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Gudrune von Höchheim und Dr. Magnus Frank traten aus dem Rathaus des Marktfleckens Kloster Heilsbronn. Sie hatten ihr Aufgebot bestellt und kamen sich nun als der Gegenstand allgemeinen Interesses vor. Professor Holtzendorff, der sie begleitet und mit dem Bürgermeister bekannt gemacht hatte, zündete sich auf der Straße seine Pfeife an und sagte: »Heute wird noch gebummelt. Morgen geht es an die Arbeit. Alsdann, jetzt schaut mit mir die herrliche Münsterkirche an.«
Sie lachten. Der gute Professor nannte es bummeln, wenn man Motive suchte oder Künstlerstätten besuchte.
Die Münsterkirche von Kloster Heilsbronn ist gleich den Domen von Speyer und Naumburg ein frühromanischer Bau, an dem dann die Stilarten von Jahrhunderten weiter arbeiteten. Niedrig, in Kreuzform gestaltet, überragt sie nur mit einem winzigen gotischen Glockentürmchen die alten Bäume der Vorhöfe. Sie traten ein und erschraken zunächst vor der Kolossalwirkung der Marmorsarkophage, auf die sie stießen.
»Das sind Hohenzollernsärge«, erklärte der Professor. »Die ersten Hohenzollern, die von Franken aus nach der Mark gingen, wollten zum letzten Schlaf in die Heimat zurück. Friedrich I., Albrecht Achilles kamen wieder zu ihren Vorfahren. Sonderbar genug; der eine Sarkophag trägt schon die Preußenfarben: schwarzes Marmorgehäuse, weiße Adler. Die schöne Else, die bayerische Prinzeß und erste Hohenzollernkurfürstin von Brandenburg, liegt auch hier begraben. Da unten in der Gruft. Nun, fürchtet euch nicht, die Toten sind lange tot. Sind lange in ihren Himmeln, auch die Schwanenritter, deren Wappentafeln und Totenschilde ihr hier überall an den Wänden seht. Kommt, das könnt ihr alles noch in aller Ruhe betrachten.«
Er führte sie ins Mittelschiff, an die Stelle des Zusammentreffens der kreuzförmig gestalteten Flügel. Und sie blickten auf zu einem schwebenden Kruzifix von seltsamster Wirkung.
»Ja, das schaut euch nur an. Dies ist kein sanfter Christus. Dies ist ein Opfernder, der verachtet. Mit Gesicht und Gestalt drückt er aus, daß er das Böse und die eigene Qual verabscheut. Ich kenne kein eindrucksvolleres Christusbild. Hier sieht man einmal wahrhaftig ausgedrückt: wer die Sünde der Welt zu tragen hatte, mußte es noch lernen, den Abscheu vor all der Niedertracht und Gemeinheit, die die Welt regieren, hinunterzuwürgen.«
Sie standen betroffen.
»Ja, ja, liebe Kinder«, fuhr Holtzendorff fort, »da seht ihr das finstere Ereignis in seinem tragischen Höhepunkt. Sich teilhaftig fühlen an den Sünden der Welt, oder, wie hier, die Sünden der Welt auf sich nehmen, das heißt nicht nur leiden und sterben. Es bedeutet auch die höchste Form des Zornes, nicht nur des Mitleids. Veit Stoß hat in diesem Kruzifix das tragischste Bild der einsamen Tragödie gegeben.«
Er zog die beiden fort. »Über diesen Christus werdet ihr noch lange nachzudenken haben. Wir sind ja nun jeden Tag in der Kirchenhalle. Es gibt viel zu sehen: das Heilsbrünnlein in der Tiefe, die Riemenschneiderschen Altäre, Bilder von Albrecht Dürer, von Wohlgemuth, und die ganze schöne Gliederung des Baues. Ich zeige euch schnell noch das Sakramenthaus von Adam Krafft.«
Er führte sie zu einem Pfeiler, an dem in wundervoller Gotik das Sakramentshaus aufragte, seine Kreuzblume demütig neigend.
»Ja, ja, dies macht ein Hörnchen, man findet die Form selten. Sie drückt wohl eine besondere Himmelsgnade aus. Ihr wundert euch sicher, daß dieses Steinfiligran so neu wirkt. Es wurde in einem Krieg ummauert, um es zu schützen. Ich weiß nicht mehr, wer es vor nicht allzu langer Zeit entdeckte und wieder zum Licht brachte.«
»Vielleicht können wir hier auch noch etwas entdecken?« fragte Gudrune angeregt.
