Alexander Herzen
Wer ist schuld?
Alexander Herzen

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Zweites Kapitel.

Ihr habt wahrscheinlich schon längst das Dasein zweier jungen Leute vergessen, welche durch die lange Episode ganz in den Hintergrund gedrängt worden sind – Lubonka und den schüchternen lieben Kruziferski.

Aber inzwischen hat sich in ihrem Leben sehr viel zugetragen. Als wir sie verließen, waren sie fast Braut und Bräutigam, und jetzt finden wir sie als Mann und Frau wieder; ja noch mehr: sie führen jetzt einen dreijährigen Bambino, den kleinen Jascha an der Hand.

Von diesen vier Jahren ist nichts zu erzählen. Sie waren glücklich und still und heiter ging ihnen die Zeit dahin. Das Glück der Liebe, namentlich einer erfüllten, belohnten, aber von unruhiger Erwartung freien Liebe ist ein Geheimnis – ein Geheimnis, das nur zweien gehört; da ist ein dritter überflüssig, da bedarf es keiner Zeugen. In diesem ausschließlichen Eingeweihtsein nur zweier Menschen liegt der besondere Reiz und das Unaussprechliche gegenseitiger Liebe.

Die äußere Geschichte ihres Lebens läßt sich wohl erzählen, ist aber nicht der Mühe werth, tägliche Sorgen, Mangel an Geld, Streitigkeiten mit der Köchin, Einkauf von Möbeln, dieser ganze äußere Staub setzte sich auch ihnen an, wie jedem andern und belästigte sie, wurde aber einen Augenblick später spurlos verwischt und ließ kaum eine Erinnerung zurück. Kruziferski hatte durch Krupoff die Stelle eines Oberlehrers an einem Gymnasium erhalten, gab Unterricht und traf dabei auch solche Eltern, die vollständig bezahlten – und somit konnten sie in N. bescheiden leben und etwas anderes wünschten sie sich nicht.

Negroff hatte, so sehr ihm Krupoff auch zugeredet, nicht mehr als zehntausend Rubel zur Aussteuer gegeben; aber dagegen übernahm er die vollständige Einrichtung der jungen Leute; diese schwierige Aufgabe löste er ziemlich geschickt: er schaffte alles das aus seinem Hause und seiner Vorrathskammer zu den Neuvermählten, was er gar nicht mehr brauchen konnte – wahrscheinlich in der Meinung, daß gerade dies die Neuvermählten nöthig hätten.

Auf diese Weise gelangte der historische Wagen, über welchen Negroff zu derselben Zeit nachdachte, da Glafira Lwowna über die unglückliche Tochter seiner sündigen Liebe nachgrübelte, nur mit gebrochenen Federn, einer erheblichen Wunde an der Seite und mit großer Mühe auf den kleinen Hof Kruziferski's. Da kein Schuppen vorhanden war, so diente die Kutsche den frommen Hühnern lange als Zufluchtsort.

Negroff schickte seinem Schwiegersohne auch ein Pferd, aber unterwegs starb es urplötzlich, was der armen Mähre während eines zwanzigjährigen untadelhaften Dienstes noch niemals passirt war. Ob nun seine Zeit um war oder ob es sich dadurch beleidigt fühlte, daß der Bauer, der, sobald er vom Herrenhause nicht mehr gesehen werden konnte, es in die Deichsel spannte und sein eigenes Pferd nebenher gehen ließ – gleichviel, es starb; und der Bauer fühlte sich davon so ergriffen, daß er ein halbes Jahr flüchtig war.

Aber eines der besten Geschenke machte Negroff den Neuvermählten am Tage der Abreise. Er ließ den Nikolaschka und die Palaschka rufen – einen schwindsüchtigen Burschen von fünfundzwanzig Jahren und ein sehr pockennarbiges junges Mädchen. Als sie eintraten, nahm Negroff eine feierliche, ja sogar strenge Miene an.

