Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
(1871)
Nahe bei Carcassonne in der Provence lebte um die Zeit, da man zum zweiten Kreuzug rüstete, ein angesehener Graf, Herr Hugo von Malaspina, der nach dem Tode seiner schönen und edlen Frau ihr einziges zehnjähriges Töchterchen Garcinde zugleich mit ihrer Milchschwester Aigleta dem Kloster Montsalvaire zur Erziehung übergeben hatte und nun mit schon ergrauendem Haar noch einmal ein unstätes Junggesellenleben begann. Da er ein ritterlicher Herr und bei Männern und Frauen wohlgelitten war, fehlte es ihm nicht an Einladungen zu Festen, Lanzenrennen und Banketten meilenweit in der Runde auf den Schlössern der reichen Adelsgeschlechter, und als ihm mit den Jahren die Lust am Waffen- und Minnespiel sich verkühlte und er den Sieg in beidem jüngeren Bewerbern überließ, erwuchs ihm dafür ein immer stärkerer Hang zu Wein und Würfeln und machte aus dem besonnenen, seines Geistes und seiner Güter weise waltenden Manne in Kurzem einen herabgekommenen Nachtschwärmer, der auf dem Schlosse seiner Väter bei seinen Gläubigern zur Miethe saß und im Grunde nichts mehr unverkümmert zu eigen hatte, als seine unbefleckte Ritterehre und das Herz seines lieben Kindes. Um dieses nicht zu betrüben, sorgte Herr Hugo mit allem Eifer dafür, daß von dem armseligen Stande seines Vermögens nichts nach dem Kloster verlautete. Zweimal im Jahre freilich besuchte er seine Tochter, und dem Jungfräulein, das alle bisher noch herb verschlossene Liebeskraft dem Vater zuwandte und in ihm das Musterbild jeder menschlichen und ritterlichen Tugend und Vollkommenheit bewunderte, fiel es wohl auf, daß die Augen des alternden Mannes seit einiger Zeit nicht mehr so frei und stolz blickten, seine Wange eingesunken und sein Mund zusammengepreßt war. Da sie es aber verstand, ihn jedesmal heiter und der Welt jenseit der Klostermauern vergessen zu machen, so schob sie sein freudloses Wesen auf seine Einsamkeit und drang in ihn, daß er sie doch wieder zu sich nehmen und in seiner Nähe behalten möchte. Dann seufzte der Graf, schüttelte finster das Haupt und gab vor, daß er es ihres Rufes wegen nicht dürfe, da sie in einem nur von Männern bewohnten Hause ohne die rechte Pflege und Obhut sein würde. Er könne sie daher nicht eher aus dem Kloster nehmen, als bis sie die Gesellschaft der frommen Schwestern mit der eines edlen Gemahls vertauschen sollte. Dem klugen Kinde wollte das wenig gefallen. Obwohl es ihr bei den Nönnchen, die nicht den Kopf hängen ließen, an Kurzweil und guten Tagen nicht fehlte, auch die helläugige Aigleta eine aufgeweckte Dirne war, die, in gewissen klösterlichen Grenzen, tausend Possen trieb, so hätte sie doch gern nachgerade etwas mehr von der Welt erlebt und genossen und vor Allem ihr liebebedürftiges Herz ganz ihrem Vater gewidmet. Der aber blieb dabei, die Ehre seines Hauses leide keine andere Lebensordnung, und war nach jedem solchen Gespräch, als stachele ihn eine heimliche Scham, nur um so eilfertiger auf den Abschied von seinem holden Kinde bedacht, das dann immer noch lange in tiefe Gedanken verloren vom Mauerthürmchen des Klostergartens aus dem Wege nachblickte, auf dem der Vater ihr entschwunden war.
So war es Jahr um Jahr fortgegangen, das Grafenkind hatte die Kinderschuhe längst vertreten, und die guten Klosterschwestern, so ungern sie sich von ihrem Pflegling getrennt hätten, fingen doch an sich zu verwundern, warum noch immer nicht von einer Heirath die Rede sei; denn sie ahnten nicht, daß Herr Hugo, aus Scham, sich einem Eidam als Bettler bekennen zu müssen, von seiner Tochter so wenig redete, als wäre sie ihm in der Wiege vertauscht und ein Wechselbalg statt ihrer untergeschoben.worden. Da kam der Graf eines frühen Morgens, da ihn Niemand auf seiner Burg erwartete, ganz allein, wie er meist zu Gast zu reiten pflegte, auf seiner falben Stute nach Hause und pochte mit einem müden Klopfen, wie ein Todkranker im Spittel um Einlaß bittet, den Pförtner aus seinem Morgenschlaf. Als der Mann, scheltend über den unzeitigen Gast, durch das vergitterte Guckfenster in dem eisernen Hofthor hinausspähte, erschrak er so heftig, daß seine zitternden Hände kaum die schweren Riegel bewegen konnten, um den Herrn des Hauses einzulassen. Denn das Gesicht des Grafen war so leichenblaß, und seine Augen, die strack vor sich hinsahen, so hohl und ausgebrannt, als kehre er nicht von einer Lustbarkeit auf dem Schlosse seines reichen Nachbarn, des Grafen Peire von Gaillac, zurück, sondern aus der Höhle des heiligen Patrick oder einem noch heilloseren Ort, wo er mit Gespenstern zu Nacht gegessen. Er warf die Zügel seines Pferdes, das über und über mit Schweiß bedeckt, mit keuchenden Nüstern das Regenwasser vom Boden schlürfte, dem bestürzten Knechte zu und sagte nichts als das eine Wort: Geoffroy! – Dann schritt er die Wendelstiege zu seinem einsamen Gemach empor, indem er die nachgerufene Frage des Knechts, ob der Herr einen Imbiß befehle und der Schaffner geweckt werden solle, mit einem hastigen Kopfschütteln verneinte.
Der Pförtner, der den Herrn nie so gesehen, hätte sich nicht so bald aus seinem dumpfen Schrecken aufgerüttelt, wenn nicht das Pferd neben ihm mit kläglichem Wiehern zusammengebrochen wäre. Er riß es mit Zerren und Zureden nothdürftig wieder in die Höhe und schleppte sich mit dem ganz entkräfteten Thiere in den Stall, ihm dort reichliches Futter aufschüttend. Dann lief er, immer vor sich hinmurmelnd und gute Geister anrufend, zu jenem Geoffroy, nach dem der Graf verlangt hatte.
Der Jüngling, der diesen Namen trug, wohnte in einem einzeln stehenden, ganz mit Epheu gepanzerten Ausfallthürmchen dicht am Burggraben, und da kaum der Tag dämmerte, lag er noch im festen Schlaf gesunder Jugend. Er war erst wenig über zwanzig Jahre, ein Schwestersohn des Grafen, das Kind einer unglücklichen Liebe der hochgebornen Gräfin Beatrix zu einem fahrenden Sänger, der, bei dem stolzen Sinn und Brauch des Hauses Malaspina, keinen andern Weg, seine Geliebte zu gewinnen, hatte, finden können, als indem er sie zur Flucht beredete. Herr Rambaut, der alte Graf, als er die Schmach erfuhr, die seinem Hause geschehen, hatte Niemand mit sich genommen als seinen Sohn Hugo, und so waren Vater und Bruder bei Nacht fortgeritten, die Spur des Räubers zu verfolgen. Nach sieben Tagen erst kamen sie zurück, im Schritt reitend, eine verschlossene Sänfte zwischen sich, in welcher die junge Gräfin ruhte, mit schneebleichen Wangen, mehr wie ein wächsernes Bild, als wie eine Lebende. Der Bruder hatte ihren Geliebten erschlagen, der Vater den Verscheidenden mit seinem Fluch zur Hölle fahren heißen. Seitdem redete sie mit Beiden nie mehr ein Wort, lebte in ihrem Wittwensitz, jenem Ausfallthürmchen, wo sie einem Knaben das Leben gab, ohne Klage, aber auch ohne jeden Wunsch der Versöhnung, so herzlich der Bruder, der sie immer sehr geliebt, zumal nach dem Tode des Alten sich ihr zu nähern suchte. Er hob mit eigener Hand ihren Knaben aus der Taufe, und als er selbst ein Weib nahm, machte er es seiner Gattin zur Pflicht, die Einsame, die nie ihr freiwillig erwähltes Gefängniß verließ, täglich aufzusuchen. Beide Frauen waren nun heimgegangen; der Knabe Geoffroy – nach seinem Vater genannt – ward gehalten fast wie des Grafen eigener Sohn, und wahrlich der Stolzeste hätte eines solchen Sohnes sich nicht zu schämen brauchen. Er war zu einem schönen Jüngling herangewachsen, breit von Schultern, bräunlich von Farbe, mit finsterblickenden Augen und einem sanften, fast weiblich schwellenden Munde, der selten lachte. Denn obwohl er Alles in Hülle und Fülle besaß, was ein junges Herz nur begehren mag, zierliche Kleider und blanke Waffen, Roß und Falken und Muße vollaus zu jeder ritterlichen Uebung, auch, so lang er denken konnte, Niemand ihm ein böses Wort gegeben oder seiner unechten Geburt ihn erinnert hatte, so lag es doch wie ein Schatten über ihm, und – wenn er nicht in dem Walde schweifte, der draußen bis dicht an den Burggraben herantrat und auf einem schmalen Brückchen in zehn Schritten zu erreichen war, so hielt er sich allen lauten und fröhlichen Menschen fern, in demselben Gemach, wo seine Mutter ihn geboren hatte, als ob er sonst nirgend in der Welt eine Stätte habe, wo er hingehöre. Den kleinen Thurm hatte er, als die Mutter noch lebte, ganz mit Rosen umpflanzt, auch ihre Kammer, Bett und Schrank und Truhe noch ganz so gehalten, wie sie es geliebt hatte, da er für sich selbst nur wenig Bedürfnisse hatte und gleichsam immer bereit sein wollte, auch diesen Winkel, wo man ihn duldete, auf das erste unholde Wort zu räumen. Daran dachte nun freilich Niemand weniger als Herr Hugo; der sich des Knaben Herz gern auf jede Weise gewonnen hätte. Denn die Liebe zur Schwester hatte er auf ihr vaterloses Kind übertragen. Als aber trotz aller Sorg' und Güte der Sohn sich nicht überwinden konnte, den Druck der Hand, die seinen Vater erschlagen, freundlich zu erwiedern, blieb dem Grafen nichts übrig, als seinen Neffen gewähren zu lassen. Er forderte niemals Dienste von ihm, dankte ihm wie für ein freies Geschenk, wenn er ihm einen Falken gezähmt oder ein Pferd zugeritten hatte, und da es mit seinem Vermögen auf die Neige ging, ließ er es lieber sich selbst am Nöthigsten fehlen, als daß er Geoffroy auch nur das Erwünschte versagt hätte. Niemals aber nahm er ihn mit, wenn er zu Gaste ritt, nicht als hätte er den unebenbürtigen Sproß des Hauses verleugnen wollen, zumal seine unglückliche Mutter längst nicht mehr für ihn erröthen konnte, sondern damit der Jüngling kein Zeuge sei seines eigenen wüsten Lebens und selbst an den üppigen Höfen der Nachbarfürsten losen Sitten und lockerer Gesellschaft anheimfiele.
Darum erstaunte der Neffe, für den der Oheim sonst nie einen Auftrag hatte, als er plötzlich zu so ungewohnter Stunde von dem Knecht, der athemlos das Vorgefallene erzählte, zu ihm in die Burg gerufen wurde. Er zauderte aber nicht, sich in die Kleider zu werfen und dem Ruf zu folgen. Als er in das Gemach trat, in das durch die kleinen Fenster nur eine falbe Dämmerung hereinbrach, sah er den Grafen am Tische sitzen, an dem er eben bei einer trüben Kerze einen Brief geschrieben hatte. Er saß regungslos, den Kopf auf die Hände gestützt, die sich tief in die grauen Haare eingewühlt hatten. Dreimal mußte Geoffroy ihn anrufen, eh' er ihn seinem Brüten entriß. Wie er dann in das verwüstete Gesicht und die erstorbenen Augen sah, erschrak auch er, obwohl er den Ohm nicht liebte. Aber er brachte es doch über die Lippen, zu fragen, ob ihm unwohl sei, ob er nach Carcassonne reiten und einen Arzt holen solle.
