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XI.
St. Georgen

Ulrike von Egloff wanderte durch den Hofgarten. Ihr kleines Laufmädchen Bärbel trug ihr den Korb mit Lebensmitteln und Kleidung voran. Bald hat Papa nur noch neue Anzüge, dachte Ulrike und überlegte, sie müsse Stoffe kaufen und Schneider in Bewegung setzen. Ihre Armen brauchten ja keine englischen Waren, die jetzt die Kontinentalsperre dem Festland vorenthielt.

Ulrikes Weg führte hinaus nach der Vorstadt und dem herrschaftlichen Schloß St. Georgen, einst errichtet zum Vergnügen des bayreuthischen Erbprinzen Georg Wilhelm. Felder und Wiesen bedeckten jetzt die Fläche, die vormals ein See gewesen war. Hier hielten sich gern Frösche auf, ihre Rufe umtönten Ulrike. Sie erreichte durch eine reizvolle Allee den Schloßplatz. Ihr Blick glitt über das anmutige Bauwerk hin, in dem der Orden de la Sincérité, der Vorbote des Roten Adlerordens, gegründet worden war.

Verklungene Zeit! Ulrike wandte sich nach rechts, ließ das Stift des Herrn von Gravenreuth zur Seite liegen und betrat die dörfliche Siedlung um die schöne Kirche im Markgrafenstil. Die Arbeiter in der Glockengießerei von St. Georgen hatten kein schlechtes Leben, solange sie tätig sein konnten. Im Alter waren sie auf die allgemeine Wohltätigkeit und den Ertrag ihres Kartoffeläckerleins angewiesen.

Wunderlicher Platz, dachte Ulrike. Dieses kleine St. Georgen hat Schloß und Kirche, ein adliges Stift, ein Waisenhaus, eine Irrenanstalt, eine Glockengießerei und nun auch Einquartierung. Doch wollten die jungen französischen Soldaten lieber in Bayreuth selbst sein, als hier draußen in der Stille. So sah man auch nur ältere Krieger, die sich in Gärten zu schaffen machten, oder auf den Hausbänken in der Sonne saßen. Man freute sich an den Gaben des Herbstes. Sonnenblumen blickten über die Zäune; auf den Beeten wuchtete eine gute Kohlernte.

In Ulrikes Herz schlich der Gedanke, sie möchte wohl Herrin in einem solchen Dorf oder Städtchen sein, wie es ihre Verwandten, wie es die Mutter gewesen war, und wie es einst Alexanders Frau in Egloffstein sein würde. Der Gedanke ergriff Besitz von ihr.

Ein Schloß, der Park, die Parkmauer, der Pfarrhof, die ergebenen Dorfbewohner, Stallungen, eine kleine Meierei, die eigene Jagd, die eigenen Wälder: in dem Gedanken lag ein alter Zauber. »Du sollst einst nicht in meinem Hause die gute Tante sein.« Dies Wort Alexanders stieg ihr auf, und es kam ihr ein stolzes Lächeln. Heinrich Hügel besaß keine Erbgüter. Mit ihm würde sie lernen, eine Soldatenfrau zu werden, wenn er wiederkam. Ihr Herz schlug heftiger. Sie hatte es ein paar Augenblicke vergessen, daß sie seit der Fahrt nach dem Dorfe Vierzehnheiligen, also fast ein Jahr lang, um Nachricht von ihm bangte. Die wenigen Menschen, die vor ihr seinen Namen erwähnten, der Großvater Hügel, die Gartenfrauen, hielten ihn für verschollen.

Wohl meinte Jean Paul, und so hatte auch Alexander geäußert, Heinrich Hügel sei gefangen oder versprengt und nur unfähig, eine Nachricht zu geben. Ulrike verstand es lange nicht, daß dies einem Manne unmöglich sein könne – nun aber erlebten der Vater und sie das gleiche mit Alexander.

Im Juni war er ausgereist, um in russische Dienste zu treten, nun kam schon der späte Herbst, und sie hatten weder Brief noch Botschaft von ihm erhalten. Der Vater tröstete, Nachrichten aus Rußland seien wohl unsicher und dem Zufall unterworfen. Doch Ulrike sah, wie sehr er litt, und wie ungeduldig er täglich auf die Post wartete. –

»Geht es zuerst ins Haus von der alten Bacheritzin?«

Die Bärbel wagte endlich zu fragen, rief Ulrike damit in die Wirklichkeit des Augenblicks.