Holtzendorff lächelte. »Laßt nur. Ihr werdet jetzt nicht in den Grüften herumklettern wollen. Genießt noch euren kurzen Brautstand. Ich hab' mir was Faires ausgedacht! Hier gibt es immer mal einen Stiftungsgottesdienst. Das ist so, wenn man für eine Kirche früher ein paar hundert Gulden oder Taler stiftete, dann werden die ärmlichen Zinsen jedes Jahr verteilt, der Pastor bekommt auch was davon und muß eine kleine Predigt halten. Ich mache euch reichen Erben in ähnlicher Form mein Hochzeitsgeschenk. Ich gebe etwas für die Renovation dieser mir sehr lieben Kirche, der Pastor hält dann eine Rede und gedenkt der Stifter, als die ihr geltet, und wünscht eurer Ehe den Segen des Himmels. Später, wenn ihr müßt, könnt ihr immer noch im Dom von Würzburg eine christkatholische, wirkliche Trauung abhalten.«
Gudrune errötete. Ihre Reise war ihr bisher wie ein Abenteuer vorgekommen, nun fühlte sie plötzlich, es wurde Ernst, Lebensernst.
Holtzendorff führte sie durch das Längsschiff in seinen letzten Ausgangspunkt, einen kapellenartigen, fast schmucklosen Raum.
Er wies auf mächtige, unbeschriftete Steinplatten des Bodens.
»Da wundert ihr euch«, sagte er behaglich. »Auf diesen Steinen sind nur so einfache Zeilen, fast so, wie wenn man mit dem Spazierstock Linien in den Sand ritzt. Ja, so mit ein paar Strichen haben die ersten Adeligen ihre Wappen angedeutet. Einen Querbalken, einen Schrägbalken, einen senkrechten Balken, oder einen geteilten Schild. Ihr findet solche Wappen noch bei den Schwanenrittertafeln, noch heute bei uralten Familien. Also hier, wo wir stehen, haben die Zisterzienser-Mönche heimgekehrte und dann verstorbene Kreuzfahrer beigesetzt. Also den Uradel der Landschaft, die Crailsheim, die Seckendorff und wie sie alle heißen. Und da will ich nun malen. Ich hab' einen hohen Auftrag auf eine rührende Anekdote. Macht nichts! Es ist nicht unreizvoll, wenn koloristische Valeurs auch noch etwas rein Menschliches oder Allzumenschliches ausdrücken.
Hier vor einer Steinplatte soll ein junger Kreuzfahrer, der heimkehrt, seinen toten Bruder oder Freund betrauern. Sein Gesicht sagt, daß er um ein junges Leben trauert. Und ein adliges Mädchen, das da kniet, deutet das gleiche an. Und dann wird so eine Atmosphäre sein, wie zu Beginn von Shakespeares Richard III. Die beiden fühlen nicht bloß Trauer, etwas Neues flackert auf. Also: Tod und Liebe, die einzig interessanten Dinge des Lebens. Ich hab' aber noch eine Frau dazu, meine Frau natürlich, die drückt eine erhabene Eifersucht aus: es ist die Mutter des Toten, die abseits steht.«
Sie durchblickten den Raum, waren von seiner hellen und ungeheuren Einsamkeit bewegt, und Gudrune fühlte die Möglichkeiten einer verklärten, lichten Farbengebung.
»Kostüm hab' ich auch. Einen alten Kreuzfahrerhelm, die glatt anliegende Kappe mit zwei Hörnchen, einen echten Kettenpanzer, ein echtes Kreuzfahrerschwert. Alles aus einem fürstlichen Waffenschloß. Wir werden etwas Schönes herausbringen.«
»Muß ich immerfort knien?« fragte Gudrune.
»Das nun nicht. Aber doch genug, um alle Vergehen gegen die hochgeborene Großmutter abzubitten –«
Sie fuhren am Nachmittag hinaus in das stille Land. »Ich muß Natur sehen«, forderte der Professor. »Hier ist alles wie in Wäldern begraben, in Wäldern, die noch von der letzten Markgrafenzeit her so schöne Ränder, Lisières sagte man früher, gegen die Straßen und die Waldwiesen werfen. Wir machen ein Picknick, wo es euch gefällt. Und ich plausche ein wenig.«
Sie liebten es, was er plauschen nannte.
