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(1869)
Ich war noch nicht siebzehn Jahre alt, ein langaufgeschossener, blasser junger Mensch, in jenem verlegenen Alter, wo man den Knabenschuhen sich entwachsen fühlt und, noch sehr unsicher, in die Fußstapfen der Männer zu treten versucht. Mit einer tollkühnen Phantasie und einem blöden Herzen, zwischen trotzigem Selbstgefühl und mädchenhafter Empfindlichkeit hin- und hergeschaukelt, zupft man grübelnd an allen Schleiern, die die Geheimnisse des Menschenlebens sterblichen Augen verdecken, weiß heute das letzte Wort über die letzten Dinge, gesteht sich morgen, daß man noch im Abece stecke, und geberdet sich überhaupt so unbehaglich widerspruchsvoll, daß man sich selbst unerträglich werden würde, wenn man nicht von Leidens-, d. h. Altersgenossen umgeben wäre, die es nicht besser machen und doch auch darum nicht aus der Haut fahren.
Damals verkehrte ich viel mit einem seltsamen Kameraden, der einige Jahre älter war, als ich, aber gleich mir verurtheilt, noch fast ein Jahr in der Prima auszuhalten. Er besuchte nicht dasselbe Gymnasium, und seine Familie, die nicht in Berlin lebte, war der meinigen ganz fremd. Wie wir trotzdem bekannt und so vertraut geworden waren, daß kaum ein Tag verging, wo er nicht das steile Hintertreppchen zu meiner Hofwohnung hinaufstieg, wüßte ich nicht mehr zu sagen. Auch wenn wir zusammen waren, hätte ein Dritter kaum errathen, was uns einander unentbehrlich machte. Er trat mit einem Kopfnicken ein, ging eine Weile im Zimmer auf und ab, ein Buch öffnend, oder die Bilder an der Wand betrachtend, und warf sich endlich in meinen Großvaterstuhl, der die Stelle des Sophas vertrat. Da konnte er, die Beine übereinandergeschlagen, stundenlang sitzen, ohne ein Wort zu sprechen, und abwarten, bis ich meinen lateinischen Aufsatz fertig hatte. Wenn ich manchmal vom Heft aufsah, begegnete ich seinen stillen braunen Augen, die träumerisch, mit einem brüderlich sanften Ausdruck auf mir ruhten. Ich nickte ihm zu, und es war mir wohl dabei, ihn neben mir zu haben. Traf er mich müßig und in mittheilsamer Laune, so ließ er mich ohne viele Unterbrechungen eine Stunde fortschwatzen, und auch dies stumme Zuhören that mir wohl. Nur wenn wir auf die Musik kamen, wurde er aufgeregt, und wir vertieften uns oft in die leidenschaftlichsten Debatten. Er hatte eine prachtvolle, tiefe Baßstimme, die sehr zu seiner männlichen Erscheinung, den dunklen Augen und dem bräunlichen Sammetglanz seiner Haut paßte. Und da er auch die Theorie der Musik mit Eifer studirte, hatte er leichtes Spiel, mein laienhaftes Gefühlsgerede mit gewichtigen Gründen zu bekämpfen. Wenn er mich aber so in die Enge getrieben hatte, that ihm selbst meine Niederlage leid. Ich entsinne mich, daß er mich einmal um Mitternacht aus dem Bett klingelte, blos um mir förmlich abzubitten, daß er im Eifer des Gefechts Rossini's Barbier, den ich lebhaft vertheidigte, einen armseligen Bartkratzer gescholten, dessen Cantilenen, gegen Mozart'sche gehalten, nicht viel gehaltvoller seien, als der Seifenschaum in seinem Barbierbecken.
Außer dieser unbegrenzten Gutmüthigkeit – er ließ sich zu einer Menge Gefälligkeiten mißbrauchen, die sonst nur ein jüngerer Stubenbursch dem älteren erweist – waren es noch zwei Dinge, die unsere Freundschaft befestigten: er hatte mich in die Kunst des Rauchens eingeweiht und meine ersten Lieder componirt. Eines zumal, das uns Beiden nach Text und Melodie besonders geglückt schien, summten wir zweistimmig auf all unseren Spaziergängen:
Ich glaube, in alten Tagen
Da liebt' ich ein Mägdelein.
Mein Herz ist krank und trübe;
Es mag wohl ein Märchen sein.
Ich glaube, in alten Tagen
Da sonnte sich Einer im Glück.
War ich's, oder war es ein Andrer?
Vergebens sinn' ich zurück.
Ich glaube, in alten Tagen
Da sang ich – ich weiß nicht was
Hab' ich denn Alles vergessen,
Seitdem sie mich vergaß?
Diesen und den folgenden Versen wird man es leicht anmerken, daß sie wirklich aus so jugendlicher Zeit stammen, wohl aber auch, daß hie und da eine spätere Hand darüber gekommen und das allzu Unreife der Form mit leichter Feile getilgt hat.
Liebe, lächerliche Jugendzeit! Ein sechzehnjähriger Poet singt von den »alten Tagen« seiner verlorenen Liebesmüh, und ein achtzehnjähriger Musiker setzt in allem Ernst die seufzenden Strophen in Musik, mit einer Clavierbegleitung, die das nahe Hereinbrechen des Weltgerichts über dem Haupt des wankelmüthigen Mädchens anzudeuten schien!
Uns aber gefiel, wie gesagt, dieses schwermüthige Kind unserer heimlichen Ehe so ausnehmend, daß wir uns auf die Länge nicht damit begnügten, es unter vier Augen zu hätscheln; wir brannten vor Verlangen, es auch in die Welt einzuführen. Damals erschien die »Dresdner Abendzeitung« unter der Redaction eines, wie ich glaube, seitdem verschollenen Herrn Robert Schmieder, der Gedichte der Aufnahme würdigte, über die mein kritisches Selbstbewußtsein nur die Achseln zucken konnte. An ihn schickten wir unsern Liebling, natürlich anonym, in der festen Ueberzeugnug, schon in der nächsten Nummer Text und Composition erscheinen zu sehen, mit der Bitte an die unbekannten Einsender, die Abendzeitung auch fernerhin mit so willkommenen Früchten ihres Talents zu erfreuen. In süßer Beklommenheit, trotz unseres Incognito's, betraten wir die Conditoreien, in denen Journale gehalten wurden, und forschten erröthend nach unserem Erstling. Woche auf Woche verging, ohne daß sich unsere Erwartung erfüllte. Ich selbst hatte endlich, zumal nachdem wir noch einmal geschrieben und die Zurücksendung in ziemlich vornehmem Ton verlangt hatten, ohne einer Antwort gewürdigt zu werden, alle Hoffnung aufgegeben und war über diesen ersten Mißerfolg so beschämt und gekränkt, daß ich zunächst in einem längeren Gedicht der undankbaren Mitwelt den Handschuh hinwarf und auf die gerechtere Nachwelt pränumerirte, dann aber jede Andeutung des fehlgeschlagenen Unternehmens vermied und von Bastel (der ehrliche Name meines Freundes war Sebastian) verlangte, er solle auch die Melodie nicht mehr summen, die mir sogleich die ganze leidige Geschichte wieder ins Gedächtniß rief.
Darin willfahrte er mir auch, aber heimlich seine Nachforschungen in Conditoreien fortzusetzen, konnte er sich nicht versagen, um so weniger, da er ein leidenschaftlicher Kuchenesser war. Es war damals Hochsommer, und die kleinen runden, mit Kirschen belegten Törtchen erquickten wunderbar eine von griechischen und lateinischen Vocabeln ausgedörrte Primanerzunge. Bastel behauptete auch ganz ernsthaft, das Süße bekomme seiner Stimme gut; er könne die Herbigkeit seines Basses nur durch Zucker und Fruchtsaft schmeidigen.
Ich dagegen glaubte all das fade Zeug verachten und mich an den Wein halten zu müssen, der mir damals durchaus noch nicht sehr einleuchtete. Aber »Wein, Weib und Gesang« hatte ich berufsmäßig zu verehren, und in dem Bande meiner Gedichte, an dem ich stark arbeitete, durfte eine Reihe Trinklieder nicht fehlen.
So waren wir in den Juli hineingekommen, und die Hundstagsferien rückten heran, als eines Nachmittags Bastel um die gewöhnliche Zeit, aber in ungewöhnlicher Aufregung, in mein Zimmer trat. Er zündete sich keine Cigarre an, setzte sich auch nicht, sondern stand eine Viertelstunde unbeweglich am Fenster, auf den Scheiben den Tact des non più andrai farfallon amoroso trommelnd, dazwischen von Zeit zu Zeit so heftig seufzend, als hätte er eine Centnerlast auf dem Herzen.
Bastel, sagte ich, was giebt's?
Keine Antwort.
Bist du krank? fing ich wieder an. Oder hast du wieder mit dem Ordinarius einen Sturm gehabt? Oder ist der Commers gestern dir schlecht bekommen? (Er gehörte einer geheimen halbstudentischen Verbindung an und trug in der Westentasche ein schwarzrothgoldnes Uhrband, das nur bei ihren verstohlenen Gelagen sich hervorwagte.)
Noch immer schwieg der wunderliche Träumer und trommelte nur lebhafter, daß die Scheibe gefährlich zu klirren anfing.
Erst als ich scheinbar mich gar nicht um ihn bekümmerte, sagte er so verloren vor sich hin: Es giebt Dinge zwischen Himmel und Erde – Weiter brachte er den Satz nicht.
Ich sprang endlich auf, trat zu ihm hin und faßte seine Hand. Bastel, sagte ich, was sollen die Faxen? Du hast etwas, das dich drückt. Sag's, und wir wollen sehen, was sich dabei thun läßt; oder sag es nicht, aber verschone dann meine Fensterscheiben und betrage dich vernünftig. Willst du dir eine Cigarre anzünden?
Er schüttelte den Kopf. Wenn du Zeit hast, sagte er, laß uns gehen; ich kann es dir nur unter freiem Himmel sagen. Du hast hier eine so dumpfe Luft –
Wir stiegen die Treppe hinab und schlenderten Arm in Arm durch die stille Behrenstraße, wo meine Eltern wohnten, der Friedrichstraße zu. Erst mitten unter dem Gewühl von Wagen und Fußgängern schien ihm wohler zu werden. Er drückte meinen Arm, blieb einen Augenblick stehen und sagte: Es ist gar nichts Besonderes, Paul, aber ich glaube, ich bin verliebt, und diesmal fürs Leben.
Ich war weit entfernt, über diesen Zusatz zu lächeln. Mit sechzehn Jahren glaubt man an die Unendlichkeit aller Gefühle. Aber ich hatte Heine gelesen und hielt es für schlechten Ton, über Liebesabenteuer sentimental zu werden.
Wer ist die Glückliche? warf ich leicht hin.
Du sollst sie sehen, erwiederte er, und seine Augen irrten zerstreut über die Menge, die durch die Straße wogte. Gleich jetzt will ich dich hinführen, wenn du überhaupt in der Stimmung bist.
Kann man so ohne alle Umstände, ohne hochzeitliche Kleider –? Und ich habe sogar meine Handschuhe vergessen.
Sie ist keine Gräfin, sagte er, und ein leichtes Roth überflog sein bräunliches Gesicht. Denk, wie ich gestern wieder einmal auf die Abendzeitung Jagd mache – ich weiß, wir wollen nicht mehr davon sprechen, aber es gehört zur Sache – führt mich der Zufall oder mein guter Stern in eine ganz abgelegene kleine Conditorei, und da –
Er stockte. «
Da fandest du sie Kirschkuchen essend, und das gewann ihr dein Herz, spottete ich. Nun, Bastel, ich gratulire. Der Süßen Süßes. Aber seid ihr schon so weit mit einander, daß du darauf rechnen kannst, sie heute wieder an derselben Stelle zu finden?
Er antwortete nicht mehr. Die Tonart, die ich angeschlagen, schien ihn zu verstimmen. Sofort that es mir wieder Leid, aber meine Grundsätze erlaubten mir nicht, mich in weicheren Tönen zu äußern. Die Moll-Accorde blieben den Versen vorbehalten; im Gespräch herrschte das Dur, je ironischer und kaltblütiger, je besser.
Wir waren stumm eine gute Weile die lange Friedrichsstraße hinabgegangen, dem Hallischen Thore zu, ich trotz meiner gleichgültigen Miene von Neugier und Mitgefühl verzehrt, als er plötzlich links einbog in eine der letzten Querstraßen, die in diese Hauptader der großen Stadt einmünden. Hier standen damals noch viel geringe, einstöckige Häuser von kleinbürgerlichem Anstrich; wenige Läden, ein sparsamer Verkehr, das Gerassel einer Droschke noch immer selten genug, um die Bewohner an die Fenster zu locken, am zahlreichsten die Kinder, die auf der Straße spielten und noch vor keinem hochbevölkerten Omnibus die Flucht ergreifen mußten. Fast am Ende der Straße – wenn es nicht die Krausenstraße war, muß es wohl die Schützenstraße gewesen sein – blieben wir vor einem grünangestrichenen Häuschen stehen, über dessen mit einer Glasthür verschlossenem Haupteingang ein großes schmutzigschwarzes Schild in verrosteten Goldbuchstaben die Inschrift »Conditorei« trug. Rechts und links sah man ein Fenster, das, obwohl das Haus nicht an der Sonnenseite lag, mit einem alten braunen Rouleau dicht verhangen war. Noch jetzt steht die darauf gemalte Landschaft vor meinen Augen, eine Tempelruine neben einem Teich, an dem ein Mann ohne Nase angelnd im Schilf saß, während ein Pfau aus einem umgestürzten Säulenknauf sein Rad schlug. Die Glasthür in der Mitte schien seit zehn Jahren nicht gereinigt worden zu sein, und ihre aus Filet gestrickten, ehemals weißen Gardinen hatten durch Alter, Staub und Fliegen die Farbe der Rouleaux angenommen.
Ich stutzte, als Sebastian Miene machte, hier einzutreten, aber ich hütete mich wohl, ihn von Neuem zu verstimmen, und folgte ihm in nicht geringer Spannung.
Eine süßlich schwüle Luft empfing uns drinnen, die mich unter anderen Umständen sofort wieder vertrieben haben würde; ein Duft von altem Butterteig und eingemachten Himbeeren, gemischt mit Chocolade- und Vanille-Gerüchen, daß Jeder, der nicht ein fanatischer Kuchenesser oder ein Verliebter war, kaum zu athmen vermochte. Dazu war der Raum nicht viel über sechs Fuß hoch und schien nie anders gelüftet zu werden, als durch das zufällige Oeffnen der Thür. Wie mein Freund hatte hoffen können, in dieser Winkelboutique die Dresdener Abendzeitung zu finden, war mir ein Räthsel.
Sehr bald aber begriff ich, was ihn trotz der fehlgeschlagenen Hoffnung wieder in diese beklemmende Luft gelockt hatte. Hinter dem niedrigen Ladentisch, auf dem eine dürftige Auswahl nicht sehr einladender Kuchen und Torten ausgebreitet war, saß in der dämmrigen Fensterecke bei dem braunen Rouleau ein junges Mädchen in dem einfachsten gedruckten Kattunkleide von der Welt, die dicken schwarzen Haare schlicht gescheitelt und hinten im Nacken rund abgeschnitten, ein Strickzeug in Händen, das sie erst weglegte, als wir nach einigem Zögern uns zu den unvermeidlichen Kirschkuchen entschlossen hatten. Mein Freund, der sie kaum anzublicken, geschweige auzureden wagte, ging in das einfenstrige, schmale und sehr unbehagliche Nebenzimmerchen, wo auf einem runden Tisch vor dem verschossenen Sopha die Vossische Zeitung und der »Beobachter an der Spree« den Schein eines Lesecabinets zu wahren suchten. Ein kleiner, von den Fliegen blind gemachter Spiegel hing an der Wand, zu beiden Seiten neben ihm braun eingerahmte Lithographieen von König Friedrich Wilhelm III. und der Königin Louise, zu denen eine broncirte Büste des alten Blücher, zwischen Ofensims und niedriger Stubendecke eingeklemmt, bärbeißig herabsah.
Sebastian hatte sich in fiebernder Hast in die eine Sophaecke geworfen, ich in die andere, als das Mädchen mit den kleinen Kuchentellern hereintrat. Ich konnte jetzt, während sie ein Gaslämpchen anzündete, da es zum Lesen schon zu dämmrig wurde, mit Muße meine Beobachtungen anstellen. Die Gestalt war eher klein, als groß, von einem Ebenmaß und einer schlanken Fülle, daß das Auge selbst in der ganz unscheinbaren, fast plumpen Kleidung mit Entzücken jede ihrer Bewegungen verfolgte. Die Füße, die sichtbar wurden, als sie sich beim Anzünden des Gases auf die Zehen erhob, waren so winzig, wie bei einem zehnjährigen Kinde; die sehr beweglichen schneeweißen Fingerchen sahen aus, als hätten sie immer nur im Schooß auf einem seidenen Schürzchen gelegen. Was sie Weißes an sich hatte, die kleine stehende Halskrause, die Manchetten, die Ladnerinnen-Schürze, war so tadellos sauber, daß es den schärfsten Gegensatz bildete gegen die fleckige Tapete, die staubigen Möbel und den hundertjährigen Fliegenschmutz der ganzen Umgebung.
Ich sollte wohl noch versuchen, den Umriß ihres Gesichts zu zeichnen, aber ich verzichte darauf. Nicht als ob die Züge von so unvergleichlicher Schönheit gewesen wären, daß sie aller Malkunst spotteten. Das aber, was dem Gesicht den eigenthümlichsten Reiz verlieh, war etwas Seelisches, über das ich selbst noch nicht so bald ins Klare kommen sollte: eine gelassene Schwermuth, ein halb scheuer, halb drohender Ausdruck, Jugendblüthe, die plötzlich eingeschneit keinen fröhlichen, fruchtbaren Sommer mehr verhieß, kurz, ein Gesicht, das auch reiferen Menschenkennern zu rathen aufgegeben hätte und auf sechzehnjährige Träumer einen unwiderstehlichen Eindruck machen mußte.