»Macht eine tiefe Verbeugung!« sprach der General, »und küßt der Lubonka Alexandowna und dem Dmitri Jakowlewitsch die Hand.«

Der letztere Befehl war nicht sehr leicht auszuführen: das verwirrte junge Paar zog die Hand fort, erröthete, küßte sich und wußte nicht, was es beginnen sollte. Aber das Haupt der Gemeinde fuhr fort:

»Das ist eure neue Herrschaft –« diese Worte sprach er laut, mit einer Stimme, wie sie einer so hoch wichtigen Mittheilung angemessen war. »Dient ihr gut, und es wird euch gut ergehen.«

Ihr werdet euch erinnern, daß dies eine Wiederholung war.

»Nun und ihr habt Mitleid mit ihnen, seid freundlich gegen sie, wenn sie sich gut aufführen, hauen sie aber über die Schnur, so schickt sie nur zu mir, ich habe eine vortreffliche Uebungsschule für nichtsnutziges Gesindel, ich schicke sie euch seidenweich zurück. Aber ihr dürft sie auch nicht verwöhnen. Das ist meine Empfehlung, die ich euch auf den Weg mitgebe; ich weiß ja, ihr seid die Führung einer Wirtschaft noch nicht gewöhnt; wie wollt ihr mit freiem Dienstvolk auskommen? Der freie Diener ist bei uns zu Lande eine Bestie, er weiß, daß man ihm nichts anhaben kann, nimmt sich wie ein Herr einen Paß und geht auf und davon und sucht sich eine andere Stelle. – Nun verbeugt euch und geht!« schloß der General beredtsam seinen Vortrag.

Nikolaschka und Palaschka beugten sich noch einmal tief zur Erde und entfernten sich. Damit war die Geschichte ihres Eintritts in ihre neue Stellung zu Ende. An demselben Tage fuhren unsere Neuvermählten zur Stadt in Begleitung des hustenden Nikolaschka und der marmorirten Palaschka.

Dmitri und Lubonka richteten sich ihr Leben sehr angenehm ein. Sie machten so wenig Ansprüche an die Außenwelt, sie genügten sich einander so vollkommen, sie waren so sehr durchdrungen von gegenseitiger Sympathie, daß man sie leicht für Ausländer in N. hätte halten können; sie glichen so ganz und gar nicht alle dem, was sie umgab. Es ist sehr bemerkenswerth, daß es gutmüthige Leute giebt, welche uns Russen im allgemeinen und die Provinzbewohner im besonderen für patriarchalisch, für ganz besonders häuslich halten, während wir unser Familienleben nicht über die Schwelle der Bildung zu bringen vermögen; noch bemerkenswerther ist es vielleicht, daß, sobald wir des Familienlebens überdrüssig geworden, uns auch keinem andern Leben zuwenden; bei uns entwickelt sich weder die Persönlichkeit, noch öffentliche Interessen und die Familie verkommt.

In unserem Familienleben herrscht eine gewisse offizielle Förmlichkeit. Dieselbe besteht darin, daß man dasselbe wie in einer Theaterdecoration zeigt, und zankte nicht der Mann mit seiner Frau und tyrannisirten nicht die Eltern ihre Kinder, so würde niemand begreifen, was diese Menschen miteinander gemein haben und warum sie sich miteinander das Dasein sauer machen und zusammen leben. Wer sich bei uns am Familienleben erfreuen will, der muß es im Gastzimmer aufsuchen, aber sich nicht ins Schlafzimmer begeben. Wir sind keine Deutschen, welche in allen Zimmern volle dreißig Jahre gewissenhaft glücklich sind. Allerdings giebt es auch Ausnahmen, und eine solche Ausnahme bildete unser Paar. Die beiden jungen Leute richteten sich einfach und bescheiden ein, sie wußten nicht, wie andere lebten, sie lebten, so gut sie's verstanden; sie richteten sich nicht nach anderen, sie verschleuderten nicht ihre letzten spärlichen Mittel, um sich den Schein des Reichthums zu geben; sie machten nicht zwanzig, dreißig überflüssige Bekanntschaften, kurz, der Theil der künstlichen Bande der gegenseitigen Verfolgungen, die man »gesellschaftliches Leben« nennt, über das alle lachen und über das doch niemand sich hinwegzusetzen wagt, lernte man in dem Häuschen des bescheidenen Gymnasiallehrers nicht kennen. Dagegen versöhnte sich selbst Semen Iwanowitsch Krupoff mit dem Familienleben, wenn er seine »lieben Kinder« betrachtete.

