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XVII.
Der Wanderer

Man hatte »Herrn von Reinosch« nach der morgendlichen Unterredung mit Gräfin Munk in steifer, fast wie nachtwandlerischer Haltung über Korridore und Treppen hinaus nach dem Wirtschaftshof und dann auf die verschneite Landstraße gehen sehen. Als er um Mittag nicht zurück war, berichteten sowohl eine Jungfer als der neue Diener, es sei ihnen auffällig gewesen, daß der Herr in der Kälte keinen Mantel getragen habe.

Major von Lastrow forschte in eigener Person nach, ob sein Schützling vielleicht den Weg zum Vorwerk eingeschlagen hatte. Als man, ehe die Dämmerung einsetzte, den Gast des Herrenhauses einige Meilen draußen in der Ebene bewußtlos fand und zurücktransportierte, hielt es die schwedische Gräfin durchaus nicht für ihre Pflicht, den Gang des Gespräches mit dem sonderbaren Menschen genau zu erzählen. Sie sprach nur die Vermutung aus, daß ihn Nachrichten aus seiner Heimat wohl erregt hätten. Jedoch wäre von Todesfällen oder sonstigen Schreckensnachrichten nicht im geringsten die Rede gewesen.

Der alte Major erinnerte sich an einen blühenden jungen Kerl in seiner Schwadron, der aus dem Schwabenland stammte und glattweg aus Heimweh gestorben war. Gräfin Munk pflichtete höflich bei, sie habe selbst schon von solchen Phänomenen gehört.

Der arme junge Mensch mit dem »nom de guerre« lag nun tagelang halb bewußtlos, und der endlich herbeigebrachte Arzt stellte schwere Lungenentzündung fest. Diese, wie sie fest glaubte, ansteckende Krankheit ließ Gräfin Munk ihren Aufenthalt abkürzen.

Der alte Major und Frau von Lastrow hatten eine ehrliche Betrübnis über das neue Mißgeschick ihres Schützlings. Er war wohl durch die Festungshaft und das lange Schwimmen in der Oder so entkräftet gewesen und hatte dann alle Energie aufbieten müssen, um sich wieder in Form zu bringen. Sonst hätten ihn weder die Stunden auf der Landstraße, noch der Gräfin Erzählungen aus der Heimat so niederwerfen können.

Heinrich Hügel lag eine Woche in Lebensgefahr und merkte es kaum, wie sorgfältig er betreut wurde. Als er dann wieder bei klarem Bewußtsein war, setzte er seinen ganzen Willen ein, um nichts von seiner inneren Zerbrochenheit zu zeigen. Niemand sollte ahnen, daß ihm seine persönlichen Lebenshoffnungen zerschellt waren. Man hatte einen Besiegten von Jena, einen Kriegsgefangenen aus Küstrin, der fast Bettler war, aufgenommen. Ein Mensch wie er, über den sich alles erdenkliche Unglück häuft, kann höchstens noch ein wenig Mitleid finden.

»Wollen Sie nicht doch einen harmlosen Brief nach Hause schreiben?« fragte Frau von Lastrow an einem Januartag. Sie fügte hinzu, jener Bote August Hicketier habe wohl sein Ziel nicht erreicht, er könne auch krank geworden und irgendwo untergekrochen sein.

»Aber wenn ich einen Brief schreibe, so verrate ich ja mein Asyl«, antwortete der Kranke und beteuerte, daß er unter keinen Umständen die Familie von Lastrow in Ungelegenheiten bringen wolle. –

»Ulrike konnte mich vergessen.« Diese vier Worte waren eingebrannt in Heinrich Hügels Herz.

Die Zeit milderte sein Denken: »Ulrike hat mich als einen Gefallenen betrauert. Jahrelang wohl. Dann wandte sie sich wieder dem Leben zu. Vielleicht hat man sie gedrängt, dies zu tun, bis sie nachgab.«

Kein Zorn stieg in ihm gegen Ulrike auf. Das Schicksal war gegen uns, dachte er in der großen Müdigkeit seiner Seele.

Um das Herrenhaus lag hoher Schnee. Es war, als sei die ganze Welt verschneit und gebeugt unter der kalten, weißen Last. Jede Unternehmungskraft schien zu ruhen. Selbst im Gutsbetrieb geschah nur das Unerläßliche. Die Holzfäller mußten ihre Arbeit einstellen, denn der Schnee ging ihnen oft bis zu den Schultern.