Wie heißen Sie, Fräulein, wenn ich fragen darf? eröffnete ich das Gespräch, da mein Freund that, als ob er kein wichtigeres Geschäft hätte, als sein Törtchen zu verzehren.
Lottka, erwiederte das Mädchen, ohne mich anzusehen und schon im Begriff, das Cabinet zu verlassen.
Lottka? sagte ich. Wie kommen Sie zu diesem polnischen Namen?
Mein Vater war ein Pole.
Damit war sie schon wieder im Laden.
Wollen Sie wohl die Güte haben, Fräulein Lottka, mir ein Glas Bischof zu bringen? rief ich ihr nach.
Sogleich! gab sie von drinnen zur Antwort.
Sebastian schien die Inserate der Vossischen Zeitung Zeile für Zeile zu studiren, als suche er die redliche Finderin seines verlorenen Herzens in diesen löschpapiernen Spalten. Ich blätterte in dem »Beobachter«. Kein Wort wurde zwischen uns gewechselt.
Nach drei Minuten kam sie wieder herein, das Glas mit dem dunkelrothen Wein auf einem Teller tragend. Ich konnte den Blick nicht von ihren weißen Fingern abwenden und fühlte, daß mir das Herz klopfte, als ich mir Muth faßte, sie wieder anzureden.
Wollen Sie sich nicht ein wenig zu uns setzen, Fräulein? sagte ich. Nehmen Sie meinen Platz im Sopha ein, ich hole mir einen Stuhl.
Ich danke, mein Herr, sagte sie, ohne jede Ziererei, aber auch mit einer fast beleidigenden Gleichgültigkeit. Mein Platz ist drinnen. Wenn Sie nichts weiter zu befehlen haben –
Bleiben Sie doch, bat ich und wagte es, eine ihrer Hände zu fassen, die sich kühl und glatt anfühlte und mir gleich wieder entglitt. Diese Zeitungen sind entsetzlich langweilig. Erlauben Sie, daß ich uns vorstelle. Hier mein Freund, Herr –
In diesem Augenblick ging die Ladenthür, ein kleines Mädchen schob sich verlegen herein, ein paar Kupfermünzen im Fäustchen, für die es irgend etwas Süßes haben wollte. Unsere Schöne benutzte die Gelegenheit, der neuen Bekanntschaft auszuweichen, und nachdem das Kind abgefertigt war, nahm sie ihren Platz in der Fensterecke beim Strickzeug wieder ein.
Unsere Position wurde immer unhaltbarer.
Die Kuchen waren längst aufgegessen, ich hatte, theils aus Verlegenheit, theils um mich als alten Trinker zu zeigen, das Glas Bischof auf Einen Zug geleert und sah nun mit glühender Stirn und unstäten Sinnen den Fliegen zu, die am Rande des Glases krochen und sich an den dunklen Tropfen berauschten. Sebastian schwieg wie ein indischer Büßer und schien beständig in den Laden hineinzuhorchen, wo sich nichts vernehmen ließ, als dann und wann das Klirren einer stählernen Stricknadel gegen den Ladentisch.
Komm, du Trappist, sagt' ich; wir wollen unsere Schulden bezahlen und dann frische Luft schöpfen. Meine Lungen sind wie candirt. Wenn man keine Fliege ist, kann man's hier nicht aushalten.
Leben Sie wohl, schönes Kind, sagte ich drinnen am Ladentisch mit aller Ueberlegenheit eines sechzehnjährigen Roués, der einen Band lyrischer Gedichte im Heine'schen Stil druckfertig zu Hause hat. Ich hoffe ein andermal die Bekanntschaft fortzusetzen, wenn Sie nicht so wichtige Geschäfte haben. Auf Wiedersehen!
Ich hätte wohl noch größere Albernheiten gesagt, aber sie sah mich mit einem so seltsam abwesenden Ausdruck an, daß ich mich plötzlich meiner Dreistigkeit schämte, ihr eine tiefe Verbeugung machte und eilte, auf die Straße zu kommen. Sebastian folgte mir auf dem Fuß; er hatte kaum gewagt, sie noch einmal anzusehen.
Nun? fragte er, als wir Arm in Arm durch die abendlich stille Straße hinschlenderten. Was sagst du?
Der Bischof ist sehr trinkbar, aber die Kuchen sind entsetzlich. Ich begreife nicht, wie du deine Portion und dann noch die meine hast zwingen können. Ich habe diese Conditorei im Verdacht, daß sie nur altbackene Waare führt, die sie dann aus zweiter Hand verkauft.
Was liegt daran? brummte er. Danach hab' ich nicht gefragt. Was du zu ihr sagst, möcht' ich wissen.
Lieber Freund, versetzte ich in einem väterlich überlegenen Ton, was soll man zu einem Mädchen sagen, das in dieser Luft zu athmen vermag! Das Weib ist immer ein Räthsel, weißt du wohl. – (Er nickte mit einem Seufzer. Ich hatte, Gott weiß wie, es dahin gebracht, für einen großen Weiberkenner bei ihm zu gelten; auch brauchte ich in meinen allgemeinen Sentenzen mit Vorliebe das Wort »Weib«, das für junge Leute stets einen mystischen Klang hat.) Dieses einsilbige Geschöpf – daß sie reizend ist, kann ich nicht läugnen! Aber ich warne dich vor ihr, Bastel. Glaube mir, sie hat kein Herz.
Du meinst –? unterbrach er mich fast erschrocken, ohne mich anzusehen.
Das heißt, sie hat entweder nie eins gehabt, oder es ist ihr durch Schicksale in der Brust versteinert. Sonst – würde sie wohl auf meine Anrede so kalt sich abgewendet haben? Sie hat eine Vergangenheit, sage ich dir, vielleicht auch eine Gegenwart, aber keine Zukunft.
Dieses große Wort, das ich ziemlich gedankenlos hingeworfen, hatte auf meinen Getreuen eine ungeahnte Wirkung. Wie von einer Schlange gebissen, fuhr er zusammen, zog hastig seinen Arm aus dem meinigen und sagte:
Du glaubst also, daß sie – daß sie nicht mehr – mit einem Wort: du zweifelst an ihrer Tugend?
Ich sah jetzt, was ich angerichtet hatte. Sei ruhig, Kind, sagte ich und schlang den Arm um seine Schulter. Komm, wir wollen hier keine Scene machen. Wie gesagt: sie ist ein Weib, also ein Räthsel. Was ihren Charakter betrifft, so habe ich keine Gründe, ihn zu verdächtigen. Ich wollte nur sagen, nimm dich in Acht, dich da in eine Geschichte zu stürzen, die nicht viel Gutes verspricht. Denn sie sieht nicht aus, als ob sie Den, den sie einmal gefangen hat, so bald wieder losließe. Wenn du willst, behalte ich ein Auge auf sie und verspreche dir jede Hülfe, die ein Freund dem Freunde leisten kann.
Wir waren gerade an einer dunklen, menschenleeren Ecke angelangt. Plötzlich umarmte er mich, drückte mir die Hand, als wollte er sie mit der seinigen zusammenschmelzen, und war gleich darauf in der nächsten Seitenstraße verschwunden.
Ich ging langsam, um mich abzukühlen, nach Hause; das seltsame Bild verließ mich keinen Augenblick. Am Theetisch meiner Eltern war ich noch so fieberhaft zerstreut, daß meine gute Mutter anfing sich zu ängstigen und mich früh zu Bett schickte. Als ich am andern Morgen in die Classe kam, fand sich, daß ich meine Plato-Präparation nicht gemacht hatte, und vom Geschichtslehrer mußte ich mir wegen Zurückdatirung der Schlacht bei Cannä um ganze hundert Jahre ziemlich höhnische Bemerkungen gefallen lassen.
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Der Tag war regnerisch, und ich schleppte die Stunden unlustig und gelangweilt hin. Sebastian ließ sich nicht sehen. Ich stand wohl eine Stunde lang an demselben Fenster, aus dessen Scheiben er gestern das Non più andrai getrommelt hatte, und sah tiefsinnig in die Regenpfützen auf dem Hof hinab, aus denen die Spatzen versprengte Haferkörner herausfischten. Im Pferdestall unten hörte ich Hufe stampfen und den Stallknecht den Weberschen »Jungfernkranz« pfeifen und ertappte mich plötzlich darauf, daß ich mitpfiff und ebenfalls mit den Füßen stampfte. Ich kam mir so mitleidswürdig und lächerlich zugleich vor, daß mir die Thränen nahe waren. Endlich bewaffnete ich mich mit einem Schirm und lief in die nasse, windige Stadt hinaus.
Ich war auf den Abend in eine befreundete Familie eingeladen, hatte aber noch eine Stunde Zeit. Die glaubte ich nicht besser anwenden zu können, als indem ich durch die Straße schleuderte, wo die Conditorei war und, auf der andern Seite auf und ab patrouillirend, den Laden fest im Auge behielt. Ich war unter meinem Regenschirm, zumal da es schon stark dunkelte, trefflich versteckt, aber dennoch hatte ich ein angenehm unheimliches Gefühl, als spielte ich in einem Räuberroman eine wichtige Rolle. Uebrigens war nichts Merkwürdiges zu erspähen. Der Laden schien viel besucht zu werden, aber fast nur von geringen Leuten, Kindern, Schulknaben, die ihr Taschengeld vernaschen wollten, hustenden alten Weibern, die für einen Groschen Bonbons kauften. Gefährliche junge Leute schienen nicht zu ahnen, daß drinnen hinter dem braunen Rouleau ein gefährliches junges Mädchen saß.
Durch diese Wahrnehmung sehr beruhigt, steuerte ich endlich über die Breite der Straße gerade auf den Laden zu, um zu sehen, ob man von außen hineinblicken könne. Die Gasflammen in beiden Zimmern brannten, die Fenster des Ladens aber waren so dicht verwahrt, daß kein Blick hindurchdringen konnte. Dagegen hatte das Rouleau im Cabinet einen Riß, gerade hinter dem Rücken des Anglers. Ich stand einen Augenblick still und spähte hinein, obwohl ich mich meines Spionirens schämte. Da saß richtig an derselben Sophaecke, wo er gestern gesessen, mein guter Sebastian vor einem leeren Teller, den ein Fliegenschwarm belagerte, den Blick über die Vossische Zeitung weg ins Leere gerichtet. Eine seltsame Empfindung überkam mich, halb Eifersucht, halb Genugthuung darüber, daß er es noch nicht weiter gebracht hatte.
Gleich darauf machte er eine Bewegung, wie um aufzustehen und nach seiner Mütze zu greifen. Ich fuhr vom Fenster zurück und schlich, wie ein Dieb, der ums Haar ertappt worden wäre, an den Häusern entlang meines Weges.
In der Gesellschaft, wo man mich erwartete, galt es sich zusammenzunehmen. Ich war lustiger, als gewöhnlich, machte den Töchtern des Hauses mit der ganzen täppischen Nonchalance eines sechzehnjährigen Lebemanns den Hof, ließ mich sogar erbitten, meine neuesten Gedichte vorzulesen, und trank mehrere Gläser eines starken Ungarweins, die mich nicht gerade klüger oder bescheidener machten. Als es gegen Zehn ging, brach ich plötzlich auf, unter dem Vorwande, mit einem Freunde noch eine Verabredung zu haben.
Als Nachtschwärmer zu gelten, schien mir für einen jungen Dichter dazuzugehören. Wenn man gewußt hätte, daß es eigentlich ein deutscher Aufsatz war, der noch ins Reine geschrieben werden sollte, der ganze Nimbus wäre zerstoben!
Und freilich stand es auch um den unseligen Aufsatz übel genug. Die Nacht war wundervoll, die Luft nach dem langen Regen von einer so weichen, lieblichen Stille, wie ein Menschenherz, das sich eben mit einem alten Feinde ausgesöhnt hat – (unwillkürlich gerathe ich wieder in den lyrischen Stil jener Tage), der Himmel funkelnd und schimmernd von reingewaschenen Sternbildern. Trotz der späten Stunde gingen Frauen und Mädchen plaudernd durch die Straßen, ohne Hut und Shawl, nur etwa ein Taschentuch um den Kopf gebunden, so wie sie die schöne Nacht aus den Zimmern weggelockt hatte, um nach dem unfreundlichen Tage sich noch im Freien zu erquicken. Alle Fenster standen auf, die Rosen dufteten heraus, hie und da hörte man auf einem Clavier ein Mendelssohn'sches Lied ohne Worte spielen oder eine schöne Frauenstimme halblaut eine Arie singen.
Wie es kam, wußte ich nicht, aber plötzlich war ich bei dem Laden angelangt und hatte den Thürgriff schon in der Hand, ehe ich mich besinnen konnte, was ich hier suchte.
Als ich eintrat, erhob sie den Kopf von dem Ladentisch, aus dem er, in ihren Arm geschmiegt, geruht hatte. Man sah es ihren Augen an, daß sie geschlafen hatte. Ein Buch, an dem sie sich müde gelesen, fiel, als sie aufstand, ihr vom Schooß.
Ich habe Sie gestört, Fräulein Lottka, sagte ich. Verzeihen Sie, ich werde gleich wieder gehen. Ich kam aber gerade hier vorbei, und weil die Nacht so schön war – und ich Sie auch seit gestern – – Wollen Sie mir wohl ein Glas Bischof geben, Fräulein Lottka?
Seltsam, daß meine sonst ganz zuversichtliche Beredsamkeit diesem stillen Wesen gegenüber regelmäßig ins Stocken gerieth.
Was haben Sie da gelesen? fing ich nach einer Weile wieder an, während ich im Laden auf und nieder ging. Ein Buch aus der Leihbibliothek? So ein abgegriffenes Exemplar ist zu schlecht für Ihre weißen kleinen Hände. Erlauben Sie mir – ich habe eine Menge hübscher Bücher zu Haus – auch Romane –
Bemühen Sie sich nicht, sagte sie ruhig, aber nicht unfreundlich. Ich habe keine Zeit, Romane zu lesen. Das da ist eine französische Grammatik.
Sie studiren Französisch auf Ihre eigene Hand?
Ich spreche es schon ein wenig; ich möchte es nur gründlicher lernen.
Sie verstummte wieder und machte sich mit Tellern und Löffeln zu schaffen.
Fräulein Lottka, sagte ich nach einer Pause, in der ich mir bei dem bärbeißigen alten Blücher drin im Cabinet Muth geholt hatte, erlauben Sie mir eine Frage: Fühlen Sie sich glücklich in der Lage, in der Sie sich gegenwärtig befinden?
Sie sah mich mit ihren großen, überwachten Augen so erstaunt an, wie etwa ein Kind im Märchen einen Vogel, der plötzlich zu reden anfängt.
«Wie kommen Sie zu dieser Frage? sagte sie.
Legen Sie es mir nicht als herzlose Neugier aus, fuhr ich lebhafter fort und zerbröckelte in der Aufregung eine kleine Biscuit-Pyramide, die gerade vor mir stand. Glauben Sie mir, ich fühle ein wahrhaft inniges Interesse für Sie. Wenn Sie einen Freund bedürfen – wenn Sie etwa Schicksale gehabt haben, oder – Sie verstehen mich – das Leben ist so ernst, Fräulein Lottka – und gerade die Jugend –
Ich verwirrte mich immer mehr und fühlte, daß mir der Schweiß vor die Stirn trat. Ich hätte jetzt viel darum gegeben, wenn der alte Blücher mich nicht zu dieser Rede ermuthigt hätte.
Doch wurde mir eine weitere Beschämung erspart.
Die Thür, die ins Innere des Hauses führte, ging auf, und die Frau, der der Laden gehörte, erschien, eine gutmüthige, vierschrötige Person mit einer dicken Tüllhaube, die mir so höflich als möglich auseinandersetzte, ich sei schon eine Viertelstunde über ihre gewöhnliche Zeit geblieben, da sie um halb elf Uhr das Gas auszumachen pflege. Hastig bezahlte ich das nur zur Hälfte geleerte Glas, warf dem schweigsamen Mädchen einen vielsagenden, halb vorwurfsvollen Blick zu und verließ den Laden.
Diese Nacht war ich nicht auf Rosen gebettet. Ich machte allen Ernstes noch einen Versuch, den deutschen Aufsatz zu Stande zu bringen – »Vergleich zwischen des Sophokles Antigone und Goethes Iphigenie«; – aber was waren mir diese beiden Hekuba's? Auf den Rand des Heftes fing ich an Verse zu schreiben, deren Melodie mich endlich so einlullend beruhigte, daß ich nicht lange nach Mitternacht auf dem Stuhle einschlief und trotz der unbequemen Lage erst am Morgen erwachte, obwohl ich in meinen Versen gestanden hatte, daß ich von Neuem liebte und, was unter allen erschwerenden Umständen der schlimmste war, daß ich die Erkorene meines Freundes liebte.
Das war auch am andern Morgen mein erster wacher Gedanke. Ich entsinne mich aber wohl, daß dieses Unglück, wofür ich es natürlich ansah, mich eigentlich durchaus nicht unglücklich machte, daß es im Gegentheil mein Selbstgefühl erhöhte und mich in meinen eigenen Augen sehr viel interessanter erscheinen ließ, da ich nun das Alles, wovon ich bisher nur gelesen, an eigener Haut erfahren konnte. Ich war unermüdlich, mir die traurigen und herzzerreißenden Scenen auszumalen, zu denen diese Verwicklung nothwendig führen mußte, und ein unsäglich süßes Mitleid mit mir selbst, mit dem guten Sebastian und der unschuldigen Urheberin unserer Leiden bemächtigte sich meiner Gedanken.
Statt ins Gymnasium zu gehen, wo ich heute ohne den deutschen Aussatz hätte erscheinen müssen, zog ich es vor, »die Heckenschule zu besuchen«, wie die Franzosen sagen, in den Thiergarten zu schlendern und dort auf einer einsamen Bank im menschenleersten Theil der Anlagen meine jungen Schmerzen zu Papier zu bringen. Heine und Eichendorff stritten sich damals um meine unsterbliche Seele. An jenem Morgen aber war ich für die Ironie des »Buchs der Lieder« noch nicht reif, und die Wipfel über mir rauschten viel zu romantisch, um andere Töne anzuschlagen, als zu einem jungen »Taugenichts« paßten. Gegen Mittag sah ich mit wehmüthiger Befriedigung, daß das Heft »Neue Liebe« überschrieben, das ich eben angefangen, für meinen Band ein ansehnlicher Zuwachs werden würde, wenn es so fortginge.