Einige Tage nachdem Beltoff unzufrieden von einer Art Vorgefühl und dem Mangel an wirklichem Leben in der Stadt gequält mit finsterer Miene und mit den Händen in der Tasche umher streifte, hätte er in einem der Häuser, vor denen er voll Unzufriedenheit vorüberschritt, damals wie auch heut eines jener beruhigenden schönen Familienbilder sehen können, das in allen Zügen die Möglichkeit des Glückes auf Erden bewies.

Dieses Bild hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Sommerabend im Garten, wenn der Wind sich gelegt hat, wenn der Weiher von der Sonne vergoldet wie ein Metallspiegel sich ausbreitet, in der Ferne zwischen Bäumen ein kleines Dörfchen sich zeigt, wenn der Thau fällt und die Heerde mit ihrem ineinanderfließenden Chor von Geschrei und Getrappel und Geblök heimkehrt . . . und man aus innerstem Herzen schwören möchte, daß man sich sein ganzes Leben lang nichts Schöneres wünsche . . . und wie gut ist es, daß dieser Abend in einer Stunde vorüber ist, das heißt, für einige Zeit der Nacht weicht, damit er seinen Ruf nicht verliere, damit wir uns nach ihm zurücksehnen, bevor wir seiner überdrüssig geworden.

In einem kleinen reinlichen Zimmerchen saß auf dem Sopha Semen Iwanitsch Krupoff als einziger Ehrengast. Eine junge Frau stopfte ihm lächelnd die Pfeife, ihr Mann saß auf einem Sessel und betrachtete mit milder Ruhe und Liebe bald die Frau, bald den Greis. Einen Augenblick darauf kam das dreijährige Kind in das Zimmer und begab sich direct, das heißt unter dem Tische hin zu Krupoff, den es sehr lieb hatte wegen seiner Repetiruhr und wegen der beiden Petschafte, die ihm unter der Weste hervorhingen.

»Guten Tag, Jascha,« sagte Semen Iwanitsch, seinen Freund unter dem Tische hervorziehend und ihn sich aufs Knie setzend.

Jascha griff nach dem Petschaft und zog die Uhr aus der Tasche.

»Er stört Sie beim Theetrinken und Rauchen, geben Sie ihn mir,« sagte die Mutter, fest überzeugt, daß ihr Jascha niemanden zu stören vermochte.

»Bitte, lassen Sie ihn nur; ich entferne ihn schon selbst, wenn ich seiner überdrüssig bin, –« und Semen Iwanitsch nahm die Uhr und ließ sie schlagen.

Jascha hörte das Schlagen mit Entzücken an, hielt dann die Uhr Semen Iwanitsch und dann der Mutter ans Ohr, und als er die unzweifelhaften Zeichen ihres Erstaunens sah, hielt er sie sich selbst an den Mund.

»Kinder sind doch ein großes Glück im Leben,« sagte Krupoff; »namentlich für einen so alten Gesellen wie ich bin, ist es eine wahre Wonne, ihr Krausköpfchen zu streicheln und in solche hellen Augen zu blicken. Wirklich, man verroht nicht, man stumpft nicht so sehr ab, wenn man eine solche junge Pflanze ansieht. Aber offen gestanden, ich bedaure es doch nicht, daß ich selbst keine Kinder habe . . . Und was verschlägt's auch? Da hat mir ja Gott einen Enkel gegeben; werde ich alt, so verdinge ich mich bei ihm als Wärterin.«

»Wärterin du!« bemerkte Jascha mit sehr zufriedenem Gesicht nach der Thür zeigend.

»Nimm mich zur Wärterin,« sagte Krupoff.

Jascha machte Miene, darauf mit einem furchtbaren Schrei zu antworten, aber die Mutter kam ihm zuvor, indem sie seine Aufmerksamkeit auf einen goldenen Knopf an Krupoffs Frack lenkte.

