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Erstes Kapitel

Ein behagliches, breites Zimmer nach Südwesten, Sonne von mittags bis abends, vier Fenster, Balkontür. Der Raum, hellgrau im Ton der Wände, warmes Goldbraun in den Biedermeiermöbeln, Resedenton auf den Bezügen, war von Blumen wie überschüttet. Purpurnes Löwenmaul in tiefblauen Tongefäßen, Phloxbüschel in Porzellanvasen, Rosen aus schlanken Gläsern steigend, sagten Augusttage an.

Gudrune versteht das mit den Blumen, dachte die Großmutter, nahm wieder die Hornbrille auf und betrachtete erneut die vier gleichmäßig geformten Briefe auf dem Mitteltisch. Die schmalen, feinen Hände, belastet mit Witwenringen und einem schweren Lapislazuli mit dem Wappen der Freiherrn von Luckner, zitterten ein wenig. Die Hornbrille vermittelte nichts Neues. Notariat Würzburg I war aufgedruckt.

Maschinenschrift meldete:

Herrn Privatdozent Dr. Julius von Höchheim,
Würzburg Fräulein Julie von Höchheim, stud. pharm.,
Würzburg Fräulein Gudrune von Höchheim, Kunstmalerin,
Würzburg, Herrn Walter von Höchheim, Gymnasiast,
Würzburg

und immer getreulich dazu: bei Frau Baronin von Luckner, Sanderglacis, Ecke Huttenstraße.

Die Baronin sah nach der Uhr auf dem Sekretär, deren Zifferblatt Delphine aus vergoldetem Messing trugen. Dann besann sie sich und senkte den Blick aufs linke Handgelenk: sie ging doch mit der Zeit, besaß eine Armbanduhr. Die goldenen Ketten, die sich früher immer verwickelt hatten in Jabots und Spitzen, waren ja auch, zu schon wie sagenhafter Zeit, dem Vaterland gewidmet worden.

Sieben! Es kann nicht mehr lange dauern. Eines von den Enkelkindern kam immer heim zum Abendessen, auch in diesen wundervollen, lichten Sommertagen. Die Enkel besaßen Form. Man gibt ihnen unbegrenzten Urlaub, gewiß. Denn man versteht die Jugend. Doch die Enkelkinder wissen, was sich gehört: nie sitzt Großmama allein zu Tisch.

Die hohe Sechzigerin lächelte. Sie hatte ein schmales Fuchsgesicht, Kinn und Nase spitz, noch gute Zähne, das weiße Haar schön erhalten. Man sah ihr eine Klugheit an, die leise zu treten weiß, wie es sich für Frauen gehört.

Heute, dachte sie flüchtig, gehen die jungen Damen ein wenig zu laut und zeigen zuviel, was sie wissen. Es wäre nicht in den Zeitungen das ewige Geklage über die Abneigung gegen die Ehe von seiten der Herren, wenn die jungen Damen ein wenig leiser schritten und bescheidener sprächen.

Ihre Hände glitten über die Briefe hin. Enthielten sie die Botschaft, daß Julie und Gudrune, fast mittellose Töchter hoher, im Krieg gefallener Offiziere, reiche Erbinnen würden? Oder brachten sie die Nachricht, ein kleines Andenken stünde ihnen zu, gleich Walter vielleicht? Aber Julius, der älteste Höchheim, würde, wie es eigentlich alte Sitte heischte, der Universalerbe des wunderlichen Professors?

Die Baronin ging lautlos über den Haargarnteppich mit den quadratischen Mustern, ließ die schmalgewordene Gestalt fast in der Sofaecke verschwinden und dachte nach.

Sie hatte den Professor nicht gekannt. Er war vor einem halben Jahr im Süden gestorben, nach langjährigem Aufenthalt in Kurorten.

Sein herrliches Wein- und Ökonomiegut auf einem Hügel überm Main wurde verwaltet, sein köstliches Barockhaus mit dem parkartigen Garten stand, solange die Baronin in Würzburg war, mit geschlossenen Läden in Obhut einer Wirtschafterin und ihres Mannes, des Gärtners.

Der reiche Erblasser hatte nicht daran gedacht, den Enkeln seines Vetters Wohnung bei sich anzubieten, vor Beschlagnahme durch die Stadt wußte er sich zu schützen: er baute Notwohnungen und löste damit alle Verpflichtungen ab.

Eigentlich, dachte die alte Dame, liegt etwas Anziehendes in diesem Tun: man will nicht fremde Schritte in seinem Haus, das vielleicht ein Geheimnis oder eine teure Erinnerung hütet.

Der reiche Mann hatte Julius auch nie unterstützt in seinen Studentenjahren. Nun ja, Kinderlosen fehlt das Verstehen. Vielleicht war Professor Höchheim auch immer ein wenig eifersüchtig geblieben, daß sein Vetter als Minister den erblichen Adel erhalten hatte, daß seine drei Söhne hohen militärischen Rang erreichten, hoffnungsvolle Kinder besaßen und in guten schönen Jahren den Heldentod fürs Vaterland starben, während er, ein einsamer Witwer, ohne besondere Verdienste in seiner Fakultät und lange außer Dienst, so dahinlebte und eigentlich nichts sonst besaß als reichen Grund- und Hausbesitz und ein Vermögen, das siegreich die Inflation überdauerte.

Sie lächelte. Wie sollte dieser Mann eine teuere Erinnerung in seinem Haus gehütet haben? Er war einfach ein Wunderlicher gewesen, und nun mußte seine Hinterlassenschaft geteilt werden.

Sechs Monate nach seinem Ableben.

Die Baronin bedachte, daß schicklicherweise Trauerabzeichen nötig seien für den Weg auf das Notariat. Da hörte sie die Vorsaaltür klappen. Junge rhythmische Schritte meldeten Walter, den jüngsten Enkel.

Er kam herein, hob die Rechte der Großmutter hoch zum Handkuß. Verbeugungen brachten leicht die blonde Mähne in Unordnung.

