romantischen Exaltation, der tragische Scenen, Aufopferung, affectirte edle Handlungen über alles gingen. Indeß fordert die Gerechtigkeit hinzuzufügen, daß Glafira Lwowna hierbei durchaus keine bösen Hintergedanken hatte, ja daß nicht einmal Eitelkeit dabei im Spiele war. Sie wußte selbst nicht, warum sie Lubonka erziehen wollte. Ihr gefiel an dieser Sache nur das Rührende.

Alexis Abramowitsch fand, nachdem er einmal seine Einwilligung gegeben, die seltsame Lage des Kindes ganz natürlich und nahm sich nicht einmal die Mühe, zu bedenken, ob er gut oder übel daran gethan, hierein zu willigen. . . .

Und in der That, handelte er gut oder übel? Es läßt sich manches dafür und dawider sagen. Wer als das höchste Ziel des Menschenlebens die Bildung betrachtet, gleichviel, wie sie erworben wird, gleichviel, welche Folgen sie hat – der wird auf Seiten Glafira Lwownas stehen. Wer dagegen als das höchste Ziel des Lebens Glück und Zufriedenheit betrachtet, gleichviel, in welchem Kreise, und wie theuer diese Güter erworben werden – der wird gegen sie sein.

In der Gesindestube wären Lubonka's Begriffe, wenn sie auch mit der Zeit ihre Geburt erfahren hätte, so beschränkt gewesen, ihre Seele hätte so tief geschlafen, daß das nichts oder wenig zu bedeuten gehabt hätte. Wahrscheinlich würde Alexis Abramowitsch, um sich vollständig mit seinem Gewissen auszusöhnen, ihr einen Freibrief und vielleicht auch ein paar tausend Rubel zu ihrer Aussteuer gegeben haben; sie würde nach ihrer Vorstellung außerordentlich glücklich geworden sein, sich mit einem Kaufmann der dritten Gilde verheirathet, ein seidenes Kleid getragen, täglich zwölf Tassen Blütenthee getrunken und eine ganze Familie von kleinen Kaufleuten geboren haben. Von Zeit zu Zeit würde sie Negroffs Haushälterin einen Besuch gemacht und zu ihrer Genugtuung gesehen haben, wie ihre ehemaligen Colleginnen sie mit neidischen Blicken betrachteten. So hätte sie hundert Jahre alt werden und der Hoffnung leben können, daß auf ihrem Wege zum Friedhofe hundert Miethsdroschken sie begleiten würden.

Lubonka im herrschaftlichen Familienzimmer ist ein ganz anderes Wesen: In welch dummer Weise man sie auch erziehen mochte, es war für sie doch die Möglichkeit vorhanden, sich zu bilden; schon daß sie den rohen Vorstellungen der Gesindestube fern blieb, war eine Art Erziehung. Und dabei mußte sie die ganze Widersinnigkeit und Unhaltbarkeit ihrer Stellung begreifen; in der Bel-Etage erwarteten sie Beleidigungen, Thränen und Kummer, und dies alles konnte die fernere Entwickelung ihres Geistes und vielleicht auch die der Schwindsucht fördern. Ihr mögt hiernach selbst urtheilen, ob die brave Frau Negroff wohl oder übel handelte.

Das Eheleben des Alexis Abramowitsch nahm einen ruhigen, friedlichen Verlauf. Bei allen Spazierfahrten erschien er mit seiner prachtvollen von vier Rossen gezogenen Equipage, und das Ehepaar strömte in dieser Equipage gleichsam über von Glück. Man traf sie unfehlbar am ersten Mai in Sokolniti, am Ostertage im Schloßgarten, am Pfingsttage an den Prassnenskiteichen, und fast an jedem Wochentage auf dem Twerschen Boulevard. Im Winter besuchten sie das adlige Kasino, gaben Diners und waren im Theater auf eine Loge abonnirt.

Allein die schreckliche Einförmigkeit erfüllt jeden mit Widerwillen vor den Moskauer Vergnügungen. Wie es im vorigen Jahre war, so ist es in diesem und im zukünftigen; wie uns damals der dicke Kaufmann mit dem prachtvollen Kaftan und der Frau mit den schwarzen Zähnen und allen möglichen Schmucksachen begegnete, so auch unfehlbar in diesem Jahre, nur daß der Kaftan etwas älter, der Bart des Kaufmanns etwas weißer, die Zähne seiner Frau noch schwärzer geworden sind; so wie wir damals dem Stutzer mit dem martialischen Schnurrbart und dem hanswurstartigen Ueberrock begegneten, so auch in diesem Jahre – nur daß der Stutzer noch hagerer und abgelebter aussieht; wie damals auf der Promenade der mit Schnupftabak bedeckte Gichtkranke spazieren geführt wurde, so auch in diesem Jahre . . . Schon das konnte einen veranlassen, sich zu Hause in sein Zimmer einzuschließen.

Alexis Abramowitsch war ein Mensch, der viel vertragen konnte; allein des Menschen Kräfte haben ihre Grenzen. Länger als zehn Jahre vermochte er es nicht auszuhalten; ihn sowohl wie seine Glafira verzehrte die Langeweile. In diesen zehn Jahren hatten sie einen Sohn und eine Tochter erhalten, und nicht blos täglich sondern stündlich wurden sie schwerer; sie hatten keine Lust mehr, Toilette zu machen, sie fingen an sich mit dem häuslichen Anzug zu begnügen, und ich weiß nicht, wie es kam, aber ich glaube, es geschah vor allem, um vollkommene Ruhe zu haben: sie entschlossen sich, aufs Land zu ziehen. Das geschah vier Jahre vor der gelehrten Unterhaltung zwischen dem General und dem Hauslehrer.


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