Sattle ein Pferd, Geoffroy, sagte jetzt Herr Hugo, indem er sich mühsam anfrichtete, den Brief faltete und mit seinem Siegel verschloß. – Dieser Brief soll heute noch an die Frau Aebtissin im Kloster Montasalvaire gelangen, damit morgen meine Tochter Garcinde entlasse; denn ich habe mit ihr zu reden. Und da ich selbst nicht zu ihr kann – der Ritt dieser Nacht ist wir übel bekommen, und meine Gicht räth mir, lieber zu Bett zu gehen, als in den Sattel zu steigen – so wünschte ich, daß du deiner Muhme das Geleit gebest, damit sie schnell und sicher hieher gelange. Nimm eines Knecht mit, der auf einem Saumthier das Nöthigste an Kleidern und Geräth euch nachführe, bis die Aebtissin den Rest schickt. Pferde für die Mädchen wird das Kloster euch leihen. In dem Briefe habe ich darum ersucht. Ihr rastet eine Nacht auf halbem Wege in dem Pachthof La Vaqueira, da meine Tochter des Reitens ungewohnt und der Sommer heiß ist. Am Abend des dritten Tages erwart' ich euch hier zu sehen.
Der Jüngling nahm den Brief, zauderte noch einen Augenblick auf der Schwelle, als ob ihm eine Frage auf den Lippen brenne, dann sagte er nur: Es soll geschehen, Herr! – und neigte sich flüchtig und ging. Draußen auf dem Flur war es ihm, als höre er noch einmal seinen Namen rufen, und er blieb stehen, zu warten, ob er sich nicht getäuscht habe. Als er nichts vernahm, sprang er hastig die Schneckenstufen hinab, riß sein Pferd aus dem Stall, gab einem der wenigen Knechte, die noch in dem verfallenden Hause dienten, den Befehl, sich reisefertig zu machen, und sprengte dann, da der Schlaftrunkene nur saumselig zu gehorchen sich anschickte, mit der Weisung, nachzukommen, durch das Thor an dem staunenden Pförtner vorbei, dem er auf seine Fragen, was der Herr denn gewollt habe und ob es wirklich mit ihm zu Ende gehe, nur mit einem Achselzucken antwortete.
Er eilte aber so gewaltig, seinen Auftrag auszuführen, weil er noch immer fürchtete, der Graf möchte seinen Willen ändern und ihn zurückrufen. Denn seit den acht Jahren, daß sein Mühmchen aus dem Vaterhause geschieden, war es nie geschehen, daß man, wenn eine Botschaft auszurichten war, ihn nach Montsalvaire geschickt hätte, als ob man es geflissentlich verhüten wollte, daß Vetter und Muhme sich wiedersähen. Zu der Zeit freilich, da sie noch halbe Kinder waren, hatte das kleine Grafenfräulein Niemand lieber gehabt als ihren wortkargen, trotzigen Spielgesellen, den Sohn des fahrenden Mannes, der schon damals in dem kleinen Thurm, wo seine Mutter gestorben war, sein seltsam menschenfeindliches Wesen trieb. Die Dienerschaft raunte davon, nur des jungen Geoffroy wegen habe der Graf seine Tochter ins Kloster geschickt, statt etwa eine Aja ins Haus zu nehmen, wie es manch ein Wittwer gethan, um sich von seinem Kinde nicht zu trennen. Und nun wurde dennoch der Vetter abgeschickt, das Mühmchen zurückzuholen, das inzwischen, wie die Leute sagten, zu einer Schönheit ohne Gleichen aufgeblüht war. Sollte sich über Nacht ein Freier gemeldet haben, so daß es nicht mehr nöthig war, das Kind vor einer ungleichen Neigung zu hüten? Oder hatte bei dem nächtlichen Ritt der Tod auf seinem gespenstigen Klepper sich zu dem Grafen gesellt, daß alle irdische Sorge von ihm abgefallen war und er nur dachte, seinen Frieden mit Gott zu machen und seinem Kinde volle Freiheit zu lassen, glücklich oder unselig zu werden nach seinem Sinn? Es war nicht zu ergrübeln.
Sobald ihm aber die Zinnen der Burg Malaspina aus dem Gesichte waren, warf Geoffroy alles Sinnen und Sorgen hinter sich und ließ nur helle Gedanken, seltene Gäste in seinem Gemüth, vorauseilen seiner Jugendgespielin entgegen, deren schlankes Gesichtchen mit den lachenden weißen Zähnen und dunklen Augen so deutlich vor ihm stand, als ob er es gestern zuletzt gesehen hätte. Der Tag war wolkenlos, die Wälder voll Vogelgesang, die schönen Auen der Provence breiteten sich im Gold der reifenden Aehren unabsehlich vor ihm aus, und das Leben däuchte ihn zum ersten Mal eine himmlische Gnade. Er sang das Lied vor sich hin, mit dem sein Vater seiner Mutter das Herz abgewonnen. Er hatte es in ihrem Liederbuch gefunden, mit den Worten von ihrer Hand am Rande:
Lo douz chans d'un auzelh,
Que chantava en un plays,
Me desviet l'autr'ier
De mon camin –
zu deutsch:
Eines Vogels süßer Sang,
Der aus dem Wald erklang,
Hat jüngst mich fortgelockt
Von meinem Pfad – –
Er wußte nicht, warum gerade dieses Lied ihm in den Sinn kam, das er sonst nur mit Kummer gelesen hatte. Heute sang er es mit heller Stimme und fröhlichem Herzen.
Als er aber Abends sich dem Kloster näherte, wurde er stiller und seine Stirn wieder düsterer. Mit Herzklopfen pochte er am Thor und reichte der dienenden Schwester Pförtnerin den Brief an die Aebtissin durch das Gitter hinein, des Bescheides wartend, denn er selbst durfte die Klosterräume nicht betreten. Bald kam die Antwort, es sei Alles gut, dem Befehl des Grafen werde gehorcht werden, morgen mit dem Frühesten werde man ihm die beiden Mädchen übergeben, er möge die Nacht bei dem Klostervogt zubringen, der auf das Herbergen fremder Gäste eingerichtet war und ein Häuschen unfern zwischen den Weinbergen des Montsalvaire bewohnte.
Die Nacht aber wurde dem Jüngling lang; denn sein treuester Freund, der Schlaf, kam heute nicht, wie sonst, sie ihm zu verkürzen. Den Knecht von Malaspina, der um Mitternacht erst mit dem Saumthier sich eingefunden hatte, neidete er um den Rausch, den er sich in dem starken Klosterwein trank, und das tiefe Schnarchen, das darauf folgte. In ihm war etwas erwacht, das stärker war als Wein und Ermattung.
Nun wurde es wieder Tag, sie zäumten ihre Thiere, verabschiedeten sich von dem Vogt und ritten nach der Pforte von Montsalvaire hinauf, dort der jungen Herrin zu warten. Nicht lange, so wurde das Thor aufgethan, die Aebtissin trat heraus, hinter ihr sämmtliche Klosterfrauen, in ihrer Mitte die junge Gräfin und ihre Gespielin führend, die sie nun in das Leben und die Freiheit entlassen sollten, um selbst in ihre gottselige Haft zurückzukehren. Da gab es viele Thränen und Seufzer, Umhalsen und Segnen, daß Geoffroy noch eine geraume Zeit das Angesicht seines Mühmchens unter all den Schleiern und Kopfbinden, durch die es sich hindurchküssen mußte, nicht zu sehen bekam. Nur der Blitz eines schwarzen Auges und der Schimmer eines blonden Haares hatte ihn getroffen, daß er in Verwirrung neben seinem Pferde stand und es nicht hörte, wie die Aebtissin auf ihn zutrat und mit Verwunderung fragte, ob er wirklich der Bote des Grafen Malaspina sei, der gestern den Brief gebracht und dem sie die junge Gräfin übergeben sollte. Das Knechtlein, das mit gefalteten Händen und vor Andacht weitaufgerissenem Munde die heiligen Frauen anstarrte, mußte den Junker erst mit dem Ellenbogen stupfen, damit er zu sich kam und mit einem ehrerbietigen Kopfnicken Alles bestätigte, was er doch nur halb gehört hatte. Herr Hugo sei verhindert, selber zu kommen, stotterte er, indem er seine Blicke von dem blonden Haar loszureißen strebte. Er habe ihm aufgetragen, langsam zu reisen und in La Vaqueira über Nacht zu bleiben. – Hiermit glaubte er etwas sehr Kluges gesagt und die Bedenken der Aebtissin, ob man die Mädchen einem so jungen Führer anvertrauen dürfe, entkräftet zu haben. Es schien aber das Gegentheil zu wirken; denn die edle Frau wendete sich, nach einem sorgenvollen Blick gen Himmel, zu einigen der älteren Schwestern und begann halblaut mit ihnen Raths zu pflegen. Da, als der Vogt schon die Pferde für die Jungfrauen heraufführte und einige Laienschwestern dem Knecht von Malaspina halfen, ein paar Körbe mit Kleidern und Leinenzeug auf dem Rücken des Saumthiers zu befestigen, trat plötzlich eine muntere Gestalt aus der lebendigen Hecke weiß und schwarzer Kutten heraus, Jungfer Aigleta, das Kind von Garcinde's Amme, das inzwischen auch zu einem sauberen Jüngferchen herangewachsen war, und indem sie dem stummen Boten ihre derbe kleine Hand entgegenstreckte, rief sie: Gottwillkommen, Herr Geoffroy! Seid Ihr es? – worauf sie sich der Aebtissin näherte, ihr ein Wort ins Ohr zu sagen, das jedes Bedenken abzuschneiden schien. Die fromme Dame baute zu fest auf die Lehren der Weisheit und Tugend, die ihr Pflegling mit der Klostermilch eingesogen, um es für möglich zu halten, daß sich ihr Herz einem namenlosen, unebenbürtigen Vetter zuwenden könne, jetzt, wo wahrscheinlich eine vornehme Vermählung ihrer harrte. Also schloß sie Garcinde, die in Thränen zerfloß, mütterlich in die Arme, half ihr selbst den alten Klosterschimmel besteigen, während Aigleta sich von Geoffroy auf ein munteres Bauernpferdchen heben ließ, und unter vielem Schluchzen, Tücherschwenken und Händewinken trennte sich endlich die kleine Cavalcade von dem grauen Bogenthor des Montsalvaire, in das die Schaar der Himmelsbräute zögernd und trübselig zurückkehrte.
Aber auch die junge Reisegesellschaft zog einsilbiger und nachdenklicher ihres Weges, als es am schönsten Sommertag auf frischen Rossen zu geschehen pflegt, wenn ein ritterlicher Jüngling zwei schönen Mädchen auf ihrem ersten Ausflug in das lachende Leben das Geleit giebt. Nach den hastigen Fragen, wie es ihrem Vater ergehe und was zu Hause etwa vorgefallen sei, hatte Garcinde das Wort nicht wieder an Geoffroy gerichtet, vielleicht betroffen über die kurzangebundene, obwohl ehrerbietige Art, mit der er ausführlicherem Bericht ausgewichen war. Dann hatte Aigleta, die sich den Abschied von Montsalvaire nicht im Geringsten zu Herzen gehen ließ, einen lustigen Ton angestimmt und, nach einem Seufzer der Dankbarkeit für ihre endliche Erlösung aus dem gottseligen Einerlei jenes vermauerten Lebens, in ihrer übermüthigen Weise angefangen, Geoffroy zu erzählen, was für Kurzweil ihnen ein Tag wie der andere gebracht. Sie verstand es trefflich, die Stimmen der einzelnen Schwestern nachzuahmen, ihr Wispern und Säuseln bei niedergeschlagenen Augen, wenn sie sich nicht beobachtet wußten, ihr gar nicht blödes Lachen und Schreien, sobald sie sich etwa unter guten Freundinnen gehen lassen durften, ihre kleinen, muffigen, wurmstichigen Zänkereien, ihre nach Thymian und Melisse duftende Zärtlichkeit für einander, die gleich bereit war, bei dem armseligsten Anlaß in Todfeindschaft umzuschlagen, wie jene Wohlgerüche mit der Zeit in Moderduft. Dazwischen ließ sie dann die rauhe Baßstimme der Aebtissin erklingen, wie sie zum Frieden sprach und die Gefahren der Weltlust schilderte, und schloß mit einem tollen Durcheinander von frommen und gottlosen Reden, in denen die Nönnchen ihre Gefühle bei der Abreise der jungen Gräfin ausströmten, ihren Neid, ihre Sorgen, daß draußen Satanas mit seinem ganzen Gesinde ihr schon auflaure, endlich die Fürbitte der Aebtissin, sie auf diesen Gefahren zu retten, zumal sie vor den Nachstellungen kühner Ritter und verdächtiger junger Vettern in Schutz zu nehmen.
