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Es versteht sich von selbst, daß die Lebensbeschreibung des armen jungen Mannes nicht so interessant sein kann wie die des Alexis Abramowitsch und seiner Familie. Aus der Welt prachtvoller Equipagen müssen wir uns in eine Welt versetzen, wo man sich um das morgige Mittagsessen sorgt; aus Moskau begeben wir uns in eine ferne Provinzialstadt, und auch hier machen wir nicht auf der einzigen gepflasterten Straße Halt, auf welcher man bisweilen wirklich fahren kann, und wo die Aristokratie wohnt, sondern wir ziehen uns in eine ungepflasterte Quergasse zurück, durch welche man fast niemals weder gehen noch fahren kann; und dort suchen wir ein schwärzliches schiefes Häuschen mit drei Fenstern auf – das Häuschen des Kreisarztes Kruziferski, das bescheiden zwischen andern ebenso schwärzlichen und schiefen Häuschen steht.
Alle diese Häuschen werden bald niedergerissen und machen neuen Gebäuden Platz, und niemand wird ihrer ferner gedenken; und doch entwickelte sich in allen Leben, auch hier gährten Leidenschaften, Geschlecht folgte auf Geschlecht, und von allen diesen Existenzen weiß man ebenso wenig wie von den Wilden Australiens – als seien die Bewohner derselben gänzlich aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen.
Aber da ist das Häuschen, das wir suchten. In demselben wohnt seit dreißig Jahren ein braver ehrenhafter Greis mit seinem Weibe. Ihr Leben war ein beständiger Kampf mit allen möglichen Bedürfnissen und Entbehrungen; allerdings ist der Kreisarzt ziemlich siegreich aus dem Kampfe hervorgegangen, das heißt er ist nicht Hungers gestorben, er hat sich nicht aus Verzweiflung erschossen; aber der Sieg ist ihm theuer zu stehen gekommen. Mit fünfzig Jahren ist er grau und gebrechlich, sein Gesicht ist von Runzeln durchfurcht, und doch hatte ihn die Natur mit einem reichen Maß von Kraft und Gesundheit ausgestattet. Nicht stürmische Ausbrüche, nicht Leidenschaften, nicht gewaltsame Umwälzungen hatten diesen Körper erschöpft und ihm vor der Zeit das hinfällige Aussehen des Greises verliehen, sondern der fortwährende schwere kleinliche beleidigende Kampf mit der Noth, die Sorge um den folgenden Tag, ein in Entbehrungen und Kummer verbrachtes Leben.
In dieser untern Gesellschaftssphäre welkt die Seele hin, sie vertrocknet in der ewigen Unruhe, sie vergißt, daß sie Flügel hat, sie neigt sich beständig zur Erde und hebt den Blick niemals zur Sonne.
Das Leben des Arztes Kruziferski war eine langdauernde große Heldenthat auf einem finstern Gebiet, und der Lohn – das tägliche Brot in der Gegenwart mit der Aussicht, in der Zukunft kein Brot mehr zu haben.
Auf Staatskosten hatte er die Moskauer Universität besucht und sich den Doctorgrad erworben. Noch vor seiner Anstellung hatte er sich mit einer Deutschen, der Tochter eines Provisors verheirathet. Ihre Aussteuer bestand außer in ihrem guten hingebenden Herzen und ihrer Liebe, die sie nach deutscher Weise durch ihr ganzes Leben bewahrte, in ein paar Kleidern, welche nach Rosenöl und Rhabarber dufteten. Dem leidenschaftlich verliebten Studenten kam es gar nicht in den Sinn, daß er kein Recht habe auf Liebe und Familienglück, daß auch hierzu nur ein gewisser Census berechtigt – just wie man in gewissen constitutionellen Staaten sein Wahlrecht nie ohne einen gewissen Census ausüben kann.
Einige Tage nach seiner Hochzeit wurde Kruziferski zum Regimentsarzt bei der activen Armee ernannt. Acht Jahre lang vermochte er das Nomadenleben zu ertragen; im neunten wurde er desselben überdrüssig und bat um eine ruhigere Stellung. Es wurde ihm eine solche gegeben und Kruziferski schleppte sich mit Weib und Kindern von einem Ende Rußlands nach dem andern und ließ sich in der Gouvernementsstadt N. nieder.