Am Nachmittag, als ich an nichts Arges denkend in meinem Zimmer saß und versuchte, das Profil meiner heimlich Geliebten aus dem Gedächtniß nachzuzeichnen, hörte ich Sebastian's Schritt auf der Treppe. Hastig verbarg ich das angefangene Blatt und tauchte eine Feder ein, als würde ich in einer Arbeit unterbrochen. Als er hereintrat, hatte ich nicht das Herz, ihm ins Gesicht zu sehen.
Auch er warf nur abgewendet einen Gruß hin, streckte sich nach seiner Gewohnheit in meinem Lehnstuhl aus und fing an eine kurze Pfeife zu rauchen.
Erst nach einer halben Stunde sagte er:
Bist du wieder da gewesen?
Ja, sagte ich und schlug dabei scheinbar sehr eifrig in meinem Lexikon nach.
Und was denkst du jetzt von ihr?
Was ich denke? Ich habe das Räthsel noch nicht gerathen. So viel aber weiß ich, daß sie kein richtiges junges Mädchen ist, sondern so was wie eine Wassernixe, eine Melusine, »kühl bis ans Herz hinan", und wer weiß, ob ihre Gestalt nicht in einen Fischschwanz endet, desinit in piscem –
Er sprang auf. Ich muß dich bitten, solche Reden –
Beruhige dich, altes Kind! sagte ich. Glaube nicht, daß ich leichtfertig von ihr denke. Eine Vergangenheit hat sie, das steht fest. Aber braucht es eine Schuld zu sein? Wenn es nun ein Unglück wäre, ein großer Schmerz, oder eine große Liebe?
Du meinst –? Und er sah mich mit einem ängstlichen Blick an.
Ich würde es gar nicht unbegreiflich finden, fuhr ich fort, wenn sie – mit diesen frühreifen Augen und der vornehmen Ruhe – schon jetzt die ganze Hölle einer hoffnungslosen Liebe durchgemacht hätte. Vergiß auch nicht den polnischen Vater. Die Polinnen fangen alle früh an, Leidenschaften zu erregen und selbst zu erleben. Wie das arme Kind in diese Fliegenhöhle gerathen ist, mag Gott wissen. Wir Beide werden sie schwerlich daraus erlösen können.
Darauf folgte wieder eine stumme Viertelstunde, während der er in meinem Liederheft blätterte.
Ich möchte mir dies Lied abschreiben, sagte er plötzlich und reichte mir ein Blatt hin.
Wozu? fragte ich. Höre, Bastel, ich glaube fast, du willst mit meinem Kalbe pflügen.
Schäme dich! sagte er und wurde dunkelroth. Ich mich für einen Dichter ausgeben! Aber es geht mir eine Melodie dazu durch den Kopf; ich habe lange nichts componirt.
Such dir was Besseres aus, was Herzhafteres. Was willst du mit dem schwachköpfigen Gewinsel. Das Lied ist schon ein halbes Jahr alt (aus jenen »alten Tagen« nämlich, auf die ich mich kaum noch besinnen konnte).
Er hatte das Blatt wieder an sich genommen und sang jetzt, das Gesicht darüber hingebeugt, denn er war etwas kurzsichtig, mit halber Stimme die Strophen in einer einfach rührenden Weise:
Wie könnt' ich dich verdienen,
Und dient' ich sieben Jahr,
Und wär' ich dir erschienen
An Treu' unwandelbar!
Und würd' ich hoch erhoben,
Und würd' ich viel geehrt,
Die Liebe stammt von oben,
Die achtet keinen Werth.
Du Baum, das Haupt gesenket,
Und blühst du noch so schön,
Weiß Gott, ob dich auch tränket
Ein Regen aus den Höh'n.
Du Herz, in Feuerproben
Durch Lust und Leid verklärt,
Die Liebe stammt von oben,
Die achtet keinen Werth.
Er sprang auf, nickte mir zerstreut zu und stürmte aus dem Zimmer.
Nicht lange nachher trieb es auch mich hinaus. Ich hatte kein eigentliches Ziel, nur die Unruhe in meinem Blut wollte ich durch Ermüdung beschwichtigen.
Als ich eine Stunde im Sturmschritt durch die Stadt geirrt war, fand ich mich unversehens dicht an der verhängnißvollen Straße. Es zog mich und hielt mich wieder zurück. Ich war mir dunkel bewußt, gestern Nacht nicht gerade die vortheilhafteste Rolle gespielt zu haben. Ich mußte darauf gefaßt sein, daß sie den fremden jungen Menschen, der sich ihr so zudringlich zum Ritter angetragen, mit einem spöttischen Lächeln begrüßte. Aber um so mehr lag mir daran, ihr eine bessere Meinung von mir beizubringen. Also ermannte ich mich und bog rasch um die Ecke.
In demselben Augenblick erkannte ich meinen Freund und Nebenbuhler, der mit großen Schritten, die Mütze tief in die Stirn gedrückt, ebenfalls dem kleinen grünen Hause zusteuerte. Auch er hatte mich erkannt, und wie auf ein Commandowort blieben wir Beide stehen, um Beide in der nächsten Secunde Kehrt zu machen, als hätten wir uns im Wege geirrt.
Das Herz schlug mir heftig; Scham über unser lächerliches Zurückprallen und Aerger, daß Einer dem Andern im Wege stehen mußte, brannten in meiner Seele. Ich fühlte, wenn das so fort dauerte, würde ich den guten Freund von ganzem Herzen hassen lernen.
In der widerwärtigsten Stimmung schlich ich die Straße hinab und überlegte bei mir, ob es nicht das Gescheidteste und Männlichste wäre, wieder umzukehren und mein Heil zu versuchen, gleichviel mit wem ich dabei Händel bekäme, und wenn eine Legion alter Freunde sich mir in den Weg stellte. Hatte ich nicht so gut ein Recht, wie jeder Andere, mich in das Mädchen zu vergaffen? Sollte ich mich feige zurückziehen, nachdem ich gestern erst den Mund voll genommen und mich dem räthselhaften Wesen zum Freunde angetragen hatte? Nimmermehr! Auf der Stelle hin zu ihr, und ob die Welt darüber zu Grunde ginge!
Ich drehte mich hastig um, da stand Sebastian vor mir. In der Aufregung hatte ich die eiligen Schritte überhört, mit denen er mich eingeholt hatte.
Du hier? rief ich mit geheucheltem Erstaunen.
Paul, sagte er, und seine wohlklingende tiefe Stimme zitterte ein wenig, wir wollen keine Komödie mit einander spielen. Wir – wir haben uns zu lieb dazu. Ich weiß, wo du jetzt hinwolltest; ich war auf demselben Wege. Aber glaube mir, wenn das so fortginge – ich hielte es nicht aus. Du liebst sie auch, versuche es nicht zu läugnen. Ich habe es dir wohl angemerkt.
Und wenn ich sie liebte? fuhr ich halb trotzig, halb beschämt heraus. Ich gestehe, der Eindruck, den sie auf mich gemacht hat –
Komm da in den Thorweg, sagte er. Wir versperren hier den Weg, und du sprichst so laut, daß die Leute aufmerksam werden. Siehst du, ich hatte Recht; es würde mich auch nur wundern, wenn es anders wäre. Aber du wirst begreifen, daß das unmöglich ist. Einer von uns Beiden muß zurücktreten.
Ja wohl, sagte ich und bemühte mich, eine feindselig entschlossene Miene anzunehmen. Einer von uns muß entsagen. Ich sehe nur nicht ein, warum gerade ich – etwa weil ich der Jüngere bin – die lumpigen zwei Jahre –und übers Jahr bin ich so gut Student wie du.
Ich hatte das kaum gesagt, so bereute ich das herzlose, vorschnelle Wort. In diesem Augenblick klang es wie eine demüthigende Prahlerei.
Uebrigens, setzte ich hastig hinzu, kommt es ja überhaupt nicht auf uns an, wer hier den Vortritt haben soll, sondern auf sie, wen sie etwa vorzieht. Einstweilen scheinen wir Beide gleich wenig Aussichten zu haben.
Das ist wahr, sagte er. Aber trotzdem, ich kann es nicht übers Herz bringen, mit dir gleichsam in die Wette – und dann, du bist der Kühnere, der Beredtere; ich müßte das Spiel doch von vornherein verloren geben, wenn wir neben einander ihr unsere Gefühle – du weißt, was ich sagen will.
Wenn es so ist, sagte ich und sah mit angenommener Kälte durch den dunklen Hausflur in ein Gärtchen hinein, wo ein einsamer Rosenstock blühte, wenn du dich nicht getraust, so bist du am Ende doch nicht so sehr verliebt, wie du glaubst und wie ich es von mir sagen kann. Ich habe eine schlaflose Nacht hinter mir (daß ich von Mitternacht bis sieben Uhr Morgens auf dem Stuhl genickt hatte, rechnete ich nicht) und einen verlornen Tag. Also dächte ich –
Ich konnte den Satz nicht vollenden. Das Erblassen seines guten, treuherzigen Gesichts sagte mir, wie viel tiefer ihm diese Unterredung ging, als mir, für den sie fast mehr einen novellistischen Reiz hatte. Ich empfand wieder, wie lieb er mir war.
Höre, sagte ich, so kommen wir nicht weiter. Freiwillig, wie ich merke, tritt Keiner zurück. Das Schicksal mag entscheiden.
Das Schicksal?
Oder der Zufall, wenn du lieber willst. Ich werfe hier dies Achtgroschenstück auf die Erde. Wenn das Wappen oben bleibt, hast du gesiegt; wenn es die Schrift ist –
Thu's! sagte er halblaut. Obwohl es schöner gewesen wäre –
Es gilt also?
Es gilt.
Die Münze fiel zu Boden. Ich bückte mich, in dem Zwielicht, wo wir standen, das Ergebniß zu erkennen. Was ist oben? hörte ich ihn murmeln, während er an dem Thürpfosten lehnte. Er selbst wagte nicht hinzusehen.
Bastel, sagt' ich, es hat nicht sein sollen. Die Schrift ist oben. Du begreifst, da wir einmal das Gottesurtheil herausgefordert haben –
Er rührte sich nicht, und kein Laut kam von seinen Lippen. Als ich mich langsam aufrichtete und das schicksalkündende Geldstück wieder einsteckte, sah ich, daß er die Augen zugedrückt hatte und wie ein im Stehen Schlafender den Kopf zurücklehnte gegen den hölzernen Thorflügel.
Nimm es nicht so schwer, sagte ich. Wer weiß, schon in ein paar Tagen komme ich und sage dir, daß sie mich nicht mag, daß das Feld für dich frei ist, daß –
Gute Nacht! murmelte er plötzlich und stürmte mit großen Schritten davon.
Ich blieb nur einen Augenblick zurück; sein jähes Forteilen hatte mir die Schuppen von den Augen gerissen. Ich fühlte es, daß meine Empfindung für das räthselhafte Wesen sich mit der seinigen nicht messen konnte, und daß ich zum Schelm an ihm werden würde, wenn ich von der albernen Entscheidung des Zufalls Vortheil zöge.
In zwanzig Schritten hatte ich ihn eingeholt.
Ich mußte alle meine Kraft aufbieten, um ihn festzuhalten, da er mit Gewalt sich losreißen wollte.
Höre, sagte ich, ich habe mich anders besonnen. Nein, du mußt mich anhören, wenn ich nicht glauben soll, daß es dir mit unserer Freundschaft überhaupt nie Ernst war. Ich schwöre es dir hiermit feierlich zu, Bastel, ich trete sie dir ab; ich entsage ganz und für immer jeder Hoffnung und jedem Wunsch. Jetzt erst ist es mir klar geworden: Dich würde es vernichten, wenn du mich als den Begünstigten sähest. Ich – ich werde damit fertig werden; du weißt, man stirbt nicht gleich, wenn auch nicht alle Blüthenträume reifen. Gieb mir die Hand, Bastel, und kein Wort mehr!
Er fiel mir um den Hals, ich kam mir in diesem Augenblick sehr edelmüthig und erhaben vor, als hätte ich auf ein Königreich, dessen Erbe ich war, zu Gunsten eines Vetters von einer Seitenlinie verzichtet. Wer uns gesehen, wie wir dann Hand in Hand noch eine Stunde lang herumgingen, und gewußt hätte, daß wir uns über eine Geliebte vertragen hatten, die wahrscheinlich Keinem von uns nur im Geringsten nachfragte, hätte sich des Lächelns über diese gegenstandslose Großmuth wohl nicht enthalten können.
Ich bestand darauf, ihn bis dicht an die Ladenthür zu begleiten. Ich wollte zeigen, daß das Opfer nicht über meine Kräfte ging. Glück auf! rief ich ihm zu, als er den Thürgriff schon in der Hand hatte, und zeigte ihm ein heiteres Gesicht. Dann verließ ich ihn, in meine Tugend gehüllt, deren heroischer Faltenwurf mir vollen Ersatz gab für Alles, worauf ich verzichtet hatte.
Ich schlief die Nacht so gut, daß ich mich am Morgen selber schämte, nicht einmal von ihr geträumt zu haben. So rasch, so ohne einen Funken zurückzulassen, war die Flamme dieser »neuen Liebe« ausgelöscht? Ich mochte es mir selbst nicht eingestehen, um die Schwere der tragischen Collision nicht in meinen eigenen Augen zu verringern. Da es ein Sonntag war, konnte ich mich ungestört meinen selig unseligen Nachgefühlen überlassen. Ein paar Strophen eines Gedichts, das ich an jenem Morgen niederschrieb, sind mir noch im Gedächtniß geblieben:
Von Leid verwirrt, von Neid verzehrt,
Ein Aschenbrödel sitzt am Herd.
Der Herd ist kalt, die Asche fliegt,
Kein Sonnenschein in Lüften liegt.
Wie ward so hart die
Freundschaft nun,
Der armen
Liebe weh zu thun?
Die Blasse wacht und weint sich blind,
Und sind doch Einer Mutter Kind.
Die Liebe prunkt gar stolz einher,
Ihr blühn die Wangen mehr und mehr;
Die Blasse sitzt und hütet's Haus,
Geht nicht zu Spiel und Tänzen aus.
Doch kommt die Schwester heim zu Nacht,
Das Aschenbrödel stiert und lacht,
Singt: Blut im Schuh! Blut ist im Schuh –
Das stiehlt der Stolzen Schlaf und Ruh –
Und man sage noch, daß die Jugend die Zeit des unbewölkten Glückes sei, sie, die in Verworrenheit und selbstgeschaffenen Qualen sich um die besten Gaben des Himmels betrügt, sich Empfindungen vorlügt, nur um unglücklich sein zu dürfen, und alles Versagte mit Leidenschaft ans Herz drückt! –
——————
Etwa vierzehn Tage mochten vergangen sein, während deren ich meinen glücklichen Nebenbuhler nur flüchtig und zufällig zu sehen bekam. Aus einem gewissen Zartgefühl, das ich ihm hoch anrechnete, vermied er es, wie sonst, Tag um Tag die Hühnerstiege zu meinem Zimmer zu erklimmen, und wenn wir uns auf der Straße begegneten, trennten wir uns wieder nach geichgiltigem Gespräch und einem ziemlich kühlen Händedruck.
Als es aber in die dritte Woche ging, wurde dieser gespannte Zustand mir unerträglich. Wir hatten Ferien, die Tage waren zu heiß zum Arbeiten wie zum Spazierengehen, und auch der kastalische Quell war mir endlich eingetrocknet. Jetzt erst merkte ich, daß mir die stille Gegenwart meines Freundes zum Bedürfniß geworden war; ich sehnte mich sogar danach, ihn mit seiner tiefen Stimme einmal wieder das Lied: »Ich glaube, in alten Tagen« singen zu hören, und kam mir in meiner Einsamkeit so unselig vor, wie Peter Schlemihl, der seinen Schatten verloren hat.
Endlich entschloß ich mich, ihn aufzusuchen.
Er wohnte jenseits der Spree, in einem Hause der Heiligengeiststraße hoch unter dem Dach, bei einer Schneidersfamilie, die auch für seinen Tisch und seine wenigen Bedürfnisse sorgte. Ich muß hier einschalten, daß er von seinen Eltern nur eine geringe Unterstützung erhielt und das Fehlende durch Musikstunden, die ihm ziemlich schlecht bezahlt wurden, hinzuerwarb.
Als ich in sein Stübchen trat, saß er gerade an einem alten gemietheten Clavier und beschrieb ein Notenblatt, das auf seinen Knieen lag. Mit einem freudigen Ausruf sprang er auf, ließ das Blatt fallen und schüttelte mir die dargebotene Hand mit seinen beiden. Dann mußte ich mich auf das harte Sopha setzen, eine Cigarre anzünden und trotz meines Sträubens ein Glas Bier trinken, das die Schneidersfrau aus einem nahen Keller heraufholte.
Dabei sprachen wir unserer Gewohnheit nach zuerst Beide nichts, sahen uns aber häufig an, lächelten und waren herzlich froh, wieder einmal beisammen zu sein.
Bastel, sagte ich endlich und hüllte mich dabei in eine möglichst dicke Dampfwolke, ich muß dir ein Geständniß machen: du brauchst dich gar nicht weiter vor mir zu geniren, was die bewußte Sache betrifft. Die Wunde, die mir gewisse Augen geschlagen (wieder der alte lyrische Styl, diesmal etwas spanisch gefärbt), entweder ist sie nicht so tief gewesen, wie ich Anfangs glaubte, oder die Trennung hat Wunder gethan. Genug, ich bin geheilt, und wenn du diese Wochen dir zu Nutze gemacht hast und glücklich gewesen bist; glaube mir, ich werde mich ohne alle Mißgunst darüber freuen.