Garcinde, die um eine Pferdslänge ihnen voranritt, unterbrach diesen Muthwillen, indem sie mit ihrer sanften Stimme, doch ohne sich zu der Spötterin umzuwenden, ihr die losen Reden verwies. Es sei sündhaft, sagte sie, für so viel Liebes und Gutes, das sie genossen, nun alle Menschlichkeiten der armen, traurig eingeschränkten Wesen herauszukehren, und sie wenigstens werde es nie vergessen, daß sie, verwais't wie sie war, ein zweites Mutterhaus dort gefunden. Worauf die schnippische Dirne, der in Gegenwart Geoffroy's dieser kleine wohlverdiente Sermon empfindlich sein mochte, nur mit ein paar verlegenen Sprichwörtern erwiederte, als: Jeder Vogel pfeift je nachdem man ihn füttert, oder:
Sagen, wie die Dinge sind,
Ist unweise, doch keine Sünd'.
Aber sie schmollte von nun an um so mehr, da sie es dem schmucken Junker an ihrer Seite sehr übel nahm, daß er so fremd that, als hätte er sie nicht vor Jahren Tag für Tag gesehen, während sie sich doch wohl entsann, wie zärtlich sie schon damals ihm begegnet war, und wie sie es bei ihren kindischen Spielen gern so eingerichtet hatte, daß »Jaufret« – so nannten sie ihn im Hause – zu ihrer Partei halten, sie vom Drachen erlösen oder mit einem Kuß aus dem Zauberschlaf aufwecken mußte. Sie blickte ihn, während sie sich mit dem Knechte in eine gleichgültige Plauderei einließ, immer mit neuem verstohlenem Staunen an, wie schön und männlich er geworden war, wie er mit einem leichten Schenkeldruck sein feuriges Thier bändigte und dabei so tiefsinnig aus den Augen sah, daß man allen Heiligen in der Kirche von Montsalvaire solche Blicke gewünscht hätte. Warum er aber so stumm blieb und, wenn sie etwa dem hochmüthigen Herrn zu gering wäre, selbst dem stolzen Mühmchen in keiner Weise den Hof zu machen Lust zeigte, dessen konnte sie sich nicht genug verwundern, und im Grübeln darüber vergaß sie nach und nach das Reden, auch nachdem ihr kleiner Aerger über die Zurechtweisung schon längst verflogen war.
Der Jüngling aber, der den Tag so ungeduldig herangewacht hatte, wünschte, je höher die Sonne stieg, daß sie ihm lieber nie mehr aufgegangen wäre, statt nun auf seine Wonne und Qual mit so grellem Schein herniederzublicken. Wohl hatte er aus seinen Knabenjahren das Bild des Mühmchens als den Inbegriff alles Holden und Liebreizenden in sich bewahrt; aber der Funke war gleichsam in einer windstillen Erinnerung fortgeglommen, an wohlbehüteter Stelle seines Herzens. Nun war durch den ersten Gruß von ihren Lippen und den Hauch, der von ihrem Haar zu ihm herüberwehte, eine große Flamme in ihm angefacht, durch die er größere Schmerzen litt, als er je in seinem Leben empfunden hatte. Und die Fremdheit, mit der das schöne Wesen sich von ihm fern hielt, mehrte diesen Schmerz. Denn wenn er auch nicht wußte, ob es Abneigung gegen seine Person, oder der kühle Stolz des Grafenkindes gegen den hablosen Dienstmann ihres Vaters war, was ihr die Lippen schloß und ihr Auge lieber im Weiten schweifen ließ: – in diesen schweigsamen Stunden hatte er alle Muße, des Abstandes zwischen ihnen, der eigenen Armuth und seiner Pflicht, jeder thörichten Hoffnung zu entsagen, mit bitterlicher Klarheit inne zu werden. Dann wieder überfiel ihn der Gedanke, welchem Besitzer er wohl dies anvertraute Kleinod entgegenbringen möchte, ob wirklich schon ihre Hand vergeben und ihr Herz versagt sei, oder ob ihren Vater nur in einer kranken Schwermuth die Sehnsucht nach seinem einzigen Kinde angewandelt habe, daß er sie in sein ödes Haus zurückgerufen. Dann aber – stand es dann minder hoffnungslos, wenn er vielleicht noch Jahr und Tag Zeit hätte, den Werth des Schatzes recht innig kennen zu lernen, den er endlich doch einem Andern überlassen mußte?
So versank er mehr und mehr in eine düstere Melancholie, daß es endlich selbst dem Fräulein, obwohl sie ebenfalls nicht fröhlich war, auffallen mußte und sie ihn fragte: ob ihm nicht wohl sei, und ob sie rasten wollten, bis etwa ein Imbiß oder ein Trunk Wein ihn gestärkt hätte. Geoffroy, bis über die Stirn erglühend, entschuldigte sein zerstreutes Sinnen, so gut es ging, mit einer schlaflosen Nacht und gab sich Mühe, gleichmüthig zu erscheinen. Auch wurden, als sie Mittags in einem Wäldchen anhielten und, neben einer Quelle gelagert, von den Vorräthen, die die frommen Schwestern dem Saumthier aufgepackt, sich labten, seine Lebensgeister in etwas aufgeheitert, zumal Aigleta, die des dummen Schmollens längst überdrüssig war, plötzlich ihren ganzen Muthwillen wiederfand und die Mittagstafel mit den lustigsten Eulenspiegeleien würzte. Garcinde saß im Schatten des hohen Schlehdorns und litt es geduldig, daß die Hexe, die nirgend ruhen konnte, allerlei Kränze band, die ganze Gesellschaft, sogar den Knecht und die grasenden Pferde, damit zu schmücken, und dazwischen Tanzlieder sang, nicht immer des geistlichsten Inhalts, über die den Knecht das Lachen ankam, bis die junge Gräfin mit einem ernsthaften Blick sich erhob, das Gerank von Stirn und Hals streifte und weiterzureiten begehrte. Der Letzte, der aus dem hohen Grase aufstand, war Geoffroy. Ihm schien diese Stätte ein Paradies, aus dem er sich nur zaudernd vertreiben ließ. Doch war er bei der Hand, seinem Mühmchen in den Sattel zu helfen, ohne daß er es gewagt hätte, den kleinen Fuß, den sie beim Aufsteigen in seine Hand stützte, auch nur wie zufällig zu drücken. Sie selbst wandte das Gesicht von ihm ab, daß ihn ihre frei bis an den Gürtel wallenden Haare einen Augenblick weich umhüllten, und stieß dann die schlanke Ferse ihrem Zelter in die Weiche, daß er sich zu einem sanftmüthigen Galopp aufschwang. So ritten sie eine Weile wie zur Wette dahin, Menschen und Thiere durch die Rast erquickt und selbst Geoffroy mit erhobenem Haupt, als hätte ihm der rothe Klosterwein, den Aigleta ihm unter den Blumen credenzt, den weltmüden Tropfen aus dem Blute gespült und ihn angefeuert, das Glück der Stunde zu genießen.
La Vaqueira, das sie schon am frühen Nachmittag erreichten, war ein Meierhof, lieblich zwischen den üppigsten Weiden und lichtem Holz gelagert, noch vor wenigen Jahren im Besitz des Hauses Malaspina, seitdem aber als ein Pfand für eine hohe, im Spiel verlorene Summe in die Hände des Grafen Peire von Gaillac gerathen, der freilich mehr zu thun hatte, als nach den Rinder- und Schaafherden jenes stillen Winkels zu sehen. Der Meier selbst und seine Frau, die mit einer Schaar von Hirten und Melkdirnen hier haus'ten, wußten, da Herr Hugo, wenn er vorbeiritt, sie in alter Weise begrüßte, kein Wort davon, daß sie nicht mehr ihrem alten Herrn gehörten, und empfingen seine Tochter, deren sie sich aus ihrer Kinderzeit wohl entsannen, mit aller ehrfürchtigen Dienstbeflissenheit, wie sie der Herrin gebührte. Sie hatten, weil die Knechte in den Ställen schliefen, nur ein kleines Haus, dessen einziges Wohngemach sie sofort den beiden Mädchen überließen, sich selbst in die Küche bettend. Geoffroy mußte sich bequemen, auf einer Leiter unter das Dach zu klimmen und dort, wo es luftig und an Heu kein Mangel war, sich selbst ein Lager zu rüsten. Es war aber so spät, als er sich zum Schlafen entschloß, und sie hatten die schöne Hälfte der gestirnten Nacht in so mancherlei nachdenklichen Gesprächen verbracht, die seine heftigen Gefühle ein wenig gedämpft hatten, daß er trotz der Nähe Garcindens fest einschlief und das Versäumniß der letzten Nacht wieder einbrachte. Die Mädchen dagegen, obwohl auch sie, als des Reitens ungewohnt und durch den feurigen Wein überwältigt, sich gestanden, daß sie sehr müde seien, ermunterten sich doch wieder während des Auskleidens mit Gesprächen, wie Mädchen pflegen, die dasselbe Lager theilen sollen und doch Herzensgeheimnisse vor einander bewahren möchten. Denn Mädchen glauben ihre Zunge am besten hüten zu können, wenn sie ihr in unbedeutenden Reden desto freier den Zügel schießen lassen. Warum sie über Tag so wenig froh gewesen sei, und ob sie gar ihr noch zürne, daß sie allerlei Thorheit geschwatzt habe, vor großer Freude, endlich die Welt zu sehen? fragte Aigleta die Freundin, indem sie ihr half, das Haar zopfen und aufbinden. –
Nicht doch, liebes Herz, erwiederte die Sinnende und ließ ihre schlanken Arme in den Schooß gleiten; ich neide dich um dein leichtes Herz, ohne dir's zu mißgönnen. Meines aber ist schwer. O Aigleta, so schön habe ich es mir geträumt, zum Vater zurückzukehren, Luft der Freiheit zu athmen und die Welt zu grüßen jenseit der Hügel des Montsalvaire. Und nun –! –
Scheint die Welt dir nicht schön, der Himmel nicht blau, die Wiesen nicht grün, die Seeen nicht klar genug, deine Schönheit darin zu spiegeln? lachte die Freundin.
Daß du meine Bangigkeit und Schwermuth wegspotten könntest! erwiederte die Grafentochter. Aber sieh, wenn an dem Tag, wo ich in die Welt zurückkehre, mein lieber Vater mir fehlt, ich seine Hand nicht fassen, seine Stimme nicht hören kann – o Liebste, es ist etwas Geheimes, Finsteres, vielleicht sehr Schreckliches, das man mir verbirgt und dessen Ahnung mir diesen ersehnten Tag trotz allem Sonnenschein verdunkelt hat!