Sie saßen auf einer Waldwiese, die ein paar Eichen bestanden, uralte, mächtige Bäume. Von fern sah man Zypressen an der Lisière, Zypressen, die sich der Form der Kiefer angepaßt hatten. Der Platz war eine sogenannte Hut mit niedriger Grasnarbe. Wie violette Kissen lagen Siedlungen des Thymians dazwischen. Über den unendlich scheinenden Wäldern kreisten in stillem, vornehmem Flug ein paar Raubvögel.
Man hätte hier schweigen mögen. Denn es schien, als wären die Zeiten erloschen, das Weltgetriebe versunken, als sei hier ein Urland mit all seinen Geheimnissen.
Doch der Duft von Shagtabak brachte ein anderes Gefühl, regte ein wenig auf, führte zu andern Gedanken.
»Mir fällt ein, wie alt ich bin«, sagte der Professor, zog die Stirn kraus, nahm die Brille ab. Gudrune rührte dies ein wenig, sie fühlte, durch ein Unnennbares veranlaßt, blickte er in die eigene Vergangenheit.
»Kinder, ihr seid zu wenig gereist. Oh, ich zweifle nicht an eurer Fernensehnsucht. Ihr habt sie in Phantastereien, in Büchern, in Plänen ausleben müssen. Ich kam als junger Bursch in die Normandie, in die Bretagne. Sah den Atlantik. Oh, ihr müßt erleben, was das ist. Ein unermeßlicher Stolz, eine unermeßliche Demut! Ich habe Nächte verbracht unter den Dolmen und Menhirs der Kelten, auf dem warmen Boden der Bretagne. Ich hab' in der Kirche gestanden, wo der Eroberer und seine Ritter zum letztenmal beteten, ehe sie, die Normannen, sich einschifften, Britannien zu bezwingen. Schaut, das alles gibt es. Man muß nicht immer in Würzburg wohnen. Ihr habt doch das große Reisevorbild in eurem Landsmann Max Dauthendey. Er hat vielleicht kein großes Kunstwerk hinterlassen, außer seinen Memoiren. Aber sie sind ersten Ranges an Plastik und Wahrheit. Und was sein letztes Lebensgut war, das Verbundensein mit der Menschheit, hätte er kaum gelernt, wäre er ewig in Würzburg geblieben.«
»Meister«, warf Gudrune ein, »die Menschheit lieben wir in ihren Höhepunkten. Zum Beispiel, uns Malern zerschmilzt der Haß gegen Frankreich, wenn wir an Rodin denken oder an die großen Farben- und Lichtkünstler des neunzehnten Jahrhunderts und an ihre Leiden.«
Holtzendorff lächelte. »Schon recht, liebe Gudrune. Immer schön weiblich persönlich. Wissen Sie, daß ich Vincent van Gogh noch gekannt habe? Und Zola? Nein? Da sehe ich, daß ich nicht alles herausrede. Wissen Sie, ich hatte als junger Bursch die unfaßlich schöne Geschichte von Dr. Pascal gelesen, von dem guten, reinen, kindlichen, alten Mann, in dem ein junges Mädchen seinen Abgott sah. Sie lebten in Plassans, und ich dachte, der Ort sei nirgends zu finden. Und dann sah ich Blätter von van Gogh, und fühlte auf einmal, auf ihnen ist dieselbe Sonne, die über Plassans leuchtet, dieses Licht des Südens, das verflimmernde, unbeschreibliche, unvergeßliche Licht aus der Landschaft, durch die Pascal und Clothilde gingen.
Ich war erst achtzehn Jahre alt, in Geographie und auch in manchem sonst noch schwach bestellt. Schüchtern fragte ich einmal jemand, ob es den Ort Plassans wirklich gäbe! Und dann reiste ich hin. Es war zwei Jahre vor dem Tode Vincent van Goghs – ich sah ihn von ferne malen, die unermüdliche Pfeife im Mund, und ich war glücklich, in die gleiche Sonne, in die gleiche Landschaft des Südens zu starren, wie er. Ich habe ihn auch gesprochen –«
Der Professor brach ab, entleerte seine Pfeife, füllte sie neu, rauchte schweigend.