Anfangs hatte er eine gewisse Praxis. Zwar lassen sich in den Gouvernementsstädten die Beamten und Gutsbesitzer am liebsten von Deutschen behandeln; aber zum Glück war außer einem Uhrmacher kein Deutscher vorhanden. Dies war Kruziferski's glücklichster Lebensabschnitt. Damals kaufte er sich das Häuschen mit den drei Fenstern, und seine Margarethe überraschte ihn zu seinem Geburtstage einst mit neuen Kattunüberzügen an Sopha und Sesseln, wozu sie sich das Geld nach und nach mühsam erspart hatte.
Der Kattun war ausgezeichnet. Auf dem Sopha jagte Abraham dreimal die Hagar mit dem Ismael in die Wüste, während Sarah ihnen drohend nachblickte; auf den Sesseln waren an der rechten Seite Abrahams, Hagars, Ismaels und Sarahs Füße und auf der linken ihre Köpfe zu sehen.
Aber diese glückliche Zeit dauerte nicht lange. Ein reicher Edelmann, dessen Gut in unmittelbarer Nähe der Stadt lag, brachte seinen Hausarzt mit sich, und dieser nahm Kruziferski seine ganze Praxis. Der junge Arzt verstand sich meisterhaft auf die Frauenkrankheiten, seine Patientinnen waren geradezu vernarrt in ihn. Er curirte alles mit Blutegeln und bewies in schöner Rede, daß nicht blos alle Krankheiten Entzündungen seien, sondern daß auch das Leben nichts anderes wäre als eine Entzündung der Materie.
Ueber Kruziferski äußerte er sich mit mörderischer Herablassung; mit einem Wort, er kam in Mode. Die ganze Stadt stickte ihm Kissen und Tabaksbeutel, Souvenirs und Andenken; den alten Arzt aber suchte man zu vergessen. Allerdings blieben die Kaufleute und Geistlichen Kruziferski treu; aber die Kaufleute wurden niemals krank; sie erfreuten sich Gott sei Dank ewiger Gesundheit, und wenn ihnen einmal etwas begegnete, so behandelten sie sich selbst und rieben sich im Bade mit allerlei schmutzigem Zeug, wie Terpentinöl, Thran und Ameisenspiritus ein, worauf sie dann stets wieder gesund wurden oder nach ein paar Tagen starben.
In beiden Fällen hatte Kruziferski nichts zu thun, während der Tod immer noch auf seine Rechnung kam, und der junge Doctor sagte jedesmal zu den Damen:
»Merkwürdig; Doctor Kruziferski ist doch ein sehr geschickter Arzt. Daß er nur nicht darauf kam, zehn Tropfen opii Sydenhamii in aqua destillata zu gebrauchen und fünfundvierzig Blutegel anzusetzen; dann wäre der Mann am Leben geblieben.«
Selbst die Frau des Gouverneurs war, wenn sie die lateinischen Worte hörte, überzeugt, daß der betreffende Patient am Leben geblieben wäre. So kam es nach und nach dahin, daß Kruziferski sich auf sein bloßes Gehalt beschränkt sah: dasselbe betrug, wenn ich nicht irre, vierhundert Rubel.
Er hatte fünf Kinder; das Leben wurde ihm schwer und immer schwerer. Jakob Kruziferski wußte gar nicht mehr, wie er seine Familie ernähren sollte. Da zeigte ihm das Scharlachfieber einen Ausweg. Drei seiner Kinder starben kurz nach einander. Es blieben ihm nur noch die älteste Tochter und der jüngste Sohn.
Wie es scheint, entging der Knabe dem Tode und der Krankheit vermöge seiner außerordentlichen Schwäche; er war vor der Zeit zur Welt gekommen und zwar mehr todt als lebendig. Schwächlich, hager und nervös, war er niemals krank aber auch niemals gesund. Das Unglück dieses Kindes hatte bereits vor seiner Geburt begonnen.