Wie? Briefe vom Notar wegen der Erbschaft? Walter lächelte überlegen. »Soll da vielleicht etwas dabei 'rauskommen?« Er zerfetzte den Umschlag, las gleich laut:

»Die im Testament des weiland Professors Dr. Kilian Höchheim genannten Persönlichkeiten, wozu auch Sie gehören, werden hiermit geziemend aufgefordert, sich am 13. August vormittags 10 Uhr im Hause des Erblassers zur Testamentseröffnung einzufinden.

Hochachtungsvoll
Der Notariatsvorstand
Dr. Wieprecht.

An Herrn Walter von Höchheim, Gymnasiast.«

Walter von Höchheim zog die glatte Stirn in Falten. »Soll man sich da erst freuen? Wenn zum Beispiel ein Haufen alter Bücher herauskäme? Oder Möbel? Meinst du, Großmama, wir könnten so viel erben, daß es zu einem Auto reicht?«

Kind, dachte die alte Frau. Als ob man Testamente nicht anfechten könnte, wenn sie so kläglich ausfallen.

Er stob plötzlich mit einer kurzen Entschuldigung aus dem Zimmer. Die Großmutter wußte, nun schließt er sich ein, raucht und ist betäubt von einem Taumel der Hoffnungen! Wie die Aussicht auf Geld verändert! Der leidenschaftliche Fußwanderer, verliebt in alle Ideen der Jugendbewegung, hat als ersten Gedanken zu verbesserter Lage ein Auto?

Die Baronin sah sich plötzlich von ihren Enkeltöchtern umgeben. »Wie fühlt ihr euch denn?« fragte sie, ein fast jugendliches Lächeln auf den schmalen Lippen. »Ihr habt jetzt drei wunderliche Tage vor euch! Ihr sollt etwas erben und wißt nicht, wird es irgendein kleiner Gegenstand oder wird es ein Vermögen, ein Gutshof, ein prachtvolles Haus sein. Das ist wirklich eine sonderbare Lage!«

Die Enkeltöchter gaben das Lächeln zurück.

Julie, blond, mittelgroß, sanft und fraulich wirkend, meinte in leiser Nüchternheit: »Es wird zu überstehen sein, Omama. Gewiß hat der alte Herr tausend Legate ausgesetzt. Und bis dann alles verkauft und verrechnet ist, kommt etwas heraus wie neulich mein Lotteriegewinn, siebenundvierzig Mark dreißig Pfennige! Es reicht für ein fertiges Kleid und wird meine Eleganz nicht in Schwung bringen.«

»Und du, Gudrune?«

Die schlanke Brünette beugte sich vor.

»Ich erbe vielleicht ein Gemälde von Defregger. Sicher hat der alte Herr in seiner Galerie Defreggers. Ich kenne eine Dame, die immerfort einen Defregger verkaufen will. Eine Sennerin mit Jägerburschen. Ich fürchte die Duplizität der Fälle!«

Sie stand auf. »Natürlich ist das furchtbar interessant, Großmama. In drei Tagen sind wir vielleicht gute Partien. Aber du verzeihst – ich muß weg. Ich bin von meinem Professor zum Abendessen geladen –«

Ich verstehe die Jugend, dachte die Baronin. Sie wollen alle allein sein mit ihren Gefühlen. Sie wollen sich fassen. Früher, da sprach man sich aus.

Auch Julie erhob sich. »Nachtdienst, liebste Omi. Wünsche mir nur, daß ich über meinen kühnen Hoffnungen keine Arzeneien verwechsele. Ich höre Julius kommen, bisher ist er der Haupterbe.«

Sie lachte auf dem Vorsaal mit dem großen Bruder. Die Großmutter horchte entzückt auf seine kräftige Stimme, sein Hervorschleudern der Worte.

Julius war ihr Stolz, ihr Glück, ihre große Hoffnung.

Man hätte ihn nicht für einen Bruder und Vetter der andern gehalten. Er fiel ganz aus dem Rahmen der Familie. Schon wie er die Tür aufstieß war charakteristisch.

»Im Namen der Republik«, nannten es die Schwester, die Base.

»Dies Genie bricht sich Bahn«, wagte der Gymnasiast zu spötteln.

Für die Großmutter kam mit Julius' Eintritt die Sonne, ein Rausch von Leben, die Gewalt eines Wollens, auch der Duft ferner Wälder oder der Weinberge, des Sturms, ins Zimmer, hochgewachsen, etwas vollwangig, braungebrannt, eine »Denkerfalte« über der Wurzel der »etwas kurzen Nase, die starken Lippen leicht geöffnet, stürzte er herein, umarmte die alte Dame, war blitzschnell bei den Briefen, überflog den Inhalt und stieß hervor:

»Ich hatte die Angelegenheit wirklich vergessen. Es gingen Gerüchte, das ganze Erbe solle an die Stadt fallen. Dazu wäre der Erblasser voll berechtigt. Denn wir ›von Höchheims‹ sind ja, als die Enkel von Vettern zweiten Grades von ihm, den bürgerlichen Höchheims allzufern verwandt. Die Sippe seiner Frau, von der aller Grundbesitz stammt, ist, soviel ich weiß, noch in richtigen Großneffen und Großnichten vertreten.«

Die Baronin erschrak! Verwandtschaft der Frau des Erblassers?

»Nun, da er längst Witwer war, fällt alles an seine Linie.«

»Man kann nicht wissen, Großmama. Da sind zum Beispiel diese Menards. Du weißt, der Organist und die Lehrerin. Papa hat uns immer befohlen, Base Luise und Vetter Kilian zu ihnen zu sagen. Nun ja, sehr anständige Menschen. Sie können unsere Konkurrenz sein.«

Die Großmutter zog die Augenbrauen hoch. »Welche Idee«, sagte sie kurz und drückte auf die Klingel. Ein Mädchen erschien und erhielt den Befehl, das Abendbrot anzurichten.

»Du wirst Hunger haben, Julius.«

Der Privatdozent aß hastig und füllte sich oft das Glas mit hellem Frankenwein.

