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Gudrune von Höchheim und Dr. Magnus Frank kamen strahlend, froh, beschwingt über den Schloßplatz. Im Ehrenhof der Residenz blieben sie einen Augenblick stehen, Gudrune eilte über die Stufen des Frankoniabrunnens, tauchte die Hände ins kühle Wasser des Barockbassins. »Wir sind so unendlich fleißig, Magnus, eben haben wir erst vor Gericht unsere kolossale Erbschaft angenommen, und schon gehen wir unserm Beruf nach.«
Magnus war rasch an ihrer Seite. »Hast du schon gehört, wann unsere gnädigsten Gönner, die Universalerben, den Einzug der Gäste befehlen?«
Sie trocknete ihre Hände mit einem viel zu kleinen Batisttuch. »Es wurde etwas vom 15. September geflüstert. Damit alle sich fassen und vorbereiten oder noch Ferienreisen machen können. Weißt du schon, daß Professor Holtzendorff nicht nach Veitshöchheim, sondern nach Kloster Heilsbronn bei Ansbach gehen wird?«
Magnus schob seinen Arm in den ihren. »Und das sagst du mir erst jetzt? Wir kommen hier fort? Das ist ja großartig!«
Sie eilten ins Schloß. Der Professor schalt ein wenig, daß sie so spät kämen.
»Ja so, die Erbschaft. Ihr seid nun reiche Leute. Enorme Kapitalisten. Gut, daß die Bilder heute fertig werden.«
Magnus zog sich die Soutane über, nahm seine Stellung ein. Gudrune mußte erst ihre Pinsel und Farben auspacken. Sie war in keiner Arbeitsstimmung. Nur die Gegenwart des Lehrers bewog sie noch, auf dem Vordergrund des abgeschlossenen Bildes ein wenig herumzustreichen. Sie tat also wie eine Fleißige, saß gebückt und versteckt hinter ihrer Staffelei.
Und diese Situation gestattete ihr, einen kleinen Spaß zu genießen.
Der gute Vetter Julius ging durch den Saal. Nicht allein. Er war an der Seite der Universalerben. In bezaubernder Blondheit, von einem rohseidenen Jackenkostüm elegant umschneidert, war Frau von Arnim zu erblicken, neben ihr Graf Worms. Er nickte flüchtig den Malern zu, wie man es tut, wenn man Arbeitende nicht stören will. Der gute Julius aber mußte völlig vergessen haben, daß seine Kusine hier war. Der gute Julius redete laut und temperamentvoll auf Frau von Arnim ein, er hatte die Gesten eines Ergebenen oder Nahestehenden und kein Auge für die Umwelt, die er doch erklärte. Die drei reizvollen Gestalten schritten rasch in das nächste Prunkgemach.
Der Professor blinzelte zu Gudrune hinüber. »War das nicht Ihr Vetter, waren das nicht die Solisten der Erbschaftsoper?«
Sie nickte belustigt. »Mein Vetter macht den Führer durch die Herrlichkeiten dieses Ortes.«
Professor Holtzendorff stieß seinen Pinsel in Malachitgrün und antwortete trocken: »Ein Verehrer für die schöne Erbin ist also schon da. Wie schnell sich so etwas macht. Donnerwetter, das ist aber auch wirklich ein angenehmer Anblick. Meinen Sie, die nimmt den Julius?«
»Bester Professor, wahrscheinlich hat diese schöne Frau auch an andern Orten Verehrer.«
Frau Holtzendorff verließ plötzlich den Platz, kam quer durch den Raum auf ihren Mann zu. »Franzel, du wolltest noch eine halbe Stunde arbeiten. Das Bild ist fertig. Ein neues bitte auf neuer Leinwand!«
Er lachte gutmütig: »Ist schon recht. Machen wir eine Pause. Eh' ein einfacher Mann, wie ich, sich entschließt, seinen Namen auf etwas zu schreiben, muß er Atem schöpfen. Wo ist denn ein wenig Frühstück? Kaplan, treten Sie näher zu uns Heiden.«
Man saß hinter den Staffeleien mit den großen Keilrahmen wie in einem Zelt. Der Professor verschlang eilig belegtes Brot. Dann nahm er seine Hornbrille ab, blinzelte auf Magnus, auf Gudrune und sagte still: »Gutes Liebespaar, heiratet euch. Verschafft euch die Papiere. Macht es kurz. Wollt ihr vielleicht an den Freitischen des Erbhauses den düsteren Gesprächsstoff abgeben? Liebespaare ziehen nicht zu zehn oder zwölf Beobachtern. Der schönen Arnim müßt ihr nicht zumuten, daß sie eure Ehrendame spielen soll. Und der hochadeligen Großmutter erspart ihr die Kriegserklärung.«
»Aber lieber Professor«, rief Gudrune erregt.
»Was denn, ›lieber Professor‹! Ich meine es gut mit euch. Warum soll eine hochadlige, hochgeborene Großmutter weinen? Warum soll sie sich härmen und in Protest zerquälen? Sie wird überrascht. Man bringt sie einfach, sozusagen im Fluge, auf den Boden der Tatsachen. Liebe Gudrune, wann ist Ihr Geburtstag?«
»Er war gestern, Professor, und wurde infolge der Aufregungen mit der Erbschaft fast vergessen. Ich mußte nur am Nachmittag aufs Gericht, um zu vernehmen, daß ich mündig bin.«
Professor Holtzendorff zog sein seidenes Taschentuch und fuhr sich über die Stirn. »Immer habt ihr mit Gerichten zu tun, ihr Erben. Nun also, wählt jetzt das Standesamt.«
Seine Frau warf ein: »Franzel, sei kein Agent provocateur.«
»Wie? Ich versteh' nicht französisch. Ich sprech' es nur in Frankreich. Alsdann, ich sage: die arme hochgeborene Großmutter tut mir einfach leid. Ich habe stets ritterliche Regungen für alte Damen gehabt. Man darf ihr keine Pein bereiten. Lieber Frank, das sehen Sie doch ein. Das Geheimnis des Erfolges ist die Fähigkeit, den Lauf der Geschehnisse zu unsern Gunsten zu leiten. Was soll denn der alten Dame für eine Wahl bleiben, wenn Gudrune ihren Mann vorstellt und den Trauschein zeigt? Nichts bleibt ihr übrig, als zu sagen: Gott segne euch, meine Kinder. Kommt ihr aber mit Verloberei, so wird sie gepeinigt und meint, sie muß irgendwo ein altes Stiftsfräulein, das Freiin von Rösselsprung oder von Adlershorst heißt, ausfindig machen, das den Magnus adoptiert und zu einem sogenannten Baron erhebt.«
Sie lachten und der Professor ereiferte sich.
