Paul Heyse
Jugenderinnerungen und Bekenntnisse
Paul Heyse

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1. Mein Elternhaus.

Wenn es für ein Findelkind ein erhebendes Gefühl ist, sich selbständig durch die Welt geschlagen zu haben, so hat doch das Bewußtsein, einem edlen Stamm wackerer Vorfahren entsprossen zu sein, einen höheren Wert, in dem Maße, als dankbare Pietät das kühle Selbstgefühl, niemand als sich selbst für sein Leben verpflichtet zu sein, an wärmender und beglückender Kraft überwiegt.

Freilich legt ja auch der Vorzug, trefflicher Eltern sich rühmen zu dürfen, dem Sohne Pflichten auf, die kein Ausruhen auf ererbten Lorbeeren gestatten, und mein Oberlehrer in der Quinta des Gymnasiums wußte, was er tat, als er mir in mein Schülerstammbuch (auf griechisch, das ich damals noch nicht verstand) die homerische Mahnung schrieb:

Immer der erste zu sein und vorzustreben den andern,
Ehre zu machen der Väter Geschlecht.

In mir aber war der Familiensinn, der allen Heyses im Blute liegt, noch besonders genährt worden, da ich zu dem stattlichen Bilde meines Großvaters in unserer Wohnstube von früh an mit Ehrfurcht aufblicken lernte. Auch von den Brüdern meines Vaters, dem Petersburger Großkaufmann LudwigDieser Onkel vor allen, ein warmherziger Mann von großem Zuschnitt, ließ es sich angelegen sein, auch in den entfernteren Zweigen der Familie das Gefühl der Zusammengehörigkeit wach zu erhalten. Im Jahre 1842 berief er einen Familienkongreß aller Heyses mit y – die sich mit i schreiben, haben wir nie als Stammverwandte anerkannt – nach Magdeburg, wo damals noch die zweite Frau meines Großvaters lebte, eine ehemalige Lehrerin an der Töchterschule, die nach dem Tode ihres Gatten noch ein Mädchenpensionat hielt. Da kamen zweiunddreißig Heyses, verschiedene halbverschollene Vettern, Landpfarrer und Landschullehrer, auf des Onkels Kosten mit ihren Frauen herbei, ärmliche Leutchen, sehr unbeholfen und verlegen, sich plötzlich in einem so großen Verwandtenkreise zu finden. Sie tauten dann aber auf, als bei dem solennen Festmahl im ersten Gasthof der Stadt der Champagner schäumte, den sie früher kaum je zu kosten bekommen hatten, und der Festgeber in seiner gütigen Art freute sich, ihnen einmal einen sonnigen Tag verschafft zu haben. Derselbe Onkel hatte auch den Kindern aus seinen beiden Ehen – er hatte nach dem Tode der ersten Frau ihre Schwester geheiratet – die Namen seiner eigenen Geschwister gegeben., Onkel Theodor in Italien, dem großen Griechen und Catullübersetzer, und dem Onkel Gustav in Aschersleben, der erst Bergmann, dann bis an sein Ende an der dortigen Realschule ein hochverehrter Lehrer war, von ihnen allen erfuhr ich, daß sie dem Geschlecht der Väter Ehre machten. Vor allem aber sah ich schon in der helldunklen Knabenzeit im eigenen Vater ein Vorbild alles Edlen und Guten, Selbstlosigkeit mit schlichtem Selbstgefühl gepaart und die Pflichttreue, mit der er eine große, ihm vom Vater überkommene Arbeitslast lebenslang auf Kosten seiner Gesundheit und eigener Lieblingsaufgaben trug. Höher hinauf erstreckte sich meine genealogische Kenntnis damals nicht, und es fehlte mir auch die historische Neugier, in den Wipfel unseres Stammbaums hinaufzuklettern. Erst später erfuhr ich, daß wir unser Geschlecht bis auf einen Johann Heinrich Heyse zurückführen können, der während des Dreißigjährigen Krieges als Landwirt in Lipprechtsrode bei Bleicherode lebte und im Jahre 1683 starb. Nach ihm kam ein Johann Adam, geboren 1669, gestorben in Nordhausen als Ädituus und Schullehrer am Frauenberge. Sein Sohn Johann Georg, der Theologie und Philosophie studiert hatte, folgte dem Vater in dessen Ämtern, war auch als Organist an der Frauenberger Kirche angestellt und starb 1784.

Dessen Sohn, Johann Christian August, 1764 in Nordhausen geboren, war mein Großvater. Auch er hatte Theologie und Philosophie studiert, dann aber in Oldenburg eine Mädchenschule gegründet und später seinen Wohnsitz in Magdeburg genommen, wo er 1829 als Direktor der dortigen höheren Töchterschule starb.