Damals, als Margarethe Karlowna mit ihm schwanger ging, schwebte über dem Haupte des Arztes ein schreckliches Unheil. Der Gouverneur hatte auf Kruziferski einen wüthenden Haß geworfen, weil dieser sich geweigert hatte, zu attestiren, daß ein Kutscher, der von seinem Herrn, einem Gutsbesitzer, zu Tode gepeitscht worden, eines natürlichen Todes gestorben sei.
Doctor Kruziferski stand am Rande des Verderbens und mit einem gewissen sanften heroischen Gram erwartete er voll Ergebung den furchtbaren Schlag – allein der Schlag ging an seinem Haupte vorüber.
In jener aufregenden Zeit voll beständiger Thränen kam der kleine Dmitri zur Welt und er allein hatte es zu büßen, daß der Kutscher zu Tode gepeitscht worden. Dieses Kind war Margarethens Augapfel; je kränklicher, je schwächlicher es schien, um so hartnäckiger war die Mutter bemüht, es am Leben zu erhalten; es war, als ob sie mit dem Kinde ihre Kräfte theilte. als ob ihre Liebe es belebte und es dem Tode entriß. Sie schien zu fühlen, daß es allein den Eltern bleiben würde, um ihre Stütze, ihre Hoffnung und ihr Trost zu werden.
Aber was war aus seiner Schwester geworden? Sie zählte siebzehn Jahre, als in N. ein Infanterieregiment im Quartier lag. Als es wieder abzog, zog auch die Tochter des Arztes mit einem gewissen Fähnrich von dannen. Nach einem Jahr schrieb sie aus Kijeff, bat die Eltern um ihre Verzeihung und ihren Segen und theilte ihnen mit, daß der Fähnrich sie geheirathet habe. Nach Verlauf eines weiteren Jahres schrieb sie aus Kischineff, daß sie von ihrem Mann verlassen sei und mit einem Kinde in der bittersten Noth lebe.
Der Vater schickte ihr fünfundzwanzig Rubel, dann bekam man nie wieder etwas von ihr zu hören.
Als der kleine Dmitri heranwuchs, wurde er auf das Gymnasium geschickt. Er lernte sehr gut. Da er immer schüchtern, sanft und still war, mochte ihn sogar der Inspector leiden, der es sonst als unvereinbar mit seinen amtlichen Pflichten betrachtete, Kinder zu lieben. Der Vater wollte ihm in der Kanzlei des Gouverneurs eine Anstellung suchen, wobei ihm der Secretär des Gouverneurs, dem er seine ewig scrophulösen Kinder umsonst behandelte, seine Protection versprach.
Da plötzlich öffnete sich Dmitri eine andere Laufbahn. Ein gewisser Mäcen und Geheimrath kam auf der Reise von seinem Landsitz nach Moskau durch das Städtchen N. Der Director des Gymnasiums, der das Talent besaß, die Ankunft von Geheimräthen zu erfahren, bat den Mäcen um die hohe Ehre, dem Garten und der Pflanzstätte vaterländischer Aufklärung doch seinen Besuch abzustatten.
Der Mäcen verspürte dazu keine Lust; aber er war ein Freund von treuherzigen und zugleich ehrfurchtsvollen Empfangsbegrüßungen. Der Director empfing ihn in Uniform mit dem Hut unter dem Arm und dem Paradedegen um die Hüften. Die Schüler waren in einer schnurgeraden Colonne aufgestellt, die Lehrer erschienen stark frisirt, den Hals fest mit einer Kravatte eingeschnürt und mit bekümmerten Gesichtern. Der Lehrer der Physik erbat sich von Seiner Excellenz die Erlaubnis, unter der Kappe einer pneumatischen Maschine ein Kaninchen und mit einer elektrischen Flasche eine Taube tödten zu dürfen. Der Mäcen bat für diese Thiere um Schonung, wobei der Director sämmtliche Lehrer und Schüler voll Rührung anblickte, als hätte er sagen wollen:
»Wie wahre Größe sich doch stets mit Milde paart.«
Die Taube und das Kaninchen blieben nun vorläufig in einer Truhe am Leben, bis der Professor der Physik sie dennoch und zwar zum größten Vergnügen der ganzen Stadt der Wissenschaft und der Aufklärung zum Opfer brachte. Dann trat einer der Schüler vor und der Lehrer des Französischen fragte ihn, ob er nichts zu sagen habe anläßlich des hohen Besuchs, mit dem die Pflanzstätte der Wissenschaft beehrt worden. Der Schüler begann sofort in einer Art französisch-kirchenslawischem Kauderwelsch: »Komann tuwon nu power anfan remersier lilüster Visitor?«
Als während dieser keltoslawischen Rede der Mäcen zufällig das kränklich zärtliche Gesicht Dmitris bemerkte, rief er ihn zu sich und redete ihn freundlich an.