Er sah mich mit strahlenden Augen an. Ist das wahr? sagte er. Nun wahrhaftig, du nimmst mir einen Stein vom Herzen. Hundertmal habe ich mir seitdem Vorwürfe gemacht, daß ich dein Opfer angenommen, und die besten Stunden ihr gegenüber hat mir der Gedanke verbittert, daß ich dich darum gebracht hätte. Ich weiß freilich nicht, ob du mit Dem zufrieden wärst, was mich schon sehr glücklich macht. Und dann fühle ich auch wieder, daß es mir doch unmöglich gewesen wäre, zu verzichten. Nun aber, nun ist alles gut.
Er drückte mir von Neuem die Hand; seine Freude war so rührend, daß ich mir mit meinen künstlich erhitzten Gefühlen recht armselig daneben vorkam.
Er erzählte mir nun, wie weit er mit ihr sei. Es gehörte freilich ein bescheidenes Gemüth und eine sehr echte Neigung dazu, um durch die Fortschritte, die er in drei Wochen gemacht, nicht eher entmuthigt, als aufgemuntert zu werden. Abend für Abend war er hingegangen und hatte über eine Stunde in dem kleinen Cabinet gesessen. Offenbar war sie durch diese stille, ehrerbietige Huldigung gerührt worden und hatte sich die letzten Male herbeigelassen, sich ihm gegenüberzusetzen und harmlos mit ihm zu plaudern Einmal sogar, als er sich um ein paar Stunden verspätete, empfing sie ihn mit unverhohlener Unruhe und gestand ihm, daß sein Ausbleiben sie geängstigt habe. Sie sei schon so daran gewöhnt, täglich mit ihm zu plaudern, und da sie sonst Niemand habe, der den geringsten Antheil an ihr nehme – dabei war sie stecken geblieben, wahrscheinlich weil er seine Freude über dies erste herzliche Wort zu lebhaft äußerte. Er selbst hatte ihr Alles erzählt, was von seinen Verhältnissen ihr nur irgend wissenswerth sein konnte. Von ihrem Leben aber, ihrer Familie, ihrer Vergangenheit hatte sie ihm noch nicht das Geringste vertraut, nur daß sie sich aus der dumpfen Enge dieses Ladens wegsehne und am liebsten weit fort in die Fremde ziehen würde. Sie spare schon seit einem Jahr, um das Reisegeld zusammenzubringen, und lerne im Stillen Französisch und Englisch, um bei der ersten Gelegenheit in die weite Welt zu gehen: Wenn du sie dabei sähest, Paul, schloß er seine Beichte, und ihre Stimme hörtest, wie traurig und ergeben sie das Alles sagt, wahrhaftig, du würdest ebenfalls darauf sterben, daß nie ein schlechter Gedanke in ihrem Herzen sich geregt hat, daß sie so rein und unschuldig ist, wie man es von Engeln und Heiligen sagt, und würdest begreifen, daß ich entschlossen bin, Alles daran zu setzen, um sie noch einmal glücklich zu machen.
Du hast im Ernst den Vorsatz, sie zu heirathen?
Kannst du daran zweifeln? Das heißt, wenn sie mich will. Daß ich es ehrlich meine, habe ich sie deutlich genug merken lassen, obwohl – was man eine förmliche Liebeserklärung nennt – du weißt, daß mir das Herz immer am wenigsten überläuft, wenn es am vollsten ist. Uebrigens eilt es damit auch nicht. Sie kann noch lange nicht daran denken, fortzugehen, und ich, wenn ich mich auch sehr zusammennehme, vor vier bis fünf Jahren –
Vier bis fünf Jahren? Da würdest du kaum das Auscultator-Examen hinter dir haben.
Freilich, sagte er. Aber daran denk' ich auch nicht. Ich werde mich nicht auf die lange Bank der Juristerei setzen, die ohnedies sehr wacklig ist. Ich denke es mit der Musik rascher zu Etwas zu bringen. Schlimmsten Falls, wenn es hier nicht gehen sollte, und meine Eltern werden es schwerlich gern sehn, versuchen wir unser Glück drüben in Amerika.
Ich sah ihn mit Stolz und Bewunderung von der Seite an. Er kam mir plötzlich um zehn Jahr älter vor, und ich gestand mir, daß ich bei aller lyrischen Erhabenheit meiner Weltanschauung noch nicht fähig gewesen wäre, so entschiedene Pläne zu fassen.
Und sie? fragte ich. Würde sie darauf eingehen?
Ich weiß es nicht, erwiederte er, still vor sich hin sinnend. Ich habe sie, wie gesagt, noch nicht direct befragen können. Einmal kam die Rede aufs Heirathen. Sie werde nie heirathen, sagte sie ganz bestimmt. Auch nicht, wenn der Rechte käme? warf ich so verloren hin. Dann erst recht nicht, sagte sie und unterdrückte einen Seufzer. Da werde nun einer klug daraus.
Possen! sagte ich. So reden alle Backfische. Hernach giebt sich das schon.
Uebrigens ist sie ein Jahr älter, als wir dachten, nur um vier Wochen jünger als ich. Apropos – ich hätte eine Bitte an dich – das heißt, wenn du selbst im Stande bist –
Nur keine lange Vorrede. Du weißt, daß ich ebenfalls nicht blöde bin, wenn du mir einen Gefallen thun kannst.
Ihr Geburtstag ist morgen. Ich habe das Datum ihr neulich abgelockt, als sie sagte, sie fühle sich schon sehr alt, sehr lebensmüde. Wenn sie morgen sterben müßte, würde es ihr keinen Augenblick leid thun. Nun war ich, eben da du kamst, damit beschäftigt, die Melodie aufzuschreiben, die ich zu deinem Liede gemacht habe, du entsinnst dich wohl: »Wie könnt' ich dich verdienen –«, und einen Strauß wollt' ich ihr auch dazu geben. Aber es wurmt mich doch, daß ich ihr nichts Besseres zu schenken habe. Sie hat ihr Kleid oben mit einer alten schwarzen Nadel zugesteckt, an der der Glasknopf noch dazu einen Sprung hat. Eine kleine Broche würde ihr gewiß Spaß machen, nur leider – meine Clavier- und Gesangstunden haben aufgehört, die Meisten sind verreis't, einige rückständige Honorare kann ich jetzt nicht einfordern – von meinen paar Siebensachen noch etwas zu verkaufen, ist nicht thunlich, da ich ohnehin alle Luxusgegenstände –
Er sah sich mit wehmüthiger Ironie in seinem kahlen Stübchen um.
Da muß Rath geschafft werden, sagte ich; es versteht sich ganz von selbst, daß der Geburtstag mit möglichstem Glanz gefeiert wird. Ich bin zwar im Augenblick auch kein Krösus – dabei zog ich ein sehr schmächtiges Beutelchen aus der Tasche, in dem nur einige kleine Münze klimperte – aber ich besitze allerlei überflüssige fahrende Habe. Da fällt mir eben ein, daß ich den großen Passow seit Monaten nicht mehr gebraucht habe, seit ich zufällig bei meinem Vater den kleinen Rost entdeckt habe, in dem sich's viel bequemer nachschlägt. Komm! Der alte Wälzer soll uns aus der Noth helfen.
Nach einigen schwachen Versuchen, dieses Opfer auf dem Altar der Freundschaft abzuwehren, begleitete er mich in meine Wohnung, wo sich Jeder mit einem Theil des dicken Lexicons belud. Eine Stunde später traten wir, um fünf Thaler reicher, in den Laden eines kleinen Goldarbeiters, da wir uns nicht getrauten, bei einem der großen Juweliere unter den Linden unseren Einkauf zu machen.
Der Mann mochte uns ganz richtig taxiren. Er behandelte uns aber wie junge Prinzen, die in einer Harun-al-Raschid-Laune an einer geringen Hütte anklopfen. Für eine kleine goldene Schlange, die sich nach einigen Windungen in den Schwanz biß und uns dabei aus zwei viereckigen Rubinenaugen anschielte, forderte er zehn Thaler, ließ sich aber auf sieben herunterhandeln, während die Broche wohl nur die Hälfte werth war.
Das ganze Kaufgeschäft hatte ich abmachen müssen.
Sebastian war so verlegen und vertiefte sich so beharrlich in die Betrachtung der übrigen Goldwaaren, daß der Händler endlich mißtrauisch wurde und ihn scharf beobachtete, als ob er es mit einem angehenden Taschendiebe zu thun hätte.
Da hast du das Kleinod, sagte ich, als wir wieder auf der Straße waren; und nun gute Nacht, und höre, du kannst ihr morgen auch in meinem Namen gratuliren. Uebrigens hoffe ich, daß sie sich meiner nicht mehr erinnert. Ich habe mich ihr nicht gerade von meiner glänzendsten Seite gezeigt. Du lässest dich wohl einmal wieder sehen und berichtest, was für einen Effect die Schlange in eurem Paradiese gemacht hat, glücklicher Adam, der du bist!
So verließ ich ihn; ein Rest von Neidgefühl wollte in mir aufglimmen. Ich zerdrückte aber mannhaft die ersten Funken und sang, als ich in der Abendkühle allein durch den Thiergarten wandelte, folgendes Lied vor mich hin, das, bis auf den Anachronismus des jungen Rosenflors in den Hundstagen, im Uebrigen meine damalige Stimmung unverkünstelt aussprach:
Nun stehn die Rosen in Blüthe,
Die Liebe wirft ihr Netzlein aus.
Du flatterhafter Falter,
Du hilfst dir nicht heraus.
Und wenn ich wäre gefangen
In dieser jungen Rosenzeit,
Und wär's von seliger Liebe,
Meine Jugend thäte mir leid.
Ich mag nicht sinnen und sehnen,
Durch blühende Wälder schweift mein Lauf;
Mein Herz auf fröhlichen Schwingen
Fliegt in die Wipfel hinauf. –
——————
Am folgenden Abend saß ich arglos und guter Dinge mit meinen Eltern am Theetisch, als ich hinausgerufen wurde: ein Freund wünsche mich zu sprechen; es mochte gegen zehn Uhr sein; ich konnte mir nicht denken, wer noch so spät mich aufsuchte.
Als ich in mein Zimmer kam, fand ich Sebastian in seiner gewohnten Lage im Großvaterstuhl, erschrak aber, als ich ihm ins Gesicht leuchtete und seine verzweifelte Miene und die Blässe auf seinen Wangen entdeckte.
Du bist es? rief ich. Und in dieser Verfassung? Hat die Geburtstagsfeier ein Ende mit Schrecken genommen?
Paul, sagte er, ohne sich zu rühren, als hätte ein schwerer Schlag ihn hülflos niedergestreckt, es ist Alles aus! Ich bin ein verlorener Mensch.
Du wirst dich schon wiederfinden, mein Junge, wagte ich. Komm, ich will dir suchen helfen. Erzähle mir nur erst.
Keine Wortspiele, wenn du mich nicht aus dem Zimmer treiben willst! Ich sage dir, es ist Alles sehr ernst. Jetzt erst hab' ich ganz eingesehn, was für ein Engel sie ist, und soll sie nun zum letzten Mal gesehen haben!
Ist sie fort? in die weite Welt?
Er schüttelte düster den Kopf. Erst sehr allmählig konnte ich ihm die Ursache seiner Verzweiflung ablocken, die in Kurzem folgende war. Er hatte sich zur gewohnten Abendstunde bei seiner Liebsten eingefunden, und erst nachdem er zur Feier des Tages einen Kirschkuchen mehr als sonst gegessen und ebenfalls um ein Glas Bischof gebeten hatte, war er mit seinen Ueberraschungen herausgerückt, in einer Reihenfolge, die nicht übel berechnet war. Zuerst hatte er den Strauß aus seiner Papierhülle befreit, den sie ihm mit einem freundlichen Blick gedankt und gleich in eine kleine Vase gestellt hatte. Dann überreichte er das Lied und sang es ihr mit halber Stimme vor, und sie saß dabei ihm gegenüber, hatte die Augen nachdenklich auf den Tisch geheftet und verrieth mit keiner Miene, ob sie den Inhalt auf sich bezog, oder es eben nur für ein Lied wie andere hielt. Als er geendet, habe sie ihm die Hand gereicht, womit sie sonst nicht freigebig war, und mit herzlichem Tone gesagt: Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie an meinen Geburtstag gedacht und mir so schöne Blumen und das reizende Lied gebracht haben. Ich liebe nichts so sehr wie Blumen und einen schönen Gesang, und Beides wird mir nur selten zu Theil. Ich werde die Melodie bald gelernt haben; zur Hälfte ist sie mir schon im Ohr geblieben.
Er ließ ihre Hand nicht sogleich wieder los, und da ihm ihre Freundlichkeit Muth gemacht hatte, zog er jetzt die kleine Schachtel mit der Schlangennadel hervor und legte sie ihr in die Hand. Da ist noch etwas, sagte er, ein bescheidenes Andenken, aber ich wäre sehr glücklich, wenn Sie nicht verschmähen würden, es zu tragen.
Sie sah ihn groß an, öffnete zögernd und mit offenbarem Widerstreben das Etui, und sobald sie das Gold blitzen sah, ließ sie es auf den Tisch fallen, als hätte sie rothglühendes Metall angefaßt. Warum haben Sie das gethan? sagte sie, hastig aufstehend; das habe ich nicht verdient, wenigstens glaube ich mich nicht so betragen zu haben, daß man mir ein solches Geschenk anbieten dürfte. Ich sehe, ich habe mich in Ihnen getäuscht. Sie denken auch niedrig von mir, weil ich arm bin und dienen muß. Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß es mir weh thut, gerade von Ihnen das erfahren zu haben – und die Augen wurden ihr feucht. Nun kann ich Sie nur bitten, daß Sie mich auf der Stelle verlassen und nie wiederkommen – und damit habe sie auch die Blumen und das Notenblatt wieder vor ihn hingelegt und trotz seiner bestürzten Bitten und Beschwörungen sich mit glühendem Gesicht und hellen Thränen von ihm losgemacht, um im nächsten Augenblick nicht nur das kleine Cabinet, sondern auch den Laden zu verlassen.
Vergebens habe er auf ihre Rückkehr gewartet; statt ihrer sei die dicke Frau erschienen, offenbar aber ohne von dem Austritt, der das Mädchen verscheucht, eine Ahnung zu haben. Noch eine volle halbe Stunde habe er in der unseligsten Stimmung seinen angestammten Platz im Sopha behauptet. Als sie aber unsichtbar blieb, sei er endlich aufgebrochen, habe auf der Straße den Strauß zerpflückt und das Notenblatt in kleine Stücke zerrissen, und da sei die Unglücksnadel, die Alles verschuldet, ich möge sie an mich nehmen und verschenken an Wen ich wolle; er habe unterwegs der Versuchung kaum widerstanden, sich eine Ader damit zu öffnen.
Und das ist Alles? sagte ich kaltbütig, als er mit seiner Beichte zu Ende war.
Er sprang auf, als wollte er aus dem Zimmer stürmen. Ich sehe, ich hätte mir den Gang sparen können, sagte er. Du bist in einer so philosophischen Laune, daß einer neben dir zu Grunde gehen könnte, und du fändest nichts dabei. Gute Nacht!
Halt! sagte ich. Du solltest froh sein, daß wenigstens Einer von uns seine fünf Sinne beisammen behält. Die Geschichte mit der Nadel ist eine Bagatelle. Wer weiß, woran sie sich dabei gestoßen hat, am Ende nur an den Aberglauben, daß Nadeln die Freundschaft zerstechen. Und wenn es mehr war, wenn sie wirklich den Verdacht gefaßt hat, du wolltest sie gewissermaßen damit bestechen – verzeih, aber der Wortwitz kam ganz unwillkürlich – so ist das noch immer kein Grund, sich die Haare zu zerraufen, im Gegentheil, sie hat dadurch gezeigt, daß sie ein braves Kind ist und etwas auf sich hält, und wenn du morgen zu ihr gehst, als wenn nichts vorgefallen wäre, und mit deiner treuherzigen Manier ihr Alles erklärst –
Du vergissest, daß sie mir verboten hat –
Narrheiten! Ich wette, es ist ihr schon jetzt wieder leid. Einen so getreuen Fridolin wie dich findet sie sobald nicht wieder, und sie mag nun für dich fühlen so viel oder so wenig, als sie will, es wird ihr was fehlen, wenn du nicht mehr täglich deine zwei Kirschkuchen issest und sie dir mit ihrer kleinen weißen Hand den Zucker darauf streut. Lehre mich die Weiber kennen!
Er starrte eine Weile in die Lampe, dann sagte er plötzlich: Du könntest mir einen Gefallen thun, wenn du mitgingest und statt meiner ihr das auseinandersetztest. Dich wird sie jedenfalls ausreden lassen, und wenn du gleichsam Zeugniß für mich ablegst –
Meinetwegen! Ich werde ihr schon Dinge sagen, die einen Stein schmelzen könnten. Verlaß dich auf mich, die Schlange da soll dich nicht für lange aus dem Paradiese vertrieben haben, oder Fräulein Lottka ist nicht die Evastochter, für die ich sie bei alledem und sehr zu ihrer Ehre halten muß.
Er drückte mir etwas erleichtert, aber immer noch niedergeschlagen, die Hand, und ich leuchtete ihm die Treppe hinunter.
——————
Ich hatte eine sehr schöne und rührende Standrede im Kopf, als wir am Abend des nächsten Tages unsere gemeinsame Wanderung antraten, und mein armer Freund ließ mir alle Zeit, mich im Stillen selbst zu überhören, da er stumm neben mir hinschritt. Als wir uns dem Laden näherten, zog er seinen Arm aus dem meinigen; ich sollte nicht merken, daß er zu zittern anfing.
Ich selbst war nicht ganz ruhig. Nach so langer Zeit sie wiederzusehen und jetzt einem Andern bei ihr das Wort zu reden – ich war mir der ganzen Größe dieses Augenblicks bewußt, hatte mir aber ehrlich gelobt, meine Sache gut zu machen und mich vor jedem selbstsüchtigen Rückfall in meine alte Thorheit zu hüten.