In Oldenburg war ihm sein ältester Sohn, Karl Wilhelm Ludwig, mein Vater, am 15. Oktober 1797 geboren worden. So bin ich also nur von der Mutter Seite ein richtiges Berliner Kind, da sie am 12. Januar 1788 als die jüngste Tochter des königlich preußischen Hofjuweliers, des »Hofjuden« Salomon Jakob Salomon und dessen Ehefrau Helene, geborenen Meyer (gestorben 1811) zur Welt kam. Fünf Geschwister, zwei Brüder und drei Schwestern, gingen ihr voran, sämtlich von der Natur glücklich ausgestattet mit lebhaftem Geist und einem schönen Äußeren, wie man es in gewissen aristokratischen jüdischen Familien findet. Nur die Züge des ältesten Bruders, Simon, und einer der Töchter, Klara, erinnerten an den bekannten semitischen Typus. Den anderen war ihre Abstammung nicht an den feinen geraden Nasen zu lesen, so wenig wie an den großen blauen Augen unter breitgeschwungenen Lidern. Keines der Kinder jedoch soll, wie ich Mutter und Tanten oft versichern hörte, ihrer eigenen Mutter an Schönheit gleichgekommen sein, wofür freilich zwei treffliche Miniaturbilder, die sie als alte Frau von stark ausgesprochenen orientalischen Zügen mit üppigem grauem Haar, kohlschwarzen Augen und blendend weißer Büste darstellen, nur ein unvollkommenes Zeugnis ablegen.

Von der Anmut aber der jüngsten Tochter Karoline Marie Helene Henriette Julie gibt ein schönes Pastellbild etwa aus ihrem zwanzigsten oder einundzwanzigsten Jahre eine hinlängliche Vorstellung, die ich freilich aus eigener Erinnerung nicht zu bestätigen vermag, da meine Mutter, als sie mich zur Welt brachte, schon das zweiundvierzigste Jahr erreicht hatte. Auch war jener Jugendreiz schon früh durch einen schmerzlichen Unfall in der Blüte versehrt worden. Eine Blatternepidemie brach in der Stadt aus, und die vorsichtigen Eltern auch unter der jüdischen Gesellschaft ließen ihre Kinder impfen. Nur die jüngste Enkelin, ihren Liebling, wollte meine alte Großmutter, noch ganz im Vorurteil gegen dies neue Schutzmittel befangen, der Impfung nicht aussetzen. Die Folge war, daß meine Mutter allein von der Krankheit befallen wurde, wobei eine Blatter sich auf das rechte Auge setzte. Ein berühmter Arzt tröstete die Eltern, es sei mit einem leichten Eingriff zu helfen, Tag und Stunde der Operation wurden festgesetzt, ein paar Assistenzärzte waren zur Stelle, man wartete und wartete, der alte Arzt wollte nicht kommen. Einer seiner jüngeren Kollegen erbot sich, um das junge Fräulein nicht länger in der bangen Spannung zu lassen, die geringfügige Operation der Entfernung des kleinen Häutchens sogleich vorzunehmen, war aber so unbeholfen, daß er zu tief schnitt. In demselben Augenblick trat der Erwartete herein, das Auge aber war verloren.

An dieses Unglück hat sich eine Legende geknüpft, der ich nur in einigen Zeitschriften, niemals in Erzählungen meiner Familie begegnet bin. Das arme Kind habe, um den Verlust zu verbergen, ein künstliches Auge getragen, das so täuschend dem lebendigen geglichen, daß ein junger Mann, der sich früher um eine der älteren Schwestern beworben, nun der jüngsten seine Neigung zuwandte. Als diese es inne geworden, habe sie sofort auf die Täuschung verzichtet, um dem Glück der Schwester nicht im Wege zu stehen. Seitdem trug sie über der leeren Augenhöhle eine schmale Locke aus ihrem schwarzen Stirnhaar, die durch ein Sammetband darauf festgehalten wurde.

Was an diesem heroischen Geschichtchen Wahres sein mag, weiß ich, wie gesagt, nicht zu entscheiden. Doch würde es durchaus der Gemütsart meiner Mutter entsprochen haben, die von weiblicher Eitelkeit völlig frei war, wie sie auch mit ihren geistigen Gaben nie zu prunken suchte und über ihr Mißgeschick sich selbst mit Humor zu trösten pflegte, indem sie von ihrem »Einspänner« sprach, mit dem sie dennoch den rechten Weg durchs Leben zu finden wisse.

Und in der Tat hat sie, dank der unverwüstlichen Frische und Liebenswürdigkeit ihres Naturells, ihr ganzes Leben lang so viel Liebe und Freundschaft genossen, daß sie jenen Verlust wohl verschmerzen konnte.

Sie war ohne Frage unter den vier Schwestern die begabteste, wenn sie auch an regelmäßiger Bildung ihnen nicht überlegen war, sondern sich nur auf eigene Hand aneignete, was ihre geistigen Bedürfnisse befriedigte. Wie sie und ihre Geschwister erzogen wurden, habe ich die Mutter leider nie gefragt. Ich zweifle aber, daß sie je eine Schule besucht und auch nur im Hause einen regelmäßigen Unterricht genossen haben. In Französisch, Tanzen, Singen, feinen Handarbeiten hat man sie wohl ziemlich zwanglos unterrichtet und es ihnen selbst überlassen, sich nach Belieben weiterzubilden. Sie waren aber alle sprachenkundig, sprachen geläufig Französisch und Englisch, und die zeitgenössischen Literaturen blieben ihnen, die mit den Kreisen der Rahel und Henriette Herz in Verkehr standen, ebensowenig fremd, wie die Werke unserer Klassiker, deren Zeitgenossinnen sie noch eine gute Weile waren. Ich bewahre noch ein Gedicht Goethes (»Herz, mein Herz, was soll das geben«) in der englischen Übersetzung meiner Mutter. In ihrer Bibliothek fanden sich sämtliche Werke Shakespeares, Byrons, Moores, Walter Scotts in englischen Originalausgaben, und die erste Anregung, englisch zu lernen, verdanke ich den Stunden, in denen ich, zuerst ohne ein Wort zu verstehen, nur um die Aussprache zu lernen, meiner Mutter den ganzen Quentin Durward vorlesen mußte, bis ich nach und nach ratend und nach einzelnem fragend auch in den Sinn des Gelesenen eindrang.