»Es ist lächerlich«, sagte er, als man wieder im Zimmer der Großmutter saß. »Wir alle haben uns in Zeit und Zeitschicksal gefunden. Julie, Walter, ich und die Kusine Gudrune. Die Mädels wissen, wie das Los einer Berufstätigen ist. Ich weiß, daß ich noch jahrelang jede halbwegs anständige Arbeit tun muß. Mit dem Tode des Vaters, mit der Inflationszeit ist alles Sorglose für uns vorüber gewesen. Und nun gaukelt da plötzlich eine Hoffnung auf neuen Wohlstand auf. Man sollte einfach nicht daran denken. Selbst wenn wir etwas mehr erbten als ein sogenanntes Andenken, die Erbschaftssteuer verschlingt das meiste. Und, ich bin überzeugt, es gibt noch eine Menge Miterben.«

Die alte Baronin legte automatisch ihre Patiencekarten auf. Sie ließ Julius sprechen. Sie verstand die Jugend! Julius mußte sich mitteilen, wenn er erregt war. Seine Wahrheiten hatten noch Augenblicksgeltung. Seine Vorlesungen waren noch wie das Aufbrausen eines Jünglings. Man hielt seine Äußerungen oft für paradox, aber was gewollt oder zweckvoll oder unerbittliche Forderung bei ihm schien, warf Temperament und Bezauberung über alles Neue jählings wieder um.

Er war durch das Zimmer gerannt. Sehr hübsch anzusehen mit seinem braunen, hochstehenden Haarwald und den übereifrigen Bewegungen, wie schön paßte er in freie, große Verhältnisse!

»Bis zu der Testamentseröffnung sind noch drei Tage Zeit, Julius?«

»Ja, so ungefähr. Blöde Tage. Ich hasse Ungewißheiten, wie überhaupt alles Langsame. Hätte ich Zeit, ich liefe in den Spessart.«

Die Baronin hüstelte leicht. »Bitte, setze dich einen Augenblick zu mir, Julius. Gut, mein Junge, höre, du bist neunundzwanzig Jahre. Bist Privatdozent, eingegliedert. Du kannst an eine Heirat denken. Ich mische mich nicht ein. Ich rate dir nichts. Ich erinnere dich nur, daß Professor Körner ein großes Vermögen hat und eine einzige Tochter, daß Baron Finkenstein eine Tochter und große Güter besitzt, und daß es auch einen sehr reichen Industriellen hier gibt mit einer hübschen, wohlerzogenen Tochter. Etwa drei große Partien, lieber Julius. Ein Privatdozent ohne Vermögen ist heute keine große Partie. Ein junger Herr mit bedeutenden Erbschaftsaussichten steht anders da. Heute abend weiß schon ganz Würzburg, daß Höchheims erben werden. Drei Tage bleibt es in der Schwebe, wieviel. Drei Tage sind eine lange Zeit, wenn man sie gut zu benutzen weiß, lieber Julius.«

Der Privatdozent stieß seinen Stuhl zurück. Er zitterte vor Erregung. »Aber ich bitte dich, Großmama, du denkst, ich wollte, ich könnte in der Lage – die vielleicht wirklich sehr nach Chance aussieht – etwas erzwingen, das – –« Er stockte, errötete. »Gewiß, ich habe mich den genannten jungen Damen einigermaßen genähert – aber ich bin keineswegs entschlossen für eine von ihnen – man gedenkt der Vernunft nicht gern auf diesem Gebiet.«

Die alte Frau erhob sich. »Ich deutete dir den Weg an, den Klugheit gehen würde, Julius. Und nun gute Nacht.« Sie lächelte bedeutungsvoll: » La nuit porte conseil.«

Julius von Höchheim saß vor seinem Schreibtisch und zwang sich zu arbeiten. Es mußte gearbeitet werden. Es mußte jeden Tag das Möglichste geleistet sein, von seinen Kolleggeldern kann kein Privatdozent leben. Seit Jahren schrieb Julius von Höchheim alles Erdenkliche wie ein Berufsjournalist. Immer neue Aufsätze für wissenschaftliche, belletristische, unterhaltende Blätter, für Tageszeitungen aller Art entquollen seiner Feder. Nach Julius von Höchheims Tätigkeit zu schließen, mußte die Geschichte der bildenden Kunst schon in breiteste Volksschichten gedrungen sein. Ob es sich um Rubens oder Rodin, um Meissonier oder Millet, um Leibl oder Liebermann, um Schwanthaler oder Schiestl, um Winterhalter oder Watts oder Watteau handelte, Julius von Höchheim wußte alles. Er erhob, er vernichtete, er richtete und sichtete in spontanem Stil, in heftigen Wallungen. Stürmisch griff er nach einigen Büchern. Über van Gogh? Wer hat noch Neues über van Gogh zu sagen? Über Frans Hals? Mein Gott, liegt seine Zeit nicht in einem Abgrund?

Die Feder flog. Zwanzig Zeilen für jedes der Bücher, die vielleicht der Niederschlag vieler Jahre waren und die Herr von Höchheim doch nur Zeit hatte, rasch zu durchblättern.

Die Maschine klapperte auf. Die Rezensionen drängten. Und ganze Stöße von Büchern waren zu erledigen. Oft genügten zwei Seiten Lektüre, über Wert und Unwert zu entscheiden.

Der Fleißige schrieb bis Mitternacht. Dann, stolz auf sein Training, pausierte er, und der Rat der Großmutter fiel ihm ein. Er wußte ein junges Mädchen in der Stadt, das ihn reizte. Leider war sie unbegütert, leider wohl keinem Flirt zugetan. Wenn er reich würde? Der Gedanke ward plötzlich lebendig, bekam für einen Augenblick Bezauberung. Er brannte sich eine Zigarette an, trat ans Fenster und dachte: diese verzweiflungsvolle Stadt. Wäre man doch in Berlin. Ich kann eine Volksschullehrerin weder heiraten noch eine heimliche Liebe mit ihr leben. Und mit der Erbschaft wird es allerseits auf ein Andenken herauskommen.