»Ist doch Tatsache, daß jetzt so viele alte Stiftsdamen ausgewachsene Söhne kriegen. Dies Naturwunder unserer Zeit kann niemand leugnen. Also, erspart der hochgeborenen Großmutter solche Greuel. Stellt Ansprüche, tretet auf. Fahrt beide mit nach Kloster Heilsbronn, da kenne ich den Bürgermeister. Wird dem eine Freude sein, wenn er eure Papiere sieht und euch ziviltrauen kann. Ist es euch wohlgeratenen, gesunden jungen Leuten denn so ein Vergnügen, daß ihr betteln gehen sollt um das Recht eurer Jugend? Gelüstet es euch nach Probejahren?«
Gemächlich, gemütlich sprach der gute Professor, blinzelte aus zusammengekniffenen Lidern auf Gudrune, auf Magnus, und fühlte sich mit seiner Wirkung zufrieden.
Magnus war aufgesprungen vor Erregung. Gudrune lächelte: »Aber ich bitte Sie, lieber Professor. Da gibt es doch Plakate, ich meine, solche Aushängebogen im Rathaus. Man liest das ja vorher.«
»So? Geht Ihre hochgeborene Großmutter ins Rathaus und liest die Aufgebote?«
Er lachte fröhlich. »Man muß nur Glück haben. Und wer daran nicht glaubt, ist feige. Ich lasse euch bis übermorgen Zeit, die nötigen Papiere zu besorgen. Und dann fahren wir nach Kloster Heilsbronn. Ich hab' Auftrag, ein Kircheninterieur mit einer unvergeßlichen Anekdote zu malen. Magnus wird sich zum Kreuzritter bequemen und Sie, liebe Gudrune, zu einer Zeitgenossin desselben. Jetzt geht und sprecht euch aus!«
Der gute, in seinem Äußeren phlegmatisch wirkende Professor hatte Aufruhr gebracht.
Gudrune zog sich zu Hause in ihr Zimmer zurück und dachte nach. Es war sehr viel gegen diesen Vorschlag einzuwenden, und doch bedeutete er die beste Lösung. Wie man die Sache auch betrachtete, es gab keinen rascheren Ausweg. Sie kannte die Verhältnisse, in die sie gehen würde, sie war keine Demokratin, sondern wußte, ihrem künftigen Mann würde als Hochschullehrer die Abkunft aus einem Bäckerladen immer etwas anhängen. Eine adlig geborene Frau, die Künstlerin war, bildete ein gutes Gegengewicht. Mochte Magnus hier in Würzburg beginnen, später würde man in eine andere Universitätsstadt gehen, nach Berlin oder München, und sich einen Kreis schaffen. Magnus' Persönlichkeit wirkte überall gut.
Und es war wirklich kein Grund zu warten, Familienszenen zu ertragen, Streitigkeiten heraufzubeschwören. Menschen, die sonst Respekt vor der Art des andern haben, sagen da oft peinlich unvergeßliche Worte, erzürnen sich unnütz, erregen sich fruchtlos.
Sie kämpfte Bedenken nieder. Seit fast drei Jahren studierte sie doch schon in Dresden und nahm nur noch Ferienaufenthalte bei der Großmutter. Sie war also äußerlich schon abgelöst von dem Familienverband. Sollte sie vielleicht ihre Kusine »einweihen«? Ach nein, dachte sie, ich belaste sie nur, und ich weiß ja allein, was ich will. –
Der Augusthimmel leuchtete in strahlender Bläue, diesen Morgen zu erleben, war wie eine Botschaft von ewiger Jugend zu erhalten, wie eine offene Tür in unendliche Freiheit. Die Mutter Gottes hatte ihren blauen Mantel ausgespannt über ihre liebe Stadt.
Und die Glocken aller Kirchen läuteten festlich stolz zum Tag der Himmelfahrt Mariens, zum Tag der Kräuterweihe.
Dem Glockengetön nach zogen bunt und froh gekleidete Menschen durch die Straßen.
Julius von Höchheim kam mit Frau von Arnim und Graf Worms über den Marktplatz. Er wirkte außerordentlich frisch und hübsch, und seine Erzählungen hatten für die beiden Protestanten den Reiz der Neuheit. »Sie werden in unserer herrlichen gotischen Marienkapelle, die, wie Sie sehen, eine sehr stattliche Kirche ist und das bedeutendste spätgotische Bauwerk Würzburgs, das höchste der Muttergottesfeste miterleben, den ›großen Frauentag‹, wie man auch sagt, also Mariä Himmelfahrt.«
Frau von Arnim sah über den bekannten Kirchplatz hin, sah Kinder und alte Weiblein mit Blumensträußen, mit Kräuterbüscheln, sogar mit Bündeln von Karotten und Rettichen dem Portal zueilen, und fragte: »Sie sprachen vorhin von der Kräuterweihe. Was bedeutet das?«
Julius lächelte. »Wieviel kann Ihnen Würzburg bieten, wenn Sie den Marienkult, wenn Sie die Geschichte der Heiligen nicht kennen!«
Sie waren stehengeblieben, denn noch läuteten die Glocken.
»Es ist einem Katholiken fast unbegreiflich«, dozierte er auf liebenswürdige Art, »daß die Heiligengeschichte im Erinnerungsschatz der evangelischen Bekenntnisse fast keine Rolle spielt. Die großen Märtyrer und Heiligen beiderlei Geschlechts sind zum größten Teil auch große Charaktergestalten, psychologische Erlebnisse, sind uns Historikern oder Kulturhistorikern in ihrem Einfluß wichtig wie politische oder dynastische Gestalten. Catarina von Siena, die große Therese, ja auch die kleine heilige Therese aus unserer Zeit, erachte ich für Gestalten, mit denen man sich auseinandersetzen muß, wie mit jedem Träger einer großen Weltanschauung.«
Graf Worms sah den Sprecher mit kühlen Augen an. Er dachte etwas spöttisch, ob wohl die großen Heiligen auf diesen ersichtlich sehr ins Strebertum gestellten Privatdozenten Einfluß besäßen.