*

Wann und unter welchen Umständen die sechs Geschwister zum Christentum übertraten und ihren jüdischen Namen Salomon gegen den nicht allzu christlichen Saaling vertauschten, wüßte ich nicht anzugeben, so wenig wie, wer die Paten waren, die meiner Mutter zu ihrem Rufnamen Julie die übrigen Namen gaben. Von dem nicht übergroßen Reichtum des Vaters war, da das Erbe in sechs Teile ging, auf das einzelne Kind nur ein mäßiger Anteil und einiges an Juwelen gekommen, immerhin genug, daß die Geschwister sorgenfrei leben konnten. Der älteste Bruder starb, noch ehe ich geboren wurde. Der zweite, Louis Saaling, brachte es in kaufmännischen Stellungen zu einem etwas ansehnlicheren Vermögen, das er sorgfältig durch eine wunderliche Sparsamkeit zu vermehren suchte. Während er eine offene Hand hatte, wo es galt, seinen Schwestern oder guten Freunden Liebes zu erweisen, kehrte er unter anderem die Kuverte empfangener Briefe um, sie zu den Antworten zu benutzen, kaufte auf einmal mehrere Dutzend Ausschußhandschuhe und rauchte Zigarren, die sein nicht eben verwöhnter Neffe standhaft verschmähte. Dabei war er ein weichherziger, heiterer, allgemein beliebter Mann, der es zu hohen Jahren brachte und bis zuletzt die drei steilen Treppen seiner Wohnung an der Schönen Aussicht in Frankfurt a. M. nachts hinaufstieg, nachdem er in der Ressource stundenlang dem Kartenspiel der anderen zugesehen hatte.

Noch steht der gute Onkel Louis vor mir, die hohe, wohlproportionierte Gestalt bis in seine achtziger Jahre ungebeugt, in einem langen blauen Rock, dessen Schöße tief hinab über die Nankingbeinkleider fielen, die Schuhe mit Gamaschen verwahrt, auf dem Haupte den grauen Zylinder, unter dem das glattrasierte regelmäßige Gesicht mit freundlichklugen blauen Augen durch die goldene Brille hervorsah, das Kinn in eine handbreite schwarze oder buntleinene Krawatte eingetaucht. So erschien er alljährlich zur Sommerfrische in Baden-Baden, wo er in jede Bude eintrat, um an die Verkäuferinnen galante Scherze zu richten, ohne je etwas zu kaufen. Er gehörte zu den stehenden Figuren des Orts, und man lachte freundlich über seine eben so stehend gewordenen Witzworte.

Mir, der ich oft in seinem Hause dort zu Gast war, bewies er das herzlichste Wohlwollen, bis ich die Tochter Franz Kuglers heimführte, während er selbst mir eine reiche Erbin zugedacht hatte. Er vergoß Tränen über diese törichte Verbindung, als er zu meiner Hochzeit nach Berlin kam, und seitdem erhielt ich auf alle Briefe, in denen ich die Geburt meiner Kinder oder andere wichtige Neuigkeiten anzeigte, nur eine Bescheinigung des Empfangs mit ein paar freundlich-kühlen Zeilen – in einem umgewendeten Kuvert.

Und doch hatte auch er, da er sich zu heiraten entschloß – in schon etwas vorgerückten Jahren, doch immer noch ein ansehnlicher Freier – bei seiner Erwählten nicht auf goldene Schätze gesehen, sondern die Tochter eines armen Landarztes zu seiner Frau gemacht, die bei seiner ältesten Schwester Marianne als Zofe im Dienst gestanden hatte. Sie war weder schön noch sonderlich gebildet, er aber folgte seinem Herzen, das ihn auch nicht betrog, und hatte es dieser Heirat wegen auf ein langes Zerwürfnis mit zwei anderen seiner Schwestern ankommen lassen, die ihm eine »ebenbürtige« Gattin gewünscht hatten und sich weigerten, die ehemalige »Dienstmagd« als Glied ihrer Familie zu betrachten. Erst als die Frankfurter Schwester, verwitwet und einsam geworden, von langem Siechtum heimgesucht wurde, kam eine Versöhnung zustande; denn Tante Emilie widmete sich der früheren Gegnerin mit so aufopfernder Treue, daß diese ihr tausendmal alles Unholde, was sie ihr angetan, abbat.

Daß dies so spät geschah, war begreiflich, wenn auch nicht verzeihlich. Diese Frankfurter Schwester meiner Mutter, Tante Klärchen, ihrer Mutter wohl von allen Geschwistern die ähnlichste, da sie dieselben großen, schwarzen Augen und den üppigen Wuchs hatte, war an einen reichen Frankfurter Bankier Herz verheiratet, einen großen, stattlichen, jovialen Mann, an den sich meine früheste Kindererinnerung knüpft. Ich war in meinem dritten Jahr mit den Eltern nach Frankfurt gekommen, wo der Onkel sich nicht zu gut hielt, meinen Spielkameraden zu machen. Er trug mich auf seinem breiten Nacken im Galopp den langen Korridor hinauf und hinab, und wir rasteten von dem Ritt gewöhnlich in einer Speisekammer, wo allerlei süße Vorräte aufgespeichert waren. Ich durfte aber von einer gewissen Himbeermarmelade erst naschen, wenn ich »Esel asinus« gesagt hatte, vielleicht das einzige Latein, über das der Onkel gebot, jedenfalls das erste, das über meine Zunge kam und sich mir mit Hilfe des süßen mnemotechnischen Mittels tief einprägte.