Der Director sagte, er sei ein ausgezeichneter Schüler und würde es weit bringen können; doch sein Vater habe nicht die Mittel, ihn nach Moskau auf die Universität zu schicken u. s. w.
Der Mäcen bewährte sich als Mäcen und sagte zu Dmitri, in vier bis sechs Wochen komme sein Verwalter auf der Reise nach Moskau durch N.; wenn seine Eltern damit einverstanden seien, solle der Verwalter Dmitri mit nach Moskau bringen, und er würde ihm dann unter den Kindern des Verwalters ein Plätzchen anweisen.
Der Director schickte sofort den Gymnasialschreiber zum Doctor Kruziferski. Dieser fand den Mäcen bereits in seinem Wagen. Der Greis war wahrhaft gerührt, weinte wie ein Kind und dankte dem hohen Gönner in einfacher kurzer abgebrochener Rede.
Der Mäcen wies auf einen breitschultrigen Mann, der gerade die Riemen an dem Wagen festschnüren half und sagte:
»Das ist mein Verwalter, er wird Ihren Sohn nach Moskau bringen.«
Sprach's und fuhr mit gnädigem Lächeln ab.
Vier Wochen später verließ eine Kibitke mit Glöckchen das Haus des Doctors Kruziferski, und in derselben saß Dmitri, bedeckt mit einem Shawl und von der Mutter in Tücher und warme Kleider gehüllt; neben ihm der Verwalter im einfachen Rock; denn auf Reisen zog er es vor, sich innerlich zu wärmen.
Von welchen Zufälligkeiten hängt doch des Menschen Schicksal ab! Wäre der Mäcen nicht durch N. gekommen, so würde Dmitri in die Kanzlei des Gouverneurs gerathen sein und unsere Erzählung wäre ungeschrieben geblieben, Dmitri aber würde mit der Zeit der erste Gehilfe des Kanzleisecretärs geworden sein und mit Gott weiß welchem Gehalt seine alten Eltern ernährt haben, – und Kruziferski und seine Margarethe hätten in ihren alten Tagen einmal ruhig aufathmen können.
Mit Dmitri's Abreise trat im Leben des alten Paares eine vollständige Wendung ein. Sie waren nun allein, in ihrem Häuschen ward es noch stiller, noch trauriger. Selbst der Verwalter des Mäcen, ein keineswegs nervenschwacher Mensch, verspürte etwas wie Thränen in seinen Augen, als die Alten von ihrem Sohne Abschied nahmen.
Ein armer Vater verabschiedet sich nie so, wie ein reicher. Er sagt zu seinem Sohne: »Gehe hin, mein Kind, und suche dir dein Brot, ich kann nichts mehr für dich thun; bahne dir einen Weg durchs Leben und vergiß unser nicht!«
Und ob sie sich jemals wiedersehen, ob er sein Brot finden wird – das ist in tiefes, schwarzes Dunkel gehüllt . . . Der Vater möchte seinem Sohne etwas mehr auf den Weg geben, aber er vermag es nicht; zehnmal berechnet er, wie viel er noch von seinen baaren achtzig Rubeln abziehen könne und alles scheint ihm zu wenig. Und die Mutter vergießt soviel Thränen über dem armseligen Ränzel, in welches sie ihre unentbehrlichsten Sachen gepackt hat, aber sie begreift, daß das alles noch nicht ausreiche; und doch weiß sie nicht, wo sie mehr hernehmen soll . . .