»Und die Kräuterweihe?« fragte Frau von Arnim beharrlich.
»Sogleich, gnädigste Frau. Ich werde sie Ihnen völlig korrekt nach dem heiligen Meßbuch erklären: Maria wird häufig in der symbolischen Sprache der Kirche mit einem Garten verglichen: als die geistliche Rose, als die Blume des Feldes und die Lilie der Täler. Der Duft der Blumen bedeutet den Wohlgeruch der Tugenden Mariens. Die Kräuterweihe hängt mit der frommen Legende zusammen, nach der die Apostel, als sie das Grab der seligsten Jungfrau noch einmal öffneten, darin nicht die Reste der Abgeschiedenen, sondern Blumen und Heilkräuter fanden. Bei der Weihe der Blumen und Kräuter wird um die Wohlfahrt des Leibes und der Seele, um Schutz vor dämonischen und andern widrigen Einflüssen für jene gebetet, die in frommer Gesinnung davon Gebrauch machen und den Sommerüberschwang von Garten und Flur segnen lassen. Sie sehen«, schloß er lächelnd, »das einfache Volk bringt nicht nur Blumen, es rechnet unter die Heilkräuter auch seine Gartenprodukte.«
Sie traten in die dreischiffige Kirche ein. Julius flüsterte, er würde nachher die vielen Arbeiten von Tilman Riemenschneider zeigen, die sie enthielt. Jetzt wies er nur auf ein Gemälde über dem Südportal, eine Fülle von Wappen fränkischer Adliger, die einst in der Gruft der Kapelle beigesetzt wurden. Dann beschritt er den Weg gegen den Hochaltar hin, machte befehlende Handbewegungen, die eine Knabenreihe bewogen, enger zusammenzurücken. So waren gute Plätze geschaffen.
Die Orgel tönte, und der Priester im weißgoldenen Festornat, ein junger Mann noch, umging mit dem Weihrauchfaß den Tisch mit den Blumen und Kräutergarben. Dann setzte das Hochamt ein.
Die Protestantin verstand nicht alle Worte. Sie lächelte leise, als ihr Vetter sich zu ihr beugte und leise sagte: »›Wir treten zum Gott unserer Jugendfreude‹, hieß das eben.«
Frau von Arnim kam ein fernes Erinnern an römische Kirchen, wo sie in Kindertagen mit der Mutter oder Großmutter manchmal einem feierlichen Hochamt beigewohnt hatte. Sie wurde bewegt von dem Getön der Orgel, von schönen Stimmen des Chors, von den Responsorien. Wirklich, man trat in eine andere Welt ein oder man fühlte den Schauer einer Frühzeit der Menschheit, ward angerührt von den alten, durch die Jahrhunderte triumphierenden Worten. –
Julie von Höchheim hatte ihren Bruder als Begleiter der Fremden eintreten sehen. Das bewog sie, ihren vorherigen, etwas exponierten Platz zu verlassen und hinter den Schutz einer Säule zu flüchten. Sie wollte nachher keine Begegnung, denn sie fand, Höchheims bemühten sich reichlich viel um die Erbherrschaften, wie sie ein wenig spöttisch dachte.
Sie erwartete diesen Morgen auch ganz etwas anderes. Kilian Menard war auf der Orgel, und zwischen dem ersten Teil des Hochamtes und der Predigt würde er eine eigene Komposition spielen, ein Ave-Maria für den Himmelfahrts- und Blumentag.
Sie hatte es nicht von ihm selbst, sondern zufällig von Bekannten erfahren. Und nun wartete sie hier, ihn sprechen zu hören. Denn die eigene Musik war doch wohl seine letzte und beste Ausdrucksweise.
Und sie dachte, erregt von der Festlichkeit des Hochamts, von dem wundervollen Leuchten des Morgens, von den Weihrauchwolken und der ganzen Stimmung der Kirche, warum soll ich mich gegen ein Erlebnis wehren? Wenn mir eine große Liebe gebracht wird, werd' ich dann klein, alltäglich, vernünftig beiseite stehen und bedenken, ob die große Liebe nicht noch ein andermal sich mir nähert, und zwar »standesgemäß«, wie die Großmama sagt. In mir ist ebensoviel Bürgerblut wie adliges Blut. Und ach, ich will nicht ewig in einer Apotheke stehen und Heiltränke machen, und den einzigen Sinn meines Lebens darin sehen, meinen Lebensunterhalt in einem anständigen Beruf zu verdienen.
Die Orgel setzte ein. In feierlichen Tönen, mit großen Akzenten, die in eine süße, weiche Welle übergingen. Und dann klang es von einer schönen Altstimme auf, wie ein Liebeslied:
Maria, laß dich grüßen
Du Himmelskönigin.
Wir streu'n zu deinen Füßen
Des Sommers Rosen hin.
Sie sollen dich umschweben
Gleich Seelen all der Frau'n,
Die schon im ewigen Leben
Dein süßes Antlitz schau'n.
Gib allen uns das Wissen
Wir werden einst, wie sie
Aus Nacht und Finsternissen
Zu dir geführt, Marie.
Weich, sanft, in unendlicher Anmut war das Lied durchkomponiert. Nun aber wiederholten sich die Schlußworte in stürzenden, heftigen Akzenten, in dunklem Klang und endlich befreiendem Rhythmus:
Aus Nacht und Finsternissen
Zu dir geführt, Marie.
Julie von Höchheim saß – und weinte. Sie schämte sich dessen unendlich und konnte doch ihre Bewegtheit nicht bemeistern. Erst während der Predigt, die alle ihr wohlbekannten Marienlegenden zusammenfaßte, konnte sie wieder Haltung gewinnen.