In diesem vornehmen jüdischen Hause aber verkehrte nicht nur die Frankfurter Geldaristokratie, sondern auch die Blüte der Bundestagsgesellschaft, durch den Glanz der Empfangsabende, Bälle und Diners, die Liebenswürdigkeit der Hausfrau und die Schönheit der Töchter angezogen. Die älteste, Adelheid, heiratete einen Rothschild, die zweite und schönste, Helene, einen Attaché der französischen Gesandtschaft, Graf Salignac de Fénélon, die dritte, Marianne, einen Baron von Haber. Es war kein Wunder, daß Frau Klara Herz die Vermählung ihres Bruders mit einer armen, zum Dienen genötigten Landarzttochter für eine Mesalliance hielt, zu der sie ihre Zustimmung nicht geben könne. Sie hatte vergessen, daß sie von einem Vater abstammte, den der Hofmarschall, wenn er ihm schriftlich eine Bestellung zu machen hatte, mit »Lieber Jude!« anzureden pflegte.

Die andere Schwester, die sich unversöhnlich zeigte, Tante Regine, lebte in Wien, in den Kreisen der dortigen jüdischen Aristokratie, der Arnstein und Eskeles. Sie hatte früh eine Ehe geschlossen, die unglücklich war und bald wieder aufgelöst wurde. Seitdem hatte sie sich als geistreiche Frau etabliert und unter dem Namen Regina Frohberg verschiedene Romane verfaßt, die das Leben der höheren österreichischen Gesellschaft zu schildern suchten, ohne das geringste Talent und mit so wenig Erfindungsgabe, daß es ein Rätsel war, wie diese armseligen Produkte einen Verleger finden konnten. Indessen wußte sie ihrem »Salon« doch eine Anzahl treuer Bewunderer und Hausfreunde zu erhalten, zumal sie in jüngeren Jahren mit ihrem feinen, zierlichen Gesicht und ihrer Weltgewandtheit eine anziehende Erscheinung gewesen sein muß. Ich lernte sie kennen, als ein beginnender Star sie nach Berlin führte, um die Hilfe des berühmten Jüngken in Anspruch zu nehmen. Sie wohnte da einige Monate im Erdgeschoß unseres Hauses, und ich entsinne mich noch, wie betroffen ich war, als ich – ein dreizehn- oder vierzehnjähriger Knabe – die Wiener Tante in ihrem halbverdunkelten Zimmer begrüßte. wo sie in großer Toilette mit weißen Glacéhandschuhen den ganzen Tag wie ein geputztes Götzenbildchen saß und sich von ihrer dicken, blatternarbigen steiermärkischen Zofe den Tee bereiten ließ.

*

Daß die geschminkte und gepuderte Salondame von der kleinbürgerlichen Schwägerin nichts wissen wollte, konnte der Bruder leicht verschmerzen. Blieben doch seine beiden Lieblingsschwestern auf seiner Seite, meine Mutter und die älteste Schwester Marianne, in deren Hause er seine Lebensgefährtin gefunden hatte.

Von dieser meiner Tante Marianne Saaling ist vielfach in Büchern, die die Zeit des Wiener Kongresses schildern, die Rede gewesen. Sie hatte damals in Wien durch ihre hohe Schönheit eine glänzende Rolle gespielt, Könige und Fürsten hatten ihr gehuldigt, ein alter portugiesischer Herzog sich mit ihr verlobt. Er starb, ehe sie die Seine geworden war, aber der Nachglanz dieses Erlebnisses und der Wiener Triumphe verbreitete sich über ihr langes, ferneres Leben und verlieh der hohen junonischen Gestalt auch in den bescheidenen, doch nicht ärmlichen Verhältnissen, in denen sie neben uns lebte, einen vornehmen Zug. Da sie der portugiesischen Heirat wegen zum Katholizismus übergetreten war, ließ sie es sich angelegen sein, in den katholischen Kreisen Berlins eine hervorragende Rolle zu spielen, gründete ein Krankenhaus, veranstaltete zu dessen Ausstattung allweihnachtlich einen Bazar, den die katholische Aristokratie besuchte und manchmal sogar die Königin, die sie zu umarmen sich herabließ, und erreichte in stillen, kleinen Befriedigungen ihrer naiven Eitelkeit ein hohes Alter.

Von ihrer späteren Verlobung mit Varnhagen bald nach Rahels Tode und der Aufregung, die die Auflösung derselben bei uns hervorrief, habe ich die dunkle Erinnerung behalten, daß sich vor meinen Knabenaugen hier zum erstenmal etwas zutrug, was einem Roman ähnlich sah. Eine Aufklärung über die seltsamen Motive, die zu der Katastrophe führten, verdankte ich viel später dem Einblick in vergilbte Briefblätter und Varnhagens eigenen Mitteilungen in seinen Denkwürdigkeiten.