Und wenn es doch anders würde? Wenn Menards Miterben wären? Oder Haupterben?

Er stieß die Bücher beiseite. Die Großmutter hatte recht, drei Tage sind eine lange Zeit, wenn man sie zu benutzen weiß – –

Die Baronin Luckner sah ihre Enkel am Werk: Julie mußte schlafen nach dem Nachtdienst in der Apotheke, Julius eilte auf die Universitätsbibliothek, Gudrune zu ihrem Malprofessor, Walter auf einen Ausflug, der eine sportliche Leistung darstellte. Da verließ die Baronin, ein leichtes Seidenmäntelchen über dem schwarzen Kleid, auch ihrerseits das Haus. Ihr Weg war nicht weit, er führte von der Wohnung mit dem Blick auf den Main und das Sanderglacis nur in eine Nachbarstraße. Fräulein Hecker, Damenmoden, knickste und war voll Ehrerbietung. Fräulein Hecker, Damenmoden, begriff überaus rasch und ohne Worte. Daß Frau Baronin sich selbst bemühten! Ein Wink hätte doch genügt. Gnädiges Fräulein Julie hatte doch das schwarzweiße Kleid mit Grün. Wie leicht sei das Grün abgetrennt zum Tage der Testamentseröffnung – –

Die Baronin tat erstaunt.

Fräulein Hecker knickste. Nun ja, man wollte nicht vorlaut sein, sicherlich nein. Aber wie Frau Baronin vielleicht beliebten sich zu erinnern, der Neffe sei doch Notariatsschreiber bei Herrn Dr. Wieprecht und habe infolge der Vertrauensstellung, die er genösse, die vierzehn Briefe an die Erben befördert.

»Wie?« sprach die Baronin, »was sagen Sie, meine Liebe?«

Fräulein Hecker knickste und fuhr in krampfhaftem Hochdeutsch fort: »Vierzehn Briefe, gnädige Frau Baronin, zehn in hiesige Stadt, vier nach auswärts. Wäre das Amtsgeheimnis nicht, so wüßte der Neffe auch die Namen. Aber das ist wie bei der Post, er darf es nicht sagen. Nur was Frau Kündinger betrifft, so hat sie bereits geschrien, ›mich trifft der Schlag, meine Töchter sind enterbt!‹«

Die Baronin fühlte sich deplaciert und stand auf. Sie wußte ja auch, was sie wollte. Also vierzehn Erben waren geladen. An Julius würde es sein, herauszubringen, um wen es sich handelte.

Um alte treue Dienstboten, hoffte die Baronin. – –

Die Enkelkinder saßen vollzählig um den Eßtisch. Die Großmutter tat unbefangen und beobachtete scharf. Alle trugen einen gewissen Gleichmut zur Schau und wählten entlegene Gesprächsstoffe. Aber flackernde Augen, nervöse Hände, veränderter Stimmklang verrieten wohl die Erregung. Jedes hoffte auf die seltsame Erbschaft, jedes sah seine Lebenspläne davon berührt oder höher gerückt.

Gut, man sprach Alltägliches, solange das Mädchen noch auftrug und Teller wechselte. Beim Nachtisch – er bestand aus einer Schale mit roten Augustäpfeln – verlor die Baronin die Geduld.

»Der Neffe meiner Schneiderin hat vierzehn Briefe an Erben aufgegeben«, sagte sie unvermittelt. »Lieber Julius, du scheinst im Bilde zu sein, sind da wirklich noch nähere Verwandte von der einstigen Frau des Professors?«

Julius von Höchheim zögerte einen Augenblick. Dann stieß er hervor: »Ich werde das heute erfahren. Ich begegnete nämlich dem sogenannten Vetter Menard, sprach einen Augenblick mit ihm. Er sagte, er ginge gegen Abend aufs Käppele. Ich warf ein, ich hätte die gleiche Absicht. Da kann ich mich unauffällig umhören. So bei einem Glas Wein erfährt man manches. Der gute Menard, der auch geladen ist, nimmt die Sache humoristisch. Das heißt, er erzählte, Bäcker Thomas Frank, dessen Palast hart am oberen Mainkai liegt und Onkel Toms Hütte genannt wird, sei höchst aufgekratzt und dächte schon daran, die Bäckerei aufzugeben.«

Die Baronin antwortete mit schmalen Lippen: »Ein Bäcker ist unter den Erben? Unmöglich!«

»Ein Bäcker mit einem studierten Sohn, Großmama.«

»Ach so, ein Geistlicher.«

Gudrune entfiel ihr Obstmesser. Sie bückte sich danach und stieß mit Bruder Walter zusammen. Der Gymnasiast lachte und bekam einen Hustenanfall.

»Bewahre, kein Geistlicher. Ein Studienassessor«, erwiderte Julius.

Die Baronin tauchte die Fingerspitzen in die messingne Wasserschale. »Ein Bäcker? Nicht zu glauben. So sehr unter seinem Stand hatte der Professor geheiratet? Da verstehe ich, daß er trotz seines Geldes nie eine Rolle an der Universität oder in der Gesellschaft gespielt hat. Seine Frau war also eine Bäckerstochter?«

»Nein, und wenn auch –« begann Gudrune.

»Du hast recht, es geht uns nichts an«, schloß die Baronin. – –

Julius hatte seine Schwester zu dem Abendspaziergang aufgefordert. Er wußte, die Geschwister Menard wandelten meist zusammen. Man würde beide in der Wirtschaft hinter dem Käppele treffen, dem Wallfahrtsberg. Und beim Heimgehen ergaben sich dann zwei Paare.

Die Geschwister überschritten die Mainbrücke, begrüßten gewohnheitsgemäß ihre steinernen und emphatischen Heiligen, sahen auf den grünen Strom hinab. Dann stiegen sie höhenwärts.

»Ein Bittgang?« fragte Julie obenhin beim Passieren der Stationen der steinernen Leidensdenkmale. Sie sah hübsch, frisch, jung aus, unbeschwert von Gemütsbewegungen.