Narrheiten! sagte Aigleta. Soll ich dir sagen, wo die Wolke saß, die den dummen Schatten warf? Auf Stirn und Augen des einfältigen Herrn Jaufret – leugn' es, so viel du willst, ich weiß, was ich weiß, und habe meine Augen nicht umsonst im Kopf. Und hast du denn nicht auch guten Grund, dies unartige bocksteife Wesen übelzunehmen? Pfui, ein Leichenbittergesicht, wenn man das Glück hat, zwei so reizenden jungen Fräuleins als Ritter zu dienen, von denen die Eine obenein eine hochgeborne Gräfin und die leibliche Muhme ist! Und den Abend wieder, wie wir da draußen zwischen den Hürden herumwandelten, hat er etwas Gescheiteres zu sprechen gewußt, als von den Sternbildern da oben und ob man nach dem Tode hinaufkäme und so grauliche Sachen mehr? Ich dächte, die Sterne hätte er näher haben können, und um vom Tode zu reden, hätten wir Montsalvaire nicht zu verlassen brauchen. Er ist freilich, wie man sieht, zum Sterben verliebt, aber das ist keine Entschuldigung. Das gehört in Gedichte, wenn er welche an dich machen wird, aber unter vier lebendigen Augen – denn die meinen hätte ich zugedrückt und mich schlafend gestellt –
Was schwatzest du, Thörin? sagte Garcinde und versuchte sie unwillig anzublicken, obwohl ihr das Blut vor süßem Schrecken in die Wangen stieg. Weißt du nicht, weshalb er traurig ist und zeitlebens auch nie so recht froh werden kann? Er hätt' es freilich nicht nöthig, sich seine Geburt so zu Herzen zu nehmen. Wenn er an fremder Fürsten Hof ginge und dort in Herrendienst sich Ehre machte, Niemand würde ihm vorrücken, wofür er doch nicht kann, und er würde Reichthum und Land und Leute gewinnen und um jedes Grafenkind werben können. Aber wenn er auch ein Träumer ist und seinen Vortheil nicht versteht: so thöricht ist er doch nicht, auf mich seine Gedanken zu richten, da er wohl weiß, mein Vater gäbe mich ihm nie. Viel eher mein' ich, daß ich ihm verhaßt bin als meines Vaters Tochter, die er hoch über sich sehen muß, obwohl ich selbst mich noch immer gegen ihn betrage, wie in unsern Kinderzeiten, und Alles thun möchte, das alte Vertrauen wieder herzustellen.
Hm! sagte die Braune, indem sie ihr Mieder aufnestelte, kann sein, daß du Recht hast. Und doch wollte ich, er haßte mich so, wie er dich haßt, ich verlangte mir nichts Besseres. Aber mich, ein Magdkind – wer wird sich die Mühe geben, mich auch nur anzusehen, ob ich Lieb' oder Haß verdiene? Und ich meine doch, – und dabei schüttelte sie ihr dichtes Haar über den weißen Nacken – wir wären auch wohl der Mühe werth. Hochgeboren oder nicht –komm' ich nur erst in die Welt, du sollst sehen, domna comtessa, im Netz dieser schwarzen Haare fang' ich Vögel mit bunten Federn, so gut wie du mit deinen Goldfäden, und wenn auch die schwarze Krähe, der Jaufret, draußen bleibt –
Wer dich reden hört, fiel ihr Garcinde ins Wort, sollte meinen, du kämst wo anders her als aus dem Kloster. Aber wir wollen schlafen gehn. Ich wollt', es wäre morgen und ich hätte meinen Vater erst umarmt.
Wohl eine Stunde lagen sie schon, und Keine hatte eine Auge zugethan. Das Bett im Meierhof war freilich härter als ihr Lager in Montsalvaire, aber das allein hätte einen achtzehnjährigen Schlaf nicht gestört. Sie verhielten Beide den Athem und rührten sich nicht, bis plötzlich Aigleta sich aufstützte und sagte: Ich habe es den Nonnen nicht geglaubt, daß die Welt draußen uns um unsre Ruhe bestiehlt. Und nun sieh, kaum den Fuß haben wir hinausgesetzt, und schon flieht uns der Schlaf. Und dazu sind wir noch nicht einmal verliebt – ich wenigstens. O heilige Jungfrau von Montsalvaire, was wird das geben, wenn es so fort geht! Du freilich kriegst einen vornehmen Mann und dann Liebhaber, so viel du willst; aber ich – wenn mir nun Einer gefällt, den ich nicht haben kann – ich glaube, ich stecke einen Wald an und springe mitten hinein!
Was du nur träumst! antwortete Garcinde, ohne den Kopf vom Kissen zu heben. Meinst du, ich nähme einen Mann, den ich nicht liebte, oder mein Vater würde mir einen geben wollen, wider den mein Herz sich auflehnte? Weißt du nicht, daß er nichts auf der Welt lieber hat als mich, und keinen größern Kummer, als wenn ich Schmerzen leide? Schlaf'! Der Wein schwärmt dir im Blut. Ich meine, du bist dennoch zu früh aus dem Kloster entlassen worden.
Amen! sagte die Lose, mit der tiefen Stimme der Aebtissin. Dann lachte sie selbst hell auf, sprach aber nichts mehr und schlief noch vor ihrer jungen Herrin ein. – –
Am andern Morgen standen die Pferde wohl eine Stunde aufgeschirrt im Hof und scharrten den Boden, ehe die beiden Mädchen auf der Schwelle des Hauses erschienen. Sie nickten Geoffroy freundlich zu und plauderten noch ein wenig mit den guten Leuten von la Vaqueira. Dann spornten sie ihre Thiere, um die vier Wegstunden bis Malaspina noch vor der Mittagshitze zurückzulegen.
Wiederum ward unterwegs nicht viel gesprochen; der Jüngling war trotz des Schlafs noch bleicher und düsterer als gestern, selbst Aigleta neigte, in ihre Gedanken verloren, an der vollen Lippe und seufzte zuweilen. Auch hatten sie Noth, der jungen Gräfin nachzukommen, die heut auf ihrem Thier voranflog, als sei der wilde Jäger ihr auf den Fersen. Einmal wandte sie sich zu Geoffroy, der neben ihr ritt, um bei dem tollen Jagen bei der Hand zu sein, wenn der unnatürlich erhitzte Zelter einen falschen Tritt machte.
Glaubt Ihr, daß mein Vater uns entgegenreiten wird? fragte sie und horchte gespannt auf die Antwort. – Ich denke wohl, erwiederte der Jüngling und wagte dabei nicht, sie anzusehen. Denn auch sein Gemüth war voll böser Ahnung.
Als sie dann an die Stelle kamen, von wo aus man zuerst die Burg Malaspina erblickte, hielt Garcinde plötzlich still und spähte, die Augen mit der Hand gegen die Sonne schützend, wohl zehn Vaterunser lang nach den wohlbekannten alten Mauern hinüber. Der Weg schlängelte sich wie ein helles schmales Band durch die kurzgeschorenen Wiesen und Felder, so daß man jeden Kiesel darauf blinken sah. Aber von einem Reiter, der über die Zugbrücke sprengte und ihnen entgegenjagte, war nichts zu sehen. Auch als sie jetzt so nahe kamen, daß der Thürmer ins Horn stieß, blieb übrigens Alles still, und zu einem festlichen Empfang, wie die Mädchen ihn sich geträumt, waren nirgends Anstalten getroffen. Der Pförtner erschien in dem geöffneten Thor, hinter ihm ein Haufe nicht sonderlich geputzter Knechte, die verlegen im Burghof sich herumdrückten und zum ersten Mal selbst es zu bemerken schienen, wie hoch das Gras und die Nesseln zwischen den Steinplatten wucherten. Geoffroy war zurückgeblieben, unter einem Vorwande, im Grunde: weil ihm das Herz blutete, ein Zeuge sein zu müssen einer solchen Rückkehr in das Vaterhaus.
Denn wenn das weltunkundige Mädchen auch nicht den ganzen Umfang des Verfalles begreifen konnte, da sie nur Kindererinnerungen an diese Stätte bewahrte und es nicht überm Thor geschrieben stand, daß kaum die nackten Steine noch Eigenthum des Hausherrn seien, so mußte doch die spärliche Dienerschaft, ihr abgetragener Anzug, vor Allem der Umstand sie bestürzt machen, daß der eigne Vater es nicht übers Herz brachte, sein geliebtes Kind im Angesicht des alten Stammsitzes willkommen zu heißen.
Ist mein Vater krank? rief sie dem Thorwart entgegen, indem sie, ohne Hülfe abzuwarten, aus dem Sattel sprang.
Nur ein harter Anfall der Gicht, Herrin, erwiederte der Mann und richtete die Augen wie suchend nach dem Bogenfenster, das in den Hof ging, als ob er erwarte, den Herrn wenigstens von dort herab seiner Tochter zuwinken zu sehen, wenn auch das Leiden ihm die Treppe zu steigen verwehre. Das Fenster war leer. Eine Röthe überflog Garcindens Gesicht, als ihr Blick denselben Weg gegangen und leer und traurig wieder herabgeglitten war. Ich will hinaufgehen, Aigleta, flüsterte sie rasch. Warte hier unten, bis ich dich rufe.
So ging sie; die Andern stiegen von den Pferden und übergaben sie den Knechten. Geoffroy, nachdem er mit dem Thorwart einen raschen Blick gewechselt, der nur bedeutete: »Nichts Neues? – Alles beim Alten!« – führte sein Thier nach seiner Gewohnheit selbst in den Stall, zäumte es ab und kreuzte dann wieder, um nach seinem Thürmchen zu gehen, den Hof, ohne sich um Aigleta zu kümmern, die verloren und verlassen unter dem fremden Gesinde auf einer Steinbank saß und über einen so ehrenvollen Eintritt in das ersehnte Grafenhaus gern recht bitterlich geweint hätte, wenn nicht so viel Gaffer herum gewesen wären. Sie sah den Jüngling den Weg nach jenem wohlbekannten Gemäuer antreten, das traulich aus den Rosen heraus ihr zuwinkte. Er hatte aber das Kinn so tief auf die Brust gesenkt, daß sie sich nicht getraute, ihn anzureden und zu bitten, er möchte sie mitnehmen und ihr die alten Spielplätze zeigen.
Er aber schien ganz vergessen zu haben, daß sie auf der Welt sei, ja daß er selbst noch unter Menschen wandle. Obwohl er am Morgen nur ein wenig Wein und Brod genossen hatte und es inzwischen Mittag geworden war, dachte er doch nicht an Essen und Trinken, sondern saß in seinem Thurmgemach auf dem Bett der Mutter wie ein vom Blitz getroffener Mann, ohne sich zu regen, die weitoffenen Augen auf das Liederbuch seines Vaters geheftet, das er gleich bei seinem Eintritt aus der Truhe genommen und in seinem Schooß aufgeschlagen hatte. Er schien aber nicht zu lesen, sondern über die schwarzen Zeilen hinweg auf die Worte zu horchen, die sein Herz ihm vorsagte – frohe oder traurige, das hätte Niemand in seinen steinernen Zügen lesen können. Auf einmal aber durchzuckte es dies leblose Gesicht, und die bräunlichen Wangen färbten sich dunkler. Er sprang so hastig von dem Bette auf, daß ihm das Liederbuch vom Schooße glitt und platt auf die Fliesen zu liegen kam. Dann lauschte er gespannt in den Rosengarten hinaus. Richtig, es war ihr Schritt, so ging kein andrer Mensch, und nun legte sich eine Hand auf den Thürgriff, nun trat sie in den engen dunklen Flur, nun öffnete sie die innere Thür und trat über seine Schwelle in das kleine Gemach.
Er hatte, wie sie eintrat, unwillkürlich den Blick gesenkt und seine Verwirrung damit bemäntelt, daß er das pergamentne Büchlein, das zwischen ihnen lag, vom Boden aufhob. Als er jetzt die Augen zu ihr aufschlug, erschrak er heftig. Denn ihr Gesicht, das noch am Morgen von Jugend und Hoffnung geblüht hatte, war in der kurzen Stunde so verwandelt worden, als wären Jahre der hoffnungslosesten Schmerzen darüber hingegangen.
Ich störe Euch, Vetter, sagte sie mit ganz klangloser Stimme. Aber ich komme zu Euch, weil ich denke, daß Ihr mein Freund seid, vielleicht der einzige, den ich habe. Laßt mich sitzen – ich bin sterbensmüde – nicht auf das Bett da, darin ist meine liebe Tante gestorben – o Jaufret, wenn ich wüßte, es sollte auch mein Todbette sein und mir auf der Stelle das Herz still stehn, so wie ich mich dort niederlegte – Gott ist mein Zeuge, ich spränge mit gleichen Füßen hinein!
Sie sank auf einen Schemel, den er ihr hinschob, das Gesicht in die Hände gedrückt, daß er die Thränen zwischen ihren weißen Fingern vorquellen sah.