Mir waren früh die Augen über die Schwächen dieser Tante aufgegangen, zumal ich an der ganz echten und impulsiven Natur meiner Mutter einen Maßstab hatte für das einzig Wertvolle im Menschenleben. Aber die große Liebe und Treue, die mir die gute Tante bewies, entwaffnete mein rigoroses Knabenurteil und ließ es mich sogar bedauern, daß ich für ihre Schriftstellerei – auch sie, wie die Wiener Schwester, füllte in ihrer kaum lesbaren Handschrift dicke Hefte mit romanhaften Memorabilien und freien Erfindungen – kein anerkennendes Wort haben konnte.

Von solchen literarischen Velleitäten hielt meine Mutter sich immer frei, bis auf die Übersetzung von Lieblingsgedichten ins Englische und Französische zu ihrem eigenen Vergnügen. Sie war aber eifrig darauf aus, alle neueren Erscheinungen auch der deutschen Literatur kennen zu lernen, und eine Zeitlang scheint besonders Tieck sie aufs Lebhafteste beschäftigt zu haben. Auch das Theater verfolgte sie wie das ganze damalige Berlin mit höchstem Interesse, niemals aber mit dem Anspruch, sich als geistreicher Mittelpunkt eines befreundeten Kreises hervorzutun oder gar ein sogenanntes bureau d'esprit zu halten, sondern einzig und allein ihrem innersten Bildungstriebe zu genügen.

So vorbereitet, begegnete sie meinem Vater, auf den diese seltene Verbindung von Anspruchslosigkeit und geistiger Regsamkeit, von warmer Empfindung und sprühendem Witz sofort, wie es scheint, einen tiefen Eindruck machte, obwohl die nicht mehr junge, durch den Verlust des Auges geschädigte äußere Erscheinung durch die noch in voller Blüte stehende Schönheit der älteren Schwester in den Schatten gestellt wurde.

Mein Vater, fast zehn Jahre jünger, fühlte sofort, daß ihm hier »eine Natur« gegenübertrat, und verehrte sie zugleich als die Reifere, Überlegene, die auch im äußeren Leben unabhängig dastand, während er selbst es nur zum Hauslehrer gebracht hatte. Er hatte, da sein Vater im Jahre 1807 nach Nordhausen übersiedelte, am dortigen Gymnasium schon mit fünfzehn Jahren das Abiturientenexamen bestanden und dann sofort an der Erziehungsanstalt eines Herrn von Türk in Vevey eine Lehrerstelle annehmen müssen, da er noch acht Geschwister hatte und so früh als möglich selbständig werden sollte. Von den drei Schwestern ging ihm nur eine voran – er allein konnte dem Vater, der als Mädchenschullehrer, erst hier in Nordhausen, dann später in Magdeburg hoch geachtet und schlecht besoldet war und durch seine Schulbücher, seine Lexika und Grammatiken das Fehlende hinzuerwerben mußte, schon früh die Sorge für den Unterhalt der großen Familie in etwas erleichtern. Drei Jahre lebte er dann im Hause des Ministers Wilhelm von Humboldt als Erzieher des jüngsten Sohnes, dann von Oktober 1819 bis Ostern 1827 in Berlin als Hauslehrer des jungen Felix Mendelssohn-Bartholdy, den er zur Universität vorbereitete.

In diesem Hause lernte er meine Mutter kennen, die eine Kusine von Felix' Mutter war. Sie und ihre Schwester Marianne schlossen sich der Mendelssohnschen Familie an, als diese über Frankfurt a. M. eine Reise in die Schweiz machte. Soviel ich weiß, kam es auf dieser Reise zur Verlobung, zunächst zu einer heimlichen.

Denn wenigstens promovieren wollte der junge Gelehrte, ehe er seinen Hausstand gründete, und durch seine Habilitation als Privatdozent ein Vierteljahr später (Ostern 1827) den ersten Schritt zu einer öffentlichen Wirksamkeit tun. Am 11. Juli 1827 fand dann die Hochzeit statt, und zwei Jahre später kam die Ernennung zum außerordentlichen Professor.

Das junge Ehepaar wohnte die ersten Jahre in einem Hause der Heiligengeiststraße, das, wenn ich mich recht entsinne, der Familie Salomon gehört hatte und wo ich am 15. März 1830 zur Welt kam. Im Jahre 1831 bezogen meine Eltern dann eine Wohnung in dem einstöckigen Hause am Weidendamm, das einem Holzhändler gehörte und mitten auf dem sehr ausgedehnten Holzplatz stand, gegen die Friedrichsstraße durch die hochaufgeschichteten Holzhaufen verdeckt, hinter denen auch das bescheidene Gärtchen nur einen kargen Pflichtteil von Luft und Sonne erhielt. An der anderen Seite lag ein ziemlich geräumiger Hof, der unser Haus von einem niedrigen, nur aus einem Erdgeschoß bestehenden Hintergebäude trennte. In diesem, das sich vorn bis an die Uferstraße erstreckte, wohnte ein Schenkwirt, der für die Schiffer, die hier das Holz auf ihren Spreekähnen landeten, Eß- und Trinkwaren feilhielt. Hinter seinem Grundstück floß ein trüber, schwarzer Kanal mit träger Welle in die Spree.