Das sind Scenen aus dem Bürgerstande, die der Welt nicht bekannt sind, die sich sorgfältig fremden Blicken entziehen, aber sie sind himmelschreiend, herzzerreißend! Und es ist gut, daß sie verborgen bleiben! Nach vier Jahren wurde der junge Kruziferski Candidat. Er war weder mit besonderen glänzenden Fähigkeiten, noch mit schneller Fassungsgabe ausgestattet, aber wegen seiner Liebe zur Wissenschaft und seines unermüdlichen Fleißes hatte er den erhaltenen Grad vollständig verdient. Wenn man sein sanftes Gesicht ansah, konnte man auf den Gedanken kommen, daß sich aus ihm ein sanftes germanisches Wesen entwickeln würde – eines jener stillen edlen Wesen, welche sich glücklich fühlen in ihrer etwas beschränkten aber außerordentlich emsigen gelehrten pädagogischen Thätigkeit, in ihrem etwas engen Familienkreise, in welchem der Mann nach zwanzig Jahren noch in seine Frau verliebt ist; und die Frau bei jedem zweideutigen Scherz noch erröthet, – eines jener Wesen, wie man sie in den kleinen patriarchalischen Städten Deutschlands, in den Pastorenfamilien, unter den Seminarlehrern findet – reine sittliche außerhalb ihres Kreises fast gar nicht bemerkte Menschen . . .
Ob bei uns in Rußland ein solches Leben möglich ist? Ich bin der festen Ueberzeugung, daß das nicht der Fall; unserem Herzen entspricht eine so bescheidene mittlere Sphäre nicht; es vermag seinen Durst mit so dünnem Trunk nicht zu stillen: unser Leben liegt entweder weit höher oder weit niedriger – jedenfalls aber ist es breiter.
Als Kruziferski Candidat geworden, versuchte er zunächst an der Universität eine Stelle zu erhalten, dann wollte er's mit Privatunterricht versuchen, aber all seine Bemühungen hatten keinen Erfolg. Von seinem Vater hatte er gleichsam das Mißgeschick bei all seinen Unternehmungen geerbt . . . Einige Monate, nachdem Kruziferski's Beförderung zum Candidaten mit Pauken und Trompeten verkündet worden, erhielt er von seinem alten Vater einen Brief, worin dieser ihm mittheilte, die Mutter liege schwer krank darnieder und dabei zart andeutete, daß seine Eltern sich in bedrängten Verhältnissen befänden. Er kannte den Charakter seines Vaters und begriff, daß nur die schrecklichste Noth ihn hätte veranlassen können, eine solche Anspielung zu machen. Kruziferski hatte sein letztes Geld ausgegeben; nur ein Mittel blieb ihm noch: er hatte einen Gönner, der Professor einer gewissen »Gnosis« war; dieser hatte ihm eine herzliche Theilnahme bewiesen, und so schrieb er demselben einen offenen herzigen, tief empfundenen rührenden Brief und bat ihn um ein Darlehen von hundertundfünfzig Rubel.
Der Professor antwortete in der höflichsten Weise, zeigte sich durch den Brief gerührt, aber Geld schickte er nicht. In einer Nachschrift tadelte es der gelehrte Mann in dem liebenswürdigsten Tone, daß er sich niemals an seinem Mittagstisch einfinde.
Der junge Mann war von dieser Zuschrift im höchsten Grade betroffen – so wenig wußte er die Menschen oder besser gesagt das Geld zu schätzen! Es war ihm sehr schwer ums Herz. Er warf den liebenswürdigen Brief des wackeren Professors auf den Tisch, schritt eine Zeitlang in seinem Stübchen auf und ab und ganz vernichtet von Gram und Bitterkeit sank er auf sein Bett. Still flossen ihm die Thränen über die Wangen. Lebhaft sah er ein ärmliches Zimmer vor sich und in demselben seine leidende, schwache, vielleicht sterbende Mutter – und an ihrer Seite ein von Gram gebeugter und geknickter Greis. Die Kranke verlangt nach irgend etwas, sie verlangt so sehnlich danach – aber sie verheimlicht es, um den Kummer des Mannes nicht zu vergrößern, und dieser erräth es und läßt es nicht merken, daß er es errathen, aus Furcht, es ihr abschlagen zu müssen . . .