Vor zehn Tagen hatte Bärbel Stube und Küche der Witwe Bacheritz gereinigt. Auf eine rätselhafte Weise fand man heute wieder den alten Zustand vor. Die Frau ist doch halb lahm, dachte Ulrike bei der Begrüßung. Sie kann gerade vom Tisch zum Herd tappen, wo man ihr Holz aufgeschichtet und einen Wasserzuber bereitgestellt hat. Nun sieht es so aus, als habe man vor Jahren hier einmal gefegt. »Ja wie kommt denn all der Ruß und Schmutz in Eure Kammer?« fragte Ulrike.

Die Bacheritzin hob ihre schielenden Augen und warf einen treuherzigen Blick ins Wesenlose. »No, die Hennen und die Gockel, gnädige Baronesse. Konn mer sich davor retten?« Sie hob die Arme wie in Anklage und gab selbst die Antwort, nein, man vermöge dies nicht.

»Aber ihr habt doch keine Hühner und auch kein Schwein«, rief die Bärbel in Entrüstung. Die Bacheritzin ergriff sofort den schwachen Punkt der Anklage. »Bist du vielleicht g'fragt, du klein's Ding?«

Das alte gebückte Weib mit der braunen Kattunhaube wandte sich Ulrike zu: »Die Nachbarn lassen ihre Hennen und Gockel frei laufen. Und ich soll doch die Fenster aufmachen, so haben die gnädige Baronesse mir ang'schafft.«

Also die Lüftung ist schuld! Ulrike unterdrückte einen Seufzer.

Mit gierigen Händen nahm das alte Weib frische Wäsche und ein Stück geräuchertes Fleisch entgegen. Ihre Augen, die so ziellos zu blicken schienen, bemerkten gar wohl, daß im Korbe noch etwas zurückblieb.

»Ich muß heute noch zu Zimmermann Küffners«, betonte Ulrike.

Die Bacheritzin ereiferte sich: »Beim lieben Himmelvatterla«, sie würde sich der Sünde fürchten, wenn sie böse Nachrede über die Zimmermannsleute führe. Doch alles was recht sei, die Frau habe doch eine reiche Verwandtschaft im Mistelgau, woselbst sie sich Schmalz und Speck und Eier hole. Des Nachts, wenn es niemand sähe, backe sie Küchlein, und die würden aufgefressen, ohne daß jemand ein Krümlein erhielte. Die Küffnerin glaube, ihr verschwenderisches Tun bliebe ein Geheimnis. Das möchte ihr wohl glücken, wenn der Fett- und Backdunst nicht aus dem Hause dränge!

»So gönnt es den Leuten doch, wenn sie einmal einen Festtag haben.«

Die Bacheritzin leierte: »Mitteilet gerne, brich dem Hungrigen dein Brot«, befiehlt die Bibel. Nein, das täten Zimmermanns eben nicht. Ihr Kind, der Schoschla, habe Backen, wie rote Äpfel. Und woher käme das? Nun und nimmermehr nur von Kartoffeln. Ja, und weil der Zimmermann doch den rechten Arm eingebüßt habe, so könne er nichts verdienen, und die Frau behauptete, ein Herz- und ein Beinleiden zu haben. Trotzdem könnte sie mit dem Mann am hellen Werktag durch den Ort und über die Wiesen schleichen, und der Schosch spränge nebenher, als sei er ein Herrenkind.

Die Rede der Bacheritzin floß heftiger. Die schielenden Augen vermochten es gar gut, Ulrikes Mienenspiel zu beobachten. Wenn der fremde Herr Baron aus dem fernen Kurland diese Zimmermannsleute »die heilige Familie« nenne, so sei das wohl als ein Späßlein gemeint, dennoch müsse man ihn aufklären.

Ulrike bemühte sich, Theodor von Lievens unbedachten Vergleich abzuschwächen. Sie gab der alten Frau noch eine Medizin »gegen das Reißen« und wanderte dann weiter zum Hause der Zimmermannsleute.

