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(1854–1864)
Während dieses ganzen Jahrs, das ich jenseits der Alpen verlebt hatte, war ein eifriger Briefwechsel mit den Meinigen unterhalten worden. Da aber zwei Väter, zwei Mütter, eine zärtliche Tante und vor allem meine Braut Anspruch auf direkte Mitteilungen hatten, war ich kaum einmal dazu gekommen, meinem lieben Geibel einen schriftlichen Gruß zu senden.
Auch bei meiner Rückkehr im Herbst 1853 traf ich ihn in Berlin nicht an. Er war im Frühjahr des Jahres vorher von König Max II. nach München berufen worden und mit seiner jungen Frau dorthin übergesiedelt. Daß er in den neuen Verhältnissen des alten, jungen Freundes nicht vergessen hatte, davon sollte ich bald den erfreulichsten Beweis erhalten.
Nach der Rückkehr aus meinem gelobten Lande hatte ich wohl oder übel mich dazu bequemen müssen, mit der romanischen Philologie Ernst zu machen. Denn was ich an novellistischen, lyrischen und dramatischen Reisefrüchten neben meinen romanischen Fundstücken nach Hause mitbrachte, war nicht der Art, mich der Sorge um das tägliche Brot zu überheben: kein Roman, der viele Auflagen, kein Drama, das reiche Tantiemen versprach.
Zudem, auch wenn ich für mich allein verwegen genug gewesen wäre, mich auf gut Glück als »Schriftsteller« zu etablieren, ich hatte eine Braut, der ich es so wenig wie ihren Eltern zumuten konnte, sich auf ein so leichtsinniges Abenteuer einzulassen.
Es galt also, der geliebten Muse zunächst wieder zu entsagen und zu dem Brotstudium zurückzukehren, das freilich, auch wenn ich bald zur Habilitation gelangte, erst in vier, fünf Jahren es mir möglich machen konnte, meine Liebste heimzuführen.
So ging ich denn seufzend daran, meine handschriftliche Ausbeute zu verwerten, zunächst anknüpfend an ein längeres unediertes Gedicht Apologia mulierum das ich in Rom in der Barberiniana gefunden hatte, und das mir nun die Anregung zu einer Abhandlung über die moralisierende Poesie der Altfranzosen gab. Mitten in den Vorarbeiten kam mir im März 1854 ein Brief aus München zu, in dem mich Dönniges im Auftrag des Königs Max einlud, nach München überzusiedeln und dort mit einem Jahrgehalt von tausend Gulden zu leben. ohne weitere Verpflichtung, als an den geselligen Abenden des Königs, den sogenannten Symposien, teilzunehmen.
Daß ich durch diese märchenhafte Glückswendung, um so wundersamer bei meiner Jugend und den geringen Anfängen meiner dichterischen Laufbahn, auf einen Schlag allen Zukunftssorgen und -zweifeln enthoben wurde, hatte ich einzig und allein Geibels unermüdlicher Freundschaft zu danken.
Er hatte in seinem guten Glauben an meinen Stern meine Berufung beim Könige durchgesetzt, obwohl von dem wenigen, was ich bisher veröffentlicht hatte, kaum ein oder das andere Stück dem erlauchten Freunde der Dichtkunst, wie ich ihn später kennen lernte, so recht nach dem Sinne sein konnte. Der König aber, der Geibel als Dichter unbedingt verehrte, hatte auch zu seinem Urteil und der Lauterkeit seines Charakters das festeste Vertrauen, und so wurde auf Geibels ehrliches Gesicht hin das Berufungsdekret unterzeichnet, durch das mir in der bayerischen Hauptstadt eine zweite Heimat bereitet wurde.
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Ich habe es stets als eine besondere Gunst meines Geschicks betrachtet, daß mein Leben in jungen Jahren aus dem heimatlichen Berlin nach München verpflanzt wurde.