»Ja ich mag die Menschen überhaupt gern leiden,« fuhr der Greis fort, »und als ich jünger war, mochte ich auch ein hübsches Gesichtchen gern leiden, wahrhaftig, ich bin sogar fünf Mal verliebt gewesen; aber das Familienleben war mir zuwider. Der Mensch kann doch nur allein ruhig und frei leben. In dem Familienleben ist alles wie absichtlich so eingerichtet, daß die unter einem und demselben Dache Wohnenden sich gegenseitig das Leben sauer machen – unwillkürlich gehen sie auseinander; wohnt man nicht zusammen, so vereint sie ewige unendliche Freundschaft; aber das Zusammenleben ist eine Bürde.«

»Genug, Semen Iwanitsch,« versetzte Kruziferski. »Was Sie da wieder reden! Eine ganze Seite des Lebens, ja die schönste, die voll Glück und Seligkeit ist Ihnen unbekannt geblieben. Und was haben Sie von Ihrer Freiheit, von dieser Freiheit, die weiter nichts ist, als Mangel an Empfindung, als Egoismus.«

»Da bist du wohl in deinem Element. Aber ich habe es dir schon oft gesagt, Dmitri Jakowlewitsch, mit dem Wort Egoismus machst du mir nicht bange. Welch ein Wort: »Mangel an Empfindung« – als wenn nur das Empfindung auf Erden wäre, daß der Mann mit der Frau und die Frau mit dem Mann Abgötterei treiben, als daß sie in eifersüchtigem Verlangen einander sich so verschließen, daß dem Nächsten nichts mehr übrig bleibt; – als ob man nur eigenes Leid beweinen, nur über eigenes Glück sich freuen könnte. Nein, mein Lieber, wir kennen deine opferfähige Liebe; ich will mich nicht brüsten, aber da einmal die Rede darauf gekommen ist: wenn man zum Beispiel zu einem Kranken kommt und das Herz zieht sich einem zusammen: es stand schlecht, man tritt ängstlich ans Bett – eins, zwei, drei, der Puls schlägt besser und der Kranke schaut einem mit matten Augen an und drückt einem die Hand. – Nun Freundchen, das ist auch Empfindung! Egoismus? – Aber wer außer Verrückten ist denn nicht Egoist? nur daß der eine es gerade heraus ist, während der andere – wißt ihr, wie es im Sprichwort heißt: ›Derselbe Hecht, nur mit Meerrettig.‹ Alles in allem giebt es keinen beschränkteren Egoismus als den Familienegoismus.«

»Ich weiß nicht, Semen Iwanitsch, warum Sie das Familienleben so schrecklich finden, ich bin nun gerade vier Jahre verheirathet, aber ich fühle mich ganz frei, und ich sehe weder von meiner noch von seiner Seite irgend welche Opfer oder Bedrängnisse,« sagte Frau Kruziferski.

»Wem es einmal geglückt ist, die Bank zu sprengen, der lobt das Spiel; Wunder giebt es genug auf der Welt; ihr seid eine Ausnahme – das freut mich sehr, aber das beweist nichts; vor zwei Jahren fiel unserem Schneider – ihr kennt ihn ja: der Schneider Paukratoff auf der Moskauerstraße – ein Kind aus dem Fenster des zweiten Stockes hinunter aufs Pflaster; und nun glaubt ihr wohl, der Kleine habe sich zerschmettert? durchaus nicht! natürlich blaue Flecken und Contusionen, aber weiter nichts. Nun wollt ihr nicht so freundlich sein und einen andern Knaben hinauswerfen? Ja, und auch hier nahm die Sache eine üble Wendung, das Kind bekam die Auszehrung.«

»Das ist doch nicht etwa eine böse Prophezeiung für uns?« fragte Frau Kruziferski und legte dem Doctor die Hand auf die Schulter; »ich fürchte Ihre Prophezeiung nicht mehr, seitdem Sie meinem Mann so schreckliche Folgen von unserer Ehe vorhergesagt.«

»Aber schämen Sie sich denn nicht, mir darum noch zu zürnen? Und diese Plaudertasche mußte auch alles wieder erzählen – ein netter Mann! Nun Gott sei Dank, daß ich mich als Lügenprophet bewährt habe. Ich bitte, vergeßt das. Wer an Vergangenes erinnert, verliere ein AugeRussisches Sprichwort. und wäre es auch ein so wunderbar schönes Auge wie das da.« Und er zeigte mit dem Finger auf Lubonka.