Als wir eintraten, war sie nicht allein. Zum ersten Mal trafen wir einen eleganten Herrn im Laden, der einen Stuhl dicht an den Ladentisch gerückt hatte und, indem er ein Glas Limonade trank, sehr angelegentlich der jungen Verkäuferin den Hof zu machen schien. Sebastian's trauriges Gesicht verfinsterte sich bei diesem Anblick noch mehr, obwohl ihn die kühle Miene und die einsilbigen Antworten des Mädchens darüber beruhigen konnten, daß die Unterhaltung des geckenhaften Menschen ihr nicht weniger unbequem war, als uns. Den wollen wir schon noch wegbeißen! rannte ich Sebastian zu, bestellte mit der Miene eines Stammgastes Wein und Kuchen und nahm mit meinem stummen Gefährten wieder Besitz von unserm wohlbekannten Cabinet.
Ich hatte aber die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Der Fremde, der seine Unterhaltung in gedämpfterem Ton fortsetzte, schien keine Lust zu haben, uns das Feld zu räumen. Ich konnte ihn in dem kleinen Spiegel, der zwischen dem Königspaar hing, mit aller Muße beobachten. Sein kurzgeschorener Kopf, der auf dem Scheitel schon kahl war, sein graublonder Backenbart und die goldene Brille, die aus der gekniffenen Nase saß, waren mir höchst zuwider, und dabei bewunderte ich doch wieder die insolente Sicherheit seines Benehmens und die nachlässige Art, mit der er einen kleinen herzförmigen Kuchen zwischen seinen wohlgepflegten Händen zerkrümelte, wie um symbolisch anzudeuten, daß er Uebung darin habe, Herzen zu brechen. Ich hielt ihn für einen jungen Rittergutsbesitzer oder sonst einen adligen Löwen, und so wenig ich fürchtete, daß er Eindruck auf das Mädchen machen könnte, so peinlich war es mir doch, sie in ihrer Lage den Zudringlichkeiten eines solchen Menschen ausgesetzt zu sehen. Eben brütete ich über einen dreisten Plan, den Lästigen zum Abzug zu bewegen, als ich den krampfhaften Druck von Sebastian's Hand auf meinem Arm fühlte.
Was ist? sagt' ich. Bist du närrisch geworden?
Statt aller Antwort deutete er auf den Spiegel, in dem auch er ein Stück des Ladenraums überblicken konnte. Der Unverschämte! knirschte er zwischen den Zähnen. Warte! das soll er nicht zum zweiten Mal –
Ich hatte eben noch Zeit gehabt, zu sehen, daß der Fremde sich über den Ladentisch beugte und dem Mädchen, das so weit als möglich zurückgetreten war, mit der Hand unter das Kinn faßte, als auch schon mein Freund den Tisch geräuschvoll zurückstieß und im nächsten Augenblick mit hochrothen Wangen und blitzenden Augen vor dem Fremden stand.
Was unterstehen Sie sich, Herr? fuhr er ihn an, und, seine tiefe Stimme setzte ihre ganze Kraft ein. Wer sind Sie, daß Sie sich herausnehmen dürfen, ein unbescholtenes Mädchen anzurühren, ein Mädchen, das –
Die Erbitterung versetzte ihm plötzlich den Athem. Er stand, die Hand drohend erhoben, wie entschlossen, jede neue Keckheit auf der Stelle zu züchtigen, vor dem Unbekannten, der einen Schritt zurückgetreten war und den unberufenen Dritten jetzt halb verwundert, halb mitleidig von oben bis unten maß.
Sie können wohl den Bischof nicht vertragen, junger Freund, sagte er jetzt mit scharfer Stimme, indem er sein zierliches Stöckchen zwischen Daumen und Zeigefinger drehte. Gehen Sie nach Hause, ehe Sie noch weitere unnütze Reden führen, und nehmen Sie sich ein andermal besser in Acht; Sie möchten nicht immer an Leute kommen, die auf Ihre grünen Jahre Rücksicht nehmen. Was ich sagen wollte, Lottka –
Damit wandte er sich, als ob sein Gegner schon nicht mehr vorhanden wäre, zu dem Mädchen, das todtenblaß mit ohnmächtig niedergeschlagenen Augen im äußersten Winkel zwischen Wand und Fenster lehnte.
Ich war zu Sebastian getreten und flüsterte ihm zu, er möchte bedenken, was er thue und sage. Er hörte mich nicht.
Ich wollte Sie nur fragen, Fräulein, sagte er dumpf, ob es mit Ihrem Willen geschieht, daß dieser Herr sich Freiheiten gegen Sie erlaubt, wie man sie sonst gegen anständige junge Damen sich nicht herausnimmt; ob Sie ihn so genau kennen, daß er Sie bloß bei Ihrem Vornamen nennen darf, und ob es Ihnen überhaupt angenehm ist, daß er Ihnen hier so beharrlich Gesellschaft leistet.
Sie antwortete nicht. Sie richtete nur mit hastigem Aufblicken ihre großen Augen wie beschwörend auf den Erbitterten, der diesen Blick nicht verstand.
Wer ist denn dieser liebenswürdige Jüngling, der hier Ihren Ritter spielt, Lottka? fragte der Fremde. Ich fange an zu merken, daß ich in ein zartes Verhältniß störend eingetreten bin. Ich bedaure es aufrichtig, möchte Ihnen aber doch rathen, mein Kind, ohne Ihrem Geschmack zu nahe zu treten, daß Sie sich bei der Wahl Ihrer Anbeter künftig mehr ans Solide halten. Die Deklamationen von Schulknaben hören sich mitunter recht hübsch an, können aber, wie Sie eben sehen, zu recht peinlichen Austritten führen. Was bin ich schuldig?
Er warf einen Thaler auf den Tisch.
Den Rest geben Sie mir das nächste Mal heraus. Für heute will ich nicht weiter stören.
Er nahm seinen Hut und war im Begriff zu gehen. Sebastian vertrat ihm den Weg.
Ich werde Sie nicht gehen lassen, sagte er mit mühsamer Stimme, ehe Sie in meiner Gegenwart das Fräulein um Verzeihung gebeten und Ihr Ehrenwort gegeben haben, nie wieder den Respect gegen sie aus den Augen zu setzen. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden.
Vollkommen, mein werther junger Freund, versetzte der Andere, nun seinerseits mit vor Aufregung zitterndem Ton. Ich habe verstanden, daß Sie ein »sonderbarer Schwärmer« sind und die Welt noch für einen großen Guckkasten halten. Ich gönne Ihnen dieses kindliche Vergnügen und schätze Sie darum, wünsche aber Ihre Bekanntschaft hier nicht fortzusetzen, da sonst aus dem Spaß Ernst werden möchte und ich Sie, trotz der Gegenwart des Fräuleins, behandeln müßte, wie einen naseweisen jungen Menschen, der –
Er machte eine ziemlich unzweideutige Bewegung mit seinem Stöckchen. Ich hatte eben noch Zeit und Besinnung dazwischen zu treten.
Mein Herr, sagte ich, ich bitte um Ihre Karte; das Weitere werden wir an einem anderen Ort besprechen.
Er lachte laut auf, zog mit einer ironischen Verbeugung sein Taschenbuch heraus und überreichte mir eine Visitenkarte. Dann nickte er dem Mädchen vertraulich zu, zuckte die Achseln und verließ, den Hut in die Stirn drückend, den Laden.
Wir Drei blieben, wie von einem Zauberstabe berührt, eine ganze Weile regungslos in derselben Stellung. Ich, als der wenigst Betheiligte, kam zuerst wieder zu mir.
Sagen Sie um Gotteswillen, Fräulein, redete ich die blasse Statue am Fenster an, wer ist dieser Mensch? Wie kommt er dazu, Sie so zu behandeln? Seit wann kennen Sie ihn? Ich bitte Sie um Alles in der Welt, fügte ich leiser hinzu, reden Sie ein Wort. Sie sehen, wie mein Freund dasteht, es ist ihm tiefer gegangen, als Sie glauben; Sie wissen vielleicht nicht, daß ihm nichts heiliger ist, als Sie Sie sind es ihm schuldig –
Er schien die letzten Worte gehört zu haben. Plötzlich machte er eine Bewegung, als wolle er eine schwere Last von sich abschütteln. Dann trat er mit schwankenden Schritten dicht an den Ladentisch, hinter dem sie noch immer unnahbar, wie hinter einer Verschanzung, sich versteckt hielt.
Nur ein Wort, Lottka, murmelte er: kennen Sie diesen Unverschämten? Haben Sie ihm jemals Anlaß gegeben, so von Ihnen zu denken und zu reden? Ja oder nein, Lottka!
Sie schwieg; ihre Hände hingen schlaff an ihrem Leibe herab. Ich sah deutlich, daß ein paar große Tropfen aus ihren geschlossenen Wimpern hervordrangen.
Ja oder nein, Lottka! wiederholte er dringender, und seine Brust arbeitete heftig. Ich will nichts weiter wissen. Glauben Sie nicht, daß der erste beste freche Mensch meine heiligsten Ueberzeugungen erschüttern kann. Aber warum hatten Sie kein Wort, ihn niederzuschmettern? Warum schweigen Sie jetzt?
Ein Zittern durchzuckte ihren ganzen Leib. Sie tastete, immer noch mit geschlossenen Augen, nach dem Stuhl, der am Fenster stand, setzte sich aber nicht, sondern sank neben ihm in die Kniee, das Gesicht gegen das Rohrgeflecht gedrückt. Ich bitte Sie, sagte sie mit kaum vernehmbarer Stimme, fragen Sie mich nichts mehr, gehen Sie, kommen Sie nie wieder. Wenn es Sie beruhigen kann, – ich bin unschuldig, so wahr Gott lebt – aber ich bin so unglücklich, daß es fast schlimmer ist, als wenn ich – eine Verbrecherin wäre. Gehen Sie, ich danke Ihnen für Alles, aber gehen Sie und vergessen Sie, daß ich auf der Welt bin. Ich wollte – ich wäre in einer andern!
Lottka! rief er stürmisch und wollte zu ihr hin eilen und sie aufheben. Sie streckte aber mit so jammervoller Geberde die Hände abwehrend gegen ihn aus, daß ich ihn zurückhielt und nach einigem Sträuben, indem ich ihm vorstellte, sie seien Beide jetzt zu aufgeregt, sich zu verständigen, es dahin brachte, daß wir mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen, das unglückliche Kind sich selbst überließen.
Auf der Straße gingen wir stumm neben einander hin. Ich konnte ihm unmöglich sagen, daß die ganze Scene meinen Glauben an seine Geliebte schwer erschüttert hatte. Im Uebrigen war ich mit der Rolle, die er gespielt, ganz wohl zufrieden und sagte mir, daß ich es an seiner Stelle eben so gemacht haben würde. Erst vor meinem Hause brach er das Schweigen.
Du mußt mir den Gefallen thun, sagte er, gleich morgen früh zu ihm zu gehen – (wir hatten den Namen auf der Karte gelesen; es war ein Assessor beim Stadtgericht; seine Wohnung war beigedruckt).
Das Weitere überlass' ich dir.
Höre, sagt' ich, es versteht sich, daß ich dir jeden Dienst leiste; aber diesen – ich bin noch nie Cartellträger gewesen, habe nur zweimal eine Paukerei auf Schläger mit angesehen –und soviel ich sehe, wird es sich hier um Pistolen handeln. Wenn du Jemand wüßtest, der sich auf diese Dinge besser versteht – gerade gegen diesen Menschen, der uns immer wie Schuljungen behandelt, dürfen wir uns nichts vergeben.
Du magst Recht haben, versetzte er; Aber es geht nicht anders. Ich kann keinen Dritten in diese Geschichte einweihen. Möglich, daß er dir Eröffnungen macht – Verläumdungen auskramt, was weiß ich? Also muß Alles unter uns bleiben. Ich bin den ganzen Vormittag zu Hause. Sobald du mit ihm fertig bist, kommst du zu mir, nicht wahr?
Ich versprach es ihm, und wir trennten uns. Was meine Eltern den Abend von mir gedacht haben mögen, als ich auf alle Fragen verkehrte Antworten gab, mag Gott wissen.
——————
Diese Nacht schlief ich wirklich nur wenig! Ich dachte an Alles, was kommen könnte, hörte Pistolenschüsse fallen und sah meinen armen Freund zusammensinken. Auch über Lottka grübelte ich viel und bestärkte mich immer mehr in dem Glauben, sie sei es doch wohl nicht werth, daß ein braver Junge den Handschnh hinwerfe, um für ihre Tugend sein Leben zu wagen.
Der Tag dämmerte noch kaum, als ich schon auf war; aber ich dachte diesmal nicht daran, Verse zu machen. Ich kleidete mich sorgfältig an, ganz schwarz, wie ein Leichenbitter, bis mir einfiel, es möchte sich besser ausnehmen, wenn ich weniger feierlich erschiene, vielmehr die Sache mit möglichster Geringschätzung behandelte, wie etwas, das mir alle Tage vorkäme.
Ich warf mich also in einen bequemen Sommeranzug, nur die Mütze vertauschte ich mit einem schwarzen Hut und nahm ein Paar ganz neue Handschuhe.
Als ich in den Spiegel sah, kam ich mir sehr erwachsen, sehr überlegen und herausfordernd vor. Trotzdem aber ließ ich mein Frühstück stehn; ich hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge.
Gegen neun Uhr machte ich mich auf den Weg.
Das Haus, in dem unser Gegner wohnte, lag unter den Linden, und der Portier sagte mir, der Herr Assessor werde schwerlich schon zu sprechen sein. Dennoch wurde ich von einem Bedienten, der mich ziemlich vornehm von oben herab behandelte, in ein kleines Cabinet geführt und bedeutet, der Herr werde sogleich erscheinen.
Ich hatte Muße, mich umzusehen, und so fest ich mir vorgenommen hatte, mir nicht imponiren zu lassen, so sehr fühlte ich doch, indem ich im Stillen die glänzende Junggesellen-Wohnung mit den nackten vier Wänden meines Freundes verglich, daß die Partie sehr ungleich stand. Ein paar unerfahrene, halbwüchsige Neulinge einem solchen Weltmann gegenüber und nicht einmal das volle Bewußtsein der guten Sache auf unserer Seite – ich merkte, daß wir auf dem besten Wege waren, eine sehr undankbare Rolle zu spielen, und aller lyrische Idealismus half mir über das Unbehagen der prosaischen Wirklichkeit nicht hinweg.
Je länger ich warten mußte, je mehr machte ich mich darauf gefaßt, unsern Gegner mit höhnischem Lächeln hereintreten zu sehn, und überlegte, wie ich mich dann benehmen sollte. Zu meiner Verwunderung geschah das Gegentheil. Nach zehn Minuten öffnete sich die Thür, und der Assessor steckte den Kopf herein, um im gemüthlichsten Tone zu sagen, ich möge entschuldigen, daß er mich habe warten lassen, seine Toilette sei gleich beendet, inzwischen bitte er, sich seiner Cigarren zu bedienen und es mir bequem zu machen.
Noch fünf Minuten, dann kam er herein, schüttelte mir wie einem alten Bekannten die Hand und bot mir neben sich den Platz auf seinem seidnen Divan an. Ich mußte eine Cigarette anzünden, lehnte es aber ab, an seinem Frühstück theilzunehmen, das der Bediente ihm inzwischen auf einem silbernen Brett gebracht hatte, und suchte eben nach einer möglichst unbefangenen Einleitung zu unserm Handel, als er mir zuvorkam und, während er sich Thee einschenkte, mit der freundlichsten Manier zu mir sagte:
Es ist mir lieb, daß Sie mich besucht haben, ich kann mir ungefähr denken, was Sie herführt, und muß Ihnen sagen, daß mir die Scene gestern, der ich Ihre Bekanntschaft verdanke, nachträglich einen sehr fatalen Eindruck gemacht hat. Sie werden begreifen, daß man sich nicht gern von einem unbekannten jungen Mann aus heitrem Himmel überfallen läßt mit einem Platzregen von Invectiven. Auf der andern Seite bin ich Menschenkenner genug, um mir das ganze abenteuerliche Betragen Ihres Heißsporns von Freund so ungefähr zusammenzureimen. Er ist in die Kleine vernarrt und beweis't damit keinen üblen Geschmack. Er hat Romane und Ritterbücher mit Nutzen gelesen und glaubt die Welt daraus kennen gelernt zu haben. Diese liebenswürdige Illusion vergeht nur allzubald; aber so lange sie dauert ist man zu glücklich damit, als daß es nicht grausam wäre, die Seifenblasen vor der Zeit zum Platzen zu bringen. Ich wenigstens verderbe Niemand gern seinen unschuldigen Spaß. Also ist es mir aufrichtig unlieb, daß ich da ein zartes Verhältniß gestört habe. Mit dieser Erklärung, hoff' ich, wird Ihr Freund zufrieden sein, und im Uebrigen wünsche ich ihm angenehme Träume und seiner Zeit ein möglichst sanftes Erwachen. Die Cigarre scheint keine Luft zu haben. Da, nehmen Sie eine andere. Was studiren Sie, wenn ich fragen darf? Sie sind noch ein Fuchs, nicht wahr?
Ich fühlte, daß ich dunkelroth wurde. Einen Augenblick schwankte ich, ob ich meine Prima verleugnen sollte. Dann aber entschied ich mich für die Wahrheit. Wir machen erst zu Ostern unser Abiturienten-Examen, sagt' ich.
Er war großmüthig genug, seine Ueberlegenheit nicht zu mißbrauchen.
Noch so jung, sagte er mit einem gutmüthigen Kopfschütteln, und schon solche Don Juans! Sie berechtigen zu schönen Hoffnungen, mein junger Freund, und wenn Sie sich erst etwas kälteres Blut angewöhnen –
Verzeihen Sie, unterbrach ich ihn, aber ich muß noch einmal auf die Sache zurückkommen. Mein Freund, wie Sie richtig gesehen haben, hegt eine ernstliche Neigung für das Mädchen und fühlt sich und sie durch die geringschätzige Art, mit der Sie sie behandelt haben, schwer beleidigt. Er würde, glaub' ich, mit einigen Zeilen von Ihrer Hand zufrieden sein, in denen Sie erklärten, daß Sie Ihr Betragen Fräulein Lottka gegenüber bedauern. Wo nicht –
Er sah mich so wunderlich von der Seite an, daß ich plötzlich nicht weiter konnte.