»Ich dachte«, sagte sie, stehenbleibend, die Hand auf den steinernen Locken eines knieenden frommen Bildes, »bei der Gleichgültigkeit, die uns der Professor im Leben zeigte, haben wir keine Aussichten, nach seinem Hintritt von ihm besonders bevorzugt zu werden. Du denkst wohl wie ich. Nur Walter geht umher und träumt › si j'étais roi‹.«

»Mein Gott, es wäre immerhin angenehm, Julie.«

Sie hatten die Kapelle erreicht, sahen übers Land, vom Abendschein beglänzt.

Vor ihren Blicken lag ein bezauberndes Bild. Die von Türmen überragte Stadt, das schimmernde Band des Stroms, seitlich der stolze Aufriß der Bergfeste Marienburg. Flimmer und Licht um alle Konturen, Gefühl des Lebens, fortreißenden Lebens über den Dingen, im Glanz des Himmels.

»Und da gehen wir als rührende Geschwister.«

Julius entfuhr das Wort.

Die Schwester lächelte. »Warum nicht? Auch dies ist schön. Am Ende aller Dinge stehen wir ja noch nicht. Liebesgeschichten kann man rasch haben, Jul. Doch das weißt du ausgiebiger als ich.«

Er krauste die Stirn. Die Großmutter hatte Freier verscheucht, Herren, die Schmidt oder Krause hießen und sehr jugendlich waren. Julie wurde jetzt dreiundzwanzig, Studenten kamen nicht mehr in Frage.

»Gehen wir weiter?« fragte er kurz, von plötzlicher Angst erfaßt, die Geschwister Menard könnten den Wirtsgarten hinter dem Käppele verlassen haben.

»Sei bißchen freundlich, Julie. Ich möchte den Organisten gemütlich sprechen. Ich habe das Gefühl, er weiß mehr als wir. Der Professor ließ sich manchmal von ihm vorspielen.«

Sie erreichten den Schützenhof, gingen unter dem Laubdach alter Bäume zu den Sitzplätzen, die Fernsicht boten. Es waren wenig Menschen da. Julie eilte ein paar Schritte voraus, winkte mit der Hand einer brünetten jungen Dame zu. »Guten Tag.« Das Wort »Base Luise« schien plötzlich unrichtig. »Guten Tag, Fräulein Menard, wir haben uns so lange nicht gesehen.«

»Guten Tag, Fräulein von Höchheim.«

Julius verbeugte sich, Befangenheit war, steigerte sich, als vom Rand des Gartens ein wenig schöner, schwerfälliger Herr herbeieilte: Kilian Menard. Er wurde rot, seine Schwester war erblaßt.

Julie von Höchheim dachte, er freut sich nicht besonders, daß wir kommen. Oder ist er gesellschaftlich so ungewandt? Oder von uns beleidigt?

Julius stieß auf seine hastige Art heraus: »Wo waren Sie in den Ferien, gnädiges Fräulein? Alles ist immerfort verreist. Man sah sich gar nicht mehr. Jedes hat immer soviel Arbeit.«

Seine Augen lichterten über das schmale Gesicht der Lehrerin hin. Seine Worte machten eine Begegnung – vor wenig Tagen im Hofgarten – zum Geheimnis zwischen ihnen.

Julius führte das Wort. Es war nicht Unbescheidenheit. Er konnte nicht anders. Er glaubte, es sei höflich, das Reden auf sich zu nehmen. Im Augenblick erwies er auch eine Wohltat damit. Zwei Erschrockene konnten sich fassen über dieses Geschenk einer Begegnung. Der Organist sah sich mit einer Unerreichbaren plötzlich am gleichen Tisch. Er komponierte seit zwei Jahren Liebeslieder und widmete sie schweigend Julie von Höchheim. Sie war adelig und hübsch, er nicht schön und von derber Gestalt. Eine gewisse körperliche oder berufliche Ähnlichkeit mit Max Reger, Rubinstein oder Beethoven mochte physiognomisch interessant sein. Wer jung ist und eine heimliche Liebe hat, möchte lieber anders aussehen.

Für Luise Menard war Julius von Höchheim eine Beunruhigung. Schon seit Seminarzeiten. Alles an ihm atmete Leben, Bewegung, Temperament. In seinen Vorträgen – er hielt jeden Winter vielbesuchte kunstgeschichtliche Abende – war seine Stimme eine Verführung. Ein drängender Rhythmus lag darin, ein Vorwärtsstürmen, ein Fanfarenruf.

Gut, daß er jetzt auf eine Frage des Bruders soviel zu antworten wußte.

Julie legte ihm die Hand auf den hellen Rockärmel, »Verzeih, aber ich brenne vor Neugier! Wir sitzen doch hier mit Base Luise und Vetter Kilian, wie wir früher immer sagten, in einer neuen Konstellation zusammen. Sie haben –« sie lächelte damenhaft von der Lehrerin nach dem Organisten, »doch sicher auch eine Einladung zur Testamentseröffnung.«

Die Lehrerin erwiderte das Lächeln. Wie ausgezeichnet sieht sie aus, dachte Julie. Das kurze Haar gibt manchen Gesichtern erst ihre Geltung. Wüßte man nicht, daß sie eine kleine Volksschullehrerin ist, man dächte, sie spiele irgendwo eine führende Rolle.

»Die Einladung zur Testamentseröffnung erheitert uns sehr, Fräulein von Höchheim. Denn die Hausmeistersleute sagen, jeder würde die Geschenke erben, die er dem Erblasser gemacht hat! Da mein Bruder ihm nun einmal sein Opus I, eine Orgelkantate, schön abgeschrieben brachte und ich ihm auf Wunsch die Kopie meines Seminarzeugnisses und später ab und zu mal Blumen, so stehen uns vergilbte Papiere in Aussicht.«

»Sie scherzen«, meinte Julie. »Die Sache ist doch sehr spannend. Können Sie uns nicht einmal erklären, wie wir eigentlich durch den Erblasser mit Ihnen verwandt sind? Ich kann es nie behalten. Wir nannten einander doch früher Basen und Vettern. Niemand wußte, warum, und so kam es wieder ab.«

Nun wurde der Organist beredt, vielleicht half ihm auch der Frankenwein dazu.