Nach Wochen kamen für Heinrich Hügel wieder Abende des Gesprächs mit der Gutsherrschaft. Doch jetzt war nicht mehr von weltmännischer Erziehung die Rede, sondern man sprach in gedämpftem Ton von der Not der Zeit, von der Hoffnung auf Befreiung. Ab und zu sickerten Nachrichten durch, oder ein Gast brachte sie mit. Der alte Major verhieß Heinrich Hügel, daß es im Frühling wohl möglich wäre, nach Berlin zu gelangen. Bis dahin wäre auch seine Flucht aus Küstrin in Vergessenheit geraten.

Oftmals kamen Frau von Lastrows Kinder zu Heinrich Hügel, er schnitzte ihnen Spielzeug, hörte ihr Geplauder, war der junge Onkel für sie. »Du bist so freundlich, aber du bist nicht froh«, sagte der feinfühlige kleine Junge. Heinrich Hügel konnte manche Stunde in der Gesellschaft der Kinder fast seine Lage vergessen.

Es kam aber die Stunde, da sie ihm jäh und auf die überraschendste Weise bewußt wurde.

Die Tage und Wochen waren dahingeschlichen und zugleich auch dahingeeilt.

Der Tauwind fuhr wieder durch das Land, rüttelte an Wetterhähnen und Fensterläden, leckte den Schnee weg, entließ die Bäume aus ihrer Erstarrung und gab ihnen ihr geheimnisvolles Leben zurück. »Der Saft steigt«, sagte der alte Major, während er ein wenig durch den kleinen Park trippelte.

Die Hauskatzen, die in großem Abscheu vor dem Schnee sich nicht mehr hinausgewagt hatten, fühlten neue Kräfte und begannen ihren nächtlichen Dachgesang.

Man riecht den Frühling, behauptete Frau von Lastrow und ritt nach dem Vorwerk. Wenn sie dann zurückkam, sprühte sie Frische und Lebenswillen aus, holte »Herrn von Reinosch« in den Stall, ging mit ihm durch die Reihen der Rinder, an den Pferdeboxen vorüber und fragte ihn, was er wohl von der Landwirtschaft verstünde? Es sei jetzt ebenso wichtig, den Beruf des Landwirts zu ergreifen, als Offizier zu sein. Sie ließ durchblicken, es wäre seiner Gesundheit förderlich, sich im März oder April an der Feldbestellung zu beteiligen. Ein Leben in freier Luft bliebe doch das schönste.

Eines Tages, als Heinrich Hügel gerade allein zu Haus war, kam der alte Briefbote und brachte ihm ein »rekommandiertes« schweres Päckchen. Die Schriftzüge waren fremd, als Absender zeichnete ein dem Adressaten unbekanntes Bankhaus.

Er fand in einem Ledersack hundert Preußentaler und las in einem Begleitschreiben der Firma, dieses Geld würde im Auftrag der Gräfin Munk aus Stockholm übersandt mit dem Ersuchen, von einem Dankbrief abstehen zu wollen und die Sendung als sekret zu betrachten. Es handele sich um ein Darlehn zur Wiederherstellung der Gesundheit des Herrn von Reinosch. Dieses wunderlich umkleidete Geschenk beschäftigte zunächst Heinrich Hügels Gedanken und seine Phantasie. Dann begriff er plötzlich, er war nun nicht mehr bettelarm, jemand wagte ein Darlehen an ihn. Das Wort Darlehen erleichterte ihm die Angelegenheit.

Er verschleierte die Gabe vor den Gastfreunden. Sein nächster Weg ging in die entlegene Kleinstadt, wo er sich allerlei kaufen wollte. Dem Major erzählte er, das Geld käme von Jean Paul und von seinem Großvater, die Gräfin Munk habe also wohl nach Bayreuth geschrieben. –

Frau von Lastrow saß in ihrem Ankleidezimmer. Sie wandte große Sorgfalt an ihre Toilette und überlegte dabei: Leutnant Hügel soll durch die Geldsendung keine Sehnsucht nach Bayreuth bekommen. Die Heimatstadt kann er später einmal wieder besuchen, jetzt wird er hier bleiben. Sie hatte ein großes Paket aus dem Städtchen für ihn ankommen sehen und lächelte: welche Eleganz war wohl dort zu beschaffen gewesen?