Nicht allein wegen der frühen Sicherung meiner äußeren Lage und der Verpflichtung, die mir damit auferlegt wurde, meine volle Kraft an meine dichterische Lebensaufgabe zu setzen. Wichtiger noch war, daß ich nun auf mich selbst gestellt wurde und an innerer Reife zunahm durch die Trennung von den literarischen Kreisen Berlins, in denen mir bis dahin wohl, nur allzu wohl geworden war. Was sie dem Anfänger gegeben, bewahrte ich in dankbarem Gedächtnis, wie ich auch im Süden nie verleugnete, daß ich ein Berliner Kind war und ein Heimweh in mir fortlebte nach allem, was ich an den Menschen im Norden lieben gelernt: feste Freundestreue, Klarheit und Klugheit und redlicher Wille, dem Strebenden die Wege zu weisen, und bei größter geistiger Regsamkeit der zähe, beharrliche Fleiß, auch in künstlerischen Dingen seinem Gewissen genugzutun.
Ich war aber auf einem Punkt angelangt, wo ich Gefahr lief, über den Horizont der dortigen Gesellschaft nicht hinauszublicken, ihrem Richterspruch mich zwar nicht blindlings zu unterwerfen, ihn aber doch für wichtiger zu halten, als er im Grunde war. Vor allem wäre mir, wie so viel anderen poetischen Talenten, die dünne, austrocknende kritische Luft der großen Stadt auf die Länge verhängnisvoll geworden, das Überwiegen des scharfen, zersetzenden Verstandes über die sinnliche Dumpfheit, aus der jede künstlerische Schöpfung ihre beste Kraft, ihr eigentliches Lebensblut saugt. Wer schaffen will, soll nicht zu klug aus sich selber werden. Er hüte sich, so sehr er der Selbstkritik bedarf, sich dem Naturboden zu entfremden und durch voreiliges Dreinreden der »alten Schwiegermutter Weisheit das zarte Seelchen Phantasie zu beleidigen«.
Nun fand ich in München gerade das, was mir bisher gefehlt hatte: eine sehr unliterarische Gesellschaft, die sich um mein Tun und Treiben wenig oder gar nicht bekümmerte, am wenigsten mich durch urteilen verwirren konnte. Man sprach damals selbst in den gebildeteren Münchener Kreisen niemals von Literatur, höchstens vom Theater. Dafür empfing mich eine unfreundlich, wo nicht feindselig gesinnte Schar einheimischer Kollegen, deren Verhalten gegen den Fremdling seinen Charakter stählte und ihn dazu trieb, stets sein Bestes zu geben. Wichtiger noch war, daß der Großstädter, der bisher nur in den Häusern guter Freunde heimisch gewesen war, sich hier zum erstenmal auf einen breiten, derben Volksboden gestellt sah, auf dem sich ein eigenwüchsiger, nicht immer löblicher, aber kraftvoller und vielfach poetischer Menschenschlag bewegte, nicht von fern mit dem zu vergleichen, den man in Berlin »Pöbel« nannte. Von diesem sich fernzuhalten, war wohlgetan gewesen, zumal man von der Literaturfähigkeit des Berliner Jargons, die heutzutage so eifrig angestrebt wird, damals noch keine Ahnung hatte. Eine Berührung aber mit dem altbayerischen Stamm, der seine eigenen Volkslieder und volkstümlichen Poeten besaß, konnte dem Norddeutschen nur heilsam sein und seine dichterischen Nerven erfrischen. Zudem galt es hier für mich, da gesellschaftliche Lorbeeren nicht zu erringen waren, über die nächsten Grenzen hinaus vor dem deutschen Volke zu beweisen, daß ich nicht von Königsgnaden allein zu den »Berufenen« zählte.
München war im Jahr 1854 eine Stadt von wenig über hundertfünfzigtausend Einwohnern. Schon im Sommer 1842 auf einer Reise über Dresden, Prag, Wien, Graz und Ischl, die mein Onkel Ludwig nach jenem Familienkongreß in Magdeburg mit seiner mir sehr teuren Frau zum Teil in Geschäften unternahm, und auf der mein Vater und ich ihn begleiten durften, war ich auch nach München gekommen, wo wir König Ludwigs große künstlerische Unternehmungen zum Teil noch im Werden fanden.