Sie fand dort eine sauber gehaltene Stube, sauber geordnete Betten, einen blankgescheuerten Tisch, auf dem ein Asternstrauß in einem braunen Topf stand. Daneben lagen die »Herrnhuter Losungen«. Sie empfand instinktiv, dies bedeutete eine Art Aufmachung, gewiß erwartete man ihren Besuch. Da sie niemand im Raume fand und vom Werkplatz hinter dem Hause Axtschläge vernahm, ging sie dorthin und stand ein paar Augenblicke unbemerkt. Sie sah Theodor von Lieven, wie er das Werkzeug schwang, um den frischen Balken mit einem primitiven Muster zu versehen. Er arbeitete linkshändig. Sie erriet rasch, Lieven mühte sich, dem Zimmermann zu zeigen, wie man sich eine Fertigkeit mit der linken Hand erwerben könne. Theodor von Lieven gab dem Zimmermann das Beil, zeichnete Rötelstriche auf und rief ermunternde Worte. Der Zimmermann hieb denn auch los und schien nicht ungeschickt, denn Lieven richtete sich auf: »Aller Anfang ist schwer. Aber ich wette, bis heute abend Frau und Sohn zurückkommen, habt Ihr schon etwas vorwärts gebracht.«

Lieven lachte, denn er sah nun Ulrike. Mit großen eleganten Schritten war er neben ihr. »Ich hatte doch eine Ahnung, daß es heute sehr schön in St. Georgen sein würde.« Dann rief er dem Zimmermann zu, er dürfe die Baronesse begrüßen und auch in den Korb der Bärbel blicken. Als daraus eine alte Pekesche, ein Jagdrock des Oberjägermeisters, zum Vorschein kam, war die Freude groß.

Dann traten die Wohltäter den Rückweg an. Lievens Begleitung war Ulrike in einem anderen Sinne lieb, als es der Balte wünschte, denn er wollte Unruhe über ihr Herz bringen. Sie hörte seine eifrigen Worte über die Berufung des Adels, das Volk zu einem lebendigeren und vertieften Christentum zu führen, schon als etwas Gewohntes. Es ist gut, daß ich in Lievens Gesellschaft so gelassen an den französischen Soldaten vorbeigehen kann, dachte Ulrike, denn die fremde Besatzung flößte ihr immer wieder Zorn und auch etwas Furcht ein. –

Schön und seltsam war das Licht über der Landschaft und den fernen Häusern Bayreuths. Die Alleebäume standen im feurigen Erglühen. Es war Ulrike, als tönten die alten Hügel im Abendschein. Ein süßer Schmerz durchzog sie, wenn sie so frei das Wort Hügel aussprechen und ihre Schönheit rühmen konnte. Ihr Begleiter wußte nichts davon, daß das Geheimnis ihrer Liebe in dem Wort beschlossen war. Die Landschaft rief Heinrich Hügel mit seinem Namen. Jetzt standen die Hügel in rotgoldenem Laub. Zur nächsten Sommersonnenwende würden Feuer auf den Hügeln brennen.

»Ihre Heimat ist so reizvoll, Ulrike«, hörte sie Theodor von Lieven sagen. Er hatte Ulrikes Vater erklärt, daß junge Leute gleicher Geburt, genau wie das Volk, einander mit Vornamen anredeten, und so lange darauf beharrt, bis Ulrike sich auch dazu fand, ihn Vetter Theodor oder nur Theodor zu nennen, denn er sagte, aller deutschblütiger Adel sei doch miteinander verwandt! Die Lievens wären mit Manteuffels verschwägert gewesen, die Manteuffels mit Arnims, die Arnims mit Seckendorffs, die Seckendorffs mit Crailsheims, die Crailsheims mit Lindenfels', die Lindenfels' mit Giechs, die Giechs mit Egloffs: also, auch wenn der Weg ein wenig weit schien, was tat das? Ein weiter Weg ist umkränzt von Beispielen und Erinnerungen.

Ulrike wurde, wie so oft, von Theodor von Lieven angeregt. Ohne sich dessen bewußt zu sein, war sie gern seine Gesprächspartnerin. Er rief ihren Widerspruch hervor und damit ihre geistigen Kräfte. So hörte sie wieder voll Interesse zu, als er zu erzählen begann, wie das stolze und reiche England mit seinen Herzögen, Earls, Lords, der Gentry und den großen Handelsherren es dulde, daß die Arbeiter in den Bergwerksdistrikten ein Leben in beispielloser Armseligkeit führen müßten. »Das englische Lohngesetz, eine wahrhaft fluchwürdige Institution«, so führte Lieven aus, »gestattet den Arbeiterfamilien nur den kärglichsten Lebensstandard, ermöglicht es nicht, daß ein begabter Junge es irgendwie höher bringen kann; denn alle Wege verbaut die undurchbrechliche Armut. Ich werde, wenn ich erst in den Elendsgebieten von Wales eine Herrnhuter Gemeine gegründet habe, für eine Schule sorgen. Zu Hause in Kurland warten schon junge Lehrkräfte auf meinen Ruf. Sie denken wie ich, daß es eine außerordentlich schöne Aufgabe ist, Kräfte zu wecken, die so lange schlummerten.«

Der Herbsttag ging in seine Verklärung ein. Die Sonnenstrahlen fielen schräg, röteten die alten markgräflichen Bauwerke an der Peripherie der Stadt. Oft war Alexander mit Ulrike diesen Weg gegangen. Nun dachte sie, Lieven ist der Statthalter meines Bruders.