Vor wenigen Jahren, bei einem Besuch in meiner Vaterstadt, fühlte ich ein Verlangen, diese Stätte meiner frühesten Jugend einmal wieder aufzusuchen. Ich hatte es bisher unterlassen, in der Meinung, alles verändert und statt der wohlbekannten verwitterten alten Mauern und heimlichen Winkel moderne vierstöckige Zinshäuser zu finden. Wie sehr war ich überrascht, alles so wiederzusehen, wie ich's in meiner Erinnerung trug! Unser unscheinbares Wohnhaus, an dem sogar die alten Stuckornamente noch nicht abgebröckelt waren, der Hof, der mir freilich jetzt kleiner vorkam, – so spukhaft alles, daß ich mich kaum gewundert hätte, wenn sich das Fenster oben im Arbeitszimmer meines Vaters geöffnet hätte, wie an jedem Nachmittag, wenn er mich von meinem Spiel heraufrief, um ein paar lateinische Deklinationen bei ihm zu schreiben. Nur das Gärtchen war verschwunden, – die Holzhaufen waren bis auf sein Gebiet vorgedrungen. Dafür hatte sich an dem Schenkenhäuschen nichts verändert. Ich sah im Geiste wieder den dicken, jungen Wirt, der dort mit seiner blassen, schwindsüchtigen Schwester hauste. Sie war zu zart für diese Umgebung, saß still in ihrem Stübchen mit einer Näharbeit und sah unseren Spielen zu oder rief uns herein, uns Kuchenwerk zu geben und Geschichtchen zu erzählen. Zuweilen wurde für die Schenke ein Schwein geschlachtet. Dann mußte ich meinen Kopf in den Schoß des Mädchens legen, und sie hielt mir fest die Ohren zu, damit ich das Todesstöhnen und Röcheln nicht hören sollte. Ich hatte sie sehr lieb. Als sie gestorben war, führte mich ihr Bruder in das niedere Zimmer, wo sie im Sarge lag, und deutete stumm auf das feine, wachsbleiche Gesicht, während ein Weinkrampf seine derbe Gestalt erschütterte und er zuweilen laut aufschrie. Es war das erstemal, daß ich dem Tode ins Gesicht sah, und das feierliche Bild steht darum tief eingegraben in meiner ErinnerungIn den »Kindern der Welt« habe ich dem kleinen Maler aus jenem Schenkengebäude seine Wohnung zurecht gemacht..

Daß ich dies alles wiederfinden sollte, obwohl in der Weltstadt sonst kaum ein Stein auf dem andern geblieben war, hatte seinen Grund nur darin, daß am Weidendamm noch immer die Holzkähne anlegten und eines Stapelplatzes für ihre Fracht bedurften. Hinter den dunklen Holzhaufen aber, die wie eine Stadt mit vielen engen Gassen oder ein Gebirge mit tiefen Schluchten uns Knaben den herrlichsten Platz zu unseren Räuber- und Kriegsspielen darboten, würde ein neues, eleganteres Wohnhaus doch nur verloren gewesen sein, da es von der Straße aus niemand gesehen hätte.

Für mich war, daß ich meine ersten Kinder- und Knabenjahre gerade in diesem Hause verleben durfte, von unschätzbarem Wert. Zunächst für meine körperliche Entwicklung. Besser sogar als in einem wohlgepflegten Garten, dessen Beete Schonung verlangt hätten, konnte ich in diesem weiten Revier meine Glieder tummeln und freiere Luft atmen, als in einem der gewöhnlichen Stadthäuser mit ihren engen, lichtlosen Höfen. Dazu kam die mannigfache Anregung, die meine Kinderphantasie in dieser hochaufgetürmten hölzernen Stadt empfing, die wechselnde Szenerie auf dem Flusse, das Leben und Treiben der Schiffer auf ihren schwimmenden Häusern mit der geheimnisvollen Kajüte, die meine Neugier unendlich reizte, nicht zum wenigsten der stille, dunkle Kanal hinter der Schenke, zu dem vom Hofe aus ein Treppchen hinabführte. Ich entsinne mich, daß ich hier oft gesessen und in das langsam vorbeifließende Wasser gestarrt habe, ja als ein noch sehr kindlicher kleiner Idealist mich darüber grämte, daß es mir nicht möglich war, das Gold herauszufischen, das die Abendsonne in einzelnen breiten Flecken auf die schwarze Flut streute.

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Sechs Jahre lang lebten meine Eltern in diesem Hause, Schwester Marianne schon hier mit ihnen, wie später in dem Hause der Behrenstraße.

Sie waren beide gesellige Naturen. Aber sie verstanden die Geselligkeit im besten Sinne, daß sie sich auf wenige vertraute Menschen beschränken sollte, die zu jeder Zeit an dem gastlichen Tische willkommen sind. So lange ich denken kann, erinnere ich mich nicht, daß meine Eltern eine größere Festivität besucht oder bei sich mehr als ein halbes Dutzend Gäste bewirtet hätten. Noch heute steht mir jener Mittag vor Augen, zu dem mein Vater seinen ehemaligen Schüler, den nun hochgefeierten Leipziger Musikdirektor Felix Mendelssohn mit seinem Bruder Paul eingeladen hatte, als er zum Besuch seiner Schwester Fanny Hensel nach Berlin gekommen war. Ich sehe ihn leibhaftig vor mir, die schlanke Gestalt mit dem feinen, scharfgeschnittenen Gesicht und dem schwarzen Lockenhaar, zurückgelehnt gegen den runden Deckel des Sekretärs meiner Mutter, heitere Scherze wechselnd mit seiner alten Freundin, Tante Julie Heyse, während ich mit schüchterner Bewunderung zu ihm aufsah und kein Wort an ihn zu richten wagte.