Noch hatten wir nur erst das Modell der Bavaria in der hohen Bretterhütte auf der Theresienwiese bestaunt, waren in der Basilika auf den Gerüsten herumgeklettert, auf denen Heß und Schraudolph ihre Fresken malten, und in der Ludwigskirche legte Meister Cornelius die letzte Hand an sein großes jüngstes Gericht. Jetzt, zwölf Jahre später, fand ich die schöne Kunststadt an der Isar in vollem Glanz, freilich noch räumlich weit beschränkter als heutzutage. Das Siegestor und die noch unvollendeten Propyläen begrenzten damals im Norden und Westen, das Hoftheater im Süden die Stadt, die erst durch König Max bis an den schönen, starken Strom fortgeführt wurde, während nach Osten hin die Straßen sich ohne Abschluß bald ins freie Feld verliefen, und die Vorstädte Au, Giesing, Haidhausen und Schwabing sich's noch nicht träumen ließen, daß sie dermaleinst in den Ring der Stadt einbezogen werden sollten. Es lag damals auch noch eine Menge großer Gärten zwischen den Häusermassen verstreut, wenn auch der jetzt so lustig grünende Dultplatz noch eine dürre Wüste war, da man zu gewissen Zeiten dort die Budenstadt hinpflanzte. Den Berliner aber, der diese in fröhlichem Aufschwung begriffene lachende Stadt betrat, heimelte sie im Vergleich zu den endlosen Straßenzügen und schwerfälligen Palästen seiner Vaterstadt fast mit ländlichem Reize an, während doch wieder die vielen neuen und alten Kirchen und die drei großen Museen dem Ganzen ein vornehmes Gepräge gaben und die malerischen, altertümlichen Stadtteile daran erinnerten, eine wie lange, merkwürdige Geschichte dies Isar-Athen zu erzählen hatte.
Nicht minder fand sich der Norddeutsche, zumal wenn ihm das muntere Blut des »fahrenden Schülers« noch in den Adern floß, durch die ungebundenen Sitten und den farbigen volkstümlichen Zuschnitt des Lebens angezogen, wenn er auch manches Liebgewohnte vermißte.
So gab es zum Beispiel keine eigentliche Geselligkeit, kein uneingeladenes Eintreten bei Freunden, sehr selten eine Hausfreundschaft, wie ich sie von meinem Elternhause, der Kuglerschen und anderen Berliner Familien her gewöhnt war.
Die Männer gingen allabendlich in ihr gewohntes Bierhaus, die Frauen saßen in sehr zwangloser Toilette zu Hause und empfingen höchstens eine Freundin – gelegentlich wohl auch einen »Freund«, den das Négligé nicht abschreckte. Wenn ein Gast von fern zugereist kam, bestellte ihn sein Münchener Gastfreund auf den Abend ins Wirtshaus, oder, wenn er ihn zu seinem Tische einlud, kam die Magd herein, zu fragen, was der Herr zu Nacht zu speisen wünsche. Das wurde dann nebst dem trefflichen Abendtrunk aus dem nächsten Wirtshaus »über die Gasse« geholt. Ich erinnere mich sogar, daß Kobell uns einmal ausnahmsweise zum Abend einlud, ein Drama mit anzuhören, das ein ihm empfohlener junger Poet der Familie vorlesen wolle. Als wir alle versammelt waren, trat der Hausherr herein, begrüßte uns freundlich und sagte: »Nun, unterhalten Sie sich gut! Ich muß in meine Gesellschaft.«
Wir konnten, als die Lektüre begann, freilich begreifen, daß er es vorgezogen hatte, in sein »Altengland« zu gehen. Aber von den ortsüblichen Bräuchen der Gastlichkeit hatten wir doch einen seltsamen Begriff bekommen.