Frau von Lastrow fuhr fort, sich schön zu machen. Das galt nicht gerade dem alten Pastor aus Schwedt, der sich nach vielen Monaten endlich aufgemacht, um mit dem Major wieder einige Schachpartien zu spielen. Der Pastor würde mehrere Tage bleiben; er hatte sein eigenes Zimmer im Herrenhaus, in dem Holzschnitte von Luther und Melanchthon, Kurfürst Johann Friedrich und König Gustav Adolf hingen.

Für den Abend waren der Major und sein Gast beschäftigt. Die alten Herren konnten kaum das Ende der Mahlzeit erwarten, so sehr drängte es sie an den Schachtisch. Wohlversorgt mit Wärme, Kerzen und Wein würden sie nun dort bis Mitternacht sitzen und ihrem »Gardez la reine« gegebenenfalls mit besonderer Genugtuung ein »Schach dem Kaiser!« folgen lassen.

»Ich will Ihnen meine Miniaturensammlung zeigen«, sagte Frau von Lastrow, als die Schachspieler installiert waren. Sie ging voran in ein Zimmer, das Heinrich Hügel noch kaum kannte. Schöne, frederizianische Möbel waren darin, Armleuchter brannten auf einer geschweiften Kommode, am knisternden Feuer eines Marmorkamins standen zwei bequeme Sessel. Über einem Sofa hing eine schöne Kopie des Jugendbildnisses von Prinz Louis Ferdinand.

»Wie reizend haben Sie es hier«, sagte Heinrich Hügel in ehrlicher Bewunderung.

»Ja, das sind Sachen aus Berlin, und das Bild hat uns der Prinz selbst geschenkt –«

Er bat um nähere Mitteilung über den Preußenprinzen. Frau von Lastrow nahm am Kaminfeuer Platz, bot ihm den anderen Lehnstuhl. Nachdenklich beugte sie sich vor, ergriff den Feuerhaken und schob die Holzscheite zurecht. »Louis Ferdinand sprach sehr rührend von seinen Kindern. Ich habe nicht einmal erfahren können, wo sie und ihre Mutter nun leben. In diesen Zeiten sind alle Nachrichten wirr und haben nur den Wert eines Gerüchts.«

Heinrich Hügel meinte, vielleicht sei auch er ein Gerücht für die Landschaft –

Charlotte von Lastrow antwortete lebhaft: »Wenn mein Oheim sich durch einen neuen Gutsverwalter und Privatsekretär entlasten läßt, wird niemand darin etwas Ungewöhnliches sehen. Sie wissen, daß wir die Papiere des Herrn von Reinosch haben, seit zwei Jahren liegen sie schon da. Er hat wohl in Dänemark einen guten Platz gefunden und sich seine Ausweise neu aus der Heimat schicken lassen. Ein Namenswechsel ist heute nur ein Akt der Klugheit. Wollen Sie später, wenn Krieg kommt, zum Regiment zurück, so können Sie es wieder als Leutnant Hügel.« Ihre Stimme klang herzlich und klar.

Heinrich Hügel wandte ein, daß er allzu wenig von Landwirtschaft und der Verwaltung eines Gutes verstünde.

Sie betonte, es sei doch der Oheim da, und sie selbst sei eine ganz erfahrene Gutsfrau. Das Notwendige würde im Hause beschlossen. Leutnant Hügel brauche nur den Arbeitern zu befehlen. Und Befehle erteilen zu können, sei doch die maßgebliche Eigenschaft für den Offizier.

»Ich bin der Großsohn eines Hofgärtners und nicht der Edelmann von Reinosch, gnädigste Frau.«

Sie lachte. Ein aufmerksames Ohr hätte Ungeduld in dem so hellen Klang gehört.