Als das Hochamt sich seinem triumphierenden Ende näherte, ging Julie von Höchheim leise die Treppe zur Orgel hinauf. Nachbarn hatten einander zugeflüstert, daß der Text zu dem Ave-Maria von der Schwester des Kapellmeisters sei und sie selbst gesungen habe. Dies bot schließlich Anlaß, eine Begrüßung zu suchen, einen Glückwunsch darzubringen.
Kilian Menard errötete vor Freude bei Juliens Anblick. Sie sagte den Geschwistern gute, ehrliche Worte der Bewunderung und fügte rasch bei: »Darf ich den Heimweg mit Ihnen machen? Dann warten wir noch ein wenig. Mein Bruder ist mit den Erbherrschaften da, ach, ich will ihnen nicht begegnen, um Konversation machen zu müssen.«
Menard strahlte. Der schwarze Anzug gab seiner Erscheinung eine gewisse Vornehmheit, machte ihn schlanker, eleganter. Er wurde von Menschen beansprucht, denen er Rede stehen mußte. Luise Menard flüsterte Julie zu: »Mögen Sie uns nicht die Freude machen, heute nachmittag bei uns Kaffee zu trinken? Das wäre schön!«
Julie sagte zu. Die Stimmung da oben auf der Orgel tat ihr wohl. Sie sah, daß der Oberbürgermeister mit Kilian Menard sprach, sah Lehrer von der Musikschule, sah Professoren ihn begrüßen, und bekam in den wenigen Minuten einen gewissen Eindruck von Menards Stellung und Ansehen. Sie entsann sich, gehört zu haben, daß er öfters auswärts Konzerte gab, eigene Kompositionen spielte, und es wurde ihr bewußt, daß er ein Mann war, der in seiner Stellung und seinem künstlerischen Beruf sich Geltung errungen hatte.
Sie war plötzlich ein wenig stolz, mit den Menards durch die Straßen zu gehen.
Am Nachmittag entglitt sie, in ein hübsches blaues Stilkleid gewandet, dem Hause. Es war vielleicht ein wenig schlecht, so davonzuschleichen. Denn die Großmutter fand kein Ende mit den Vorbereitungen für die Abendgesellschaft. Alles, was es an Familiensilber gab, wurde eingekreidet und geputzt, das Altmeißener Porzellan, schöne Stücke mit Streublumenmuster, entstieg seinen Behältnissen, lang gehütete, im Schreibtisch verschlossene Miniaturen, Dosen, kurz all die Dinge, die man Bibelots nennt, bekamen sichtbare Plätze. Es war ein großes Aufgebot, das Haus Höchheim in Glanz und Tradition zu zeigen.
Julie hätte der Großmutter und Gudrune beistehen sollen. Aber sie dachte, heute ist mein Tag! Heute will ich nicht sehen, womit Höchheims die Erbherrschaften blenden können, heute möchte ich wissen, wie es bei dem Mann aussieht, der mich lieb hat.
Sie lächelte. Die gute Großmama wollte diesen Abend den geliebten Julius und die schöne Gudrune herausstellen. Ihr Bedauern, daß Julie wieder Nachtdienst in der Apotheke hatte und dem Fest nicht beiwohnen konnte, war sehr matt gewesen. Die Großmama rechnete also für Julie nicht auf seine gräflichen Gnaden! Immerhin ein Trost!
Beschwingt, heiter, auch ein wenig erwartungsvoll, kam Julie in das alte Haus auf dem Grundstück des Hofgärtners. So hübsch verborgen und doch frei lag es. Julie überschritt die Schwelle und dachte, ob man hier für mich auch in aller Eile solche Vorbereitungen gemacht hat?
Sie traf die Hauskatze im kühlen Flur und begann eine Unterhaltung mit ihr. Katzen wollen angesprochen sein, das ist ihr Recht, das können sie fordern.
»Gute, schöne Würzburger Katze. Bist du ein Herr oder eine Dame, chat oder chatte?«
Die Katze rieb sich an Julies hellen Schuhen.
Luise Menard kam die Treppe herunter. Sie ahnte wohl, was der Besuch bedeutete. Sie hatte ihren Bruder schon in zwei verschiedenen Sommeranzügen, mit lila Strümpfen und Schlips, mit grauen Strümpfen und Schlips erblickt. Sie glaubte zu wissen, nun würde er diese Abzeichen von Eleganz in gestreift tragen. Er besaß gute Sachen, darauf hielt sie. Aber daß er sie auch trug, war neu und bedeutungsvoll.
Julie fand den weiten Flur, in den die Sonne fiel, ganz reizend. Der Kapellmeister kam aus einer Tür gestürzt. Im grauen Anzug, mit gestreiftem, buntem Schlips. Die Schwester dachte, woher nimmt er nur plötzlich die gute Haltung? Haben ihn die letzten Tage so aufgeregt, daß er schlanker und behender geworden ist? Oder macht es der Umgang mit den Erbherren? Gott gebe, daß er nun nicht doch sagt, wir sind einfache Bürgersleute, womit er es sich gern bequem machte.
Nichts von dem geschah. Kilian Menard war auf seinen Höhepunkten: er hatte die sichere Art seines Berufslebens und die große Freundlichkeit eines Mannes, dem ein Besuch sehr wohl tut. Mit einer gewissen Würde wußte er das Gespräch am Teetisch zu leiten. Er vermied Dialektworte, und Luise kam es vor, als würde Fräulein Julie von Höchheim ungefähr so aufgenommen, wie ihr Bruder Menschen mit großen Namen empfing. Solche sprachen wohl ab und an bei ihm vor. Komponisten, bedeutende Sängerinnen oder auch Vertreter der Musikwissenschaft.