Der Balte brachte sie bis zur Wohnung und bat, ob er am Abend wiederkommen dürfe. –

Ulrike wurde nach ihrer Heimkehr sogleich zu ihrem Vater gerufen. Der Oberjägermeister war an seinem Gewehrschrank beschäftigt. Der Besitz einer reichen Sammlung von Feuerwaffen war ihm ein Trost in diesen Zeiten.

»Es ist Besuch bei mir gewesen, Ulrike«, rief er ihr entgegen. »Nimm Platz, bitte, über diesen Besuch ist Wichtiges zu besprechen.«

Sie fühlte ein leises Erstaunen, der Vater sah so feierlich aus. »Hast du keine Ahnung, mein Kind, wer deinetwegen kam?«

Ihr Herz schlug heftiger, ihre Wangen erglühten, vor ihren Augen verschwamm der Raum. Sie war so erregt, daß ihr die Stimme versagte.

Baron Egloff lächelte, »Nun ja, Mädchenherzen verbergen gern ihr Gefühl. Aber du mußt doch wissen, daß du jetzt bald neunzehn Jahre alt wirst. Deine Mutter hat mit siebzehn geheiratet. Weiß der Himmel, es wird einsam um mich sein, wenn du mich verläßt. Und doch muß ich es wünschen. Denn es handelt sich um dein Leben, um deine Zukunft, meine kleine Ulrike.«

Er ließ eine Pause eintreten, schob umständlich einen Stuhl durch das Zimmer hin und her, bis er sich niederließ, drehte dann seinen kostbaren Siegelring, welcher der Mode nach am Zeigefinger saß.

So waren Ulrike Minuten geschenkt, in denen Hoffnung, ja sichere Erwartung sie wie in den Himmel entrückte. Heinrich ist hier, der Vater zeigt sich so freundlich – die Tage, die endlos scheinenden Zeiten des Wartens sind vorbei. Sie machte eine so hilflos rührende Gebärde mit den schmalen Händen, daß der Vater bewegt seine Rede wieder aufnahm.

»Meine Tochter, es ist dir eine glänzende Heirat geboten –«

Ulrike überflog ein Zittern. Eine große Heirat? War es denkbar, daß Papa so von Heinrich Hügel sprach?

»Graf Erwin Waldenfels war hier.«

Alles Licht erlosch.

»Du weißt, es ist viel Ehre für unser Haus, Ulrike. Erwin Waldenfels repräsentiert außer seiner großen Stellung auch einen vortrefflichen, gereiften Charakter und ist eine gute Erscheinung. Seine vierzig Jahre –«

Ulrike erhob sich wie in Angst. »Graf Waldenfels ist nicht im Hause? Nein?« Sie atmete auf. »Und er kommt auch heute nicht wieder?« fragte sie hastig weiter.

»Er reist nach Dresden. Dort trifft ihn meine Nachricht. Nun, kleine Ulrike, bist du erschrocken? Kommt es dir so unerwartet?« Baron Egloff lachte laut, denn er wollte ein Unbehagen meistern, das ihm bei Ulrikes Verstörtheit aufstieg. »Du willst einwenden, daß du den Grafen nur zweimal gesehen hast. Ja, mein Kind, die Liebe des Mannes kommt oft wie der Wind. Bedenke, Waldenfels hat sich fast sechs Monate mit dir beschäftigt, und als gesetzter Mann wird er dir auch nachgefragt haben.«

Baron Egloff lachte noch lauter: »Also, meine kleine Gräfin, sag doch ein Wort!«

Der Oberjägermeister verbarg Verlegenheit. Er hatte gehofft, er irre sich in seinem Kind. Nun aber sah er, der Antrag reizte sie nicht. Die Mutter fehlt ihr, dachte er. Die Mutter würde ihr in sanfterer Weise sagen, daß man nicht auf Erden ist, um verstiegenen oder unsinnigen Träumen nachzuhängen, oder auf die »grande passion« zu warten. Nun mußte er diese Worte sprechen.