»Man kann ja schließlich auch Korrekturen vornehmen, lieber Freund. Dem Leutnant August Neithardt fiel es zu Ansbach, seiner ersten Garnison, mal ein, daß er irgendwo gehört hatte, auf einer Burg Gneisenau in Österreich hätten Neithardts gewohnt. Da beschloß er, sich Neithardt von Gneisenau zu nennen. Sein damaliger Souverän fragte nicht nach Aktenstücken und sonstigen Belegen. Eines Morgens sprang der junge Offizier einfach als adelig geboren aus seinem Bett. Dies ist eine wahre Geschichte. Wenn die alten Familien die Köpfe schüttelten, nun, so hatte der junge Gneisenau seinen Degen und sein Offizierspatent. Kein Adelsmarschall kümmerte sich um die Nobilitierung von eigenen Gnaden.«

Heinrich Hügel lachte. Die Sache gefiel ihm ungemein. Jetzt war Gneisenau die Hoffnung der Armee. Im Dunkel der Nacht vor der Schlacht bei Jena hatte er ihn gesehen, mit ihm gesprochen, etwas von seiner Bedeutung gefühlt.

»Ich weiß aber von keiner Burg Reinosch.«

»Unser Vorwerk heißt Arnswalde«, sagte Charlotte von Lastrow schlicht. »Und das Vorwerk kennen Sie doch wohl?«

Auch diese Worte zerstörten Heinrich Hügels Unbefangenheit nicht. Wie gut ist diese blonde Frau, dachte er, verbarg eine kleine Rührung und fragte plötzlich nach der Gräfin Munk. Etwas irritiert antwortete Frau von Lastrow, nun, die Gräfin sei eben eine Reisedame, im Besitz von tausend Bekanntschaften und Erlebnissen, die sie ein wenig durcheinander bringe. Solchen Damen verwirre sich oft das Gedächtnis, weil es allzu belastet sei.

»Sie redete zum Beispiel von Jean Paul wie von einem Halbgott und erzählte zugleich, daß in Gegenwart von Gästen ihm seine Kinder die Strümpfe aufbinden. Dieser Dichter der bürgerlichen Genügsamkeit sei ihr in seinem Arbeitszimmer wie das Urbild von Weisheit erschienen. Ich möchte wetten, sie verwechselte ihn mit Goethe oder einem der römischen Kardinäle, zu denen sie auch vordrang.«

»Die Gräfin Munk verwechselt die Menschen?« Heinrich Hügel fragte in bebender Spannung.

»In Wirklichkeit natürlich nicht. Im Erzählen ohne Zweifel. Wenn sie die Herzogin von Kurland besucht, ist sie selbstredend vollkommen au fait. Träfe sie diese Dame auf einer Reisestation ohne Bediente und sonstiges Zubehör, so hielte sie sie wohl für eine arme Flüchtlingin und böte ihr Geldhilfe an, denn Gräfin Munk ist sehr gutherzig.«

Heinrich Hügel errötete bei dem Wort Geldhilfe. Er war in tiefer Erregung: wenn die Gräfin Ulrikes Namen verwechselt hätte? Ein Strom von Hoffnung ging durch sein Herz.

»Ist es nicht sehr spät, gnädigste Frau?« fragte er unbeholfen und erhob sich.

Charlotte von Lastrow war sofort an seiner Seite. Jäh umschlangen ihre Arme seine Schultern. Sie hob das schöne Gesicht. Er wußte nicht, wie ihm geschah, der blonde Kopf war ihm ganz nahe, eine lachende Stimme flüsterte: »Wie stolz du bist, Lieber.«

Und er fühlte weiche Lippen auf seinem hart und schmal gewordenen Mund.

Wärme überrieselte ihn. Hatte er den Kuß erwidert? Er wußte es nicht, als er in seinem Zimmer war. »Morgen reiten wir nach dem Vorwerk, Lieber«, klang ihm noch das Abschiedswort nach.

*

Lange, ehe der Tag graute, verließ ein Mann in Bauernkleidern und derben Stiefeln, versehen mit einem vom Althändler gekauften Felleisen leise das Herrenhaus. Als die Landschaft sich aus dem Grau hob und die Umrisse der Bäume sich schon gegen den Himmel abzeichneten, hatte Heinrich Hügel längst das Vorwerk Arnswalde hinter sich. Holzfäller kamen mit leeren Fuhrwerken des Wegs, Leute, die er noch nie gesehen hatte. Sie nahmen ihn ein Stück Wegs mit. Am Abend fand der unrasierte Bauer Herberge in einem Dorfkrug. Es galt, vorsichtig zu ermitteln, wie man die Nähe der Oder meide und wo die Straße nach Süden weiter führe.