Als nun unerwartet und, wie er sagte, um sich zu verabschieden, Ferdinand von Höchheim erschien, bekam die Unterhaltung ungewollt noch mehr den Ton des Repräsentativen. Menard war vor einigen Jahren in Paris gewesen, um dort die großen kirchlichen Musikaufführungen kennenzulernen. Er hatte Zutritt in gewisse theosophische Kreise gehabt, unter denen sich Russen und Schweden aus alten Familien befanden, die auch Ferdinand von Höchheim kannte. So ergab das Gespräch auf schickliche Weise Einblicke in die Lebensbeziehungen des Kapellmeisters. Julie dachte erstaunt, wie wenig Wesen diese Geschwister bisher von sich gemacht hatten. Sie war von ihrer Großmutter und Julius gewöhnt, daß sie immerfort von allem sprachen, was ihnen gut oder auszeichnend für sie schien. Wenn Julius irgendwie im Leben mit einer berühmten Persönlichkeit in einem Raume zusammengewesen war und vielleicht bei der Vorstellung ein Kopfnicken erhalten hatte, so war er befähigt, davon Memoiren zu schreiben, das heißt, in seinen zahlreichen Aufsätzen populärer Art wurde eine solche Begegnung getreulich immer wieder erwähnt.
Julie hatte das Talent, durch geschickte Fragen ein Gespräch erweitern zu können. Sie machte davon Gebrauch und dachte dabei: ich stelle mir jetzt vor, ich wäre Frau Menard. Und ein Herr von Welt ist zu Besuch. Unwillkürlich vergleiche ich, wie schneidet Herr Menard aus Würzburg ab neben dem Herrn von Welt?
Sie beachtete kleine Gewohnheiten. Das Anzünden einer Zigarette, die Art die Tasse zu halten, die Art eines Lächelns oder Lachens. Und es fiel ihr auf, daß die korrekte Weise Ferdinand von Höchheims etwas fast Farbloses bekam neben der des Kapellmeisters. Menard begleitete Worte manchmal mit Gesten, aber es geschah mit klugen, originellen Händen. Sie dachte an die schöne Musik, die diese Hände hervorbrachten, und fühlte sich plötzlich geborgen und fast glücklich.
Es ergab sich dann, daß Luise Menard Herrn von Höchheim Bücher zeigte, der Kapellmeister aber um Besichtigung seines Musikzimmers bat. Die Tür zu diesem Nebengelaß stand und blieb offen. Julie trat ein, sah Flügel und Harmonium und eine kleine Sammlung von Violinen und andern Instrumenten. Ein schönes, großes Ölgemälde beherrschte den Raum, eine Kopie des »Conzerts« von Giorgione. Auf dem Flügel stand ein Rosenstrauß. Er wäre für den verehrten Gast, sagte Menard. Aber er wisse nicht, ob er mitgenommen werden möchte. Sie wurde ein wenig befangen, fand aber eine anmutige Form der Gewährung.
»Ich muß«, lächelte sie, »zu Hause sagen, man hat sie mir aus einem Garten freundlich zugereicht. Denn wissen Sie, ich bin heute sehr pflichtvergessen gegen meine Großmutter. Sie hat Abendgesellschaft, die Enkel der schönen Dame im Erbhause interessieren sie sehr, weil sie einstens mit dieser Gräfin die gleichen Bälle besuchte. Und wenn Großmama eine Abendgesellschaft gibt, müssen wir uns vorher immer sehr ermüden in Vorbereitungen. Ich bin also wie eine Fahnenflüchtige, und wenn Sie mir noch etwas spielen mögen, so bitte bald. Denn ich werde zu Hause vermißt.« – –
Eine kleine Zeit später lief sie mit ihrem Rosenstrauß froh und befriedigt durch die Gassen. Sie mußte noch lachen, wie glücklich der Kapellmeister ausgesehen hatte, als sie sagte, sie wäre nicht auf der Abendgesellschaft, sondern in der Apotheke.
Kilian, dachte sie dabei, Kilian. Warum behaften Eltern ein winziges Kind mit dem Namen eines Märtyrers? Doch dann fiel ihr ein, Kilian Menard klang doch recht apart. Besonders, wenn man an die vielen Studenten dachte, die sich mit Karl Müller, Hans Bauer und dergleichen Namen, die es in hunderttausend Auflagen gibt, behelfen mußten. Und seit heute wußte sie, daß der Name Kilian Menard schon einen Klang hatte, und daß sein Träger ihr herzlich gefiel.
Sie schlüpfte leise in ihr Schlafzimmer, warf sich in ein anderes Kleid, nahm zum Überfluß eine Schürze um und bearbeitete mit einem weichen Tuch die Tasten des Klaviers. Man sollte auch hören, wie tätig sie war!
Die Großmutter kam und sagte tadelnd, man habe Julie vergeblich gesucht. Ob sie vielleicht wisse, wo Gudrune sei? So, auch Gudrune hatte heimliche Wege?
»Es ist alles zauberhaft schön, Omama«, begütigte Julie. »Deine Gemächer wirken wie eine Hochburg des Feudalen. Selbst wenn die geborene Gräfin Henckel-Donnersmarck in eigener Person käme, müßte sie erschüttert sein. Liebste Omama, du hast wie eine Feldmarschallin gewirkt. Ruh dich doch ein bißchen aus.«
Die alte Baronin nahm einen gebotenen Stuhl, bekam strenge Augen und sagte: »Du sprichst den Namen Henckel-Donnersmarck so merkwürdig spöttisch aus, liebe Julie. Du ziehst die Gesellschaft von Kapellmeisters der unserer neuen Freunde vor. Julius sah dich mit dem Organisten und seiner Schwester aus der Marienkapelle gehen. Was soll das?«
Julie antwortete leichthin: »Ja, warum soll ich denn nicht mit Bekannten gehen?«
Die Baronin machte nervöse Handbewegungen. »Du unterläßt kleine Klugheiten. Wenn man die Wahl hat, sich mit Frau Kündinger oder Frau von Arnim zu zeigen, wählt man doch wohl die Standesgenossin. Dein Bruder ging mit Graf Worms aus der Kirche. Du gingst mit einem Kapellmeister. Wie sagst du? Er hat eine Komposition von sich gespielt? Nun, den Vorfahren von Editha Gräfin Henckel-Donnersmarck hat Beethoven Kompositionen gegen Gratifikationen zu Füßen gelegt.«
Julie lächelte: »Da ist keine Sorge, daß der Kapellmeister Menard gegen Frau von Arnim solche Vorhabungen plant und sie zu Gratifikationen zwingt. Herr Menard ist weder so reich noch so arm wie Ludwig van Beethoven.«
Sie freute sich selbst über ihren unbefangenen Ton, blickte auf ihre Armbanduhr und sagte: »Großmama, du mußt dich umkleiden. Und ich bleibe, bis die Kerzen angezündet sind. Ich werfe noch einen Blick auf euren Glanz und auf die Vornehmheit der Gäste, ehe ich als Apothekenhelferin in mein Dunkel gehe.«
Sie leistete der alten Dame Handreichungen. Dann sah sie zu Gudrune hinein, deren Schlafzimmer neben dem ihrigen lag. Sie erblickte ihre Base zuerst im Spiegel. Sie schien ein wenig erhitzt und machte eine leise Puderauflage.