»Wie gefällt dir Semen Iwanitsch – nun macht er auch noch Complimente!«

»Ich will Ihnen noch schönere und noch mehr Complimente sagen: Indem ich euer Zusammenleben beobachtet, habt ihr mich wirklich einigermaßen mit dem Familienleben versöhnt, aber vergeßt nicht, daß ich sechszig Jahre auf den Schultern habe und in eurem Hause – nicht in Romanen, nicht in Geschichten zum ersten Male gesehen, daß es wirklich Familien giebt. Solche Beispiele findet man nicht zu oft.«

»Aber vielleicht,« antwortete die junge Frau, »vielleicht sind andere Paare unbemerkt an Ihnen vorübergegangen; der wahren Liebe ist es durchaus nicht darum zu thun, sich zu zeigen; aber haben Sie auch gesucht? und wie gesucht? am Ende ist es einfach nur Zufall, daß Ihnen so wenig Menschen begegnet sind, die glücklich in ihrer Familie leben. Und vielleicht, Semen Iwanitsch,« fügte sie mit jener spöttischen Ironie, ja sogar mit einer Art Unzartheit hinzu, wie sie immer dem glücklichen Menschen eigen ist, »vielleicht meinen Sie, Sie müßten Ihre angenommene Rolle durchführen, Sie glauben, wenn Sie jetzt geständen, Sie hätten Unrecht gehabt, so würden Sie Ihrem ganzen Leben das Urtheil sprechen, während Sie zugleich wissen, daß Sie es nicht wieder gut machen können.«

»O nein,« versetzte der Greis mit Wärme, »in der Beziehung seien Sie unbesorgt, niemals werde ich das Geschehene bereuen; zunächst darum nicht, weil es dumm ist, sich über etwas zu grämen, das niemals wiederkehrt, und dann bin ich ein alter Greis, ich will mein Leben ruhig beschließen, während ihr das eurige erst schön beginnt.«

»Ich weiß nicht,« entgegnete Kruziferski, »warum Sie die letztere Bemerkung gemacht haben; aber sie findet in meinem Herzen einen starken Widerhall; sie bringt mich auf einen jener unabweisbaren überaus traurigen Gedanken, die im Stande sind, uns selbst Augenblicke des größten Entzückens zu verbittern. Manchmal bangt mir um mein Glück; wie der Besitzer ungeheurer Reichthümer fange ich an vor der Zukunft zu zittern. Wie wenn – –«

»Wenn Sie nur nichts herausrechnen wollten! ha ha ha, ihr Schwärmer! wer mißt denn euer Glück, wer lernt es denn kennen? Was ist das für eine kindliche Anschauung! Der Zufall und ihr selbst habt euch euer Glück gegründet – und darum gehört es euch, und euch für euer Glück zu strafen wäre Unvernunft. Natürlich kann auch dieser Zufall, dieser unvernünftige, unvermeidliche Zufall euer Glück vernichten; aber was kann nicht alles geschehen! Vielleicht sind die Balken dieser Decke verfault, vielleicht stürzen sie ein; nun, so wollen wir hinausgehen; aber wohin? draußen begegnet uns ein toller Hund, auf der Straße rennt uns ein Pferd um . . . Ja, wenn wir die Furcht vor allem möglichen Uebel an uns herankommen lassen, so ist es das beste, Opium zu nehmen und für alle Ewigkeit einzuschlafen.«

»Ich habe mich stets, Semen Iwanitsch, über die Leichtigkeit gewundert, mit der Sie das Leben hinnehmen: Das ist Glück, ja es ist mehr als Glück, aber es ist nicht allen gegeben. Sie sagen Zufall und beruhigen sich; ich aber vermag das nicht. Mir wird darum nicht leichter, wenn ich den unbekannten aber geahnten Zusammenhang dessen, was mir im Leben begegnet, Zufall nenne. Nichts im Leben geschieht ohne Zweck, alles hat einen tiefen Sinn, nicht umsonst haben Sie mich in meiner Dachstube entdeckt, es gab in Moskau Lehrer genug; warum fanden Sie gerade mich? geschah es nicht darum, damit ich das Werkzeug sei, das dieses hohe, reine Wesen befreien sollte? Und wovon ich nicht einmal zu träumen, an was ich nicht einmal zu denken wagte, das ging plötzlich in Erfüllung – meinem Glück fehlt nichts mehr. Wo wäre denn die Gerechtigkeit, wenn es mein ganzes Leben lang so fortgehen sollte? Ich ergebe mich in mein Glück, sowie andere sich in ihr Unglück ergeben, aber die Furcht vor der Zukunft vermag ich nicht los zu werden.«