Als Heinrich Hügel in einer kalten Kammer auf Stroh unter einer Pferdedecke lag, bedachte er, welchen Eindruck wohl seine hinterlassenen Briefe hervorgerufen hätten. Um sich schweren Abschied zu ersparen – so mußten sowohl der Major als Frau von Lastrow lesen – sei der Gast, welcher hoffe, einmal seine Dankesschuld abtragen zu dürfen, ohne ein Adieu aufgebrochen. Dringlichste Pflichten riefen ihn fort aus dem unvergeßlichen Hause.

Würde der Major nach ihm suchen lassen? Heinrich Hügel fürchtete nichts. Er war sehr weit gekommen, er nächtigte in einem Dorf, das er nie hatte nennen hören. –

Die Februarsonne hatte manchen Weg schon trocken gemacht. In den Wäldern lag noch Schnee. Der wandernde Bauer wählte meist Einzelgehöfte für die Nacht. Er hatte sich auch eine einfache Geschichte über sein Woher und Wohin zurechtgelegt. Die Leute in den Schenken oder Mühlen zeigten aber wenig Neugier; der Taler, den er vorzeigte, bot Legitimation genug. Sein Geld war sorgsam und in sinnreicher Verteilung eingenäht. Er wußte von seinem Großvater her, daß die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth aus einst elf Tage nach Berlin gebraucht hatte, wobei ihr bester Vorspann an den Poststationen zur Verfügung stand. Ein Fußgänger, der nur gelegentlich eine Strecke lang ein Fuhrwerk fand, dürfte wohl wochenlang rechnen für seine Reise.

Im März kam er endlich in die Naumburger Gegend. Das Saaletal kannte der Wanderer sehr genau. Er gedachte, sich durch den Rodaer Grund und dann über Kulmbach und die weiten Wälder um Schloß Giech und Himmelkron nach Bayreuth durchzuschlagen. Seine Stiefel waren schon neu besohlt worden, seine Hände längst trotz der groben Fäustlinge rissig geworden, das Haar hatte einen bäuerischen Schnitt, und das Gesicht umstand ein runder, heller Bart.

Die Fußreise, mühselig und reizvoll zugleich, denn Hoffnung beflügelte den Schritt, bekam manchen ungewollten Aufenthalt durch die Launen der Jahreszeit. Zuweilen fegten Schneestürme übers Land und drängten in eine Herberge. Dann wieder gebärdete sich der März, als sei es wirklich Frühling.

Solche Tage und Abende im Saaletal machten das Herz weit und voll schöner Ahnung und Zuversicht.

An den Steinhängen standen schon die Weidenkätzchen in gelbem Blütenstaub, und über dem Grau der Kalkformation leuchteten die lila Pulsatillen aus ihren samtigen Hüllen. Ein sanfter Wind spielte in den noch laublosen Bäumen. Kleine Wasser rannten geschäftig, ja fast in einem Singsang zu Tal – überall war Aufbruch.

Heinrich Hügel sah die Stadt Jena geduckt unter ihrem Kirchturm liegen, er schlug Umwege ein, nächtigte im Dorf Lobeda. Ganz in der Nähe, in den Wäldern, war einst Kurfürst Johann Friedrich aus langer Gefangenschaft heimgekehrt, erinnerte er sich.

Er merkte, die Leute boten ihm jetzt immer geringere Nachtquartiere an. Sein häßlicher Bart, die vom Wetter verfärbte und verbeulte Kleidung mochten das verursachen. In Kulmbach werde ich mich verwandeln, beschloß er. Dort wußte er gute Handwerker. Er besaß noch reichlich Geld, sich anständig einzukleiden und auch ein Fuhrwerk zu mieten.

Im Rodaer Grund, unter den stolzen alten Buchen, blühten an Südhängen die Leberblümchen. Wo aber im Dickicht noch Schnee lag, schimmerte der Seidelbast in seiner Purpurfarbe. Manchmal saß Heinrich Hügel bei den Waldarbeitern, die mit Holzabfuhr beschäftigt waren, freute sich der schönen Rosse, wärmte sich am blauen Feuerchen, spendierte ein paar Groschen für Branntwein.

Die Nachrichten, die er bei flüchtigem Gespräch auffing, waren gering und orientierten nur über den nächsten Weg. Zeitungen gab es in den bescheidenen Herbergen nicht.