Desto liebenswürdiger erschien uns hier im Süden gegenüber der strengen Sonderung der Stände, die in der Heimat herrschte, der freiere Verkehr der verschiedenen Gesellschaftsklassen untereinander an öffentlichen Orten, der schon an Italien erinnerte. Zwar konnte es in München nicht vorkommen, wie ich es in Rom erlebt hatte, daß ein Bettler im Café von Tisch zu Tische ging und, nachdem er so viel gesammelt, um seinen Kaffee zu bezahlen, sich ohne Verlegenheit unter die Gäste setzte, um vom Kellner wie jeder andere bedient zu werden. Aber die demokratisierende Macht des Bieres hatte doch eine Annäherung bewirkt. Der geringste Arbeiter war sich bewußt, daß der hochgeborene Fürst und Graf keinen besseren Trunk sich verschaffen konnte als er; die Gleichheit vor dem Nationalgetränk milderte den Druck der sozialen Gegensätze. Und wenn im Frühling noch der Bock dazu kam, konnte man in manchem Wirtsgarten eine so gemischte Gesellschaft zwanglos beisammen finden, wie sie in Berlin nirgends anzutreffen war.
Sei mir gegrüßt, du Held im Schaumgelock, Streitbarer Männer Sieger, edler Bock! Nicht graues Zwielicht dampfdurchwölkter Schenken, Es wird von jenem Treviquell berichtet, |
Ein wenig Übertreibung muß man diesem dithyrambischen Erguß zugute halten. Pflegen sich doch alle »Neubekehrten« eines gewissen Fanatismus schuldig zu machen. Zwar war ich nie ein sonderlicher Trinker gewesen und wurde es auch nicht in meiner neuen Heimat, wie denn auch wohl an meiner Begeisterung für den Rettig der Reim den größeren Anteil hatte. Das aber gewann mich sofort für meine neuen Landsleute, daß sie, so sehr sie Rang und Stand zu schätzen wußten, sich durch die Nähe eines Höherstehenden nicht einschüchtern oder im behaglichen Lebensgenuß stören ließen. Freilich hatte das alte München auch noch keine breite Arbeiterbevölkerung. Noch herrschte unter einem strengen Zunftzwang die Handwerksarbeit im kleinen vor; es fehlte fast gänzlich an Fabriken und jeder Art von Großindustrie, wie denn auch hier vor fünfzig Jahren diejenigen gezählt werden konnten, die nach heutigen Begriffen für reich gegolten hätten. Dafür gab es auch durchaus keine Massenarmut, die in großen Städten dem Menschenfreunde das Herz beklemmt. Bettler waren genug vorhanden, an den Kirchenpforten wie in den Häusern. Aber sie waren sämtlich mit ihrem Lose zufrieden, da in wohltätigen Vereinen und durch das obligate Almosenspenden frommer Seelen dafür gesorgt wurde, daß sie sich in ihrem Stande wie in einer auskömmlichen Sinekure wohlfühlen konnten. Der gewerbetreibende Bürgerstand vollends genoß eines so reichlichen Lebens- und Nahrungszuschnitts, wie in dem sparsamen und nüchternen Norden unerhört war. Zweimal, auch wohl dreimal am Tage Fleisch zu essen, erschien nur als etwas, das der gute Bürger als sein Recht in Anspruch nehmen konnte. Dafür arbeitete er nicht mehr, als nötig war, um das nahrhafte, vergnügliche Leben fortzusetzen, und wurde durch strenge Zunftgesetze gegen betriebsamere Konkurrenten geschützt. Aufs genaueste – für den Uneingeweihten oft unverständlich – war vorgeschrieben, was jeder Handwerker oder Händler anfertigen oder verkaufen durfte. War dann ein ehrsamer Meister, der selbst nicht höher hinausgewollt hatte, zu einigem Wohlstande gediehen, so ließ er den Sohn, wenn er ihn nicht der Kirche widmete, wohl auch studieren, obwohl er, wie ein bekannter Großbrauer, der Meinung war: »Studieren hält auf.« Es war eben noch die gute alte patriarchalische Zeit, deren Sitten und Unsitten im Gegensatz gegen die stark sich aufschwingende norddeutsche Industrie einen »gemütlich« anheimelnden Charakter trug, ohne daß darum das eigentliche Gemütsleben wärmer und nachhaltiger gewesen wäre, als in dem für kaltherzig verschrieenen Berlin.