»Das heißt, vor dem, was nicht vorhanden ist. Ich meinerseits muß sagen, ich habe sie niemals begriffen und werde sie auch wohl nie begreifen, diese krankhafte Einbildung, die einen Genuß darin findet, sich mit Träumereien abzuquälen und Unglück zu ersinnen und im Voraus sich darüber zu ängstigen. Ein solcher Charakter ist ein Unglück besonderer Art. Nun, wird man von Unglück und Elend heimgesucht, so weint man unwillkürlich und läßt den Kopf hängen; aber glauben, wenn man guten Wein trinken soll, man müßte darum morgen schlechten Kwaß trinken, – das ist ein Wahnsinn besonderer Art. Die Unfähigkeit, der Gegenwart zu leben, die Zukunft zu würdigen und sich ihr zu widmen, ist eine der moralischen Epidemien, die sich vorzugsweise in unserer Zeit entwickelt haben. Wir gleichen noch allen jenen Juden, die nicht essen und nicht trinken, die jeden Pfennig für die Zeit der Noth zurücklegen; und welche Noth uns auch heimsucht, wir rühren unsern Schatz nicht an. – Was ist das für ein Leben?«

»Ich bin ganz mit Ihnen einverstanden, Semen Iwanitsch,« sagte die junge Frau mit Wärme, »ich spreche oft davon mit Dmitri; wenn mir wohl ist, warum soll ich dann an die Zukunft denken? meinetwegen braucht es gar keine zu geben. Er selbst ist oft meiner Ansicht, aber ein geheimer Gram hat sich bei ihm so tief eingewurzelt, daß er ihn nicht zu überwinden vermag. Uebrigens,« fügte sie, ihren Mann heiter und liebevoll ansehend, hinzu, »warum braucht er das auch, auch diesen Gram liebe ich an ihm; es ist darin so viel Tiefes. Ich denke mir, Sie und ich, wir verstehen oder theilen wenigstens diese stille Trauer nicht, weil unser Charakter oberflächlicher, für äußere Eindrücke empfänglicher ist, und weil uns diese beschäftigen und ablenken; Sie begannen mit einer Gesundheit und schließen mit einem Grabgesange. Sie fingen so an, daß ich Ihnen die Hand küssen und zu Ihrem Manne sagen wollte: Das ist eine menschliche Auffassung des Lebens, aber Sie schlossen damit, daß Sie seine Träumereien für Tiefsinn erklärten; ein schöner Tiefsinn – sich zu quälen, wenn man genießen soll, und sich um Dinge härmen, die vielleicht niemals sein werden.«

»Semen Iwanitsch, warum sind Sie so absolutistisch angelegt? es giebt zarte Organismen, für welche es auf Erden kein volles Glück giebt, welche voller Selbstaufopferung bereit sind, alles hinzugeben; nur jenen Klageton können sie nicht hingeben, der im Innersten ihres Herzens ruht, und der ihnen in jedem Augenblick zur Verfügung steht . . . Mir geht oft der Gedanke durch den Kopf, man müsse aus gröberem Holz sein, um glücklich werden zu können; sehen Sie, wie ungetrübt glücklich zum Beispiel die Vögel und überhaupt die Thiere sind, – aber nur, weil sie weniger begreifen als wir.«

»Aber es ist recht unangenehm,« bemerkte der unerbittliche Krupoff, »ein Wesen mit einer höheren Natur zu sein, dem es beschieden ist, nicht höher und nicht tiefer zu leben, als auf der Erde. Ich muß gestehen, diese Höhe nehme ich für eine physische Störung, für eine Nervenkrankheit; man bade in kaltem Wasser, mache sich mehr Bewegung und die Hälfte aller überirdischen Träumereien wird vorübergehen. Sie, Dmitri Jakowlewitsch, haben von Geburt einen schwachen Körper; in schwachen Organismen sind die geistigen Fähigkeiten oft außerordentlich entwickelt, aber fast immer ein wenig schief, nach dem Abstracten, Phantastischen, Mystischen hin. Eben darum sagten die Alten: mens sana in corpore sano. Sehen Sie sich die bleichen, blonden Deutschen an. Warum träumen sie, warum lassen sie den Kopf hängen, warum weinen sie so viel? Das kommt von den Skrupeln und vom Klima; darum sind sie fähig, ganze Jahrhunderte über mystischen Controversen zu phantasiren, ohne es zu einer That zu bringen.«