»Ach, Kinder«, hob er nach einer Weile wieder an, »macht euch die Jugend reich. Ihr müßt das Jahr in dem Erbhaus absitzen, so will es das Geschick. Aber dann geht auf Reisen. Und sei es zu Fuß, wenn die Mittel mal knapp werden. Man muß nicht nur dem Geist, sondern auch den Augen neue Horizonte geben. Was ihr hier in der Landschaft seht, habt ihr schon im Faust gelesen:
»Wenn über schroffen Fichtenhöhen
Der Adler ausgebreitet schwebt
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat strebt.« – – –
Auf dem Heimweg schloß sich Gudrune an Frau Holtzendorff an. Die kühne Unternehmung dieser heimlichen Hochzeit war doch oft recht bedrückend! Und Gudrune blieb immer in Bangen, daß man in Würzburg durch irgendeinen Zufall von dem Aufgebot erführe. Sie zitterte vor jeder Post und spielte nur äußerlich die Sorglose.
Frau Holtzendorff, eine noch jugendliche Blondine, schob ihren Arm durch den Gudrunes und lächelte: »Wenn alles in Ordnung ist, dankt es Ihnen die Großmutter, daß Sie ihr Stellungnahme oder Protest ersparten. Es handelt sich ja um Ihr Geschick, nicht um das der alten Baronin. Nun, und wenn es ganz schlimm würde, steht Ihnen mein Mann schon bei. Zur Trauung bitten Sie den alter Vater von Magnus, ihn zu unterhalten, übernehmen dann wir!«
Gudrune fühlte sich beruhigt.
Andern Tags ging es an die Arbeit. Der Professor hatte eine ungeheure Leinwand aufstellen lassen, für deren Umfang man sich freute, daß Kirchen außer Türen auch Portale besitzen. Die Figuren sollten Lebensgröße haben. Nun ging es ans Gruppieren, und dann in tagelanger Arbeit an die Zeichnung. Es war aufreibend und anstrengend, jeder Tagesschluß brachte eine volle Ermüdung. Darüber vergaß das liebende Paar ein wenig die Sorgen, ob in Würzburg ihr Geheimnis nicht zu den Ohren der Großmutter dränge und eine Protestnote einliefe.
Nach anderthalb Wochen kam ein Brief von Julie. »Ich spare Einzelheiten aufs Mündliche«, schrieb sie, »und teile nur mit: Kilian Menard hat gesiegt! Erstens, weil ich doch weder besonders schön noch dekorativ bin, zweitens, weil vorgenannter Kilian (Angstschweiße brachen ihm beim großmütterlichen Examen aus) in seiner Not, Referenzen zu geben, herauspreßte, daß er als Hochschüler in München oft ins Palais zu einer alten Prinzessin und auch zu einer alten Herzogin eingeladen war, ihnen vorzuspielen, und nachher Tee mit ihnen trank, wobei noch jüngere Hoheiten ihre Gegenwart schenkten. (Gott segne das Haus Wittelsbach!) Drittens: unsere Großmama entdeckte auch ihr Herz, und wäre es nicht gegen Deine Ordre gewesen, so hätte ich Deiner Sache gleich mit Bahn gebrochen. Kilian stellte der Großmutter vor, daß wir als Verlobte nicht in das Erbhaus ziehen könnten und verlangt schnellste Hochzeit. Daher windet man mir – verzeih, ich habe immer mich etwas altmodisch ausgedrückt – am 10. September den Jungfernkranz mit veilchenblauer Seide. En petit comité, sagt unsere Ahnfrau, und in der Dorfkirche von Veitshöchheim. Welch eine Wendung durch Gottes Fügung! Ich glaube, sehr wirkungsvoll war auch, daß Kilian auf jede Erbschaft von der Großmutter zugunsten von Walters Welterziehung verzichtete! Die Kämpfe und Tragödien der letzten Woche wirst Du mündlich hören, wenn Frau Dr. Frank und Frau Kilian Menard einander wiedersehen. Ich darf kaum hoffen, daß Du zu meiner Hochzeit kommst? Vielleicht, Liebste, heiraten wir am gleichen Tage! – – Über eines sei noch beruhigt, infolge des Einzugs ins Erbhaus braucht vorerst keine Aussteuer für mich besorgt zu werden. Ich tändle nur umher und kaufe mir Persönliches. Großmama bleibt somit glücklicherweise Zeit, mit der ausgezeichneten Frau von Arnim Briefe zu tauschen und Personal für sie zu dingen, welchem Tun Großmama eine enorme Bedeutung beilegt – –«
Gudrune las diesen Brief gegen Abend auf der Dorfstraße, wo ihn ein freundlicher Landbote überreicht hatte. Späte Erntewagen schwankten herbei, Hühner liefen verscheucht ihren Ställen zu, Hunde kläfften und bellten.