Reden Sie wirklich im Ernst? sagte er. Sie sehen mir doch zu verständig aus, als daß ich glauben könnte, Sie wären mit diesem Auftrage, den Sie für Ihren Freund übernommen, einverstanden. Mein »Betragen« Fräulein Lottka gegenüber? Das geht wirklich ein wenig weit. Nein, Bester, wir wollen uns so wenig als möglich lächerlich machen. Haben Sie auch wohl überlegt, was Sie mir zumuthen? Allen Respect vor dem Ehrgefühl und der Hochherzigkeit eines Herrn Primaners; aber daß er im Ernst sich einbildet, ich sei ihm Genugthuung schuldig, weil ich in einem öffentlichen Laden einem Mädchen das Kinn gestreichelt habe – Er fing an zu lachen und warf die ausgerauchte Cigarrette aus dem Fenster.
Ich stand auf. Ich bezweifle, sagt' ich, daß dieser Bescheid meinem Freund genügen wird. Wenn Sie nicht wenigstens erklären, daß Sie von Fräulein Lottka nichts wissen, was einen Schatten aus ihren Ruf wirst –
Setzen Sie sich noch einmal zu mir und hören Sie mich unbefangen an, unterbrach er mich. Ich bin es Ihnen, da ich Ihren Ernst sehe, schuldig, Ihnen reinen Wein einzuschenken, auch im Interesse Ihres Freundes, der die Sache so tragisch nimmt, daß er am Ende einen dummen Streich macht. Vor etwa zehn Jahren hatte ich ein Verhältniß mit einer galanten Frau hier in Berlin. Sie war eine Deutsche, führte aber einen polnischen Namen, den ihres ersten Liebhabers, eines polnischen Edelmanns, der sie mit einem Kinde hatte sitzen lassen. Da sie schön war und nicht untröstlich, fand sie eine Menge Verehrer und lebte im Ueberfluß, hielt nebenbei ein kleines Spielhaus, und ich entsinne mich noch, daß es einen seltsamen Eindruck auf mich machte, am ersten Abend, wo ich dort eingeführt wurde, an dem Farotisch ein etwa achtjähriges Mädchen sitzen zu sehen, mit großen schläfrigen Augen auf das Gold starrend, dann wieder auf ihre Mutter und deren Freunde, bis der Champagner, von dem sie gern zu nippen schien, seine Wirkung that und sie auf dem Sopha mitten unter Gelächter, dem Klimpern des Geldes und sehr freien Gesprächen einschlief. Das schöne Kind that mir leid; es dämmerte schon in ihm eine Ahnung, daß es vor der eigenen Mutter, die sich auch in ihrer Gegenwart keinen Zwang anthat, keinen Respect haben könne. Ich selbst brach das Verhältniß nach einigen Jahren wieder ab, nachdem es mich ziemlich viel gekostet hatte, und hörte späterhin nur durch die dritte Hand, die polnische Gräfin, wie wir sie nannten, treibe es immer im alten Stil, nur daß sie anfange, nicht mehr auf ihre Reize allein sich zu verlassen, sondern jüngere zu Hülfe zu rufen. Nach der Tochter fragte ich so beiläufig, es war aber nicht mehr von ihr die Rede.
Und nun gehe ich gestern zufällig an dem armseligen Kuchenladen vorbei und denke an nichts weniger, als an diese alte Geschichte, da seh' ich eine alte Dame in eine Droschke steigen, die vor dem Hause hält, und das Ladenmädchen trägt ihr in verschiedenen Düten und Packeten ihre Einkäufe nach und legt sie auf den Sitz ihr gegenüber. Wie sie sich umdreht, um in den Laden zurückzugehen, erkenn' ich jenes Kind mit den müden Augen, jetzt zu einer förmlichen Schönheit aufgeblüht, die, wenn sie wollte, ihrer Mutter eine gefährliche Concurrenz machen würde. Da ich gerade nichts zu thun hatte, folge ich ihr in den Laden, erinnere sie an unsere alte Bekanntschaft und war nicht wenig erstaunt, sie gerade so schroff und unzugänglich zu finden, wie die Frau Mama entgegenkommend war. Mit all meiner durch lange juristische Praxis erworbenen Kunst im Verhören brachte ich nicht mehr von ihr heraus, als daß sie schon seit drei Jahren von der Mutter getrennt lebe; was sie aber inzwischen getrieben, durch wie viele Hände sie gegangen, und ob ihre gletscherhafte Art Verstellung oder Natur sei, konnte ich nicht enträthseln, zumal unser Orlando Furioso, Ihr verliebter Freund, die Unterhaltung plötzlich sprengte. Und jetzt sagen Sie einmal selbst, nachdem ich Ihnen diese Aufklärungen gegeben, ob ich die Zumuthung nicht absurd finden muß, dem guten Kinde ein Sittenzeugniß auszustellen, oder mich mit einem schwärmerischen Jüngling für ihre Tugend zu schlagen?
Nein, fuhr er fort, wenn Sie etwas über Ihren Freund vermögen, Verehrtester, so warnen Sie ihn, sich nicht zu weit einzulassen. Denn wäre auch die Tochter wirklich noch ganz sauber, was soll da Kluges daraus werden bei diesen Antecedentien und dieser Mutter? Ihr Freund ist guter Leute Kind; sagen Sie ihm, daß er sich und seine Eltern nicht compromittiren möge. Eine flüchtige Liaison – à la bonne heure! Aber so viel Herzblut daran setzen, mit Feuer und Schwert dreinfahren, – allons donc! Ich hoffe, Sie werden ihn zur Vernunft bringen; und nun müssen Sie mich entschuldigen; ich habe Termin auf dem Stadtgericht.
Er war ausgestanden, da ich von diesen Enthüllungen wie versteinert dasaß, rief seinen Diener und ließ mich nach den üblichen Versicherungen gegenseitiger Hochachtung hinausbegleiten. Ich schwankte die Treppe hinab wie ein Trunkener.
——————
Erst eine Stunde später – ich brauchte einen langen Umweg, um mir ein Herz zu fassen und diesen sauern Gang wirklich zu Ende zu gehen – klopfte ich an Sebastian's Thür. Ein dumpfes Herein! antwortete, ich fand den Aermsten lang ausgestreckt in Kleidern auf seinem Bette liegen und sah auf den ersten Blick an seinem verwilderten Haar und dem vernachlässigten Anzug, daß er die Nacht so zugebracht hatte. Ehe ich noch ein Wort sagen konnte, reichte er mir einen Brief hin, der auf dem Kissen neben ihm lag. Ein Knabe hatte ihn heut in aller Frühe gebracht und nicht auf Antwort gewartet.
Ich habe natürlich den genauen Wortlaut nicht mehr im Kopf. Aber dem Sinne nach lautete er ungefähr folgendermaßen:
»Kaum hatten Sie mich verlassen, so fiel es mir aufs Herz, daß der Streit, dessen unglückselige Veranlassung ich gewesen, am Ende noch entsetzliche Folgen haben könnte. Ich schreibe Ihnen, um Sie zu bitten und zu beschwören, wenn es Ihnen überhaupt Ernst mit den Gefühlen war, die Sie für mich hegten, die Sache ruhen zu lassen und zu glauben, daß ich es in der That nicht werth bin (diese Worte waren zweimal unterstrichen), daß Sie sich für mich aufopfern. Versprechen Sie mir, sich überhaupt mein Bild ganz aus dem Sinn zu schlagen. Ich bin ein armes, verlorenes Geschöpf, und Niemand, als der Tod, kann mich erretten. Ich sterbe aber noch nicht, seien Sie deshalb außer Sorgen. Ich will versuchen, ob ich noch irgendwo weiterleben kann, ohne daß mich mein Unglück auf Schritt und Tritt verfolgt. Für alle Ihre Güte und Liebe danke ich Ihnen und werde Sie nie vergessen. Aber unterlassen Sie jede Nachforschung nach mir. Ich bin fest entschlossen, Sie nie wiederzusehen, und Sie würden mein Elend unr vergrößern, wenn Sie meine Bitte nicht ehrten und ein Wiedersehen erzwingen wollten.«
Der Brief trug weder Adresse noch Unterschrift; die Hand war fest und fein und kein Wort falsch geschrieben.
Ich gab ihm das Blatt stillschweigend zurück; ich mochte ihm nicht gleich gestehen, daß unter diesen Umständen nichts erwünschter sein konnte, als ein so entschiedener Bruch von ihrer Seite. Erst nach und nach merkte ich, daß ihm an dem ganzen Brief nichts so wichtig war, wie der ziemlich unverhüllte Ausdruck ihrer eigenen Neigung zu ihm. Daran hielt er sich, und alles Trennende schien ihm gleichgiltig dagegen, ja überhaupt nicht ernst gemeint und in der Ausführung unmöglich.
Ich glaubte nicht länger mit meinen Nachrichten zurückhalten zu dürfen und stattete ihm ausführlichen Bericht ab über die Verhandlung mit seinem Gegner. Zu meiner Verwunderung machte auch das nicht den vernichtenden Eindruck auf ihn, den ich gefürchtet hatte.
Auf etwas Aehnliches sei er selbst schon früher gekommen, äußerte er, und so sehr er es beklage, es könne an seinen Gefühlen nichts ändern, vielmehr die Liebe zu ihr nur erhöhen und zu einer wahren Verehrung steigern, da sie mit solcher Beharrlichkeit sich aus dem Sumpf ihrer Verhältnisse herausgearbeitet habe und nun hochherzig genug sei, ganz allein das Unglück tragen zu wollen, das sie doch nicht verschuldet. Er wisse wohl, daß es nicht ohne Kampf abgehen könne; er werde viel darum hingeben müssen, seine Eltern, seine Freunde, seine Heimat. Aber seit sie ihm deutlich gesagt, daß er ihr theuer sei, solle ihn keine feige Rücksicht abhalten, ihr das zu vergüten, was das tückische Verhängniß an ihr gefrevelt habe. Wenn die Welt dieses reine Leben mit Schmutz beworfen habe, wolle er mit seinem Herzblut es wieder rein waschen.
So redete er im halben Fieber vor sich hin, und seine schwärmende Begeisterung, sein unschuldig trotziger Muth rissen mich so mit fort, daß ich nicht nur alle Einwendungen für mich behielt, sondern wirklich der Meinung wurde, es verstehe sich das Alles so von selbst, und nur Eins sei wichtig, wie man es anstellen solle, das Mädchen wieder aufzufinden und von ihrem Vorsatz abzubringen. Ich warf mich in eine Droschke und fuhr nach dem Laden, um von dort aus ihre Spur zu verfolgen. Sebastian ließ ich zu Hause; er scheute sich, gegen ihr ausdrückliches Verbot sich selbst an den Nachforschungen zu betheiligen. Wir hatten verabredet, zu Mittag wieder zusammenzutreffen. Leider kam ich ganz unverrichteter Sache zurück. Die Conditorsfrau war von der Flucht ihrer Ladnerin erst am frühen Morgen unterrichtet worden durch ein offenes Briefchen, das sie auf ihrem Tisch zurückgelassen hatte. In der Nachbarschaft hatte Niemand gesehen, wann und wohin sie sich entfernte. Von ihren Sachen war das Meiste zurückgeblieben, bis auf ein wenig Wäsche und eine Reisetasche, die die Frau früher bei ihr gesehen hatte und nicht wieder auffinden konnte. Sie hatte sofort Anzeige bei der Polizei gemacht. Auch das war umsonst gewesen; das arme Kind war und blieb verschwunden.
Nun erst brach der Schmerz und die Nachwehen der wochenlangen Aufregung aufs Heftigste bei meinem armen Freunde aus. Er geberdete sich so verzweifelt, daß ich Anfangs für seinen Verstand fürchtete; keine lauten Ausbrüche, kein tobsüchtiger Jammer: eine verbissene Wildheit, die zu lächeln versuchte, während die Zähne auf einander knirrten, ein ganz zielloses Herumwanken, Stehenbleiben, Murmeln und Auflachen, wobei ihm die Thränen, ohne daß er es zu bemerken schien, über die Wangen rollten. Es war das erste Mal, daß ich das elementare Schauspiel einer wahren und tiefen Leidenschaft sah; ich war selbst davon so erschüttert, daß ich alles Andere darüber vergaß und am wenigsten mir herausnahm, mit wohlweisem Zuspruch den Aermsten trösten zu wollen.
Den ganzen Tag blieb ich bei ihm und einen guten Theil der Nacht. Erst gegen Mitternacht, da ich sah, daß er ganz ermattet war – er hatte ja auch die vorige Nacht nicht geschlafen – gab ich seinem Drängen nach und ließ ihn allein, nachdem ich seiner Wirthin auf die Seele gebunden, nach ihm zu horchen, da er sehr krank sei. Ich wußte, daß er keine Waffen bei sich hatte, und hoffte Besserung vom Schlaf.
Am andern Morgen aber ließ es mir keine Ruhe, ich machte mir Vorwürfe, ihn überhaupt verlassen zu haben, und eilte von Angst gejagt in seine Wohnung. Wirklich fand ich ihn nicht mehr. Die Wirthin gab mir ein paar Zeilen, in denen er mir für einige Zeit Lebewohl sagte: Er könne nicht ruhen, bis er sie gefunden habe, werde übrigens nichts Verrücktes anfangen, da er sich auch seiner andern Pflichten noch wohl bewußt sei, und so möchte ich seine Rückkehr ruhig erwarten.
Er habe ein Ränzel gepackt, sagte die Schneidersfrau, und seinen Wanderstock mitgenommen. Auch scheine er ein paar Stunden geschlafen zu haben und habe etwas klarer aus den Augen gesehen.
Damit mußte ich nun, so dürftig es war, mich fürs Erste begnügen. Ueberdies sollte ich meine Eltern auf einer Reise begleiten, die mich mehrere Wochen fern hielt. Auf die Briefe, die ich unterwegs an ihn schrieb, da mich der Gedanke an ihn überall verfolgte, erhielt ich keine Antwort und war darauf gefaßt, als endlich mein erster Gang nach der Rückkehr mich wieder in die Heiligegeiststraße führte, ein leeres Nest zu finden. Desto froher erstaunte ich, als er mir selbst die Thür öffnete und zwar immer noch ein kummervolles Gesicht zeigte, aber ohne die krankhaft gespannte Miene, die mich so geängstigt hatte.
Daß er die Spur der Verlorenen nicht gefunden, errieth ich mehr, als daß er sich selbst darüber ausließ. Eine melancholische Gleichgiltigkeit hatte sich seiner bemächtigt; er ging auf Alles ein, was man ihm vorschlug, ohne an irgend etwas für oder wider Theil zu nehmen, und was mir das Auffallendste war: seine Leidenschaft für die Musik schien ihn ganz verlassen zu haben. Nie sang er mehr einen Ton, von einer neuen Composition war nicht die Rede, auch seine Unterrichtsstunden hätte er am liebsten aufgegeben, wenn er sonst zu leben gehabt hätte. Der Grundaccord seines Wesens schien unheilbar verstimmt, eine Saite gesprungen zu sein, die nicht zu ersetzen war.
Als wir im nächsten Frühjahr beide auf die Universität gingen, sah ich ihn fast täglich. Er besuchte regelmäßig juristische Collegien, war in eine Verbindung eingetreten, wo er sich durch sein ausgezeichnetes Schlagen und seine fast sprüchwörtlich gewordene Schweigsamkeit hervorthat, und so dachte ich, das Erlebniß, das ihn so hart angegriffen, würde in seinem gesunden Blut keinen bösen Tropfen zurücklassen, als sich noch ein Nachspiel ereignete, das alle Wunden von Neuem aufriß.
Ich will der Kürze wegen Alles nach der Reihe erzählen, nicht wie ich es ihm selbst nach und nach abfragte in langen Zwischenräumen.
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Es war um Weihnachten des Jahres 1847. Er hatte es vorgezogen, statt zu seinen Eltern zu reisen, die Ferienwochen auf sein Pandectenheft zu verwenden, in welchem durch ein längeres Unwohlsein eine ansehnliche Lücke entstanden war. Umsonst hatte ich mich bemüht, ihn für den heiligen Abend zu uns zu locken. Er vermied alle Gesellschaften und spielte auch, wenn er sich einmal wieder unter Menschen wagte, besonders den Frauen gegenüber durch seine Stummheit und die beharrliche Weigerung, zu singen, keine glückliche Rolle.
An jenem 24. December nun hatte er den ganzen Tag zu Hause über seiner Arbeit gesessen, sich von seiner Wirthin etwas zu essen geben lassen und war erst gegen fünf, da es zu dunkel zum Schreiben wurde, ausgegangen, mit der Weisung, noch einmal einzuheizen, da er nur eine Stunde auf dem Weihnachtsmarkt herumschlendern wolle, um dann wiederzukommen und in die Nacht hinein fortzuarbeiten. Als er auf die Straße hinaustrat, umwehte ihn die Winterluft erquicklich. Die strenge Kälte der letzten Tage war gebrochen, ein weicher Schnee fiel leise in großen Flocken, die er nicht abschüttelte, sondern mit einer Art Wohlbehagen auf seinem heißen Gesicht zerthauen ließ. Sein Bart, der im letzten Jahr stattlich herangewachsen war und ihn sehr verschönerte, war in wenigen Minuten völlig bereift.
Langsam ging er durch die Königsstraße der Kurfürstenbrücke zu. Es wimmelte von eingemummten Gestalten, die noch in der letzten Stunde vor der Christbescherung ihre Einkäufe gemacht hatten und von den Weihnachtslichtern, die schon hie und da aus den Fenstern glänzten, zur Eile angetrieben wurden. Der einsame Student arbeitete sich mühsam durch das Gewühl, ohne die schmerzlichen Heimwehgedanken, die einen jungen Menschen an diesem Abend zu beschleichen pflegen, wenn er ihn fern von den Seinigen verleben muß. Er hatte ein paar Tage vorher Geschenke für Eltern und Geschwister nach Hause geschickt; er selbst erwartete eine kleine Bescherung, deren Ausbleiben ihn nicht sehr bekümmerte. Niemand konnte weniger Werth legen auf allerlei zierliche Habseligkeiten, als er, und seit er das Einzige verloren, woran er mit Leidenschaft hing, war ihm vollends jeder Besitz gleichgiltig geworden.