»Gudrune, du siehst so siegreich aus. Willst du heut abend den Grafen Worms völlig betören?«
»Auch du?« kam es lachend zurück. »Ich dachte bisher, nur die Großmutter sieht nicht, daß dieser korrekte Herr außer dem Kammerherrntitel auch eine unglückliche Liebe hat. Wie? Ich soll dir das beweisen! Ach nein, Julie, ich habe nicht Zeit. Wir reisen morgen früh ab, Professors und ich. Lange könnte ich denn nicht mehr standhalten, daß Großmama Feste gibt, um einen Freier für mich aufzutreiben. Es ist ganz fürchterlich, wir sollen à tout prix mit der geborenen Henckel-Donnersmarck verwandt werden!«
Sie legte die Puderquaste zur Seite, gab dem schönen Fall ihres dunklen Haares noch eine Wendung und blickte angelegentlich in den Spiegel.
»Reizt dich der Graf gar nicht?« fragte Julie.
Gudrune sprang auf, warf das Frisiertuch ab, stand groß, schlank im Raum. »Er reizt mich namenlos, teuerste Julie, aber nicht auf jene Art, die Großmama erhofft. Du hast es gut, du gehst jeden Abend in eine Stätte des Friedens, in deine Apotheke zu dem anstrengenden Dienst, bei dem du doch so sanft schlummern kannst. Ich aber sitze getreulich bis Mitternacht bei der Hüterin des Ehrgeizes unseres Hauses und höre in blasser Geduld, wie gut es mir anstünde, Gräfin Worms zu werden. Wenn ich noch keine Anarchistin geworden bin, so danke ich dies lediglich meinem ausgezeichneten Charakter.«
Julie kam jählings eine Erleuchtung! Sie hatte es flüchtig bestaunt, daß Gudrune bei der Testamentseröffnung mit einem auffällig schönen, blonden Herrn sprach, der in Begleitung eines sehr bürgerlichen Vaters gekommen war. Als sie dann erinnerte, das war ja der Bäckermeister an der alten Mainbrücke mit seinem Sohn, war ihr Interesse verflogen. Jetzt fühlte sie deutlich, bei Gudrune gab es eine andere Sache. Und sie erschrak: um Himmelswillen, doch nicht den schönen Frank?
»Wann reist du morgen früh?«
»Bald, um acht Uhr etwa.«
»Ich komme um sechs Uhr vom Nachtdienst. Laß deine Tür doch bitte offen. Ich muß noch etwas mit dir beplaudern, ehe du fährst.« – – –
Die Kerzen brannten auf silbernen Leuchtern. Blumen durchdufteten die Räume. Die alte Baronin trug in großer Würde ein tieflila Seidenkleid, wie eine Bischöfin, behauptete Walter, der Gymnasiast. Er verfügte nur wieder über den einzigen Tanzstundenanzug. Dafür war sein Bruder, als wäre dies bei Höchheims nie anders des Abends, im Frack. Natürlich führte er Frau von Arnim zu Tisch und Graf Worms Gudrune. Die Großmama hatte zwei Kavaliere: den Enkel Walter und Ferdinand von Höchheim.
Als Julie von Höchheim dieser Name auffiel, verließ sie ihren Platz der unsichtbaren Zuschauerin und enteilte der Wohnung. Sie mußte den Kommenden auf der Treppe oder an der Haustür treffen und ihn bitten, es nicht zu erwähnen, daß er sie heute getroffen.
Und sie dachte bestürzt, wie sage ich denn das nur dem fremden Herrn? Meine Großmutter ist so sehr gegen bürgerliche Bekannte, ging doch wohl nicht als Erklärung? Ängstlich wie eine Schuldbeladene stand sie an der Treppe. Wenn nun Frau von Arnim zuerst kam? wenn sie alle zusammen kamen? – – –
Gudrune war nervös. »Nein, Großmama, bitte, ich singe weder ›Rosen pflückt' ich nachts dir am dunklen Ha-age‹, noch von ›Feldeinsamkeit‹, noch süße Töne von Tosti. Wenn Musik sein muß, so hat vielleicht Frau von Arnim eine Stimme. Oder Walter erzählt, daß er sein Herz in Heidelberg verloren. Vielleicht ist auch Graf Worms zu einer gesanglichen Lohengrinrolle bereit. Wir müssen nicht alles zeigen, was wir haben und können.«
Die Baronin zwang sich zu einem Lächeln. »Nun gut, du sparst also deine Reserven.«
Gudrune dachte, morgen bin ich fort. Dieses Wissen gab ihr plötzlich Schwung und Kraft.
Die Gäste kamen. Es ist wirklich ein sehr elegantes Gesellschaftsbild bei uns, fühlte Gudrune.
»Ich freue mich sehr«, sagte Frau von Arnim zu der alten Baronin, »daß ich Sie noch begrüßen darf. Morgen früh reise ich nach Hause – wir haben vereinbart, daß bis fünfzehnten September hier alles bereit sein wird, um die Testamentsbestimmungen zu erfüllen. Herr von Höchheim fährt nach Paris, Graf Worms nach Darmstadt.«
Reisen, reisen! Die alte Baronin wurde lebhaft, bekam glänzende Augen. Natürlich, man mache sich jetzt noch etwas Bewegung. Und sie verkündete, daß sie mit ihrer Enkelin Julie nach Wiesbaden wolle, und die beiden Enkelsöhne an den Genfer See führen.