Wieder drehte er seinen Wappenring hin und her und überlegte. Man will seine einzige Tochter nicht bedrängen. Aber es ist Pflicht, ihr alle Vorteile einer gebotenen, großen Heirat vor Augen zu rücken, wenn sie selbst ihre Blicke vielleicht auf einfachere und innigere Verhältnisse verhaftet hat. Natürlich waren schon schüchterne Bewerber aufgetaucht für die reizende Tochter eines guten und auch wohlhabenden Hauses. Er, der Vater, hatte diese Jünglinge nicht ermutigt, denn er behielt sein Kind gerne bei sich. Jetzt aber, da er selbst seine Jahre fühlte, Alexander weit fort war, und der baltische Baron mit seinen ganz absonderlichen Lebensplänen sich immer näher an Ulrike heran machte, schien es an der Zeit, sie zu verheiraten. Baron Egloff begann, den Charakter von Graf Waldenfels zu rühmen.

siehe Bildunterschrift

Königin Luise von Preussen. Pastell von Wilhelm Ternite

»Du sprichst von einem mir fremden Herrn von vierzig Jahren, Papa«, brachte Ulrike endlich hervor. Ihre Blicke irrten von einer Türe zur andern, im Wunsche, den Raum verlassen zu können.

Baron Egloffs Stimme wurde herzlich. »Ein fremder Mann? Ach, Kindchen, was du da plauderst. Natürlich hat jedes Mädchen dem Manne gegenüber eine Fremdheit zu besiegen, denn zur Ehe gehören nun einmal zweierlei Menschen. Wenn erst die Hochzeit gewesen ist, wirst du lachen, daß du von Fremdheit sprachst.«

Baron Egloff trat für ein paar Augenblicke an ein Fenster und sah in den Hofgarten hinab. Das schenkte ihm die Eingebung, zu sagen, der Freier habe einen eigenen Park, um sein Schloß seien auch schöne Alleen und Gärten. Und er wäre reich. Vielleicht erschreckten Ulrike die großen Verhältnisse? Nun, sie möge bedenken, welche Möglichkeiten der Reichtum biete.

»Wir brandenburg-fränkischen Edelleute haben das Sparen lernen müssen. Unsere Hilfen für andere, für Standesgenossen und das Volk bestehen immer in gutem Rat, einem kargen Darlehen, einem kleinen Fonds für Almosen. Wer reich ist, darf sich die große Gebärde des Schenkens gestatten, kann zum Wohltäter seines Gebietes werden.«

Baron Egloff lächelte, denn ihm kam noch ein bestechender Einfall: »Wenn eine reiche Frau in ihrem Umkreis, oder in anderem deutschem Gebiet zum Beispiel von einem jungen Jean Paul hört, so muß dieser Jean Paul nicht in Hunger und Elend mit seiner bitterarmen Mutter die Stube teilen und schönste Jugendjahre als ein Bedrückter und Demütiger das Leben fristen, sondern die reiche Herrin wird freie Hand haben, nicht nur ein Licht in arme Hütten zu stellen, sie kann auch würdige Talente, aufstrebende Begabungen fördern. Weiß Gott, wie habe ich mir dieses gewünscht. Wie habe ich einst den Prinzen von Augustenburg und den Grafen Schimmelmann beneidet, die Schiller aus seiner Not erlösen konnten.«

Die kleine Ulrike aber war nicht fähig, das Glück ihres Herzens in der Unterstützung von Talenten zu sehen. Sie dachte in verzehrender Sehnsucht an ihren Heinrich Hügel.

Da sie völlig schwieg, fragte der beunruhigte Vater:

»Bist du denn an Lieven attachiert?«

Sie fand endlich ihre Stimme wieder: »Papa, lieber Papa, verzeih, wenn ich dich enttäusche. Nie, nie, nie habe ich an den Grafen Waldenfels gedacht, und –«

Baron Egloff unterbrach sie. »Dann tue es jetzt. Ich verstehe, du kannst im Augenblick keine Antwort geben. Du bist überrascht und wohl auch ermüdet. Geh auf dein Zimmer und ruhe dich aus bis zum Abendessen.«

Er legte den Arm um ihre Schultern, lachte sein warmes Lachen. »Bedenke dich nur in aller Ruhe. Morgen, übermorgen sprechen wir weiter.«

Sie flüchtete in ihren schönen, lichten Wohnraum neben der geräumigen Schlafkammer.