Um Gott, Muhme, rief er, Ihr brecht mir das Herz. Was ist geschehen? Was hat Euch der Vater –
Da nahm sie die Hände vom Gesicht, zerdrückte die Thränen mit den Wimpern und sah ihn groß an. Nicht weinen, sagte sie. Das ist kindisch. Wenn das Alles wahr ist, was ich eben erlebt habe, sind Thränen viel zu gering. Von Euch will ich's hören, Vetter: ist es wahr, daß der Herr von Malaspina ein Bettler ist und seine Tochter nichts zu eigen hat, als was sie auf dem Leibe trägt? – Ihr schweigt, Jaufret. Es ist gut. Was liegt auch daran? Es hat mir lange geahnt, daß Unglück in Lüften sei; und Armuth – die hab' ich im Kloster gesehen und kenne sie, und das Herz erschrickt mir nicht davor. Aber Schande, Jaufret, Schande! –
Beim Blute des Heilands! fuhr er auf, wer darf sagen, daß Euch Schande drohe, so lange ich ein Schwert führen und eine Lanze schwingen kann?
Das schien sie aber nicht zu hören. Denn nach einer Pause, in der sie die Kügelchen ihres Rosenkranzes wie im Traume durch die Hand hatte gleiten lassen, sagte sie, indem ein Schauder ihre ganze Gestalt überflog:
Kennt Ihr den Grafen von Gaillac?
Der Jüngling war zurückgefahren, als wäre er auf eine Schlange getreten. Eine Verwünschung knirschte ihm zwischen den Zähnen, und seine Hand krampfte sich in die seidene Decke.
Ihr scheint ihn zu kennen, fuhr das Mädchen fort. Auch ich kenne ihn. Vor zwei Jahren kam er auf einer Jagd nach Montsalvaire mit großem Gefolge von Rittern und schönen Damen. Im Wäldchen beim Klostergarten lagerten sie, wir konnten aus unserer Laube Alles mitansehen, das Trinken und Bankettiren, und die Lieder hören, die ihm seine Freundin, ein großes übermüthiges Weib, nach dem Essen zur Laute sang. O Vetter, was es für Menschen giebt! – damals zuerst fing ich an, davor zu erschrecken, und war froh, als die Aebtissin uns aus dem Garten trieb und im Refectorium uns an die Spindeln setzen hieß. Da war es stille, bis auf die heimlichen Reden der Schwestern, von denen Jede etwas wußte über die Wüstheit und Gottlosigkeit des Grafen von Gaillac. Denn im Kloster wissen sie Alles, wie es die Welt draußen liebt und treibt, weil sie sonst ersticken würden vor Langerweile. Auf einmal tritt die Aebtissin herein: der Graf stehe draußen am Sprachgitter und begehre mich zu sehen, er bringe mit Grüße von meinem Vater. Wie ich noch so viel Kraft hatte, aufzustehen und durch den langen Saal bis zu der guten Frau hinzuschreiten, weiß ich nicht. Die aber faßte mich mütterlich bei der Hand und flüsterte mir zu: Denke, daß du an einem geweihten Orte bist. Der böse Feind selber hätte hier keine Macht über dich So führte sie mich hin, wo der gottlose Mann mit den Habichtsaugen in dem Wolfsgesicht hinter dem Gitter wartete – das schöne freche Weib neben ihm – die den Jahren nach eher seine Tochter sein konnte. Sie lachten gerade überlaut, als wir eintraten: dann wurden sie still. Ich hörte den Grafen etwas auf Toscanisch zu der Dame sagen, das ich wohl verstand, aber nicht wiedersagen mag. Was er an mich selbst hinredete, ich weiß es nicht, ich weiß nur noch, wie es mir durchs Herz schnitt, als er den Namen meines Vaters nannte und hinzusetzte, er sei sein bester Freund. Vor meinen Augen fing es an zu flimmern, – als ich mich wieder fassen konnte, waren sie fort. Die Aebtissin sprach nie mehr ein Wort von diesem Besuch und verbot den Andern, den Namen Peire von Gaillac auszusprechen. Ich habe ihn seitdem nicht mehr nennen hören – bis heut – wo mein eigner Vater mir gesagt hat, daß er in einer Unglücksnacht, nachdem er all sein letztes Gut an diesen Mann verspielt –auf den letzten Wurf die Hand seiner Tochter gesetzt und auch die verloren habe! – –
Ein einziger Laut drang aus der Brust des Jünglings, ein dumpfer Ruf des Entsetzens und der jähen Empörung; aber seine Glieder schienen erstarrt und seine Zunge gelähmt, denn er brach das Schweigen nicht, und es war so still in dem kleinen Gemach, daß man den Sand unter seinen Schuhen knistern hörte.
Ihr haßt meinen Vater, fuhr endlich das Mädchen fort, den Blick zu Boden gelehrt, aber mit gelassener Stimme. O Jaufret, ich weiß es seit vielen Jahren, und es hat mir weh genug gethan. Aber was ich Euch jetzt erzählt habe, darf Euren Haß nicht mehren; denn wenn es einen jammervollen Menschen auf Erden giebt, der mit den heißen Qualen seiner Seele schon hier oben die Hölle leidet und alle seine Fehler büßt, – glaubt mir, Vetter, so ist es der Herr von Malaspina, der mit dem aussätzigen Krüppel an seinem Hofthore tauschen möchte, wenn er Geschehenes ungeschehen machen könnte. Er hat mir, sich windend wie auf einem glühenden Rost, in seinen Kissen vergraben, daß ich sein Antlitz nicht sehen sollte, gesagt, wie Alles kam, wie sie ihm mit Würzwein die Sinne umnebelt, dem schon Taumelnden zu jenem letzten Wurf den Becher in die Hand gedrückt haben, bis das Hohngelächter des Grafen ihn auf einmal erweckte, daß er mit nüchternem Grausen in den Abgrund starrte, in den er sein letztes Gut, das Glück seines Kindes, hinabgeschleudert hatte. Alles habe er versucht, den Sinn des schadenfrohen Feindes und Siegers zu wenden, sich selbst ihm zum Dienstmann angetragen, zum leibeigenen Knecht, wenn er damit die ruchlose Schuld bezahlen könne. Der Graf aber habe gelacht: einen jüdischen Handel wollt Ihr mir aufschwatzen, alter Freund, einen gerupften alten Hahn für ein junges Hühnchen. Knechte zu füttern hab' ich mehr, als mir lieb ist, aber ein junges Weib fehlt mir, wie Ihr wißt, denn ich werde alt, und von meinen guten Freundinnen hab' ich keine so lieb, daß ich ihr meine Länder und Burgen nach meinem Tode verschreiben möchte, fürchte auch, sie möchten mir Teufelsdank geben, und noch ehe ich die Augen geschlossen, in meinem Wein mit einem jüngeren Gesellen auf meinen nahen Tod trinken. Eure Tochter aber ist fromm und züchtig ausgewachsen und wird mich grauen Sünder zu einem erbaulichen Leben bekehren, und darum nähme ich nicht alle Schätze der Welt für ihre kleine Hand, die allein mir die Thüre des Himmels erschließen kann, und fordre bei Eurer Ehre, daß Ihr binnen drei Wochen sie mir zuführt, hier in Gaillac die Hochzeit zu feiern. Ich aber, zur Morgengabe meiner jungen Braut, verschreibe Euch sämmtliche Wälder und Felder sammt Häusern und Meierhöfen, die ich seit Jahren Euch abgewonnen habe, daß Ihr Euer Kind nicht als Bettler auszustatten braucht, sondern auf Eure alten Tage wieder ein Herrenleben führen könnt. – Und damit hatte er den Diener gerufen, ihm zu Bett zu leuchten, und meinen Vater allein gelassen. –
Da machte Geoffroy eine Bewegung, als ob er etwas sagen wolle. Sie aber erhob sich rasch, trat auf ihn zu und legte ihre kalte zitternde Hand bittend auf seine geballte Faust. Vetter, sagte sie, redet noch nichts, ich weiß, was Ihr sagen wollt: daß es besser sei, als Bettler von Haus und Hof wegzuziehen und in die weite Welt zu flüchten, als Schande zu ertragen und einem Teufel Leib und Seele zu überliefern. Aber bedenkt, daß mein Vater nichts mehr besitzt als seine Ehre, sein heilig unverbrüchliches Ritterwort, und daß es mir, seiner Tochter, schlecht anstünde, ihm zum Bruch seines Wortes zu rathen. Gleichwohl fühl' ich, wenn kein anderes Mittel wäre, die verpfändete Ehre einzulösen und die Schuld zu bezahlen, als daß ich meine Hand diesem verabscheuten Freier gäbe, so würde ich dennoch die Ehre vor Gott der Ehre vor den Menschen vorziehen. Aber laßt mich hoffen, mein Freund, daß diese letzte Wahl mir erspart bleibe. Ich habe vor, einen Brief zu schreiben an den, in dessen Gewalt wir sind, und Ihr, wenn Ihr es gut mit mir meint, müßt Ihr ihn selber nach Gaillac bringen und zwar heute noch; denn eh' ich die Antwort weiß, werde ich mein Haupt zu keinem Schlummer niederlegen können. Ruhet hier noch ein wenig und nehmt Speise zu Euch. Ich will gehen und den Brief aufsetzen – sie haben im Kloster immer meine Schreibkünste gerühmt – Gott gebe, daß sie mir jetzt zu Statten kommen! Seht, ich gehe viel ruhiger von Euch, als ich gekommen bin, obwohl Ihr mir kein Trostwort habt sagen können. Aber hier, an dem Ort, wo wir als Kinder so glücklich waren, hier wagen sich keine bösen Geister an mich heran, hier kann ich es mir nicht vorstellen, daß der Höllentraum Wahrheit werden und die Ehre des Vaters die Schmach seines Kindes sein soll!
Sie zauderte noch einen Augenblick. Als aber der Jüngling stehen blieb und mit einem tiefen Seufzer sich vor ihr neigte, ihre Hand an seine Lippen zu pressen, zum Zeichen, daß sie auf ihn zählen könne, legte sie zum Abschiede traulich die andere Hand auf seine Schulter und sagte: Aigleta wird Euch den Brief bringen. Lebt wohl, lieber Freund, und Gott geleit' Euch! – Und dann an der Schwelle der Thür, ihre Hände faltend, nachdem sie das Muttergottesbild an der Wand geküßt hatte, sagte sie leise das Gebet:
Maires de crist, ton filh car
Prega per nos, quens ampar
E quens garde de cazer
A la tin en desesper.
Mutter Jesu, deinen Sohn
Bitt für uns an Gottes Thron,
Gnad und Heil uns zuzuwenden,
Eh wir in Verzweiflung enden!
Damit ließ sie ihn allein. –
* *
*
Tag und Nacht waren vergangen und noch einmal Tag und Nacht. Geoffroy kam nicht zurück.
Herr Hugo vermißte ihn nicht. Er war es auch sonst gewohnt, daß der Jüngling seine eigenen Wege ging und wochenlang sich nicht blicken ließ. Und jetzt war ihm der Anblick aller Menschen verhaßt. Er saß stundenlang in seinem Gemach auf derselben Stelle; das Essen, das der Schaffner ihm auftrug, blieb unberührt, nur vom Wein trank er hastig, als suche er Vergessen darin, Vergessen seiner selbst, des Vergangenen und dessen, was kommen sollte.
Am Abend des ersten Tages war Garcinde bei ihm eingetreten. Er hatte sein eigenes Kind nicht anzublicken gewagt, aber wie sie neben ihn trat und ihren Arm leise um seine Schulter legte, hatte es seinen ganzen Leib durchzuckt wie ein jäher Krampf, er war vom Sessel auf den Estrich geglitten und hatte, unter Schluchzen seine Stirn gegen ihre Füße drückend, ihre Kniee umfaßt, daß sie ihn mit Mühe aufrichten und nach seinem Lager führen konnte. Seitdem hatte sie sein Zimmer gemieden. Dem Trost, den sie ihm hätte bringen können, indem sie ihm vertraut hätte, warum Geoffroy fern blieb, widersprach ihr eignes ungläubiges Herz.