Als wir einmal die Sommermonate in Starnberg zugebracht hatten, wo unsere vier Kinder auf weiten Spaziergängen viel Schuhwerk verschlissen, schickte ich am Vorabend der Abreise unsre älteste Tochter zum Schuhmacher, unsre Rechnung zu bezahlen. Morgen würden wir in die Stadt zurückkehren, erzählte sie dem Meister. »Da bin ich aber froh, Fräulein, daß Sie endlich fortgehen,« versetzte der Biedermann ganz ernsthaft. »Denn so viel wie für Ihnen hab' ich noch für keine Herrschaft zu arbeiten gehabt.«
Man mag vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus von dieser Antwort weniger günstig denken. Doch wird man nicht bestreiten können, daß in dem Grundsatz, sich ja nicht zu überarbeiten, bloß um Geld zu erwerben, um dann im späteren Alter die Früchte seines Fleißes vielleicht nicht mehr genießen zu können, ein freierer und vornehmerer Sinn sich offenbart, als in dem atemlosen Jagen nach Erwerb, wobei über der Hast, immer reichere Mittel zum Lebensgenuß zu gewinnen, der Zweck oft nicht mehr erreicht wird.
Bestärkt wurde das Volk in dieser leichtherzigen Lebenskunst überdies durch die vielen Feiertage, zu denen im Karneval noch andere Gelegenheiten, sich gute Tage und Nächte zu machen, hinzukamen. Das alles aber sah sich bunt und lustig an und hing mit so manchen phantasievollen Überlieferungen zusammen, daß es auch auf den protestantisch gewöhnten Sohn der Mark einen anziehenden Eindruck machen mußte.
Freilich konnte er sich nicht verhehlen, daß die warmblütigere, sinnlichere Natur dieser Bevölkerung in sittlicher Hinsicht manches Bedenkliche hatte. Nicht nur im Gebirge galt das Sprüchlein: »Auf der Alm da gibt's ka Sünd.« Auch in Stadt und Land herrschte eine Sittenfreiheit, die uns anfangs höchlich befremdete. Als wir für unsern Erstgeborenen ein Kindsmädchen mieteten, das noch sehr jugendlich erschien, fragte sie meine Frau, ob sie auch mit einem so kleinen Kinde umzugehen wisse. »No natürlich,« sagte das Mädchen, »ich hab' ja selbst schon ein Kind gehabt.« Und durch die etwas betroffene Miene ihrer Herrin sichtbar gekränkt, fügte sie rasch hinzu: »Was meinen S' denn, gnä' Frau? So wüst bin i doch net, daß mi keiner möcht'!«
Diese naive Offenheit entwaffnete uns. Wir sagten uns, daß die sittlichen Zustände in unserer Heimat schwerlich löblicher seien als hier und nur weniger unbefangen zutage träten. Und wenn auch Heuchelei ein Kompliment ist, das das Laster der Tugend macht, im Grunde war die Sache damit nicht gebessert und das freimütige Bekenntnis, der Erbsünde verfallen zu sein, immer noch einem engherzigen Tugenddünkel vorzuziehen, der oft nur die Maske feiger Sündhaftigkeit ist.
Dazu kam als ein weiterer mildernder Umstand die Erleichterung, die hier im katholischen Lande durch die Absolution der Kirche gewährt wird, während ein protestantisches Gewissen in schweren Kämpfen mit sich selbst zu ringen hat. Nicht minder auch mußte man die erhöhte Versuchung durch das gesamte sinnenfrohe Leben in Betracht ziehen und die stärkere Anlage des oberbayrischen Stammes zu allem Künstlerischen, in der sich auch der Sinn für leibliche Schönheit lebhafter entwickelt.