Um diese Zeit ereignete sich auch ein kleines Geschichtchen, das für seine Kunstanschauung charakteristisch ist.

Robert Griepenkerl, der Verfasser des Robespierre, erzählte eines Abends bei Moritz Lazarus, er habe neulich mit Mendelssohn einen ganzen Morgen lang disputiert und ihm zu beweisen gesucht, jede Zeit habe das Recht, eine neue Kunst hervorzubringen und sie für die alleinseligmachende zu halten. Felix habe das nicht zugeben wollen, doch ohne sich weiter auf eine Widerlegung einzulassen, immer nur gesagt: »Was scheen is, is scheen!«

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Auch als außerordentlicher Professor gebot mein Vater nicht über reiche Einkünfte, und sein Stolz ließ es nicht zu, von dem Vermögen seiner Frau mehr als das Unumgänglichste in Anspruch zu nehmen. Wohl mehrten sich seine Einnahmen nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1829. Die Fortsetzung und Neubearbeitung der verschiedenen väterlichen Lexika und Grammatiken war testamentarisch ihm, als dem ältesten Sohn, übertragen worden, zugleich aber auch die Sorge für die einzige noch lebende Schwester, die an einen Pfarrer verheiratet und mit vielen Kindern gesegnet war. Ihr sollte die Hälfte aller Honorare zugute kommen, nachdem die anderen Brüder sowohl auf die Arbeit als auch auf den Ertrag verzichtet hatten.

Mein Vater hatte an der Universität als klassischer Philolog begonnen (er las auch später noch einige Kollegien über Platos Kratylos, Horaz' Epistel an die Pisonen, Catull und Terenz). Aber die persönliche Berührung, in die ihn seine Hauslehrerstelle im Humboldtschen Hause mit dem großen Begründer der Sprachwissenschaft gebracht, hatte seinen Sinn ebenfalls nach dieser Richtung gelenkt, wo die anziehendsten Probleme zugleich historischer und philosophischer Forschung ihrer Lösung harrten. Das Glück aber, das höchste aller geistigen Menschen, sich in voller Freiheit den Aufgaben zu widmen, zu denen man sich berufen fühlt, sollte ihm nicht gegönnt sein.

Denn sein Leben lang hat er als Märtyrer seiner Pietätspflicht vornehmlich am Ausbau der Wörterbücher (von dem großen dreibändigen deutschen waren beim Tode des Vaters nur wenige Bogen gedruckt, das Fremdwörterbuch wurde erst von dem Sohne durch die etymologischen Nachweise zu wissenschaftlicher Bedeutung erhoben), der großen Grammatik und der grammatischen Schulbücher gearbeitet, und sein eigentlichstes Lebenswerk, an das er seine beste Kraft gesetzt, das »System der Sprachwissenschaft«, erschien erst nach seinem Tode, aus seinem Vorlesungsheft und Nachschriften seiner Schüler von dem bedeutendsten unter ihnen, Heinrich Steinthal, herausgegeben.

Ein tragisches Lebenslos, unter dessen Schwere manche robustere Kraft erlegen wäre. Und doch widerstand die zart angelegte Natur meines Vaters dreißig Jahre lang diesem Druck, weil in dem schwachen Körper ein stählerner Wille, ein unerschütterliches Pflichtgefühl lebten. Wohl lag fast immer ein Hauch von Resignation über den stillen Zügen seines nicht regelmäßigen, aber feingebildeten Gesichts, und in dem seelenvollen Blick seines hellen Auges lasen die ihm nahe standen den Kummer um ein verlorenes Leben. An Tagen aber, wo er einmal, etwa nach Beendigung eines schweren Abschnittes, ein wenig aufatmete, war die Heiterkeit, die dann aus ihm hervorglänzte, um so ergreifender. Etwas Jünglinghaftes, Reines, ein Strahl »jener Jugend, welche nie verfliegt«, klang aus seinen Worten und gewann ihm die Herzen, wo er sich in dieser Stimmung zeigte. Und er wußte auch einen munteren Lebensgenuß wohl zu schätzen und war glücklich, gute Freunde mit einer Flasche edlen Weins und einer »echten« Zigarre bewirten zu dürfen. Zu dem dritten Luxus, den er sich gönnte, fand er nur selten Teilnehmer, zu seiner Leidenschaft, wertvolle alte Drucke zu sammeln, sie zu ordnen, sauber einbinden zu lassen und so mit der Zeit einen »Bücherschatz« zusammenzubringen, dessen später gedruckter Katalog den Kennern und Liebhabern unserer älteren Literatur ein wertvolles Hilfsmittel ihrer Studien geworden ist. Ich selbst habe diesen Schatz, als mein Vater wenige Jahre vor seinem Tode sich entschloß, ihn als ein Ganzes zu verkaufen, ohne Bedauern, außer soweit es meinen Vater anging, in fremde Hände übergehen sehen. Es hat mir zeitlebens, bis auf sehr bescheidene Ansätze zu einer Käfersammlung, an allem Sammeltrieb gefehlt, und für die literarische und wissenschaftliche Bedeutung dieser alten Drucke besaß ich nicht die Kenntnis, so daß ich an den großen Schränken in unserem Entree, wo die Schätze aufbewahrt wurden, ohne sonderliche Ehrfurcht oder Neugier vorbeiging, zu stetem schmerzlichem Bedauern meines Vaters.