Das weckte sie auch am dritten Morgen aus einem ängstlichen Traum. Sie rief Aigleta, die neben ihr lag, bei Namen: Hörst du nichts, Liebe? Es klang mir wie Hufschlag draußen auf der Brücke! Nein, es träumte mir bloß! – O Aigleta, wenn ich auch ihn unglücklich gemacht, ihn in sein Verderben gesendet hätte! – Aber horch! – es kommt näher – ich höre die Thorflügel in den Angeln kreischen – er ist es! Mutter Jesu, was wird er bringen? Leben oder Tod?
Sie war aufgesprungen und hatte einen Mantel umgeworfen. Auch Aigleta erhob sich eilends und band das Haar auf. Der rothe Morgen sah in die Kammer und färbte die blassen, überwachten Wangen des Grafenkindes. Sie wäre dem Kommenden entgegengegangen, wenn ihre Kniee sie getragen hätten. So stand sie mitten im Gemach, als er eintrat.
Auch er war bleich, und wie er sich vor ihr neigte, fiel es Aigleta auf, daß er die lederne Kappe nicht abnahm, die ihm die halbe Stirn bedeckte Garcinde sah nichts, als seine Augen, die den ihren auszuweichen suchten.
Ihr kommt ohne Trost, sagte sie. Ich wußte es. Dann ließ sie sich auf die Bank am Fenster nieder und hörte Alles wie abwesend mit an, was er mit stockender Stimme berichtete.
Denselben Abend noch war er nach Gaillac gekommen, er hatte sein Pferd nicht geschont. Wie er zu dem Grafen in den Saal geführt wurde, saß der gerade an der Abendtafel, ein paar seiner Zechgesellen mit ihm und eine seiner Freundinnen, die gerade seine Gunst besaß. Auf einem niedern Schemel zu seinen Füßen kauerte ein verwachsener Zwerg, der den Narren machte und seine Doggen fütterte. Das schöne freche Weib saß neben dem Grafen und goß ihm rothen Wein in einen silbernen Becher, den er jedesmal auf einen Zug leerte, nachdem sie zuvor die Lippen daran gesetzt hatte. Sie sahen mich alle an, sprach Geoffroy, als käm' ich ihnen gerade recht, ihnen Aerger oder Langweil mit irgend einer Neuigkeit zu vertreiben; denn Niemand schien guter Laune, außer dem Narren, der mit schalen Späßen, über die Niemand lachte, den Doggen die einzelnen Brocken zuwarf. Ich übergab Euern Brief, ohne ein Wort dabei zu reden, und während der Graf ihn entfaltete und las, mußte ich denken, wie die, die ihn geschrieben, sich an diesem Tische ausnehmen würde. Darüber stieg mir das Blut ins Gesicht, und ein Schwindel trat mich an, daß ich mich auf mein Schwert stützen mußte, um nicht zu wanken. Einer der Gäste der es gesehen haben mochte, rief, man solle mir Wein bringen und mich zum Gesinde hinabführen, ich würde müde und durstig sein von dem raschen Ritt. Ich aber schüttelte den Kopf und sagte: nur die Antwort wolle ich erwarten und dann noch dieselbe Nacht wieder nach Hause. Indem hatte der Graf den Brief gelesen und reichte ihn, ohne ein Wort zu sagen, seiner Nachbarin. Die hatte kaum den Anfang überflogen, so schlug sie eine helle Lache auf. Eine Predigt! rief sie. Gottes Tod! Ihr bekommt eine Heilige zur Frau! – und dann fing sie an, den Brief vorzulesen, Zeile um Zeile – und die Worte, die Steine hätten zum Weinen bringen und die Pforten der Hölle bewegen können – in diesem Saal weckten sie nur einen höhnischen Wiederhall. Schnöde Lästerungen und gottloses Lachen schwirrten herüber und hinüber, bis sie zu Ende war. Dann stand die Leserin auf und, indem sie einen stolzen Blick auf den Grafen warf, sagte sie mit gerümpfter Lippe: Das Heiligenbild mag kommen. Ich war ihr gram, weil ich dachte, sie werde Euer Herz für immer uns abwendig machen und hier allein herrschen. Aber wenn sie ihrem Briefe gleicht, fürchte ich sie nicht. Das härene Hemd und den Stachelgurt zu tragen, seid Ihr nicht der Mann, Peire von Gaillac. Ihr seid Höllenglut gewohnt, und in der Himmelsluft werdet Ihr frieren. In der Hölle aber ist mehr Freude über Einen, dem Reue und Buße leid werden und der umkehrt zu den ewigen Flammen, als über neunundneunzig Verdammte. Darauf leere ich diesen Becher – ihr Anderen aber thut mir Bescheid! – Sie trank ihn aus bis auf den letzten Tropfen – da zog der Graf sie neben sich nieder und sagte ihr ein Wort ins Ohr, über das sie laut zu lachen anfing.
Den Boten, der den Brief gebracht, hatten sie, wie es schien, vergessen. Das Blatt selbst aber, das von Hand zu Hand gegangen war, kam jetzt wieder zu dem Grafen zurück, da haschte der Zwerg danach und rief: Du hast schlecht gelesen, Gevatterin. Merk auf, aus welchem Ton das gesungen sein will, damit dir das Lachen vergehe! Und nun fing er an den Brief noch einmal laut vorzulesen, in der Art wie man die Litaneien in der Kirche singt, und Kopf und Hände dabei zu wiegen gleich einem Prediger, der den Segen austheilt, und hatten die Hörer das erste Mal gelacht, so wollten sie jetzt sich ausschütten und hielten sich die Seiten und wieherten Responsorien. Da überwallte mir das Blut, ich sprang auf den Schamlosen zu, riß ihm das Blatt vom Schooß und schlug ihm mit solcher Gewalt ins Gesicht, daß er schreiend rückwärts kugelte und im Fallen die silberne Schüssel mit dem Futter für die Hunde umstieß. Wenn ich denn keine Antwort erhalten soll, rief ich, wie sie der Herrin, die mich sendet, geziemt, so will ich den frechen Mund doch verstummen machen, der einer edlen Jungfrau zu spotten und Worte einer reinen und stolzen Seele in den Schlamm zu ziehen wagt!
Einen Augenblick war's stille. Schon dacht' ich, ich würde unangefochten den Saal verlassen, aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Knechte sprangen herzu, die Gäste tobten und schimpften auf mich ein, die Doggen heulten – nur der Graf saß todtenblaß und regungslos vor Wuth auf seinem Platz und neben ihm das Weib, das mir flammende Blicke zuschoß. Als ich mich eine Viertelstunde darauf hinter Kerkerriegeln auf feuchtem Stroh wiederfand, mit zerhauenem Kopf und Nacht vor den Augen, dankte ich meinem Heiland, daß ich nur aus der Nähe jener Ruchlosen errettet war und nicht mehr hören mußte, wie man den theuersten Namen lästerte.
Ich weiß nicht recht, wie ich die Nacht und den folgenden Tag hingebracht habe. Ich glaube, ich habe sie verschlafen. Aber um die zweite Mitternacht weckte mich plötzlich eine weiche Hand, die mir über das Gesicht fuhr, und der Schein einer kleinen Lampe drang mir ins Auge. Jene Dame des Grafen stand neben meinem Lager und machte mir Zeichen, daß ich schweigen sollte. Sachte zog sie mich die moderkalten Treppen hinauf sich nach, durch leere Gänge und Hallen bis an ein schmales Pförtchen, zu dem sie auch den Schlüssel hatte. Ich kann dich nicht da unten in der ewigen Nacht verschmachten lassen, flüsterte sie. Draußen findest du dein Pferd und einen Imbiß an seinem Sattelknopf. Fliehe! Wenn du aber je eine Freundin brauchst, so komm nach Carcassonne und frage nur nach Agnes der Sardin, da wird man dich zu mir weisen. – Sie wartete, was ich sagen würde; sie hatte sich wohl einen wärmeren Dank und Abschied geträumt. Als ich aber schwieg, schloß sie das Pförtchen auf und fuhr mir nur noch einmal mit der Hand über das blutige Haar! Armer Junge, sagte sie, du verdientest ein besseres Loos! – Dann schwang ich mich in den Sattel und gab meinem Thiere die Eisen zu kosten, und so ritt ich, während mir in der Nachtkühle nach und nach alle Sinne aufwachten und das Wundfieber verflog, unaufhaltsam des Wegs und hier bin ich – und das ist Alles, was ich als Antwort auf meine Botschaft mitbringe.
Damit entblößte er sein Haupt und zeigte die blutige Stirn. Nur eine dichte Locke seines Haares lag über der Wunde und hatte, dort verklebend, das Blut gerinnen machen.
Da stand Garcinde von dem Bänkchen auf und näherte sich dem Jüngling, als ob sie ihm etwas sagen wollte, stockte aber wieder und blieb, wortlos den Blick zu Boden gesenkt, ihm gegenüber stehen.
Aigleta aber sagte: Ich will gehen und Leinen und Wundbalsam holen, daß wir die Stirn ordentlich verbinden. – Dabei sah sie ihre Freundin an, als dächte sie an ganz Anderes, seufzte verstohlen und ließ die Beiden allein. Und kaum hatte sie den Rücken gewendet, so stürzte Geoffroy auf die Kniee vor der schönen, stummen Traurigen und rief, ihre Hände fassend, die er leidenschaftlich an sich riß: Befiehl über mich – was soll ich thun? – denn das Leben ist mir nur werth, wenn ich es für dich hinopfern kann. Nie hätt' ich über die Lippen gebracht, was mir das Herz durchlodert in seligem Jammer, wenn dieses Leiden nicht über dich gekommen wäre. Nun aber bist du nicht mehr die Gräfin, die stolze Tochter der Malaspina, die ich wie einen Stern hoch über mir sah! Du bist ein armes, unglückseliges, gefoltertes Herz und wirst ein anderes Herz nicht verschmähen, das auf Tod und Leben sich dir zu eigen giebt. O Mühmchen, liebste Liebe, sag ein Wort – und ich schwinge mich auf das Pferd, das noch gesattelt unten im Hofe steht, um nach Gaillac zurückzujagen und diesen Dolch dem Feinde deiner Ehre und deines Glückes in die Brust zu stoßen mitten unter all seinen Sündengenossen – und wüßt' ich auch, daß im nächsten Augenblick seine Doggen mich in Stücke reißen würden!
Da neigte sie sich zu ihm herab, und zum ersten Mal flog wieder ein Lächeln über ihren blassen Mund. Jaufret, sagte sie, indem sie die Lippen auf seine blutige Stirn drückte – das Wundfieber spricht aus Euch. Geht und legt Euch nieder und laßt Euch von Aigleta, die sich darauf versteht, das Blut abwaschen und Eurer Wunde pflegen, und dann stärkt Euch mit Schlaf und Speise. Denn bei unserer lieben Frau von Montsalvaire: das Leben, das Ihr mir anbietet, nehme ich an. Ich bin keine so reiche Gräfin, daß ich ein solches Geschenk ausschlagen dürfte, und dennoch reich genug, es zu erwiedern. Während Ihr Euer Abenteuer erzählt habt – das unhold und gräuelvoll genug ist, um jede Hoffnung zu verbannen – habe ich mir Alles überlegt, was ich thun darf und kann. Es ist aber jetzt nicht die Zeit zum Schwatzen. Seht, da kommt Eure Aerztin, der übergeb' ich Euch, und der sollt Ihr gehorchen, und wenn ihr sanft und folgsam seid, gewiß, Vetter, es wird Euch nicht reuen. – Schaffe, daß er schläft und sich stärkt, Aigleta, befahl sie der Freundin, die nickte, als verstände sie wohl, was die Blonde noch verschwieg. Der Jüngling aber, der sie mit staunenden Augen rathlos betrachtete, hatte sich von den Knieen erhoben und ihre Hände fahren lassen. Er konnte sich's nicht deuten, daß sie so ruhig war, da er doch keine Hoffnung gebracht hatte. Aber theils die Dumpfheit von seiner Wunde, theils auch das blinde Vertrauen in ihre starke und hohe Seele ließ ihn leichteren Herzens von ihr scheiden und Aigleta folgen, die freilich all ihre Munterkeit verloren hatte. Was hat sie vor? fragte er das Mädchen, da er neben ihr die Stufen hinabging. Wer kann es wissen? Gehorcht und schlaft! sagte die Freundin mit hastig rauher Stimme, und, indem sie sich abwandte, setzte sie hinzu: Denen, die er lieb hat, giebt es der Herr im Schlaf.