»Ihr Herr Großvater, der Minister, hat einen jüngeren Vetter gehabt, unsern Erblasser! Die beiden Herren besaßen auch eine Kusine, eine geborene Höchheim, die einen fürstlich Oettingschen Amtmann namens Menard heiratete, der unser Großvater gewesen ist. Das Motiv der Verwandtschaft ist also sehr weit hergeholt. Die Lebensläufe gingen im verschiedenen Rhythmus. Der Minister hat der Base im Oettingschen noch zuweilen zu Neujahr gratuliert, in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sind beide gestorben. Der Minister mit Hinterlassung von drei Söhnen, die Amtmännin mit einem einzigen. Ihr Herr Großvater und unsere Großmutter haben einen gemeinsamen Großvater gehabt mit dem Erblasser. Und seine hier versammelten Erben sind also die Enkel von seinem Vetter und seiner Base. Wie man diese Verwandtschaft noch nennt, dafür fehlen mir die Worte.«

Er starrte Julie von Höchheim an. Es war ersichtlich, wie sehr sie ihm gefiel. Die breiten Hände mit den kurzgeschnittenen Fingernägeln zitterten ein wenig.

»Ich hab' es wirklich noch immer nicht recht begriffen«, sagte Julie lächelnd, »aber um ein Bild aus meinem Beruf zu gebrauchen: ich unterscheide zwei Spezialitäten. Eine heißt: Spiritus Menardus, die andere: Eau de Höchheim. Und ich finde in jeder eine Spur von Extract de souvenir

Luise Menards Stimme hatte einen dunklen Klang. »Ein Tropfen Erinnerung noch. Aber wir haben so furchtbar wenig Zeit zur Erinnerung.«

Julius von Höchheim hatte allzulang geschwiegen. Er griff lebhaft ein: »Fräulein Luise, welche Epoche hatte Zeit zur Erinnerung? Es ist ein traditioneller Wahn, daß irgendwann Menschen der Tradition lebten. Gewiß, Unfruchtbare taten es scheinbar, sie hatten nichts in ihre Zeit zu bringen und ließen das Alte weiterbestehen. Alles, was uns an Kunstwerken der Vergangenheit blieb, haben wir nur Jahrhunderten der Armut und der Unfruchtbarkeit zu danken. Daher das Wort vom Segen der Armut!«

Er wehrte ab. »Nein, nein, wir wollen nicht streiten. Wir haben viel Wichtigeres zu tun.« Er hob sein Glas: »Auf unsere friedliche Verwandtschaft!« lächelte er und fuhr rasch fort: »Erbschaften pflegen meist Streite und Entfremdungen zu bringen. Diese sonderbar ungewisse könnte Verbindung schaffen. Wir sehen einander in ungewöhnlicher Lage. Die Erben sollten einen Friedensbund gründen, wie auch die Würfel fallen.«

Warum macht Julius so seltsame Anträge, dachte die Schwester. Gefällt ihm plötzlich die Base Luise? Oder hat er andere Gründe, soviel Loyalität auszuspielen?

Der Organist verzog den Mund. »Herr von Höchheim, verehrtester Herr Doktor, gegen den Friedensbund der Erben spricht so allerlei. Da sind die Verwandten der vormaligen Frau Professor: Frau Appollonia Kündinger, Spezereien en détail, Herr Eusebius Lämmerer, Devotionalienhandlung, Herr Thomas Frank, Weiß- und Schwarzbrot und Kuchen – Abkömmlinge der Abkömmlinge aus dem stolzen Bürgerreichtum der Professorin. Auch sie sind geladen, von ihrer Sippe her stammt der Reichtum. Kennen Sie Frau Kündinger?« Und er blinzelte sarkastisch.

»O nein«, rief Julius. »Aber ich werde sie kennenlernen. Gleich morgen, hinter dem Domplatz? Gut. Ich bin schon dort.«

Die Abendröte verblaßte. Sterne zogen herauf. Die Stadt im Tal begann, sich zu erleuchten.

Die Großmutter hat recht, dachte der Privatdozent. Diese drei Tage voll Spannung müssen ausgenutzt, das heißt, dürfen verschwendet werden. Er begann die Base Luise mit Blicken zu irritieren. Er redete von dem Glück, wenn man frei, reich, nicht ewig in Arbeit gebunden wäre. »Ein sorgloser Tag. Wie lange hat man ihn nicht gehabt! Es ist kaum mehr auszudenken. Wollen wir nicht den sorglosen Tag, nein, drei sorglose Tage einschieben, uns alle fühlen, als eröffne uns das Testament Paradiese –«

Der Organist zündete sich eine Zigarette an. Seine Bewegungen entbehrten jeder Eleganz. Auch atmete er ein wenig schwer.

»Ein erlerntes Lachen, ist das noch ein Lachen, also sprach Zarathustra, Herr Privatdozent.«

»Aber ein erlerntes Lächeln wird uns immerhin sehr gut tun, wenn unser Erbe heut in drei Tagen sich in ein Andenken auflöst. Also, es lebe die Unbefangenheit, die wir heute noch haben!«

Julie von Höchheim drängte zum Aufbruch. Wie Julius es gewollt, zwei Paare bildeten sich und Distanz zwischen ihnen.

Julius ging schweigend neben Luise. Ging so, daß er auf den steilen Windungen des Wegs immer einen halben Schritt hinter ihr war. Das beunruhigt. Das schafft mal eine halbe Wendung. Er kam mit dem Mund ihrem schöngewellten, dunklem Haar nahe, roch seinen Duft. Verrückt, wie kann sie in einer Schulstube existieren. Sie gehört auf einen andern Platz. Er fühlte ihr Fluidum, ward heftiger angerührt, legte sekundenlang seine Hände auf ihre Schulter.