Auf seine philologische Richtung hatte F. A. Wolf den entscheidenden Einfluß geübt; in der Philosophie stand er unter dem Banne Hegels, der damals, in den dreißiger Jahren, eine unumschränkte Herrschaft über die jungen Geister ausübte. Doch brachte er in diese Schule sein Bedürfnis nach unabhängiger Forschung mit, das er gelegentlich in den Versen aussprach, die ich als den Wahlspruch seines Lebens auf seinen Grabstein schrieb:

In des eignen Busens Schranken
Suche Wahrheit, werde frei!
In dem Irrsal der Gedanken
Finde dich und sei dir treu!

Auch war er von Wilhelm von Humboldts Ideen aus zu seinen eigenen Überzeugungen gelangt und gab sich der Hegelschen Dialektik nicht auf Gnade und Ungnade gefangen. Seine nächsten Universitätsfreunde aber waren entschiedene Hegelianer: Hotho, Werder, Michelet, später der geistvolle Eduard Gans, der auch zu den intimeren Hausfreunden gehörte. Ein nicht minder vertrauter Freund war der Historiker Ernst Helwing, und ich bewahre aus diesen frühen Jahren am Weidendamm eine lebendige Erinnerung an die heiterste Geselligkeit, zumal das chronische Leiden meines Vaters damals noch nicht zu der späteren lebensverderblichen Höhe gediehen war.

Das Bekenntnis zum Hegeltum indessen sollte verhängnisvoll für die weitere Universitätskarriere werden. Nach dem Tode des Meisters hatten sich bekanntlich die Schüler nach den verschiedensten Richtungen selbständig weiter entwickelt, die Autorität des Systems war dadurch erschüttert worden, mit ihr das Ansehen bei den maßgebenden politischen Gewalten. Zugleich kam gerade auf dem Gebiet, das meines Vaters Domäne war, die historische Richtung auf unter der glanzvollen Führung der Brüder Grimm. Nun sollte eine systematische Sprachwissenschaft, mochte sie noch so redlich die Ergebnisse historischer Forschung verwerten, kein Recht mehr auf eine staatliche Förderung besitzen, und der außerordentliche Professor, der mit Unrecht des Hegeltums auch in seinen grammatischen Arbeiten verdächtig war, hatte keine Hoffnung, jemals eine ordentliche Professur zu erlangen.

Zumal wenn er, wie mein Vater, aus seinen liberalen Ansichten über die damals in Staat und Kirche herrschenden Mißstände nie ein Hehl machte, so wenig er sich berufen fühlte, öffentlich damit hervorzutreten.

Und so hat mein Vater über dreißig Jahre an der Universität gelehrt, ohne mehr als eine magere Besoldung und infolge einer durch seine Bücher unterstützten energischen Beschwerde beim Minister statt der Beförderung, auf die er gerechten Anspruch zu haben glaubte, – den Roten Adlerorden vierter Klasse zu erhalten.

Ich war gerade bei ihm, als die Antwort auf seine Eingabe eintraf. Als er den Orden, der beigefügt war, aus seiner Umhüllung hervorzog, sahen wir uns in augenblicklichem Einverständnis an und brachen dann in ein helles Lachen aus, das aus meiner Seele wohl bitterer klang als aus der meines Vaters. Er hat dies allgemeine Ehrenzeichen für redliche Beamtendienste nicht ein einziges Mal angelegt.

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Doch wenn er selbst auch über diese Demütigung mit hoher Seele sich erhob und gelassen in seinen Arbeiten fortfuhr, – meine Mutter war nicht so leicht zu beruhigen, wo sich's um eine Unbill handelte, die diesem leidenschaftlich geliebten, ja vergötterten Manne angetan wurde. Ihr alttestamentarisches Blut wallte auf, sie warf einen unversöhnlichen Haß auf die Personen, die sie für die Zurücksetzung meines Vaters verantwortlich machte. Es war unmöglich, ihr klarzumachen, daß Trendelenburg, den sie vor allen dieser »Kabale« bezichtigte und um so heftiger anklagte, da er früher in naher Freundschaft mit ihnen beiden gelebt, aus sachlichen Motiven gegen die Beförderung zum ordentlichen Professor gestimmt hatte, da er als Aristoteliker gegen den Hegelianer, als Vorkämpfer für das Beckersche grammatische System gegen das Heysesche sich erklären mußte. Von einer unumschränkten Lehrfreiheit an den Universitäten und kollegialer Toleranz war man damals freilich weiter noch als heute entfernt.

Zum Glück hielt der leidenschaftlichen Empörung über diese Kränkung und dem Kummer über die schwankende Gesundheit ihres Mannes gleichwohl das tiefe Dankgefühl die Wage, daß sie ihn überhaupt besaß. Denn ihre Liebe zu ihm war völlig unbedingt und grenzenlos. Sie sah in ihm geradezu die höchste Verkörperung aller menschlichen und männlichen Vollkommenheiten, und kein Opfer, das sie ihm zu bringen gehabt hätte, wäre ihr zu schwer gewesen. Zwischendurch kamen freilich Augenblicke, wo ihr jähes Naturell, ihr orientalisches Temperament auch ihm gegenüber aufloderte. Aber auf solche Szenen folgte eine um so innigere Ergebung in seine Autorität und das Bemühen, durch ein wahres Feuerwerk von übermütiger guter Laune die kleine Trübung des Verhältnisses vergessen zu machen.


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