In Kulmbach, so hatte er beschlossen, müsse er eine Meldung an sein altes Regiment abschicken. Es war sein eigenwilliger Vorsatz, dieses Schreiben müsse vom 21. März, vom Frühlingsanfang datiert sein. Am Tage, da man die Auferstehung der Natur feiert, wollte er wieder unter die Menschen treten.

Noch war er ein namenloser Landstreicher. Aber die große Einsamkeit hatte seine Seele gefestigt, die alten Knabenträume waren erneut zu einem Glauben geworden. Die Quellen der Jugend sprangen wieder auf.

Als Heinrich Hügel endlich von einer mit Föhren bestandenen Anhöhe aus die Stadt Bayreuth erblickte, fühlte er sich so erlöst, als lägen die vier Jahre des Fortseins hinter ihm wie ein Traum. Er hatte das Fuhrwerk verabschiedet. Sein Felleisen war ihm eine leichte Last, denn die lange Wanderung hatte ihm seine alte Kraft zurückgegeben.

Er sah hinüber zu den Höhen des Fichtelgebirges, sah im Morgenlicht die ungleichen Doppeltürme der Stadtkirche, sah Schloß und Hofgarten in ihren starken Umrissen.

Ich will niemand begegnen, war sein Wille. So nahm er wohlbekannte Umwege, kam durch eine stille Weihergegend und noch graubraunes Wiesenland zum letzten, immer ein wenig verlassen liegenden Ende des Hofgartens. Stolz und in einem berückenden Zauber, lag die große alte Allee völlig menschenleer. Rechts zur Seite, so weit, daß man niemand erkennen konnte, waren einige Arbeiter bei den Komposthaufen beschäftigt, warfen Erde gegen die aufgerichteten Siebe. Heinrich Hügel schlug den umbuschten Seitenpfad ein. Der Großvater würde in den Samenkammern sein, die er so liebte.

Ulrike? Er durfte nicht ohne jede Voranmeldung ins Schloß stürzen. Er wollte sie nicht vor der Dienerschaft oder unter den Augen ihres Vaters zuerst begrüßen.

Plötzlich wurde sein Herz wieder von Furcht überflutet. Wenn die schwedische Gräfin doch die Wahrheit gewußt hatte?

Er rannte vorwärts. Seine Augen waren wie blind. Er stieß an ein ländliches Gefährt, beladen mit altem Hausrat. »No, Sie«, schrie ein junger Knecht, »ich tät schon Platz machen.«

Heinrich Hügel sah auf dem Wagen Tische, Schränke, Stühle, ach, schmerzlich wohlbekannte Stücke.

»Was ist das?« rief er.

»No, die Sach' vom alten Hofgärtner. Mir fahren's nach Benk ins Pfarrhaus zu die Verwandten.«

Der Großvater ist in den Ruhestand getreten und zieht zum Neffen meiner Mutter?

Ohne Begreifen rannte Heinrich Hügel durch die offene Türe der Hofgärtnerei, warf im Gehen einen Stuhl um, klinkte die Türe des alten Wohnzimmers auf.

Ulrike stand in dem halbleeren Raum. Ihre Hände hielten ein ausgestopftes Eichhorn, das sie wohl gerade von der Wand genommen hatte. Sie wandte das Gesicht, und die eben noch traurigen Züge wurden erhellt von einer freudigen Ergriffenheit. Ein jubelnder Laut brach von ihren Lippen – dann umschlangen sie Heinrich Hügels Arme. Das Wunder einer heiligen Stunde, das unfaßliche Glück des Wiedersehens war gekommen.

*

Am Nachmittag erfuhr Heinrich Hügel von dem verwandten Pfarrer, der kam, um die Wohnung abzuschließen, wie lange sein Großvater schon tot war. Die Möbel sollten in das Pfarrhaus von Benk kommen, um für den Erben verwahrt zu werden. Wollte Heinrich es vielleicht anders?

Es wurde ein knappes und herzliches Gespräch zwischen den Männern. »Du kommst zu uns, wir haben Raum. Dein Gelderbe vom Großvater gestattet dir, deine Studien zu vollenden. Ich kann dir Fingerzeige geben, denn ich bin lange Hilfsprediger in Erlangen gewesen und habe Verbindungen zu der Universität. Wenn es dir recht ist, fahren wir bald ab.«

Heinrich Hügel betonte, daß er in der Stadt noch Wichtiges zu erledigen habe; sobald es ihm möglich sei, werde er kommen.