So führte sie ihn in seine Thurm-Einsiedelei, sah nach der Wunde, die nur leicht und schon im Heilen begriffen war, versorgte ihn mit Allem, was er zu seiner Stärkung bedurfte, und ließ ihn dann allein, als sie sah, daß ihm die Augen wieder schwer wurden.
Sie selbst aber ging nicht sogleich zu Garcinden zurück. Sie zögerte noch unter den Rosen, band einen Strauß, zerpflückte ihn wieder, und als sie endlich in die Burg zurückkehrte, hatte sie rothe Augen und wusch sie lange mit kaltem Wasser, daß Niemand es merken sollte.
Geoffroy aber schlief nur ein paar Stunden. Dann erwachte er wie ein neugeborener Mensch, mit kühler Stirn, Dank Aigleta's Wundbalsam, und heißem Herzen, Dank den räthselhaft glückversprechenden Worten seines Mühmchens. Wie ein Wanderer, dem die Fee im Walde die Wünschelruthe geschenkt hat, um Mitternachts damit einen Schatz zu heben, und der nun die Tagesstunden müßig hinträumt, so saß der Jüngling Stunde um Stunde und sah nur nach dem Sonnenstrahl, der langsam über die Fliesen rückte, und horchte auf die Vogelstimmen, die seinen Thurm umschwirrten.
Niemand kam ihn zu stören, die Knechte lagen gähnend auf schattigen Bänken im Hofe herum, im Stall stampften die Pferde, sich die Fliegen abzuschütteln, droben in der Burg hatten sich die beiden Mädchen in ihrem Gemach eingeschlossen und ließen sich nicht blicken. Einmal nur sah er durch sein schmales Fensterchen Herrn Hugo, der auf den hohen Altan vor seinem Gemach hinaustrat und in den Burggraben hinabstarrte, als erwäge er, ob ihm wohler werden möchte, wenn er da unten zerschellte. Haare und Bart waren schneeweiß geworden, das Gesicht zum Schatten abgezehrt. Dann verschwand er wieder wie ein ruheloser Spuk.
Und nun ging die Sonne hinunter und der Mond kam über den Wald herauf und versilberte das Rosengärtchen an Geoffroy's Thurm. Die Vögel verstummten, dafür hörte man die Glockenfrösche lauter ans dem Graben heraufgluchzen und ganz fern eine Nachtigall. Es war so hell im Thurm, daß der Jüngling jeden Buchstaben in dem pergamentnen Büchlein lesen konnte. Er wußte aber nicht, was er las.
Noch eine Stunde und noch eine – und jetzt kamen hastig verstohlene Schritte den schmalen Pfad heran und rissen den Horchenden aus seinem Brüten auf. Er stürzte nach der Thür, und wie er sie weit öffnete, sah er mit Erstaunen nicht nur die Eine, an die sein Herz dachte, sondern auch die Freundin vor der Schwelle stehen. Sie grüßten ihn mit einem Kopfnicken, und erst, als sie in dem engen Gemach sich gegenüberstanden, sprach Garcinde mit schüchterner Stimme: Ihr seht, daß ich Wort halte, Vetter. Aber habt Ihr nicht etwa über Tag Euch eines Andern besonnen? Ist Euch das Wort nicht leid geworden, das Ihr am Morgen zu mir gesagt? und da er sie mit stummer Frage ansah: daß Ihr mich liebt, Jaufret –fuhr sie erröthend fort – mehr liebt als Euer Leben und Euer Leben mir weihen wollt in Noth und Tod? Ihr dürft dreist reden, wie Euch ums Herz ist; diese Getreue weiß Alles. Sie wußte auch früher als ich selbst, daß mein Herz dir ebenso zu eigen gehört, wie das deine mir. O Jaufret, schon in la Vaqueira – wie wir Nachts von den Sternen sprachen – nur darum war ich so still und traurig, weil ich mir sagte, unter so unzähligen Gestirnen ist kein Platz, wo wir uns angehören dürfen, ich werde dich verlieren müssen, da ich dich kaum wiedergefunden, denn mir ahnte wohl, mein Herz und meine Hand würden nicht länger mein eigen bleiben. Und Gott ist mein Zeuge, ich war entschlossen, meinem Vater zu gehorchen, wenn er mich irgend einem edlen Manne, dem fremdesten, verlobt hätte. Aber wie ein lebloses Gut in einer heillosen Stunde einem schnellen Zucken der Hand zum Opfer zu fallen, die den Unglückswurf gethan – das kann Gott nicht wollen, ob er uns auch geboten hat, Vater und Mutter zu ehren. Denn ich habe meine Mutter im Traum über mich weinen sehen und weiß, wenn sie noch lebte, eher zöge sie mit mir ins Elend, als daß sie mich diesem Gemahl zuführte. Und so bin ich zu dir gekommen, mein Liebster, und wenn es dir noch Ernst ist, wie ich glaube und weiß, will ich mich in dieser Stunde noch, vor Gott und dieser Zeugin, mit dir vermählen und dann in die weite Welt mit dir entfliehen, und weiß, wenn man unsere Flucht inne wird, mein Vater wird nicht sein Pferd besteigen, uns nachzusetzen, um den Sohn als Räuber zu strafen, wie er es dem Vater gethan; er weiß, daß er selbst nicht richten darf, da ein Richter ein schuldloses Herz haben soll. Wir aber – wohin wir auch fliehen sind wir nicht überall zu Hause, ich bei dir, Jaufret, und du bei deiner Garcinde?
Mit diesen Worten reichte sie ihm ihre kleine Hand. Als er sie aber, vom heftigen Entzücken gelähmt, nur mit einem stummen Seufzer ergriff und festhielt, trat Aigleta vor und sagte, mit ihrer raschen Art und lachendem Gesicht:
Sieh nur den blöden Herrn, Garcinde! Ist das auch der Sohn eines Mannes, dessen Mund von süßen Sprüchen überfloß, und ihm fällt kein armes Wörtchen von den Lippen, wenn man ihm das schönste Grafenkind ins Haus bringt, das alle Schlösser und Burgen von Gaillac in den Wind schlägt, um mit diesem unbeholfenen Herrn sich durch die Welt zu betteln? Aber kommt, kommt, wir können nicht warten, bis ein Wunder geschieht und dem Stummen die Sprache zurückkehrt. Ihr müßt die Ringe wechseln und das Ehegelübde sprechen, und dann fort in die weite Welt, und ich als armes Ueberbleibsel schlage ein Kreuz hinter euch, denn für mich seid ihr todt und verschollen, das weiß ich nur allzu wohl. Ich werde –
Da brach ihr die Stimme, so sehr sie sich bezwang und zu lachen versuchte, und sie mußte sich bücken und sich an ihrem Schuhwerk zu schaffen machen, damit die Thränen ungesehen auf die Fliesen tropfen konnten. Geoffroy aber hatte sich gefaßt und zog nun einen Ring vom Finger.
Kennst du ihn noch? sagte er zu Garcinde. Mit diesem kleinen Reif hat mein Vater sich meiner Mutter verlobt. Und wie er die festeste Treue bedeutete, eine Treue, die mit dem Tode besiegelt wurde, so geb' ich ihn dir, meine heißgeliebte Braut, und gelobe vor dem Angesicht der heiligen Dreifaltigkeit und unserer getreuen Freundin: nie werde ich eines anderen Weibes Mann sein, als Garcindens von Malaspina!
Und ich nie eines anderen Mannes Weib, als meines Geoffroy! sprach die Braut.
Amen, so sei es! bekräftigte Aigleta und legte, nachdem die Ringe gewechselt waren, die Hände der beiden Gatten in einander. Dann knieten die Beiden nieder vor dem Bilde der Gottesmutter und blieben eine kurze Zeit in stillem Geb. Als sie sich wieder erhoben und nun einander in die Arme sanken und Herz an Herz und Mund an Mund ihre heiligen Gelübde besiegelten, schlich die Zeugin sacht aus der Thür. Sie fanden sie hernach draußen zwischen den Rosen, von denen sie zwei Kränze gewunden hatte.
Keine Hochzeit ohne Kranz! sagte sie und lachte aus nassen Augen, indem sie Beider Stirnen umkränzte. Und indessen der Jüngling nach dem Stall eilte, sein Pferd sacht aufzuzäumen und nach dem Gärtchen zu führen, lag Garcinde an der Brust ihrer Freundin und flüsterte unter vielen Thränen ihr zu:
Ich weiß, warum du weinst. Gott mache dich so glücklich, wie du mir treu und tapfer warst!
Leise brachen sie auf, Geoffroy voran, das Pferd, das heimlich mit athmenden Nüstern in den Mondschein hinauswieherte, am Zügel über das Ausfallbrückchen führend, die Mädchen hinterdrein. Dann hob er drüben sein junges Weib in den Sattel, schwang sich selbst hinter sie, und mit Hand und Augen zurückwinkend gab er seinem treuen Thier die Sporen. Es trug nicht überschwere Last; denn außer seinem Schwert und Dolch hatte Geoffroy nichts von all seiner Habe mitgenommen, als das Liederbuch seines Vaters, Garcinde aber nur weniges Geschmeide, das sie von ihrer Mutter ererbt und an das auch ihr Vater niemals gerührt hatte.
So ritten sie durch den mondklaren Wald. Sie sprachen nicht viel. Dann und wann, wenn das Pferd über sanften Boden ging, wandte sie sich halb zu ihm herum; dann küßte er sie auf die Wangen, und sie lächelte ihn mit ihren schwarzen Augen an und flüsterte: Mein liebster Gemahl! – Sie saß in seinen Armen so leicht und wohlgeborgen, und das gute Roß schritt so sicher aus, daß sie es kaum merkten, wo sie sich befanden: auf hastiger nächtlicher Flucht, einer dunklen Zukunft entgegen, sondern ihres Glückes genossen, als lägen gar keine Schatten von Sorge und Gefahr über ihrer Liebe.
Als sie aber aus dem Walde hinaus auf die Höhe kamen, von wo die junge Frau vor wenigen Tagen ihr väterliches Schloß zuerst wieder erblickt hatte, hielt sie plötzlich die Zügel an und wendete das schnaufende Thier.
Was ist dir, süße Frau? und warum halten wir hier an? fragte Geoffroy.
Sie aber sah unverwandt über die weite Ebene zurück nach der dunklen Masse mit den blinkenden Dächern und Zinnen, die durch den Mondnebel schimmerten.