Er stand eine Weile vor dem Reiterbilde des großen Kurfürsten, das in seiner Schneehülle noch geisterhaft-majestätischer als sonst in den falben Winterhimmel hineinragte. Unten floß dunkel und still der schmale Strom zwischen den Eisrändern, in denen die Kähne eingefroren lagen, und in einer der Cajüten hatte der Kahnführer einen kleinen Tannenbaum aufgepflanzt, dessen Lichter durch die offene Thür schimmerten. Ein paar rothbäckige Kinder standen um den niedrigen Tisch, eines blies auf einer Groschentrompete, ein anderes biß in einen Apfel; der einsame Lauscher oben auf der Brücke hätte noch lange stehen und sich an dieser bescheidenen Idylle weiden mögen, aber der Menschenstrom riß ihn fort und warf ihn mitten in das summende Gewühl des Weihnachtsmarktes auf dem Schloßplatz.
Eine Weile ging er die Hauptgassen zwischen den Buden auf und ab, sah dem muntern Verkehr der Käufer und Verkäufer zu, hörte die Waldteufel schnurren und die gellenden Knabenstimmen, die ihre Waare jedem Vorübergehenden anboten, und seufzte einmal still vor sich hin, als er die Bemerkung machte, daß er zu der Welt, in der dieses Fest so fröhlich gefeiert wurde, gar kein Verhältniß habe, daß ihm nichts fehlen würde, wenn er im Augenblick auf den Sirius versetzt sich unter seinen Bewohnern herumtreiben sollte. Er sagte mir, er habe sich plötzlich darauf ertappt, daß er die Melodie gesummt habe: »Ich glaube in alten Tagen –«. Eine geschwätzige Verkäuferin in einer Bude mit Galanteriewaaren unterbrach ihn, indem sie ihn aufforderte, sich etwas auszusuchen »für seine Frau Gemahlin«. Da wandte er sich rasch ab und bog in eine der weniger besuchten Nebengassen ein, wo kleine Händler ihren Groschenkram feilboten.
Er war noch nicht weit gekommen, als ein seltsames Schauspiel ihm in die Augen fiel. Vor einer Spielzeugbude stand eine Dame in einer eleganten, mit Pelz verbrämten Kazawaika, wie sie damals getragen wurden, den Kopf mit einem viereckigen polnischen Mützchen und einem dichten Schleier gegen die Schneeflocken verwahrt, so daß von ihren Zügen nichts zu sehen war. Sie hatte ihren großen Muff vorn auf das Brett gelegt und war beschäftigt, mit den kleinen Händen, die in den zierlichsten Handschuhen steckten, Spielsachen auszusuchen und unter einen Haufen Straßenkinder zu vertheilen, die dicht um sie herumstanden und sich um die unverhoffte Weihnachtsbescherung mit großem Freudentumult zu balgen anfingen. Ein paar nachdrückliche Worte der Verkäuferin stellten eine Art Ruhe und Ordnung bei der Vertheilung her, und endlich stob das ganze Rudel auseinander, jedes in seinen Fäustchen die hölzernen Spielsachen festhaltend, die Wenigsten mit einem rasch abgemachten Dank an die Geberin.
Was hab' ich nun für all die Sachen zu bezahlen? sagte die Dame.
Die Stimme durchzuckte den Jüngling, der sich unbemerkt genähert hatte, wie mit einem elektrischen Schlage.
Lottka! rief er halblaut.
Die Dame wandte sich rasch um, und ihre erste Bewegung war, den Schleier dichter vor das Gesicht zu ziehen. Dann schien sie in dem Zwielicht des Schneefalls und der Lampen in den Buden die Gestalt zu erkennen, die nur zwei Schritte entfernt hinter ihr stand. Sie bezahlte rasch, was die Frau forderte, wandte sich dann zu Sebastian um und streckte ihm die Hand entgegen.
Sie sind es! sagte sie, ohne eine besondere Aufregung zu verrathen. Ich hatte nicht gedacht, Sie noch einmal zu sehen. Aber nun freut es mich um so mehr. Haben Sie etwas vor? Werden Sie irgendwo für den Abend erwartet? Nicht? So geben Sie mir Ihren Arm. Auch ich bin frei – ganz frei, setzte sie mit einem seltsamen Ausdruck hinzu. Es ist so schön, im Schnee spazieren zu gehen und so viele glückliche Gesichter zu sehen. Es kommt einem ordentlich vor, als brauche man sich selbst keine Mühe zu geben, glücklich zu sein, da so viel Andere es sind, und auf so billige Art. Finden Sie nicht auch?
Er blieb ihr die Antwort schuldig. Das so völlig unverhoffte Wiederfinden hatte ihn förmlich betäubt, und die hastige Art, mit der sie sprach und sich bewegte, war ihm fremd und fast unheimlich. Sie hatte sich unbefangen an seinen Arm gehängt, während sie früher jede Berührung ängstlich vermied, und ging nun schweigend neben ihm her, die kleinen Füße zierlich in den weichen Schnee setzend, den Kopf mit einem heiter nachdenklichen Ausdruck gesenkt, wie Jemand, der eine geheimnißvolle Ueberraschung vorbereitet. Er wagte es nur verstohlen, sie anzusehen.
Sie war offenbar noch gewachsen, die Züge des Gesichts etwas hagerer geworden, aber eher zum Vortheil für ihre Schönheit, und das Pelzmützchen stand ihr allerliebst.
Fräulein Lottka, sagte er endlich, hier muß ich Sie wiederfinden! Sie wissen nicht – Sie würden es nicht glauben – wie ich Sie gesucht habe – wie ich seitdem –
Warum soll ich es nicht glauben? erwiederte sie ruhig, ohne ihn anzusehen. Denken Sie, ich hätte nicht gewußt, daß Sie der einzige Mensch auf der Welt sind, der mich wirklich lieb hat? Eben deswegen habe ich mich von Ihnen trennen müssen. Sie verdienten für Ihre Güte und Liebe etwas Besseres, als um meinetwillen unglücklich zu werden. Es ist schon genug, wenn Ein elendes Leben zu Grunde geht; schon das ist nicht zu begreifen, wenn man sich vorstellt, daß eine Vorsehung – aber wozu wollen wir von so traurigen Sachen sprechen? Erzählen Sie mir, wie es Ihnen indessen gegangen ist. Wissen Sie, daß Sie noch besser aussehen, als damals? Der Bart steht Ihnen gut, und dabei haben Sie immer noch die unschuldigen Augen, die besser für ein Mädchen paßten, obwohl sie auch sehr tapfer aussehen können, wenn Sie einen gemeinen Menschen anblitzen.
Verzeihen Sie, daß ich so schwatzhaft bin, fuhr sie nach einer Pause fort. Aber Sie ahnen nicht, wie lange ich geschwiegen habe; eigentlich immer, seit wir uns getrennt haben. Ich hatte zu viel zu » denken. Damit aber bin ich jetzt fertig geworden, und seitdem bin ich ganz glücklich. Es ist noch nicht lange her, erst seit heute früh; die vorige Nacht hatte ich gar zu entsetzliche Gedanken, die mir förmlich das Gehirn zerstachen, wie eiskalte Nadeln. Da sagt' ich mir: Das muß einmal aufhören. Kein Mensch und kein Gott kann von einem verlangen, daß man mit solchen Gedanken weiterlebt. Und richtig, seitdem ich mir das klar gemacht habe, ist es ganz leicht in mir geworden, und auch meine Zunge ist wieder gelöst. Sie aber sind desto stummer. Was haben Sie? Freut es Sie nicht auch ein bischen, daß wir jetzt so traulich mit einander herumschleudern und der Schnee uns das Gesicht streichelt und die vielen genügsamen Menschen sich auf ihren heiligen Abend freuen? Ich habe mir auch ein Fest machen wollen und meine letzten paar Thaler hingegeben für eine improvisirte Christbescherung. Aber so recht wollte es nicht damit glücken. Wenn einen das Schenken freuen soll, muß man Den lieb haben, den man beschenkt. Jetzt thut mir's leid, daß ich kein Geld mehr habe. Wir beide könnten uns sonst so hübsch bescheren.
O Lottka, sagte er, daß ich Sie wiedergefunden habe, daß Sie so herzlich zu mir sind – daß Sie wissen, wie ich Sie liebe –
Stille! unterbrach sie ihn. Man darf das fühlen, aber nicht davon reden. Denn es ist heute so traurig, wie damals, und ganz so hoffnungslos.
Er blieb stehen und starrte sie an. Hoffnungslos? sagte er dumpf. Aber weißt du denn auch, daß ich Alles weiß? Daß ich mir aus alledem so wenig mache, wie aus einer Geschichte, die im Monde spielt? Daß ich auf der Welt Niemand nachfrage, als dir allein, und wenn mein eigener Vater und meine eigene Mutter –
Um Gotteswillen, sprechen Sie nicht zu Ende! rief sie mit einem ängstlichen Blick und legte ihm ihre Hand auf die Lippen. Sie wissen nicht, was Sie da sagen wollten, wie entsetzlich das ist, und wie sehr Sie es einmal bereuen würden. Sie haben eine Mutter, die Sie lieben und verehren dürfen, und die nichts mehr liebt, als Sie, und stolz auf Sie ist, und einer solchen wollten Sie Kummer und Schande machen? Wenn Sie recht bedacht hätten, was das heißt –aber wir wollen nicht mehr davon reden. Kommen Sie! Ich muß Ihnen gestehen, daß ich hungrig bin. Seit gestern Abend habe ich keinen Bissen gegessen, aus purem Ekel. Ich dachte auch, ich würde nie wieder einen reinen Geschmack auf der Zunge bekommen; aber daß ich mit Ihnen so vergnügt schwatzen kann, das hat mich sehr erleichtert. Führen Sie mich irgend wo hin, wo man etwas zu essen bekommt. Dabei kann man noch ein paar Stunden plaudern, und Sie müssen mich freilich tractiren, denn wie gesagt, ich habe mein letztes Geld in Spielsachen verthan.
Sogleich bog er in eine Quergasse ein und führte sie raschen Schrittes der Brüderstraße zu, wo er eine kleine Weinstube wußte, die um diese Zeit, zumal an diesem Abend, leer zu sein pflegte. Sie waren beide in ihre Gedanken vertieft, und er grübelte zwischen Furcht und Wonne darüber nach, wie sich das Alles gefügt habe, und was nun werden sollte. Wenn ihre dunkelsinnigen Andeutungen ihn ängstigen wollten, tröstete ihn wieder ihr zwangloses Entgegenkommen, und daß sie so klar empfand, was er ihr war.
Hier! sagte er, eine kleine Thür öffnend, über der eine blaue Laterne brannte.
Sie traten in ein helles, behagliches Gastzimmer, in dem nur ein bejahrter Kellner mit grüner Schürze, nach der guten alten Sitte, halb schlafend in einem Winkel saß. Er musterte das Paar mit einiger Verwunderung und entfernte sich dann, das Bestellte zu bringen.
Er hält uns für Bruder und Schwester, flüsterte das Mädchen.
Oder für Hochzeitreisende. O Lottka! – und er ergriff eines ihrer Händchen, das sie eben vom Handschuh befreit hatte.
Sie erwiederte herzlich, aber unbefangen, seinen leidenschaftlichen Druck. Es ist hübsch hier, sagte sie und fing an sich aus ihren warmen Hüllen herauszuschälen. Es freut mich so, noch einmal mit Ihnen zusammen zu sein, ehe ich –
Sie stockte. Was haben Sie vor? fragte er bestürzt. Dies soll doch nicht wirklich – das letzte Mal –
Fragen Sie mich nicht, sagte sie. Für mich ist gesorgt; Sie brauchen sich gar keine ängstlichen Gedanken zu machen. Damals, als ich Ihnen das Zettelchen schrieb, da wußte ich freilich noch nicht, wohin mit mir. Nur für die erste Zeit war ich in Sicherheit. Während Sie mich suchten und auch wohl noch Andere, saß ich gar nicht weit von jenem Laden in einer Dachkammer bei einer alten Freundin, der einzigen, die ich hatte, einer schwindsüchtigen Nähterin, die manchmal Brustzeltchen bei mir gekauft und mich liebgewonnen hatte, weil ich ihr dann und wann etwas zusteckte. Das arme Ding konnte oft wochenlang nichts verdienen, wenn ihr Zustand sich verschlimmerte. An deren Thür klopfte ich in jener Nacht und blieb auch richtig ein paar Monate bei ihr versteckt, weil sich Niemand um sie bekümmerte; dafür half ich ihr nähen und kochte unser bischen Essen; endlich aber ertrug ich das Leben in diesem Käfich nicht mehr. Ich hatte mir etwas erspart, ich wollte damit über die Grenze nach Frankreich, wo mich kein Mensch erkennen konnte. Das war immer mein Vorsatz gewesen, und drüben hätte ich mir schon weitergeholfen. Aber unterwegs wurde ich angehalten, es war etwas versehen in meinem Paß, da ward ich natürlich als eine Landstreicherin zurücktransportirt, und hier in Berlin – aber davon will ich lieber schweigen. Ich spüre schon wieder, daß mich der Ekel überfällt, und da kommt gerade das Essen, das will ich mir nicht verderben lassen.
Er schenkte ihr von dem Wein ein, den der Kellner brachte, und stieß mit ihr an. Du und ich! sagte er leise.
Nein, du allein! erwiederte sie und nippte an dem Glase.
Ist dir der Rheinwein zu herbe? fragte er. Soll ich Champagner bestellen?
Sie schüttelte heftig den Kopf. Ich könnte keinen Tropfen davon trinken, sagte sie. Ich habe ihn zu früh getrunken, in zu schlechter Gesellschaft. Aber du mußt mitessen, wenn es mir schmecken soll.
Er nahm etwas auf den Teller, konnte aber keinen Bissen hinunterbringen, sondern sah sie nur unverwandt an, während sie der einfachen Mahlzeit alle Ehre anthat. Ihre Haare waren noch so kurz geschnitten, wie damals, ihr Anzug noch ganz so einfach, die Gestalt noch so voll und schmiegsam, daß jede ihrer Bewegungen reizend erschien. Dann und wann entschuldigte sie sich wegen ihres Appetits. Es ist nur, weil ich noch einmal fröhlich bin, und Alles so gut ist, und wir hier so hübsch einsam beisammen. Da und sie legte ihm von ihrem Teller ein Stück Wildbraten auf den seinigen – das mußt du nun essen, oder ich glaube, du scheust dich, von Einem Teller mit mir zu essen. Wenn Alles anders wäre, und wir könnten wirklich so zusammen in die weite Welt reisen – es wäre doch schön! Aber es soll nicht sein, du wirst es einmal mit einer Andern so gut haben und sie mit dir; das Glück ist eben ungleich vertheilt, und man muß es sich gefallen lassen, bis es zu arg wird. Schenk mir doch noch etwas Wein ein. Ich habe in Gedanken das Glas ausgetrunken. So! Und nun – auf das Wohl deiner Mutter! Und das sei das Letzte.
Sie leerte das ganze Glas, und als sie es wieder hinsetzte, sah er, daß es sie überschauerte, als habe sie plötzlich eine eiskalte Hand angefaßt.
Laß uns gehen! sagte sie.
Er bezahlte die Rechnung und bot ihr wieder den Arm. Als sie hinaustraten, hatte der sanfte Schneefall sich in einen sausenden Flockensturm verwandelt, der ihnen scharf ins Gesicht schnitt.
Wo wollen wir jetzt hin? fragte er.
Mir gleich. Ich habe kein Zuhause mehr. Ich dachte zwar – aber es ist gar zu rauh und unhold, um im Freien Abschied zu nehmen. Haben wir weit bis zu deiner Wohnung?
Es ist noch die alte. Ueber die Brücke und dann noch hundert Schritt. Komm!
Das heißt – überlegte sie und hielt ihn am Arm zurück – was werden deine Hausleute davon denken, wenn du plötzlich ein Mädchen mitbringst?
Bist du nicht verschleiert?
Ich! Es ist mir nicht um mich zu thun. Ich bin morgen wer weiß wie weit und kann aller Nachrede spotten. Aber es könnte deiner Mutter hinterbracht werden und ihr am Ende Kummer machen.
Habe keine Furcht, sagte er und drückte ihre Hand, die in seinem Arm ruhte. Meine Stube hat einen eignen Eingang, und die Wirthsleute brennen kein Licht auf der Treppe. Es wird uns Niemand begegnen.
Er führte sie rasch, mit klopfendem Herzen, die nun verödeten Straßen entlang, und sie mußten manchmal stillstehen und fest an einander gelehnt einen eisigen Windstoß vorüberlassen. Einmal, da er dem Sturm den Rücken wandte und sie fester an sich zog, bog er sich herab und küßte sie rasch durch den Schleier. Sie entzog sich ihm nicht, sagte aber gleich darauf:
Ich glaube, das Aergste ist vorbei; wir können nun weitergehen.
Dann sprachen sie nicht mehr mit einander, bis sie an seinem Hause ankamen.
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Es war, wie er gesagt hatte, die steile Treppe ganz dunkel, und wie sie hinaufstiegen auf den Zehen, er voran, ihre Hand in der seinen haltend, damit sie keine Stufe verfehle, kam ihnen Niemand entgegen.
Nur durch die Thür hörten sie Kinderstimmen und sahen im oberen Stockwerk einen Lichtschein durch das Schlüsselloch fallen, von einem brennenden Weihnachtsbaum.
Er schloß vorsichtig seine Thür auf und ließ sie vorantreten in das dunkle Stübchen, das durch die glimmenden Kohlen im Ofen und den Schnee draußen vor dem einzigen Fenster kaum einen Schimmer von Licht erhielt. Dann verriegelte er die beiden Thüren. Da nebenan, sagte er, ist die Küche, in der jetzt Niemand sich aufhält. Wir brauchen nicht leise zu sprechen. Aber die Wirthin könnte noch einmal nachfragen, ob ich etwas brauche.