»Bekomme ich den sorglosen Tag? Ich warte morgen von mittag ab draußen in Veitshöchheim. Ich habe Ihnen – unendlich viel zu sagen, Luise.«

Er fühlte, daß sie zitterte. Er schnitt eine Antwort ab. »Meine Geschwister kommen mit, wenn das sein muß. Photographieren Sie doch in Veitshöchheim. Wir müssen uns einmal sprechen. Sind wir denn ärmer als Wandervögel oder Skiläufer, denen keine Ehrendamen folgen?«

Die Schwester rief von unten. Nicht unbefangen. Nicht taktlos. Sie hatte Luise Menard gern und kannte ihren Bruder als unberechenbar.

Im Main spiegelten sich die Sterne. Der Organist zeigte seiner Begleiterin den heimatlichen Strom.

Und Julie von Höchheim lächelte ein wenig. Gott ja, wenn man verliebt ist, dann rauscht der Main wie das Meer. Durch Vetter Kilian Menards Worte wurde man nicht verliebt.

»Zeigen Sie uns doch das Bäckerhaus, wo der Miterbe wohnt«, sagte sie, »wir kommen vorbei, nicht wahr?«

Julius griff lärmend den Vorschlag auf. »Fräulein Luise, darf ich Ihnen eine Bretzel kaufen?«

Sie wehten über den Weg, Verlegenheit verbergend, in Hast mit erregten Gebärden.

Das Haus war erleuchtet und höchst interessant. Haustür und breites Ladenfenster, darüber zwei Geschosse und ein hoher Giebel, also ein sogenanntes Handtuchhaus.

Die Haustür stand offen, ein Mann, verarbeitet, in der vorgebeugten Haltung der Bäcker, hemdärmelig, kraute sich im melierten Spitzbart.

Als Menard grüßte und stehenblieb, sah der Bäcker fragend auf die Gefolgschaft. »Kann ich mit etwas dienen?«

Der Organist winkte mit der Hand. »Wir kommen bloß so vorüber. Der Herr Privatdozent von Höchheim und seine Fräulein Schwester wußten nicht, daß Sie mit zu den Erben gehören, Herr Frank.«

Der Bäcker machte eine Art Verbeugung und rief in den Flur hinein: »Magnus, Magnus!«

Im Lichte der elektrischen Birne, die an der niedrigen Decke angebracht war, tauchte eine Gestalt auf. Ein junger, in elegantes Grau gekleideter, über die Maßen hübscher, blonder, blühender Herr von vielleicht sechsundzwanzig Jahren.

»Mein Sohn«, stellte der Bäcker vor. »Magnus, die Herrschaften wollten etwas wegen der Erbschaft fragen.«

Wie? In dem kleinen Bäckerladen gab es eine solche Lichtgestalt von Sohn? Julius kam ein Lachen.

»Verzeihen Sie nur. Herr Menard führte uns hierher. Wir wollen gar nicht stören.«

Die Lippen des jungen Mannes umschwebte ein eigentümliches Lächeln. Er sah Julie von Höchheim an, nicht dreist, aber doch ziemlich ausführlich sie betrachtend.

»Geben uns die Herrschaften die Ehre, näherzutreten? Soll eine Erbschaftskonferenz sein?«

Man lachte, verabschiedete sich.

»Was für ein ausnehmend hübscher Mensch! Wenn Gudrune ihn sähe, sie würde ihn gleich malen wollen. So als einen germanischen Krieger oder einen Erzengel. Ist er auch Bäcker?«

Der Organist wehrte mit beiden Händen ab. »Gott behüte, Studienassessor, Dr. phil., Onkel Toms ganzer Stolz.«

Die Gasse war eng, wie ein Schacht. War dunkel. Man ging nahe aneinander, als sei Gedränge. Julius von Höchheim beugte sich zu Luise Menard herüber, flüsterte: »Ich muß Sie morgen in Veitshöchheim sehen. Ich muß!« – –

Die Großmutter saß und legte Patience. Der Enkelsohn war einen Augenblick allein mit ihr. Er ließ seine schmalen, vornehmen Finger über die Kartenblätter hingleiten.

»Omama, die Dingerchen täuschen, wenn sie Glück versprechen. Es sind wirklich vierzehn Erben. Dies ist bereits eine stadtbekannte Sache. Niemand vermag es mehr, in mir den Erben von Reichtümern zu sehen. Ich kann in den drei Tagen nicht einen Kronprätendenten spielen. Aber, weiß Gott, ich will mich in Illusionen wiegen und mir eine lustige Zeit machen. Es sind ja auch noch sogenannte Ferien jetzt.«

Du hältst mich wohl für taub, dachte die alte Dame. Du meinst wohl, ich höre nicht den veränderten Klang deiner Stimme? Sie stellte befriedigt fest, daß ihre Worte gewirkt hatten.

»Nun, wie du willst, Julius. Ihr habt niemand begegnet als die Menards?«

»Doch«, sagte Julie unter der Tür. »Guten Abend, Großmama. Wir haben einen Miterben gesehen. Einen bildhübschen Menschen, hellblond, mit gewelltem Haar, mit einem strahlend frischen, hübschen Gesicht. Wie ein idealer Prinz. Leider aber nur der Kronprinz in der Bäckerei Frank, und Franks sind Verwandte der seligen Professorin, weißt du.«

Die Baronin Luckner wurde ungeduldig. Sie würdigte die Erzählung von dem Bäckersohn nicht der kleinsten Antwort. Die Enkelkinder saßen höflich nieder und spielten Whist mit der alten Dame.

Julius tat es zerstreut. Seine Gedanken waren draußen in dem Rokokogarten von Veitshöchheim. Ob Luise kam? Ja – nein – ja – nein – ja. Er paßte auf, ob schwarze oder rote Karten fielen, zählte ab. Aber warum sollte sie nicht kommen? Alle Frauen sind neugierig, dachte er. Sie wird schon kommen. Im Grund hat uns alle ein kleines Fieber erfaßt. Die Tage des Wartens sind peinlich, reizen auf und schaffen eine große Ungeduld.

Niemals ist jemand geneigter zu einem kleinen Abenteuer, als in Tagen der Ungewißheit und des Wartens.