Gudrune war das neu. Sie begriff aber sogleich. Warum sollte man nicht elegante Reisepläne erzählen? Es gab dann eventuell auch elegante Gründe, die sie verhinderten.
Familientage, Kongresse und dergleichen mehr. – –
Julie von Höchheim saß im Jourzimmer der Apotheke. Sie hatte einen weißen Leinenmantel an, hatte ihre Thermosflasche vor sich, und einen Stoß Rezepte. Sie waren in ein großes Buch einzutragen: Datum, Name des Arztes, in den meisten Fällen auch die Bezeichnung der Krankenkasse, Name des Kranken, und die Bestandteile der Arzenei.
Sie schrieb getreulich alles ab von oft fast unleserlichen Blättern, entnahm aus den Verordnungen, was die Patienten wohl quäle: Halsschmerzen, Rheuma, Herzbeschwerden, Augenstörungen und so weiter.
Als der Stapel erledigt war, machte sie sich an die fürchterlichen Listen der Krankenkassen, in denen nun ein zweites Mal jedes Rezept gebucht und mit Rabatt berechnet werden mußte. Zwanzig Gramm Kamillen, einer Arbeiterfrau verschrieben, wurden von einem akademisch gebildeten Herrn abgewogen und verabreicht, von einer akademisch gebildeten Dame zweimal gebucht, für den Apothekenbesitzer ergab sich ein Reingewinn von drei Pfennigen aus der Sache. Schön, weiter: drei Gramm Aspirin mit ähnlichem Resultat. Sie seufzte. Für die Großmutter waren Apotheken noch Goldgruben.
Die Klingel schlug an. Julie drehte das Licht in der Offizin auf, ging über den Flur, fragte am Schalter der Haustür nach dem Begehr. Ein Dienstmädchen mit einem Rezept war da. Julie wog, mischte, schüttelte einen Trank, vernahm ausführlich, welches Übel nach der Heimkehr von einem Ausflug die Herrschaft überfallen hatte, und war dann wieder allein.
Erst zehn Uhr, dachte sie. Ihre Schreibarbeit beanspruchte sie noch lange. Bei dem automatenhaften Tun blieb Zeit für eigene Gedanken. Sie hatte den Nachtdienst nicht ungern, später konnte sie auf der Chaiselongue liegen und manche Stunde ungestört schlafen. Es war auch ein gewisser Reiz in dieser Nachtbereitschaft für das allgemeine Wohl. Aber so immer und immer Arzeneien machen? Durch das ganze Leben? Sie stellte sich vor, Kinder könnten vielleicht sehr stolz darauf sein, wenn Vater oder Mutter in ihren Augen solche Wohltäter der Menschheit waren, die Schlaf und Ruhe opferten. Denn dies gaben sie immerhin her, auch wenn das Rezept bezahlt werden mußte.
Sie wandte sich plötzlich von den Listen ab, warf die Feder fort.
Es stieg ihr ein Bild auf von einer Mutter, die hübsche, liebe Kinder hatte. Sie errötete ein wenig, denn sie dachte an eigene, dachte, wie schön es wäre, denen alles zu ersparen, was einen in der Kindheit unnütz gequält hat. Soviel Furcht vor nicht Fürchterlichem, soviel Scheu, sich zu äußern, soviel Angst, unbewußt die Sünden zu tun, die zu Fegefeuer oder Hölle führten, wie man in der Kirche erzitternd hörte.
Schöne Musik müßte um die Kinder sein, und an blauen Sommertagen würde man ihnen sagen, daß Gott in all dem Glanz der Erde und des Himmels ist. Ja, und man würde ihnen auch so gerne kleine Jäckchen und Hemdchen nähen, und sich an jedem Wort freuen, das sie sprechen lernten.
Nun, bald heule ich vor Rührung, ermunterte sich die Nachdenkliche und griff wieder zu ihren Kassenlisten.
»Klein, Alois, Streckenhilfswärter, 0,5 Antipyrin.«
»Herzener, Monika, Stationsdienerskind, Kalomel 0,2, Saccharium album 10nbsp;g«, schrieb sie.
Wieder schlug die Klingel an. Julie sah, sie besaß einen Tintenfinger, ging ans Waschgestell, rieb mit Bimsstein, steckte sich den tiefen Haarknoten fester.
Dann war sie an der Haustür. »Ein Rezept«, sagte unsicher eine männliche Stimme.
Sie wußte sofort Bescheid, lächelte, dachte, ein Rezept erfordert zehn bis zwanzig Minuten. Und ich bin im Dienst. Also – ein Schutz.
Sie öffnete und war weitaus weniger verlegen, als der Kapellmeister.
Er drehte den Hut in der Hand und stotterte: »Es ist gewiß sehr unbescheiden, doch gottlob, Sie wachen.«
Munter erwiderte sie: »Es handelt sich also um ein Schlafpulver? Nun, das werden wir rasch haben.«
Er stand da in dem hübschen Anzug vom Nachmittag, war äußerst befangen und behauptete, seine Schwester schliefe seit ein paar Tagen gar nicht. Da sei er jetzt mal zum Arzt gegangen und hätte es für sich aufschreiben lassen, was da stünde.
Julie nahm sozusagen eine Amtsmiene an, las die einfache Verordnung von einigen Pulvern zu ein halb Gramm Medinal und schickte sich an, die winzigen Quantitäten und Zehntelgewichte auf einer kleinen Waage, deren Hornschalen in grünen Seidenschnüren hingen, zu balancieren.
Sie hörte dabei ruhig den vielmals wiederholten Entschuldigungen des Kapellmeisters zu, ließ sich Zeit zu ihrer Arbeit, machte sie wohl auch zierlicher als sonst. Menard hatte seine Fernbrille abgenommen, in seinen hellen Augen lag etwas wie Andacht und Schwärmerei.
Ob er nun etwas fragt, dachte sie, wandte sich lächelnd ab und schrieb in Umständlichkeit Namen und Gebrauch auf eine Schiebeschachtel.
»Wie Sie das alles können«, brachte der Kapellmeister hervor – und Julie kam ein Mitleid. Sie fühlte, man mußte ihm helfen.