Gudrune lachte, war froh, fühlte sich als Egoistin, denn sie dachte, wie erkläre ich der Großmutter mein Nichtkommen zu der Hochzeit?
Und dann fiel ihr ein, wenn Menards so rasch die Formalität des Aufgebots erreichen konnten, würde dann ihre eigene Angelegenheit nicht schon früher zum guten Schluß kommen?
Sie lief in den Gasthof zurück, wo der arme Kreuzfahrer den Kettenpanzer mit einem hellen Anzug mühselig vertauschte.
Der schöne Magnus rannte zum Bürgermeister. Es war Amtsstunde, und er mußte ein gutes Weilchen warten. Gudrune wandelte durch die Dorfstraße. Sie kannte hier nun alles schon sehr genau. Über Beziehungen zu den Katzen, Hunden, Kühen, Rossen und Hühnern war sie vorgedrungen zu einiger Fühlung mit ihren Besitzern. Sie wurde gegrüßt, wechselte ab und an ein paar Worte und träumte sich in ferne Dörfer ferner Länder, wo sie malen würde, während Magnus vielleicht Chroniken und Kirchenbücher studierte. Es war ihr aus vielen Gesprächen und Erinnerungen Professor Holtzendorffs klargeworden, daß man, um ein Kulturhistoriker größern Ranges zu werden, nicht nur seine Heimat verstehen darf, daß man fremde Länder und Völker in ihrer Eigenart und ihren Notwendigkeiten an ihren Lebensplätzen kennenlernen muß.
Endlich kam Magnus zurück. Er eilte im Schritt eines Läufers herbei, war erhitzt, lachte und rief: »Wenn kein Protest aus Würzburg einläuft, können wir am 8. September hier zivilgetraut werden.«
»In zwölf Tagen? Weiß der Himmel, in zwölf Tagen? Da können wir ja zu der Hochzeit fahren? Aber das Bild –?«
»Unser guter Professor muß uns einen kleinen Urlaub geben. Solange kann er ja die Hinter- und Vordergründe und seine Frau malen.«
Der Abendschein beglänzte das Land. Sie gingen die Dorfstraße entlang, an letzten Gehöften vorüber, bis in die grillendurchtönte Stille der Wiesen.
»Und wenn Protest aus Würzburg kommt?« fragte Gudrune.
»Wir haben doch Glück, wie kannst du das vergessen, Liebste.«
Und sie schritten miteinander durch den großen Frieden des Abends. – – –
Julius von Höchheim umschiffte mit seinem Bruder den Genfer See. Er war froh, den Hochzeitsvorbereitungen seiner Schwester entronnen zu sein und dem täglichen Verkehr mit Menards. Er dachte nicht gern an diese aufregenden Tage. Nach Landessitte mußte er wohl dem neuen Schwager das Du anbieten. Er hatte gezögert, bis Julie in ihrer großen Harmlosigkeit es anregte, die Schwägerin miteinbeziehend. Aus dem Du jenes »sorglosen Tages« war nun ein konventionelles Wort erstanden; mühsam zu gebrauchen – aber schließlich, den Umständen nach, ganz gut. Die Vertraulichkeit eines verliebten Tages ging in ein nichtssagendes, verwandtschaftliches Gebahren über, vielleicht war dies die beste Form. Man würde einander nun oft in größerem Kreis sehen, man hatte dann von dem neuen Paar zu sprechen, und was nicht mehr sein konnte, verebbte – lag jählings in weiter Vergangenheit.
Julius von Höchheim wußte – nicht ganz ohne Leidgefühl –, daß er zu Luise unmißverständlich gewesen war. An eine Heirat hätte er nur denken können, wenn er durch die Erbschaft reich geworden wäre, das lag klar. Also mußte man die Nähe, die gewesen, wieder auslöschen.
Er hatte auch sonst Mühseliges gehabt mit dieser Verlobung. Die Großmutter sträubte sich, für ihre Enkelin in eine bürgerliche Heirat zu willigen. Es kostete Mühe, ihr klarzumachen, was heute für eine junge Dame ohne nennenswertes Vermögen ein Freier in geachteter und gesicherter Lebensstellung bedeutet. Gegen Menards Beruf hatte sie Ernstliches nicht einzuwenden gehabt, war doch auch Gudrune Künstlerin, gab es doch bei Kilian Menard nicht unbegründete Aussicht, daß sein Name, sein Ansehen im Steigen war.