»Nicht umsonst behauptet man, die Beschäftigung mit der Medicin gewöhne den Menschen an eine gewisse trockene materielle Lebensauffassung; ihr werdet so genau mit dem körperlichen Theil des Menschen bekannt, daß ihr darüber einen andern Theil vergeßt, dem das Secirmesser nicht beikommen kann und der allein der rohen Materie Sinn giebt.«

»Ach diese Idealisten,« sagte Semen Iwanitsch, der sichtlich ärgerlich zu werden anfing; »ewig kommen sie mit Ungereimtheiten. Wer hat Ihnen denn gesagt, daß die ganze Medicin nur aus Anatomie bestehe? Das denken Sie sich nur so und dann machen Sie sich darüber lustig. Rohe Materie . . . Ich kenne weder eine rohe noch eine feine, sondern nur eine lebendige Materie. Ihr heutigen Gelehrten seid so klug und doch so oberflächlich! Das ist unser alter Streit, da kommen wir nicht zu Ende, es ist besser, wir stecken ihn unter den Tisch . . . Seht nur, wie wir Jascha mit unserem dummen Gerede eingelullt haben – wie friedlich er schlummert! Schlafe, mein Kind! noch hat dein Papachen dich nicht die Erde und die Materie verachten gelehrt, noch hat er dir nicht vorgeredet, daß diese lieben Füße und diese Hände Lehmklümpchen seien, die dir ankleben. Lubonka Alexandrowna, bitte, lassen Sie doch diese Dummheiten sich nicht in ihm entwickeln; nun mit Ihrem Manne mögen Sie in Gottes Namen Nachsicht haben! aber das unschuldige Kind verderben Sie nur nicht mit diesen Dummheiten von frühe auf. Was wird sonst aus ihm? Ein Träumer! Dann sucht er bis in sein Greisenalter nach dem Paradiesvogel, während ihm inzwischen das wirkliche Leben entschlüpft. Habe ich nicht Recht? Da nehmen Sie ihn.«

Der Greis gab Jascha der Mutter, nahm seine Mütze und sagte, indem er langsam seinen Rock zuknöpfte:

»Ach da habe ich euch etwas zu erzählen vergessen: Dieser Tage habe ich einen sehr interessanten Mann kennen gelernt.«

»Wahrscheinlich Beltoff?« fragte die junge Frau. »Seine Ankunft hat eine solche Aufregung verursacht, daß auch ich durch die Frau Director von ihm gehört habe.«

»Ganz recht. Was die Leute hier aufregt, das ist nur sein Reichthum, aber er ist wirklich ein bedeutender Mann; alles weiß er, alles hat er gesehen – er ist sehr gescheidt, zwar ein wenig verwöhnt; na ihr wißt ja, wie's bei einem Muttersöhnchen zugeht, ihn hat ja nicht, wie unsereins die Noth erzogen; er hat ein sorgenfreies Leben geführt und jetzt vergeht er hier vor Langerweile und Mißmuth; ihr könnt euch vorstellen, wie's einem zu Muthe ist, wenn man aus Paris kommt.«

»Beltoff! . . . Aber erlauben Sie einmal,« sagte Dmitri Jakowlewitsch. »Der Name ist mir bekannt; besuchte er nicht zu meiner Zeit die Moskauer Universität? Ein Beltoff verließ dieselbe, als ich meine Studien begann; es hieß schon damals von ihm, daß er sehr begabt sei. Er hatte noch seinen Erzieher, einen Genfer um sich.«

»Ja dieser war's.«

»Ich erinnere mich seiner, wir waren ein wenig mit einander bekannt.«

»Ich bin überzeugt, er würde sehr erfreut sein, Sie wiederzusehen; in dieser Wüste einem gebildeten Menschen zu begegnen, ist für jeden ein großer Fund; und Beltoff hat, so viel ich bemerken konnte, gar kein Talent für Einsamkeit. Er muß sich aussprechen können, er verlangt nach Abwechselung, und jetzt krankt er förmlich an Vereinsamung.«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, so besuche ich ihn.«