Sie sprach kein Wort, hatte sich auf einen Stuhl am Fenster gesetzt und sah in den wirbelnden Sturm hinaus.
Als er jetzt die kleine Studirlampe mit der grünen Glocke angezündet hatte, bemerkte er eine Schachtel auf dem Tisch. Sieh, sagte er, das ist meine Bescherung von zu Hause, die wollen wir einstweilen in den Winkel stellen. Willst du nicht ein wenig ablegen und dich hier auf das Sopha setzen? Es wird dir zu heiß werden in deinem Pelzwerk.
Ich gehe gleich wieder, sagte sie. Aber es ist wahr, der Ofen meint es gut. – Und sie fing an, ihre Kazawaika auszuziehen und Mützchen und Handschuhe abzulegen. Er half ihr dabei.
Wollen wir aber nicht auspacken? sagte sie, ihre Haare zurückschüttelnd. Ich möchte wohl wissen, was in der Schachtel ist.
Mir eilt es nicht, lachte er. Hier habe ich eben etwas ausgepackt, woran mir mehr gelegen ist.
Sie sollten sich schämen, versetzte sie, plötzlich wieder zum Sie übergehend. Sie sind es gar nicht werth, daß Menschen daran denken, Ihnen eine Freude zu machen. Ich – wenn mir eine Mutter aus der Ferne eine solche Weihnachtsschachtel geschickt hätte – Geben Sie her, ich will die Schnüre losmachen.
Sie fing hastig an, mit einem Messerchen die Verpackung zu zerschneiden, und er sah ihr dabei starr, in mühsam unterdrückter Aufregung, auf die reizenden Hände.
Lottka, sagte er, wenn wir beide so in Amerika wären und diese Schachtel wäre übers Meer gekommen –
Sie schüttelte den Kopf. Dann würde keine Schachtel kommen.
Und warum nicht, Lottka? Wenn meine Mutter dich kennte, wie ich dich kenne, glaubst du, daß sie dich entgelten lassen würden, wofür du nichts kannst? Sie hat natürlich ihre Vorurtheile, wie alle guten Mütter. Aber ich weiß, daß sie mich noch mehr liebt, als all ihre Vorurtheile.
Das Mädchen hielt inne mit ihrer Arbeit und schnitt mit dem kleinen Messer nachdenklich allerlei Figuren in den Deckel der Schachtel.
Nennen Sie das Vorurtheile? sagte sie, ohne ihn anzusehen. Möchten Sie einen Apfel essen, den Sie im Schmutz auf der Straße gefunden haben? Sie können ihn zehnmal abwaschen, der Widerwille bleibt. Und wer weiß auch, welcher Fuß schon darauf getreten hat, und ob nicht etwas Schlamm durch die Schale gedrungen ist, wenn auch der Kern ganz sauber wäre? Nein, nein, nein! Es ist nun einmal so; schlimm genug, daß es so ist; man soll es nicht noch ärger machen.
Er legte den Arm um sie, aber eher brüderlich, als wie ein leidenschaftlich Verliebter. Lottka, sagte er, es ist unmöglich, daß es so bleiben soll. Du kannst dein Leben nicht vertrauern, weil – Er stockte; er fand nicht gleich die Worte, die Alles sagten, ohne ihr wehzuthun.
Vertrauern? wiederholte sie und sah fest und traurig zu ihm auf. O nein, wer denkt auch daran! Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Sie über meine Zukunft ganz ruhig sein können. Für mich ist gesorgt. Ich bin gar nicht so verlassen, wie es vielleicht scheint, so lange mein Muth mir treu bleibt und mein Ekel. Und warum muß denn immer geheirathet sein? Das könnt' ich auch haben, wenn ich wollte, die besten Partieen. Man hat sich alle Mühe gegeben, mich an den Mann zu bringen, und ich hatte die Auswahl, ganz hübsche, reiche und junge Bewerber, und einige wollten sogar sich richtig mit mir trauen lassen, in einer ordentlichen Kirche, von einem ordentlichen Pfarrer mit Talar und Bäffchen. Die Sache hatte nur einen Haken.
Was war's? fragte er hastig.
Es ist überflüssig, davon zu reden. Oder nein, ich will's nur gerade heraus sagen, damit Sie mich nicht falsch beurtheilen. Wissen Sie, was mir ein Grauen vor allen Männern macht, außer vielleicht vor Ihnen? Ich will es dir ins Ohr sagen: weil ich nie weiß, ob der Bräutigam nicht vielleicht bei der Mutter zu sehr in Gunst gestanden hat, eh' er sich um die Tochter bekümmerte!
Sie wandte sich ab und trat rasch ans Fenster.
Nach einer Weile fühlte sie wieder seinen Arm um ihre Schulter. Was hast du Alles ausgestanden, Herz! flüsterte er mit erstickter Stimme.
Sie nickte langsam vor sich hin. Mehr als man sich denken sollte, daß ein so junger Mensch überlebt. Wie ich damals vor sieben Jahren zuerst Alles begriff, dachte ich noch, ich könnte es ändern. Ich blieb keinen Tag länger in dem Haus, ich suchte mir einen Dienst, ich schnitt mir meine schönen langen Haare ab, damit Niemand an mir Gefallen fände, und das schlechteste Kleid war mir gut genug, wenn es mich nur wieder ehrlich machte. Wie wenig es mir geholfen hat, weißt du selbst. Hernach, da ich als Landstreicherin behandelt wurde, brachte man mich wieder in das Haus, zu Der, die, wie es hieß, die natürlichsten Rechte auf mich hatte. Ich mußte es leiden, ich hatte keine Gewalt gegen die Gesetze. Aber ich erklärte gleich, daß ich mich umbringen würde, wenn man mich nicht in Ruhe ließe. Da habe ich fast ein Jahr in meiner Kammer gesessen, und sobald nebenan Jemand kam, die Thür verriegelt. Aber weil ich doch zuweilen an die Luft gehen mußte, hat man mich dennoch gesehen, und sie selbst – obwohl ich kein Wort mit ihr sprach – that, als ob sie mich sehr liebe, und gestern erst – es sollte wohl eine Weihnachtsfreude sein – hat sie mir einen Brief hineingeschickt, rathe, von wem?
Wie soll ich das rathen!
Du hast Recht. Kein Mensch würde darauf kommen. Aber du entsinnst dich des Menschen, mit dem du damals Streit bekamst meinetwegen?
Lottka! rief er außer sich. Ist es möglich –?
Sie nickte. Es war ein sehr freundlicher Brief, die schönsten Dinge wurden mir darin versprochen, das Papier roch nach Patchouli – seitdem habe ich den Ekel bekommen, der mich erst verlassen hat, als wir uns wiedersahen. Aber ich brauche nur recht daran zu denken – pfui! Es kommt schon wieder.
Sie spuckte aus, und wieder überflog sie der seltsame Schauder. Er faßte ihre Hände, sie waren starr und feucht.
Plötzlich schüttelte sie den Kopf, wie um einen zudringlichen Gedanken abzuwehren. Wir haben ja auspacken wollen, sagte sie. Das sind schöne Gespräche für den heiligen Abend. Komm zu unserer Schachtel! Unserer, sag' ich Du hast mich angesteckt mit deinem Traum von Amerika.
Wir wollen ihn wahr machen, rief er stürmisch. Ich werde dich noch einmal an diesen unsern ersten Weihnachtsabend erinnern, und dann wirst du mir zugestehen müssen, daß ich mehr Muth hatte und ein besserer Prophet war, als du.
Sie antwortete ihm nicht, sondern schnitt den letzten Bindfaden durch und öffnete die Schachtel.
Allerlei kleine Geschenke kamen zum Vorschein, ein paar wollene Handschuh, die die älteste Schwester ihm gestrickt hatte, eine Uhrkette von dem blonden Haar der jüngeren geflochten, mit einem zierlichen goldenen Schlößchen, Pfefferkuchen, der im Hause gebacken worden war, endlich gar eine große versiegelte Flasche.
Habt ihr Weinberge? fragte sie scherzend.
Er lachte durch all seinen Kummer.
Es ist Johannisbeerwein; die Trauben dazu wachsen in unserm Gärtchen. Als Kind ging mir nichts darüber. Seitdem glaubt meine gute Mutter, sie könne mir nichts Lieberes thun, als mir jeden Weihnachten und Geburtstag wenigstens eine Probe von ihrem neuesten Jahrgang schicken.
Ich hoffe, er schmeckt dir besser, als der theuerste Rheinwein, sagte sie ernst, oder du wärst nicht werth – sieh, da sind auch Briefe.
Willst du sie lesen? Ich bin zu zerstreut, ich würde nicht wissen, was ich lese.
Sie hatte sich auf das Sopha gesetzt und die Briefe auf ihren Schooß genommen. Einen nach dem andern las sie nun, mit einer Andacht, als stünden die wundersamsten Dinge darin. Es war nichts als schwesterliches Geplauder, kleine Neckereien, Entschuldigungen über die Geringfügigkeit der Bescherung, und in den Zeilen der Mutter schimmerte neben dem Stolz, einen so guten Sohn zu haben, auch der Schmerz durch, daß sie ihn diesmal nicht umarmen sollte, und eine Ahnung, daß es nicht die Arbeit sei, die ihn festgehalten, sondern die trübsinnige, menschenscheue Stimmung, die auch seine Briefe einsilbig machte.
Liesest du noch immer? fragte er endlich. Es sind einfache Menschen; wenn sie schreiben, kommt gar nicht immer das Beste aufs Papier, was sie in sich haben. – Herrgott, du weinst! Lottka!
Sie legte die Briefe in die Schachtel zurück, stand rasch auf und zerdrückte die Thränen, die still aus ihren langen Wimpern vorbrachen. Ich will gehen, sagte sie leise. Es wird mir draußen besser werden.
Gehen? jetzt? und wohin? Der Sturm wird dich umwerfen. Bleib diese Nacht hier, und wenn du willst – die Küche ist ja nebenan, ich kann da auf ein paar Stühlen – ohnehin ist mir nicht nach Schlafen zu Muth.
Sie schüttelte den Kopf und sah zu Boden. Plötzlich schlug sie die Augen voll zu ihm auf, mit einem Ausdruck, der sein Herz hoch klopfen machte.
So nicht! sagte sie. Aber es ist wahr, der Sturm draußen würde mich doch zu Boden werfen, und wohin sollte ich auch? Ist heute nicht Heiligabend? und der letzte, den wir zusammen feiern? Ich muß dir doch auch etwas schenken; die Bescherung an die Kinder hat mir ohnehin keine rechte Freude gemacht, und warum soll ich heute nicht auch an mich denken? Nicht wahr, Sebastian?
Sie hatte ihn nie bei seinem Namen genannt.
Du willst mir etwas schenken? fragte er und sah sie erstaunt und zweifelnd an.
Das Einzige, was ich noch besitze – mich selbst! hauchte sie und schlang die Arme um seinen Hals.
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Als er am dunklen Morgen aufwachte und sich halb vom Bett erhob, noch ungewiß, ob er geträumt, oder das Wundersamste erlebt habe, war das Zimmer leer, von seinem Nachtbesuch keine Spur zurückgeblieben. Er tappte durch alle Winkel seines kleinen Stübchens und rief leise ihren Namen, in der Meinung, sie habe sich vielleicht, um ihn zu necken, in die Küche geschlichen und werde plötzlich zurückkehren.
Es blieb aber Alles stumm. Eine starre Kälte umwitterte ihn, zähneklappernd schlüpfte er wieder ins Bett und lag nun wachend, in den Kissen aufgestützt, mit Mühe seine Gedanken sammelnd.
Endlich blitzte eine schauderhafte Ahnung in ihm auf. Mit glühender Stirn trotz der eisigen Luft fuhr er hastig in die Kleider und zündete ein Licht an.
Auf dem Tisch lag noch die Weihnachtsbescherung der Seinigen, er sah mechanisch darüber hin und entdeckte plötzlich ein mit Bleistift beschriebenes Blatt zwischen den Briefen von Mutter und Schwestern.
Die Schrift ging auf und ab mit zitternden Zügen, wie Jemand tastend in der Dunkelheit schreibt. Es waren die folgenden Worte:
»Lebe wohl, mein geliebter Freund, mein einziger Freund! Es schmerzt mich sehr, daß ich dir noch das anthun und so von dir gehen soll. Aber es ist kein anderer Weg, du würdest mich nicht gehen lassen dahin, wohin ich doch muß, wenn wir nicht beide unglücklich werden sollen. Ich danke dir für deine treue Liebe. Aber alles Süße in deiner Seele kann die Bitterkeit nicht von der meinen wegspülen. Schlaf wohl – lebe wohl! Ich küsse dich jetzt noch einmal im Schlaf. Die Nadel mit der Schlange steck' ich nun an. Jetzt darf ich sie tragen. Ich weiß nicht, ob du dies wirst lesen können. Gräme dich nicht; glaube, daß mir nun wohl ist. Deine treue Liebende bis in den Tod!« –
Die Magd, die um diese Zeit in die Küche kam, um Feuer anzumachen, hörte einen dumpfen Schrei in dem Zimmer nebenan und öffnete erschrocken die Thür. Sie sah den jungen Studenten aus dem Sopha liegen, wie wenn ein Faustschlag ihn niedergeworfen hätte. Als sie seinen Namen rief, raffte er sich mühsam auf, schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, sie brauche sich nicht um ihn zu bekümmern, und bückte sich dann, das Blatt aufzuheben, das ihm entfallen war.
Was ist die Uhr? fragte er.
Es hat eben sechs geschlagen.
Geben Sie mir meinen Mantel – und den Stock – ich will –
Er schwankte nach der Thür.
Sie wollen im bloßen Kopf ausgehen, bei der Kälte? Alle Läden sind noch zu, kein Mensch auf der Straße, es ist ja auch erster Feiertag.
Erster Feiertag! wiederholte er dumpf, Silbe für Silbe nachsprechend, als ob er sich bemühe, einen Sinn hineinzubringen. Geben Sie mir –
Ihre Mütze? Da ist sie. Wollen Sie nicht erst eine Tasse Kaffee? –Das Wasser wird gleich kochen.
Er antwortete Nichts mehr, sondern ging mit schweren Schritten hinaus und polterte die dunkle Treppe hinunter.
Der Schnee knarrte unter seinen Tritten, und dicke Eiszapfen hingen sich in seinen Bart. Weit und breit auf den dunklen Straßen regte sich nichts Lebendiges, die Posten in den Schilderhäusern schienen eingefrorene Schneemänner; wie er auf die Brücke kam, sah er, daß der Fluß über Nacht erstarrt war. Er ging eine lange Strecke die Burgstraße hinab, immer das Auge auf die Eisdecke geheftet, als ob er da etwas suche. Dann vertiefte er sich in die benachbarten Straßen, ziellos und wie nachtwandelnd. Denn daß er finden würde, was er suchte, konnte er bei einigem Besinnen nicht erwarten. Das Fieber einer ungeheuren Angst jagte ihn ruhelos umher, bis zur Erschöpfung aller Kräfte.
Ein paar Stunden mochten so verstrichen sein, die Straßen belebten sich eben, da gelangte er an das Potsdamer Thor. Er sah vor dem kleinen Zollhaus eine Droschke halten, die eben aus dem Thiergarten hereingekommen sein mußte. Der Zollwächter war in seinem Pelz herausgetreten und sprach, seine Tabacksdose hinausreichend, mit einem Schutzmann, der neben dem Kutscher auf dem Bock saß.
Nichts Steuerbares? fragte er halb lachend, indem er nach dem verschlossenen Wagenfenster deutete.
Nichts, was hier verzollt würde, antwortete der Gefragte. Ich muß meine Contrebande beim Gericht abliefern. Die hat sich nicht ein-, sondern hinausgeschwärzt aus der Welt, übrigens eine feine Waare. Ich mache eben meine erste Runde draußen bei der Luiseninsel, da find' ich das Frauenzimmer, ganz anständig angezogen, auf einer Bank, den Kopf so vornüber, als ob sie schliefe. Mein schönes Kind, sag' ich, suchen Sie sich eine andere Schlafstelle, die heizbar ist. Bei so einer Mordskälte – Aber von Aufwachen war keine Rede. In der Hand hatte sie noch ein Fläschchen, es roch wie Kirschlorber, daran wird sie sich wohl einen Rausch getrunken haben und dann ganz doucemeut eingeschlafen sein. Uebrigens guten Morgen! Ich muß machen, daß ich sie abliefere.
Der Kutscher klaschte mit der Peitsche. In demselben Augenblick hörten sie wieder die Stimme des Zollbeamten.
Halt! Da könnt ihr gleich noch einen Passagier mitnehmen. Ein Herr ist ans Droschkenfenster getreten und hat hineingesehen und – bautz! – umgefallen in den Schnee. Steigt einmal herunter, Gevatter, es ist ein ganz junger Mensch; der muß schreckhafte Nerven haben, daß der Anblick eines todten Frauenzimmers ihn gleich umwirft. Wie wär's, wenn Ihr ihn mit hineinsetztet? Es ginge in Einem hin!
Nein, erwiederte der Schutzmann, das ist gegen das Reglement. Todtes und Lebendiges soll man nicht zusammensperren. Wartet, wir wollen ihn in die Wache tragen. Wenn man ihm den Kopf mit Schnee wäscht und ihn an einer Flasche riechen läßt, kommt er in fünf Minuten wieder zu sich. Darauf verstehe ich mich.
Sie trugen den Bewußtlosen ins Haus; dann setzte die Droschke ihren Weg fort. Aber die Voraussage des Mannes bestätigte sich nicht. Das Bewußtsein kehrte erst nach so viel Wochen zurück, als er Minuten gerechnet hatte. Erst als der letzte Schnee vergangen war, konnte der Aermste wieder am Stock herumschleichen. Er reis'te zu seinen Eltern, die nie erfuhren, was für Schicksale ihm seine Jugend verwüstet hatten und einen Schatten über seine Mannesjahre warfen, der nie ganz gelichtet wurde. Als er in der Mitte der Dreißiger starb, hinterließ er weder Weib noch Kind.
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