Die großen Schöpfungen König Ludwigs hatten alte und junge Künstler jeder Art nach München gezogen. Hier fanden sie außer großen, weitreichenden Aufgaben auch alle Mittel zu ihrer Durchführung, vor allem unter den Mädchen aus den niederen Klassen, die sich durch eine kräftige, rassemäßige Schönheit und frische Anmut auszeichneten, Modelle genug, während es in Berlin einem ehrbaren Dienstmädchen als eine Beleidigung erschienen wäre, einem Maler diesen Dienst erweisen zu sollen. Daß dies Vorwiegen der Künstlerschaft dazu beitrug, die Unbefangenheit im Verkehr der Geschlechter überhaupt zu steigern, liegt auf der Hand. König Ludwig selbst hatte sich ein »gemaltes Serail« angelegt, nicht bloß als ein platonischer Verehrer der Schönheit. Und so ging ein Hauch von fröhlicher, warmer Sinnlichkeit durch alle Schichten der Gesellschaft, ein wenig phäakenhaft, doch nicht in unfruchtbares »süßes Nichtstun« ausartend, da eben auf dem Boden, wo Leben und Lebenlassen der Wahlspruch der gesamten Bevölkerung war, jene großen künstlerischen Taten geschahen, denen das heutige München seinen Rang als erste deutsche Kunststadt verdanken sollte.
Damals freilich ging noch ein ganz anderer Geist durch die Münchener Künstlerschaft. Wie alle sich hatten bescheiden müssen, bei den Aufträgen des Königs mehr auf die Ehre als auf reichen Lohn zu sehen, so war auch von einem Kunstmarkt, wie heutzutage, noch keine Rede. Freilich auch nicht von einer so übermäßigen Konkurrenz, an der seit einigen Jahrzehnten auch noch die immer wachsende Zahl der »Malweibchen« in beängstigender Weise teilnimmt. Die Künstler waren keiner fieberhaften Bilderproduktion beflissen, sondern manche, die mehr Verstand als Glück hatten, ergaben sich sogar zeitweise einem behaglichen Müßiggang, weil es ihnen »so billiger kam«. Wo es aber galt, öffentliche Feste zu verherrlichen, war jeder bereit, seine Dienste anzubieten, ohne sich für den Zeitverlust entschädigen zu lassen. Die Frühlingsfeste an den reizenden waldigen Isarufern bei Pullach, Grünwald, Schwaneck, die alles, was an Schönheit, Jugend und Humor in den gebildeteren Kreisen der Stadt vorhanden war, in buntem Gemisch hinauslockten, erschienen von dem fröhlichen Treiben so vieler malerischer Gestalten belebt dem norddeutschen Gast wie ein lebendig gewordenes Bild aus einem Märchen, und die Raketen, die den spät in der Nacht Heimkehrenden einen Gruß auf den Weg mitgaben, wie das letzte Aufleuchten der romantischen »mondbeglänzten Zaubernacht«.
Diese Jugendzeit der Münchener Kunst ist längst dahin. Eine Periode ernster, ruhiger Arbeit ist ihr gefolgt, deren Führer und Meister nur noch bei seltenen Gelegenheiten sich um eine öffentliche Lustbarkeit der Stadt mithelfend verdient machen. Zeit ist Geld geworden, und auch die bildenden Künste haben sich dem Industrialismus anbequemen müssen, der seit dem französischen Kriege alle Lebensgebiete beherrscht. Viel Schönes ist trotzdem zur Erscheinung gekommen. Wem aber die damaligen Anfänge in der Erinnerung fortleben, dem klingen wohl die Verse im Ohr:
Schöner war die trübe Schwüle Als die helle Kühle jetzt; Jene frühen Vollgefühle, Kennst du was, das sie ersetzt? |
(Lingg.) |