Pfarrer Ruhland mahnte, sein Vetter möge vermeiden, sich Offizier zu nennen. Man könne ihn sonst für bayrische Dienste ausheben. In der Stille des Dorfes würde ein Kandidat nicht weiter behelligt werden.

»Ich darf also meiner Familie die frohe Botschaft bringen, daß wir Besuch erhalten«, schloß der Pfarrer ab. –

Ulrike und Heinrich ward ein Weg durch die Dämmerung geschenkt. Die Amseln rannten über die Wiesenflächen, die alten Bäume des Hofgartens boten schützend ihr Dach. Von der Gegend des Sophienberges her klangen die Signale der Soldaten, lockend und aufreizend wie Hornrufe durch jagdliche Wälder.

»Es war so furchtbar ohne jedes Wissen von dir«, flüsterte Ulrike. Er fragte nicht nach dem baltischen Herrn. Es war genug, daß sie ihm treu geblieben war. Unter welchen Nöten oder Bedrängungen oder auch leiser Verlockung dies geschehen, brauchte er in dieser kostbaren Stunde nicht zu erfahren.

»War es schlimm in Küstrin, Heinrich?« Er lächelte nur, es sei ja vorüber.

Im unaussprechlichen Glücksgefühl gingen sie miteinander die Wege der Kindheit, der ersten Jugend, der ersten Liebe.

»Der Großvater sprach noch zuletzt von deiner Heimkehr, Heinrich.« Das Gedenken an den guten alten Mann ließ sie still werden. – –

Als die Lichter in den Egloffschen Schloßzimmern brannten, ging Heinrich Hügel unten auf und ab. Er hatte sich ein Zimmer im Gasthof zur »Sonne« besorgt, aber er gedachte nicht, jetzt schon zu schlafen. Ulrike sollte es fühlen: er, der sie so lange nicht hatte beschützen können, wollte nun wie ein Wächter um ihr Haus sein …

Nach einer Weile sah er den Oberjägermeister heimkommen. Aufrecht und stolz, von seinem Bedienten begleitet, ging er auf die Hauspforte zu. Beim Licht der Laterne erkannte Heinrich Hügel, daß Ulrikes Vater wohl kaum gealtert war; aber er sah weniger freundlich aus als sonst und hatte in seiner Haltung etwas Steifes und Hochmütiges bekommen.

In der Trunkenheit von Heimkehr und Liebe achtete Heinrich Hügel nicht auf diese warnenden Zeichen. Er näherte sich und machte seine Verbeugung. Natürlich erschrak Ulrikes Vater ein wenig, faßte sich aber rasch. »Sie sind wieder da, heil und gesund? Meinen Glückwunsch.«

Der Baron kam vom Abendessen aus der Gesellschaft »Harmonie«. Höflich lud er den Enkel des alten Gärtners noch zu einem Glase Wein ein.

Oben an der Treppe stand Ulrike. Auch sie konnte sich nicht zurückhalten, von ihr fiel das Schweigen langer Jahre.

»Vater, Heinrich ist da, Heinrich ist heimgekehrt!«

Der Oberjägermeister begriff: so also standen die Dinge. Wegen des Enkels des alten Hofgärtners hatte Ulrike zwei beste Heiraten ausgeschlagen und manchen Annäherungsversuch deutlich zurückgewiesen! Jetzt, da gerade ein neuer Freier von Stand und Charakter sich schon mit dem Oberjägermeister ausgesprochen hatte, kam dieser blonde Riese wieder herbeigelaufen, um die Baronesse von Egloff zu verwirren? Da hieß es, sofort den Riegel vorzuschieben.

»Du bist so freundlich, meine Tochter, und liest unserer Tante, die schon zu Bett sein wird, wie immer vor. Herrn Hügels Abenteuer werden eine sehr männliche Sache sein, er soll sie mir allein erzählen.«

Heinrich saß in dem wohlbekannten Raum dem Oberjägermeister bei einem Glase Wein gegenüber und berichtete:

Naumburger Garnisonsleben. Beförderung zum Offizier. Das Unglück von Jena. Gefangenschaft. Die Jahre in Küstrin. Die Flucht. Das Asyl auf dem Rittergut des Majors und der Frau von Lastrow. Das Reisegeld von der Gräfin Munk. Baron Egloff hörte mit einem gewissen Interesse zu. Plötzlich lachte er spöttisch auf:

»Sie wußten sich lieb Kind bei adligen Damen zu machen, Leutnant Hügel? Na schön. Und was sind jetzt Ihre Pläne? In Bayreuth wird kein Platz für Sie sein. König Max gehört dem Rheinbund an. Seine Beamten müßten einen Flüchtling aus französischer Festungshaft melden.«

Lieb Kind bei adligen Damen? Heinrich Hügel ließ die geringschätzige Bemerkung nicht an sich heran. Bayerische Dienste?