Geehrter Leser, wenn du reich oder wenigstens »versorgt« bist, so danke dem Himmel aus innerster Seele und bringe ein Hoch aus auf deine Erbschaft – ein Hoch auf dein wohlerworbenes Vermögen!
In diesem schweren Augenblick öffnete sich die Thür des Candidaten und eine eigentümliche, offenbar nicht hauptstädtische Gestalt trat in das Stübchen des Candidaten und nahm eine dunkle Mütze mit einem gewaltigen Schirm vom Haupte. Dieser Schirm beschattete das gesunde rothwangige fröhliche Gesicht eines älteren Mannes. Seine Züge drückten epikuräische Ruhe und Gutmüthigkeit aus. Er hatte einen etwas abgetragenen zimmetbraunen Ueberrock mit einem Kragen an, wie sie damals nicht mehr getragen wurden, in der Hand ein Bambusrohr und im übrigen, wie bereits bemerkt, ein entschieden provinziales Aussehen.
»Sind Sie Herr Kruziferski, Candidat der hiesigen Universität?«
»Ja, zu dienen,« antwortete Dmitri Jakowlewitsch.
»Dann gestatten Sie mir, Herr Candidat, mich zunächst zu setzen; ich bin älter als Sie und habe einen weiten Weg zu Fuß gemacht.«
Mit diesen Worten wollte er sich auf einen Stuhl setzen, auf dessen Lehne ein Interimsrock hing. Aber es zeigte sich, daß dieser Stuhl nur die Kraft hatte, die Last eines Rockes, aber nicht eines Menschen mit einem Rocke zu tragen; Kruziferski wurde verlegen und bat seinen Besuch, sich auf das Bett zu setzen, während er selbst auf dem zweiten (und letzten) Stuhle Platz nahm.
»Ich,« begann der Besucher mit erschreckender Langsamkeit, »bin der Inspector der Medicinalbehörde zu N., Doctor der Medicin Krupoff und komme in folgender Angelegenheit zu ihnen . . .«
Der Inspector war ein Mann von Methode und so hielt er zunächst inne, zog eine große Tabaksdose hervor, legte dieselbe neben sich und nahm dann ein rothes Taschentuch und legte dasselbe neben die Tabaksdose; hierauf zog er ein weißes Taschentuch zum Vorschein, wischte sich damit die Stirn und fuhr, nachdem er eine Prise genommen in folgender Weise fort:
»Am gestrigen Tage war ich bei Anton Ferdinandowitsch . . . wir haben zusammen die Universität verlassen . . . Nein, verzeihen Sie, er verließ sie ein Jahr früher als ich . . . Ja, ganz recht, ein Jahr früher . . . Wir waren stets gute Freunde und Kameraden . . . und da komm ich nun zu ihm und frage ihn, ob er mir nicht einen guten Lehrer für eine Familie in unserm Gouvernement anweisen könnte, die Bedingungen, sagt' ich, sind die und die, verlangt wird, sagt' ich, das und das. Da gab mir Anton Ferdinandowitsch Ihre Adresse und sprach sich, ich muß es offen gestehen, sehr schmeichelhaft über Sie aus; wenn Ihnen also die Bedingungen gefallen, so könnten wir die Sache sofort erledigen.«
Anton Ferdinandowitsch war eben jener Professor, den Kruziferski als seinen Gönner betrachtete; er hatte in der That eine besondere Vorliebe für den jungen Mann, nur daß er, wie wir gesehen, sein Geld nicht riskiren mochte – zu Empfehlungen dagegen war er stets bereit.
Der schwerfällige Doctor Krupoff erschien Kruziferski wie ein Engel vom Himmel. Er theilte ihm sofort seine Lage mit und sagte zum Schluß, daß es für ihn keine Wahl gebe und daß er die Stelle mit Dank annehme.