»Also, ich wünsche den besten Schlaf, die Pulver helfen sicher. Und sagen Sie Ihrer Schwester viele, viele Grüße.«
»Danke herzlich, und was kostet es denn?«
Ja so, es kostete auch etwas. Sie wäre fast eine ungetreue Haushälterin des Apothekers geworden. Aber sie lachte. »Gehen Sie nur rasch nach Hause, ich lege es aus. Auf Schlafpulver wartet man nicht gerne.«
Plötzlich kam Menard Mut. Er steckte die Schachtel ein und sagte: »Das ist ein Souvenir und kommt in eine Schublade zu den Souvenirs aus Zeiten, wo man so sprach. Ich hielt es den Abend nicht mehr aus, Julie. Das wissen Sie auch. Ich habe mich überschätzt. Ich dachte, ich könnte lange warten. Aber jetzt laufe ich jede Nacht den Main entlang und höre auf das Rauschen. Und denke an Sie.«
Er umschritt den Apothekentisch, nahm Julies Hände, küßte sie und sagte leise: »Schenken Sie mir doch ein gutes Wort. Ich hab' Sie schon so lange lieb. Mögen Sie es nicht mit mir versuchen? Wenn ich Ihnen nicht das bringen kann, was Sie sich von der Ehe denken, dann verlassen Sie mich. Ich gebe meine Stelle am Dom daran, wenn Sie nur eine Ziviltrauung wollen.«
Ihr kam ein Lachen. Was für ein kleiner Junge enthüllte sich da. »Wenn ich heirate, geschieht es nicht auf Widerruf.«
Er strahlte sie an. »Sie mögen also wirklich?«
Wieder überkam sie eine neue, helle Fröhlichkeit.
»Aber ich kann mich doch nicht hier, unter lauter Giften und Drogen, als ehrenfeste Nachtwächterin einer Apotheke verloben!«
»Warum nicht«, fragte er rasch, hatte den Arm um ihre Schulter, fühlte, daß sie ein wenig zitterte, und suchte ihren Mund. Sie wehrte sich nicht. Und das Gefühl, hier ist ein Mensch, der ganz zu dir gehört, erfüllte sie mit einem Strom von Wärme und Freude.
»Du hast einen schönen Namen«, sagte sie, als er wieder zum Sprechen kam. Er nahm es als Freundlichkeit, was bei ihr der Beschluß war, diesem Namen anzugehören, diesen Namen zu verteidigen gegen allen Familienaufstand.
Der gute Kapellmeister wollte sich nicht trennen, und sie mußte ihn endlich erinnern, daß sie hier in Amt und Pflicht war, unberechtigt zu jeder Privatangelegenheit.
Sie hörte noch auf seine verklingenden Schritte. Dann ging sie in das Jourzimmer zurück. Aber nicht zu den Listen. Die mochte morgen vollenden, wer da wollte. Sie legte sich auf die Chaiselongue, breitete die Decke über und dachte: jetzt geschehe, was da will, ich brauche niemals ein zugkräftiges Allheilmittel zu ersinnen, ich brauche nicht Großmamas Reserve für den Grafen Worms darzustellen, ich werde Frau Julie Menard, Gott helfe mir, Amen!« – – –
Früh um sechs, als sie schon straßenfertig auf die Ablösung wartete, klang leise die Klingel an, und durch das Schiebefenster neben der Haustür wurde ein Rosenstrauß geschoben. Und eine frohe Stimme fragte:
»Bist du noch gleicher Absicht?«
»Ja«, sagte sie munter, »und wenn du willst, triffst du mich nachmittags im Hofgarten auf der Terrasse. So gegen sechs Uhr, ja.« – – –
»Du bist aber munter nach deiner Nachtwache«, sagte Gudrune. Sie war noch um das Schließen von Koffern bemüht, sah verschlafen aus.
»Unser Fest war gottvoll, und der Graf mit der unglücklichen Liebe benahm sich für Großmamas Augen sehr interessiert. Aber du wirst das selbst hören.«
Julie setzte sich auf einen Kofferdeckel, betrachtete ihre Base in unverhehlter Neugier und sagte unvermittelt: »Du bist Großmamas ganzer Stolz. Du bist vorbestimmt für die große Partie. Du bist irritiert von dem Arrangement mit dem Grafen. Gehst du fort, um zu heiraten?«
Gudrune erblaßte. »Wie kommst du auf die Idee?«
»Weil der Herr, den du als Kaplan gemalt hast, so sehr schön ist.«
Gudrune von Höchheim nahm eine undurchdringliche Miene an. Wäre ich doch fort, dachte sie und schwieg.
»Ich komme auf die Idee«, fuhr Julie unerschütterlich fort, »weil man so oft von einer Duplizität der Fälle hört. Und weil ich gewisse Dinge an dir erst seit einigen Tagen verstehe. Wir gehen also wohl beide einem Familienkampf entgegen.«
»Ich nicht«, antwortete Gudrune kühl, besann sich aber, strich über Julies Haar, lächelte: »Du bist aufgewacht? Es geschehen Wunder. Wer hat dich denn zu sich gerufen?«
Julie kam ein Gefühl von Stolz. Sie nannte den Namen des Kapellmeisters, ließ sich beglückwünschen.
Gudrune sah jäh eine Bundesgenossin.
»Sieh zu«, bat sie, »daß die Familie nichts hört. Ich will verheiratet wiederkommen. Ich mag keine Szenen und Streite. Ich weiß, was ich tue.«
Sie kamen nun doch in eifriges Sprechen, fühlten sich verwandt, schwesterlich nahe.
Julie wurde von Bewunderung erfüllt.
»Es paßt zu dir, selbst zu handeln, Gudrune. Ich werde Großmama in sanfter Festigkeit zu ihrer Einwilligung bringen. Und wenn ich auch dir im Range des Höchheimschen Familienstandes nicht gleichkomme, so hat sich doch über meine bürgerliche Verlobung die Großmutter dann schon ein wenig gefaßt für die Nachricht von deiner Heirat.«
Gudrune schlang den Arm um ihre Base, küßte sie und sagte in leiser Ironie: »Und es gibt doch noch Julius für die Rolle eines Prinzessinnengemahls.«