»Ich kann noch diese Nacht wieder aufbrechen. Es steht bei mir fest, daß ich Naumburg und damit Preußen erreiche und wieder zum Regiment komme. Vorher habe ich aber hier noch das Wichtigste und Andringlichste meines Lebens zu erledigen.«

»So, die Erbschaft wohl. Ein Offizier braucht Geld.«

Vor Heinrich Hügel verschwamm der Raum. Jede einfachste Vorsicht, jede Klugheit des Herzens verließ ihn. Er hörte nur den Frühlingssturm, der die alten Bäume des Gartens seiner Jugend aufrauschen ließ. Er erhob sich, stand hoch und aufrecht da:

»Herr Baron, Ulrike und ich –« er fand keinen Schluß zu diesem Satz, schlug die Hacken zusammen und sprach im knappen Ton einer Meldung: »Ich habe die Ehre, Sie um die Hand Ihrer Baronesse Tochter zu bitten.«

Baron Egloffs Gesicht wurde dunkelrot. Einen Augenblick lang schien es, als wolle er die Faust auf die Lehne seines Armstuhls fallen lassen. Doch seine vollen Lippen verzogen sich nur zu einem kleinen Lächeln:

»Sonst nichts, Herr Hügel? Sonst haben Sie keine Wünsche?«

»Es ist meine einzige Bitte, Baron Egloff.«

Nun erhob sich der Oberjägermeister. Er strich sich über die Stirn, er biß die Zähne zusammen, seine Augen sahen in kaltem Zorn auf Heinrich Hügel.

»Ein Gärtnerssohn, ein entlaufener Kriegsgefangener, ein Mensch, der sich Reisegeld in vornehmen Familien erbettelt, ein Mann ohne Stellung, ohne sicheres Auskommen –« Der alte Herr atmete schwer, mäßigte dann aber seine Stimme:

»Sie haben infames Malheur gehabt, ich gebe es zu. Jetzt müssen Sie sehen, wie Sie sich wieder ins nützliche Leben einrangieren. Wenn ich etwas dazu tun kann, soll es geschehen. Jedoch, daß Sie in solcher Lage um ein Verlöbnis mit einem Edelfräulein bitten, ist mir nur dadurch entschuldbar, daß die endliche Heimkehr Sie ganz verwirrt hat.«

Heinrich Hügels Trotz sprang auf: »Wenn Sie es richtig finden, so mit mir zu reden, Baron Egloff, so ist das Ihre Sache. Gewiß bin ich ein Kind abhängiger Herkunft, und Ihre Tochter ist ein Edelfräulein. Doch ich war Offizier und werde es wieder sein, sobald der König ruft. Herr Baron, Preußens und damit Deutschlands Befreiung kann der Adel nicht allein machen. Der König braucht das Volk dazu.«

Der Mensch will mir auch noch gute Lehren geben, dachte Baron Egloff in neuem Aufbrausen.

»Preußische Offiziere waren immer adlig«, schrie er den Gast an.

»Wir schreiben nicht mehr das achtzehnte Jahrhundert, es ist vorbei, Herr Baron.«

»Das Jahrhundert der Persönlichkeit wird nie sterben, junger Mensch.«

Heinrich Hügel gewann Fassung. Seine Stimme klang fast verbindlich: »Wandernde Leute durften wohl in allen Jahrhunderten ein letztes Lebewohl sagen –?«

Der Abschied von Ulrike mußte unter den Augen des Vaters stattfinden. Da er persönlich die Tochter herbeiholte, blieb Heinrich Zeit, auf ein Blättchen seines Taschenbuchs zu schreiben: »Ich warte drei Tage bei Jean Paul.«

Ulrike fand den Zettel in einem Taschentuch, das Heinrich vor den Augen des Barons von der Diele aufhob und ihr mit den Worten überreichte, es sei ihr entfallen.


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