Krupoff zog ein Mittelding zwischen Notizbuch und Kästchen aus der Tasche und nahm daraus einen Brief hervor, der darin in Gemeinschaft mit krummen Scheeren, Lanzetten und Sonden ruhte und las:
»Bieten Sie dem Betreffenden zweitausend Rubel jährlich, höchstens zweitausendfünfhundert, da für dreitausend Rubel mein Nachbar schon eine schweizer Französin hat. Besonderes Zimmer, Morgens Thee, Bedienung und Wäsche wie gewöhnlich. Mittags speist er mit uns.«
Kruziferski stellte keinerlei Bedingungen, sprach mit tiefer Röthe von der Geldangelegenheit und erkundigte sich, was er zu thun habe, und gestand offen, er hege eine tödtliche Scheu davor, ein fremdes Haus zu betreten und andere fremde Menschen zu sehen. Krupoff war gerührt und redete ihm Muth ein; vor den Negroffs brauche er durchaus keine Angst zu haben . . .
»Gevatter brauchen Sie da nicht zu stehen, Sie geben dem Jungen Unterricht, und nicht dem Vater, und die Mutter brauchen Sie nur bei Tisch zu sehen. Der General wird Ihnen in pecuniärer Hinsicht keine Schwierigkeiten machen; seine Frau schläft in einem fort, wird Ihnen also ebenfalls nichts zu Leide thun, es sei denn im Schlaf. Sie können mir's glauben, das Negroff'sche Haus ist nicht schlechter – na offen gestanden, auch nicht besser als alle andern adeligen Häuser auf dem Lande.«
Kurz, der Handel wurde geschlossen; Kruziferski nahm die Hauslehrerstelle für zweitausendfünfhundert Rubel jährlich an. Der Inspector hatte sich in dem Provinzialleben abgestumpft, war jedoch im Uebrigen ein Mann von Herz. Nachdem bittere Erfahrungen ihn gelehrt, daß alle schönen Gedanken und großen Worte vorläufig nur Gedanken und Worte bleiben, hatte er sich für immer in N. niedergelassen und sich nach und nach angewöhnt, langsam zu sprechen, und zwei Taschentücher zu tragen, ein rothes und ein weißes. Nichts verdirbt den Menschen so sehr, wie das Leben in der Provinz.
Allein nun war er nicht ganz abgestorben; nun konnten seine Augen funkeln und blitzen. Mancherlei Erinnerungen erwachten in Krupoffs Seele beim Anblick dieses edlen reinen Jünglings; er erinnerte sich der Zeit, da er im Verein mit Anton Ferdinandowitsch über eine vollständige Umwälzung der Medicin nachgrübelte, da er mit dem Plane umging, zu Fuße nach Göttingen zu wandern . . . Er mußte bitter lächeln bei diesen Erinnerungen . . . Als die Sache erledigt war, ging ihm auf einmal der Gedanke durch den Kopf, ob er wohl daran thue, diesen Jüngling in das dumme Leben eines halbwilden Gutsbesitzers hineinzustoßen. Sogar der Gedanke kam ihm, in dem Sinne ihm aus seiner eigenen Tasche Geld zu geben und in ihn zu dringen, Moskau nicht zu verlassen; vor fünfzehn Jahren würde diesem Gedanken die That gefolgt sein, aber alten Händen wird es sehr schwer, in die Taschen zu fassen und den Beutel zu ziehen. »Schicksal, Schicksal!« dachte Krupoff und damit beruhigte er sich.
Seltsam, daß er in diesem Falle just so handelte, wie seit uralten Zeiten die Menschheit gehandelt hat. Auch Napoleon redete vom Schicksal – ein ganz sinnloses Wort; darum übt es auch eine so tröstliche Wirkung.
»Also die Sache ist erledigt,« sprach der Inspector nach kurzem Schweigen; »in fünf Tagen reise ich nach Hause und es sollte mich freuen, wenn Sie einen Platz in meinem Wagen annehmen wollten.«