»Ja, besuchen wir ihn, das wäre eine schöne That . . . doch nein, halt! So alt ich bin, kann ich doch noch eine Uebereilung begehen; mein Bester, er ist zu reich, als daß Sie ihn zuerst besuchen dürfen! Morgen sag' ich's ihm; hat er Lust, so kommen wir zusammen zu dir. Leb wohl, mein lieber Streithahn. Auf Wiedersehen.«

»Bringen Sie Ihren Beltoff morgen nur mit,« sagte Lubonka; »man hat mir so viel von ihm gesprochen, daß auch ich ihn sehen möchte.«

»Und es ist wahrhaftig der Mühe werth,« sprach der Greis und ging in das Vorzimmer hinaus.

Jedesmal zankte sich Krupoff mit den Kruziferskis, jedesmal wurde er böse und sagte, sie gingen immer mehr auseinander, – was jedoch durchaus nicht verhinderte, daß sie sich mit jedem Tage fester aneinanderschlossen. Doctor Krupoff ersetzte Kruziferski's Familie eine eigene Familie. Er führte dort ein Herzensleben, denn er besaß noch ein weiches Herz, und es ward ihm wohl, wenn er ihr Glück ansah.

Für Kruziferski und seine Frau repräsentirte Krupoff in der That das ältere Familienglied, den Vater, den Onkel, aber einen solchen Onkel, dem die Liebe und nicht die Rechte des Blutes die Befugnis gegeben haben, bisweilen zu zanken und zu brummen, – was beide ihm von Herzen verziehen; und sie fühlten sich traurig gestimmt, wenn sie ihn zwei Tage nicht zu sehen bekamen.

Am folgenden Tage gegen sieben Uhr abends brachte Semen Iwanowitsch in seinem mit einem gelben Teppich bedeckten und von einem Paar braunen Pferden gezogenen Schlitten Beltoff zu den Kruziferskis. Selbstverständlich war Beltoff außerordentlich froh, einen ordentlichen Menschen kennen zu lernen, und er dachte gar nicht daran, daß er den ersten Besuch machte.

Kruziferski und seine Frau waren ein wenig verwirrt. Krupoffs Lobsprüche, die Gerüchte über sein Leben im Auslande, ja sogar sein Reichthum – an das alles erinnerten sie sich dunkel, als er in das Zimmer trat. Dadurch erhielt ihre erste Begegnung etwas Gezwungenes. Aber das dauerte nicht lange. In seinen Manieren und Reden war Beltoff so offen, so einfach, und zudem besaß er einen solchen Takt und jene hohen Vorzüge, welche allen gebildeten und feinfühlenden Menschen eigen sind, – daß nach kaum einer halben Stunde sich ein angenehmer Ton in der Unterhaltung eingestellt hatte.

Selbst Lubonka, die so wenig an den Umgang mit Fremden gewöhnt war, ward unwillkürlich in das Gespräch mit hineingezogen. Kruziferski und Beltoff erinnerten sich ihrer Universitätsjahre, an eine Menge Anekdoten aus jener Zeit, an die Träumereien und Hoffnungen, die sie damals gehegt.

Schon längst war ihm nicht so wohl zu Muth gewesen, und er dankte Krupoff aufrichtig für diese Bekanntschaft, als dieser Beltoff wieder zu seinem Gasthof brachte.

»Nun,« fragte dann Semen Jwanowitsch Kruziferski und seine Frau, »wie hat euch der neue Bekannte gefallen?«

»Darnach braucht man schon gar nicht zu fragen,« antwortete Kruziferski.

»Mir hat er sehr gefallen,« sprach Lubonka zu Semen Iwanowitsch.

»War außerordentlich zufrieden damit, daß er allen eine Freude bereitet,« sagte Krupoff, und drohte Lubonka schelmisch mit dem Finger.

Sie erröthete.

Familienbilder sind verlockend, und da ich jetzt eins beendet, kann ich es mir nicht versagen, noch ein anderes zu entwerfen. Der innere Zusammenhang derselben, das kann ich euch versichern, wird später klar werden.


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