Was siehst du nur, Liebste? fragte der Jüngling, da er die schlanke Gestalt an seiner Brust zittern fühlte, als ob mitten in der warmen Sommernacht ein Frost sie überfallen hätte. Laß uns vorwärts sehen, nicht zurück. Vor uns liegt unser Glück! – Sie wehrte ihm sanft mit einem traurigen Kopfschütteln, da er sie küssen wollte, sprach aber noch immer nichts. Es war ihr plötzlich, als sähe sie ganz fern in der verödeten Burg ihren Vater mit dem Kerzenlicht in der Hand von Kammer zu Kammer wanken und hörte ihn rufen: Wo ist meine Tochter Garcinde? Ich habe meine Ehre verpfändet, sie muß sie einlösen. Wo ist mein Kind und wo ist meine Ehre? Ein Bettler war ich, nichts hatt' ich als meinen unbefleckten Namen, auch der ist mir entwendet; die Letzte der Malaspina hat die Ehre des Hauses mit ins Elend genommen, denn sie weiß, daß ich nicht wie vor Jahren ihr nachsprengen werde, sie dem Entführer abzujagen, ich bin alt und krank und ein sündiger Mann. Nun aber soll ich ehrlos in die Grube fahren, denn meine Feinde werden sagen: durch meine List sei es geschehen, um meine Schuld nicht zahlen zu dürfen, hätte ich selbst dazu gerathen und mein letztes Kleinod lieber einem Bettler geschenkt, als dem Gläubiger, den ich haßte! – Und wieder verschwand dies Bild, und sie sah sich mit ihrem Freunde auf wilden Wegen von nachstürmenden Verfolgern ereilt – Herrn Peire von Gaillac an ihrer Spitze, seine Braut dem Entführer abzujagen, – sah ihren Jaufret kämpfen wie einen Verzweifelten und doch endlich, von der Uebermacht erdrückt, mit seinem Lebensblute aus tiefen Wunden die grüne Flur tränken – und hörte den höhnischen Sieger lachen: Neidest du mir meinen Spielgewinn, Spielmannssohn? Der Gläubiger holt sich die Schuld, wenn der Schuldner sie ihm vorenthält. – Da überlief es sie wie der kalte Tod. Sie meinte einen Augenblick, das Herz stehe ihr still. Alle Wonne ihrer jungen Liebe war darin wie zerdrückt von einer eisigen Hand. Sie wußte: was ihr als ein überschwängliches Glück mitten in ihren Nöthen erschienen, war ein falscher Traum gewesen; den beiden Menschen, die sie über Alles liebte, sollte es Tod und Verderben bringen! –
Um aller Heiligen willen, rief Geoffroy, der die geliebte Gestalt schwer wie einen entseelten Leib in seinen Armen fühlte, komm zu dir! Was denkst du für furchtbare Gedanken, und deine Lippen bewegen sich lautlos, als ob du mit Abgeschiedenen sprächest! Laß mich den Zügel fassen und umwenden, ins Leben, in die Freiheit hinaus; die Geister, die um jene Zinnen schweben, haben keine Macht mehr über dich, wenn du erst jenseits dieser Höhen bist. Willst du uns elend machen? Willst du gar –
Er konnte nicht aussprechen, als er die starren Augen seines jungen Weibes sah, aus denen plötzlich jeder Glanz der Liebe und Freude geschwunden war. Es währte aber nicht lange, dann lös'te sich der jähe Krampf. Sie seufzte einmal tief auf, wandte die Augen mit sehnsüchtiger Liebe nach ihm um und sagte, indem sie sich zu lächeln bemühte:
Ich habe dich erschreckt. Vergieb, mein Geliebter. Was hätten wir Zwei zu fürchten von all den Geistern, die um jenes Haus schweben und uns unser Glück beneiden? Du mein Mann und ich dein Weib, ewig unser mit Seel' und Leib. Aber mit unserer Flucht hab' ich mir's überlegt; das ist des Himmels Wille nicht, und glaube mir, Jaufret, wenn wir es thäten, meinem Gewissen zum Trotz, es würde sich rächen und wir so jammervoll enden, wie dein Vater und meine liebe Base geendet haben. Höre, es ist mir ein anderer Gedanke gekommen, den erfährst du morgen früh. Du wirst deine kluge Frau rühmen, wie fein sie es ausgesonnen hat, Beides zu thun, dem Gläubiger nichts schuldig zu bleiben und doch keines Mannes Weib zu sein, als ihres liebsten Vetters, dem sie vor Gott sich zu eigen gegeben. Hebe mich nun vom Sattel, ich mag nicht mehr reiten. Wenn es dir recht ist, mein Gemahl, gehen wir zu Fuß durch den Wald zurück, diese Nacht ist noch lang, und eine schönere Hochzeitsnacht kann keine Grafentochter sich wünschen. Und nun küsse mich erst, daß ich wieder ein Lächeln auf deinen Lippen sehe, denn wahrlich, dies arme Leben ist zu kurz, um auch nur einen Augenblick mit Kummer und Schwermuth zu verderben!
Er that willenlos, was sie verlangte; aber wie er sie unten stehend in seinen Armen empfing und sich ihre Lippen wieder von den seinen lös'ten, konnte er sich doch nicht enthalten zu fragen: O Garcinde, was hast du vor? Getraust du dir auch nicht zu Schweres und machst, wenn es mißglückt, dich und mich auf ewig unselig? – Sie aber lachte ihn jetzt mit hellen Augen an, legte den Finger auf den Mund und sagte: Ihr seid der beneidenswertheste Ehemann auf Gottes Erde, Herr Geoffroy: Ihr habt ein Weib, das ein Geheimniß für sich behalten kann. Aber nun dringt nicht weiter in mich. Was kümmert uns das morgen?
Sind wir heute schon so alte Eheleute, daß wir von wichtigeren Dingen zu reden wüßten, als von unserer Liebe? Sage, Jaufret, gefall' ich dir wirklich besser als Agnes die Sardin? Und war ihre Hand, als sie dir die Locken strich, nicht doch weicher als meine? Nein, aber du mußt mich hier nicht so heftig umarmen; der Mond sieht so unverschämt herunter und weiß am Ende nicht einmal, daß du mein lieber Gatte bist. Komm in den Wald, ich bin auch müde vom Reiten und möchte einen Augenblick ruhen. Ich weiß einen Ort, wo ein Bach durch das Moos rinnt, da wachsen viele Blumen, da will ich uns frische Kränze winden, denn die von Aigleta sind ganz zerdrückt. Armes Herz! Weißt du wohl, daß sie dich sehr geliebt hat? Aber es ist nun einmal nicht anders: Niemand kann zweier Frauen Mann sein, das ist wider Gottes Gebot – und ich, wenn ich auch nicht besser bin als sie, ich bin die Unglücklichere von Beiden – oder wäre es doch gewesen, wenn dein Herz, mein schöner Freund, mir nicht gehört hätte. – –
Unter solchem Geplauder, das dem Jüngling berauschend wie süßer Wein zum Herzen drang, gingen sie den Hügel wieder hinab und betraten den Wald. Das zahme Thier folgte ihnen willig und ohne Zügel und gras'te friedlich in ihrer Nähe auf der blühenden Waldwiese, wo sie sich lagerten. Diese ganze Nacht rauschte der Bach und sang die Nachtigall und schien der Mond so hell, daß Niemand an Schlaf denken konnte, am wenigsten Zweie, die sich so viel zu vertrauen hatten und nicht wußten, ob morgen am Tag noch Zeit dazu sein würde. – –
Als der Morgen graute, der Thau zu fallen begann und ein kühler Schauer durch den Wald strich, erhob sich die junge Frau und sagte, indem ein Frösteln ihr über die Haut lief: Es wird kalt, mein Gemahl. Ich dächte, wir gingen nach Hause. – Wohin? fragte er, indem er sie erschrocken ansah. Sie aber lächelte. Komm nur, sagte sie, ich will es dir zeigen. Hab' ich denn ein anderes Haus als das deine? – Damit nahm sie seinen Arm und führte ihn aus dem Walde über das Ausfallbrückchen in seinen Thurm zurück.
Hier laß mich ruhen, sagte sie, indem sie sich auf das Bett seiner Mutter setzte, hier möchte ich noch ein Stündlein schlafen, bis der Tag kommt. Laß mich aber allein, mein Liebster, sonst schwatzen wir doch wieder und ich kann kein Auge zuthun. Gieb mir auch das Liederbuch, ich lese gern noch ein und den andern Vers vorm Einschlafen. Und nun küsse mich zur guten Nacht – und geh! O Jaufret, ich liebe dich mehr als mein Leben! Sind wir nicht zwei selige Menschen, die so viel Glück genossen haben, daß nichts mehr sie betrüben kann? Und lebten wir hundert Jahre – kann die Zeit uns noch reicher machen an Freuden, da wir vom Becher ewiger Wonne gekostet haben?
Da umfing er die Holdselige und küßte sie noch einmal lange und innig auf den Mund. Dann ließ er sie allein. – –
Eine Stunde darauf krähte der Hahn. Er weckte aber den Jüngling nicht, der im Rosengärtchen lag, nur mit seinem Mantel zugedeckt, und im Traum lächelte, als wäre ihm selig zu Muth, und den Namen seines jungen Weibes lallte. Er weckte auch die Schläferin nicht drinnen im Thurmgemach, deren Lippen halb geöffnet waren, als wollten sie einen Namen aussprechen. Es blieb aber todtenstill in dem dämmerigen Raum. Erst, als die Sonne schon hoch über die Wipfel hereinsah, kam Aigleta, mit matten Augen und blassem Gesicht, des Weges daher, müßig, nur ihren Gedanken nachhängend. Da sah sie Geoffroy im Garten liegen, erschrak sehr, als hätte sie einen Geist gesehen, und erst, da sie ihn athmen hörte, bückte sie sich, ihn zu wecken. Ihr noch hier? flüsterte sie. Und wo ist Euer Weib?
Er sprang hastig auf und eilte, der Getreuen voran, ohne ein Wort zu erwiedern nach seinem Thurm. Als er die Thüren öffnete, that er einen Schrei wie ein Mensch, der ins Leben getroffen wird, und stürzte auf das Bett nieder. Da lag seine junge Neuvermählte, die Hand aufs Herz gepreßt, aus der ein blutiger Bach noch immer leise vorquoll, die andere Hand auf das Liederbüchlein gelegt. Von dem war die letzte leere Seite aufgeschlagen, und die weißen Finger wiesen auf eine Zeile mit frischer Schrift, die lautete auf provenzalisch:
Lo deuteire pugua al crezedor tot lo deute –»der Schuldner zahlt dem Gläubiger Alles, was er ihm schuldet«.
* *
*
Um Mittag erst wagten es die Knechte, Herrn Hugo vorsichtig zu hinterbringen, was Herzzerreißendes sich zugetragen hatte. Er hörte die Botschaft an, als verstünde er nicht recht ihren Sinn. Auch als man ihn hinunterführte, wo sein Kind wie ein schönes stolzes Bild vom weißesten Marmor auf dem Bette lag, das ihm so wohlbekannt war, gab er kein Zeichen, was er empfinde, keinen Laut und keine Thräne. Er schloß sich die Nacht über bei der Todten ein. Am Morgen befahl er eine Bahre zu rüsten. Er wolle sein Wort einlösen und die Braut dem Bräutigam zuführen. Die Knechte gehorchten schweigend, Geoffroy, der wohl Einspruch gethan hätte, lag im hitzigen Fieber, von Aigleta gepflegt. Seine Wunde an der Stirn war aufgebrochen, und aller Balsam wollte sie nicht wieder schließen.
Als der Zug nach Gaillac kam, Herr Hugo zu Roß an der Spitze, dann die todte Braut auf einer hohen Bahre von den Knechten getragen, ein zahlloses Geleit von Bauern und Knechten hinterdrein, schickte der Brautvater einen Herold voran, der mußte dreimal Fanfare blasen und dann mit weitvernehmlicher Stimme rufen: Der Schuldner zahlt dem Gläubiger Alles, was er ihm schuldet! – Auf diesen Ruf erschien Graf Peire von Gaillac auf dem Söller seines Schlosses. Als er aber das jammervolle Brautgeleite erblickte, wendete er sich mit Entsetzen ab und winkte heftig hinunter, sie sollten umkehren, er begehre nicht eine solche Hochzeit. Dann warf er sich auf ein Pferd und sprengte ins Land hinein und kam erst nach vielen Tagen zurück, ein gebrochener Mann, der nie mehr lachen konnte.
Herr Hugo aber, immer ohne ein Zeichen des Schmerzes zu geben, winkte den Trägern, die Bahre nach einer Kapelle zu tragen, die im freien Felde stand und der Mutter Gottes von Montsalvaire geweiht war. Da, auf dem Grund und Boden des Herrn von Gaillac, dem er die Schuld zu zahlen hatte, senkte er den schönen Leib seines Kindes hinab, und Niemand durfte ein Grabscheit anrühren, da er mit eigenen Händen ihr den Hügel aufschichtete. Als die Feier unter vielen Thränen des Volkes vorüber war, entließ er Alle. Er selbst blieb einsam bei der Kapelle zurück, man wußte nicht, ob er betete oder sich mit der Todten besprach. Als man aber Tages darauf nach ihm sehen wollte, ob er nicht Speise und Trank bedürfe, war er todt und sie konnten ihn neben seinem Kinde bestatten.
Von Geoffroy meldet die Chronik Nichts, als daß er im Herbste desselben Jahres das Kreuz nahm und gen Jerusalem zog, von wo er nicht zurückgekehrt ist.
Wer aber die Urkunden des Klosters Montsalvaire durchblättert, findet noch gegen Ende des Jahrhunderts den Namen einer Aebtissin Aigleta von Malaspina mit dem Klosternamen Sor Sofrensa – in heutigem Französisch Soeur Souffrance –, die erst in hohem Alter zum ewigen Frieden eingegangen ist.
——————