Sein schlechtes Kartenspiel fiel auf, wurde belächelt. Er blieb guter Laune und erzählte, morgen würde er unsichtbar sein und irgendeinen Ausflug unternehmen.

Die junge Dame, der seine heftigen und abenteuerlichen Gedanken galten, hörte in den späten Abend hinein ihren Bruder auf dem Harmonium spielen. Er hatte ein schönes, großes Instrument, einer kleinen Orgel nicht unähnlich, mit zwei Klaviaturen, Bläser und Streicher wiedergebend, und mit sonst allen Möglichkeiten ausgestattet.

Sie wohnten in keiner vornehmen Gegend, ein Stück hinterm Bahngleis im Bezirk der Stadtgärtnerei, in einem vereinzelten alten Haus, dessen Mitbewohner, ein alter Gartenarbeiter im Erdgeschoß, nichts gegen nächtliche Musik einwandte. Die nächste Nachbarschaft war außer Gartenfeldern noch die Taubstummenanstalt. Kilian Menard konnte spielen wann er wollte. Die Schwester hatte sich an diese Nachtmusik längst gewöhnt. Heute wünschte sie, es wäre still um sie. Das Vorspiel zu Parsifal ist ein großer Verführer, auch dann, wenn man es schon unzählige Male gehört hatte, wie Luise Menard. Die sphärenhaften Klänge preßten ihr Tränen aus. Mein Gott, man kann nicht immer aus irdischer Unruhe oder Sehnsucht hinaufblicken in himmlische Verklärungen.

Luise Menard stand am offenen Fenster. Die weiten Gärten sandten den Duft von Rosen und Reseden durch die Nacht.

Warum, rätselte die Schweigende, warum denkt Julius von Höchheim plötzlich an mich? Und warum weckt dieses Zeichen von Interesse längst verschmerzte, längst überwundene Gefühle?

Jahrelang hatte man einander kaum gesehen. Die hochmütige Großmutter ließ den kleinen Verkehr, der früher zwischen den Häusern herrschte, einschlafen. Julie und Gudrune waren viel auswärts, auf Briefwechsel hatte man nie gestanden. So ergab es sich vielleicht von selbst, daß Julius, der ja auch noch andere Universitäten besuchte, fremd wurde. Ein Gruß auf der Straße, ein paar hingeworfene Worte, das war alles gewesen seit Jahren.

Aber er hatte immer korrekt gehandelt. Wie sollte er, bei streng geübter Zurückhaltung von ihrer Seite, es merken, daß er sie erregte, daß er ihr viel bedeutete?

Vorgestern, im Hofgarten, war eine Begegnung gewesen. Ein Erstaunen von seiner Seite. Sah sie vorteilhafter aus? Viele sagten es ihr, das kurze Haar habe sie völlig verändert, ihr Charakteristisches erst herausgebracht. Vielleicht – sie war nun fast fünfundzwanzig – hatte ihr Gesicht Verlegenheit verloren, einen kühneren Ausdruck bekommen.

Sie ging zum Spiegel. Gewiß, ihr Profil war gut geschnitten, ihre Wangen wirkten jetzt schmal, alles an ihr war schlank und beherrscht. Die Kleidung eigenartiger: aus der Lehrerin die Entwicklung zur Dame.

Läßt sich eine Dame zum heimlichen Stelldichein in einem Rokokolustgarten verlocken?

Sie dachte flüchtig an den Schulrat, an Kolleginnen, an all das Eingeengte ihres Berufs. Begegnete man jemand aus dem Schulkreis, so war gleich der Klatsch da, unter Umständen eine Zitation aufs Rektorat. Aber diese peinlichen Möglichkeiten glitten nur schemenhaft an ihr vorüber.

Viel wichtiger war, sollte sie ein lang beherrschtes, schon fast zur Erinnerung gewordenes Gefühl wieder wach werden lassen? Was konnte Julius von Höchheim von ihr wollen?

Sie wußte um seine Lebensaussichten. Vermögenslose Privatdozenten sind auf reiche Heiraten gestellt. Dachte er vielleicht, sie würde in wenig Tagen eine reiche Erbin sein? oder dachte er, ihm fiele Geld und Freiheit zu?

Sie zwang sich in diesen Gedankenkreis. Zwang sich zu empfinden, wie die Weltklugen, die Vielzuvielen, die ewig Siegreichen.

Und warf dann die Erwägungen fort, als seien es Häßlichkeiten.

Einen frohen Tag wünschte er sich.

Sollte sie nicht auch einmal den frohen Tag haben?

Einen lichten, ganz lichten Tag, einen blauen Augusttag, voll von Träumen?

Die Geizigen und die Armseligen spekulieren immer auf das Morgen. Sie lächelte plötzlich. Ging an ihren Schreibtisch, schloß Blätter in die Lade, nahm ein Marmorbruchstück auf, streichelte es mit heißen Händen. Sie war einmal, vor drei Jahren, in Rom gewesen, versunken in die Seele von Jahrtausenden. Und lebte doch weiter hier der Pflicht, den Forderungen tätigen Lebens.

Warum nicht einmal einen blauen Augusttag lang losgelöst sein von Alltagsschwere? Ein blauer Augusttag – mußte er denn gleich mit langen Leiden und mit feiger Reue bezahlt werden? Aber sie wußte doch im Innersten, ging sie hin, so kam sie zum Stelldichein, wie irgendein kleines Mädchen, das man ruft und dem man nach Belieben wieder abschreibt.

Herr von Höchheim konnte sie doch hier in ihrer Wohnung besuchen, Herr von Höchheim konnte – – Sie lächelte nervös. Sie fühlte den Klang seiner Stimme, den Rhythmus seiner Schritte in ihrem Ohr. Und Schwäche überfiel sie. Alte Sehnsucht stieg auf und brachte Unruhe, Unruhe, Verlangen und Wunsch.

Luise saß nieder, barg das Gesicht in den Händen und dachte, was werde ich tun? Bin ich so feige, daß ich nicht einen Sommermittag lang einer schönen, lockenden Gefahr ins Auge sehen kann?


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