Ich hätte von Heinrich sprechen müssen, fiel ihr auf die Seele. Und zugleich wußte sie, ihr guter Vater würde es nicht verstehen, daß sie eine große Heirat ausschlug, weil ihr Herz an einem Verschollenen hing. Stünde Heinrich Hügel an ihrer Seite, dann würde sie wohl den Kampf gegen Standesvorurteile aufnehmen. Würde Heinrich ihr schreiben, komm zu mir als meine Frau, würden ihr Flügel wachsen!

Leise trat die kleine Bärbel in den Raum. Sie brachte einen Brief. Die Köchin ließe sich entschuldigen, sie habe den Brief angenommen, als die gnädige Baronesse schon ausgegangen war. Ulrike sprang auf, von jäher Hoffnung beseelt. Heinrich, Heinrich, flehte ihr Herz.

Aber die Anschrift war von Marya Lagienska. Ulrikes Hände zitterten, als sie den Brief erbrach. Er würde, er mußte eine Nachricht über Alexander enthalten. Ihre Augen überflogen die Seiten, ohne etwas zu begreifen. Sie suchte noch einmal Anrede und Unterschrift, ja, es stimmte: »Immer deine Freundin Maruschka«, stand da. Eine Einlage war zu Boden gefallen. Ulrike hob das gesiegelte Blatt auf: »An den Freiherrn Alexander von Egloff, Bayreuth, Neues Schloß.«

Der Brief Maryas, den Ulrike Zeile um Zeile las, lautete:

 

»Meine liebe, teure Freundin Ulrike!

Wie mag es Dir ergehen in diesen bewegten und interessanten Zeiten? Meine Gedanken suchen Dich so oft im lieben, stillen Bayreuth. Ich sehe Dein kleines, blasses Gesicht vor mir, Deine dunklen Locken, Deine schönen Hände. Ob Du manchmal Sehnsucht in die weite Welt hast? Ob es Dir immer so leicht ist, eine gute Tochter zu sein und Dich den Wünschen Deines Herrn Vaters ganz zu unterwerfen? Ob Du manchmal hinaus nach Philippsruh gehst und beim Anblick des nicht für immer, aber doch wohl auf längere Zeit verlassenen Hauses der alten Tage gedenkst, in denen wir so fröhlich waren? Ach, ich wüßte viele Fragen, chérie –

Mein Weg hat mich nun weit fortgeführt. Wir sind in Warschau. Wir wußten es lange vor dem Frieden von Tilsit, daß in der polnischen Heimat uns ein Platz bestimmt sein wird. Wenn es Dir nicht ganz begreiflich ist, was ich Dir jetzt mitteile, im Grunde vermag es meine liebe Freundin doch zu verstehen: auch die Frau gehört in ihr Vaterland und zu einem Compatrioten, selbst wenn wir geglaubt haben, die Welt sei unsere Heimat. Ich schreibe Deinem Bruder selbst. Das Band der Freundschaft zwischen Eurem Hause und uns wird nie zerreißen, wenn es auch gelockert erscheinen mag. Dies glaube mir, meine liebste Ulrike.

Du kennst meinen Vetter Ladislaus Smirnow. Auf Wunsch der Kaiserin Josephine ging er nach Warschau. Auf Wunsch der Kaiserin fand unsere Hochzeit in ›Notre-Dame de Paris‹ mit einem anschließenden Fest in den Tuilerien statt. Dann präsentierte uns Herr von Talleyrand in Tilsit dem Kaiser Napoleon.

Ich habe meiner Bestimmung gehorcht, meine liebste Ulrike –«

 

Ulrike ließ den Brief sinken. Stand da noch etwas vom Temperament, von der fortreißenden Passion der Herzen? Vielleicht. Sie mochte nicht nachsehen. Nein, die Worte waren wohl nicht zu Papier gebracht. Aber vor Ulrikes innerer Schau hob sich das Bild der beiden schönen Polen, Graf Smirnows sprühendes Wesen, Maryas unsäglicher Charme. Sie wußte, ein Glückstaumel lag über den beiden – und ein Jugendtraum war versunken …

Ulrikes Blick ging zu dem Pastellbild ihres Bruders. Er war da als Knabe gemalt, blond, mit stillen guten Zügen.

Wie unglücklich sind wir beide, dachte sie weinend.


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