Julius saß auf der Terrasse des »Hotels Byron« und schrieb eine Ansichtskarte. Er verfehlte nicht, von jeder berühmten Stätte, die er betrat, Frau von Arnim einen Gruß zu senden. Er besaß auch schon Notizen zu einem Reisebrief an sie. Die Sätze wurden gefeilt und erwogen. Und dann mußte der Brief auf den Bogen des elegantesten Hotels geschrieben werden.
Großmütterliche Erziehung begann zu wirken. Einer weitgereisten, reichen Dame gegenüber hatte es wenig Sinn, durchblicken zu lassen, daß man auf kleine Mittel gestellt war. Julius gehörte zu der Art Menschen, die viel auf den Schein halten und immer versichern, daß es ihnen ausgezeichnet geht. Woher sollte Frau von Arnim wissen, daß er, um sich als Privatdozent durchsetzen zu können, halbe Nächte lang immer wieder populäre Artikel schrieb, zu jedem Jubiläum eines bildenden Künstlers die Begleitworte für eine Anzahl von Zeitungen verfaßte, unter Pseudonymen oberflächliche Monographien herausgab und dergleichen mehr. Derartige Krämerarbeit brauchte eine zukünftige, reiche Frau ja nie zu erfahren, denn es war selbstverständlich, daß sie Kapital in die Ehe brachte.
Er starrte nachdenklich auf das grüne Wasser der Rhone, wie es, seine Farbe wahrend, hinter schilfigem Ufer in den blauen See eintrat.
Auf der ganzen Reise, die doch zuweilen Stunden in eleganten Restaurants gebracht, und die, wie jetzt, durch einen kurzen Aufenthalt in einem Hotel von europäischem Rang bekrönt werden sollte, hatte er keine Dame gesehen, die so vornehm wirkte wie Frau von Arnim.
Er verstand Großmamas Wahlklugheit, begriff, daß eine Gattin mit den Eigenschaften und Verbindungen Frau von Arnims außerordentlich vorteilhaft sein konnte. Und er mußte sich gestehen, sie reizte ihn auch. Wenn er nun durch den schon lange bedachten Brief gewissermaßen den Wunsch nach Annäherung kundgab, mußte er sich durchaus nicht für einen kühlen Streber halten.
In Luise Menard hatte ihn eine gewisse Geistigkeit oder vielleicht das Gefühl gleicher Sehnsucht berührt. Man kann viel Erleben in einen Tag pressen –, und man kann Abschied nehmen, ehe eine Nähe zum schmerzlichen Wunsch wird.
Um Frau von Arnim würde ein großes Aufgebot sein müssen. Sie war unabhängig, war Witwe, hatte ohne Zweifel schon oft Gelegenheit zu einer Wiedervermählung gehabt. Da hieß es, sich in vorteilhaftem Licht zeigen.
Mit der Menardschen Mariage, spöttelte er, war nun nicht gerade ein großer Glanz über die Familie gekommen. Besser, die Heirat fand jetzt in der Stille statt, als später in Form eines großen Familienfestes.
Er lächelte vor sich hin und schrieb in sein Notizbuch zu den für Frau von Arnim erdachten Sätzen eine kleine Bemerkung über die freimütige Wahl seiner Schwester, die ihrer verinnerlichten und dem Künstlerischen zugeneigten Natur entspräche. Aufblickend rief er dem Bruder Walter leise, akzentuiert ein scharfes Wort zu. Der Junge rekelte sich, eine Hand in der Tasche, auf einem Stuhl und sprach allzu freundlich mit einem Kellner. –
Frau von Arnims kleine Tochter spielte mit bunten und von einem ergebenen Höchheim unterzeichneten Ansichtskarten und fragte täglich nach der neuen, die ihr bedingungslos überlassen wurde. Als dann Höchheims Brief kam, mußte Frau von Arnim sich erst ein wenig besinnen, welcher von den beiden Höchheims denn wohl Julius hieß, der Würzburger oder der Pariser.
Dann schalt sie sich selbst: wer anders sollte ihr schreiben, als der Ansichtskartenspender, der Enkel der ausgezeichneten Baronin. Kamen doch auch von ihr immer erneute Zuschriften. Sie galten realen Dingen, der Besorgung von ortsansässigem Personal, und waren Meisterwerke in der Kunst, das Triviale auf anmutige Weise höchst gebildeten Betrachtungen einzufügen. Frau von Arnim antwortete stets postwendend nach guter Sitte. Viel wichtiger als diese Angelegenheit aber war ihr, ob sie ihre kleine Tochter schon jetzt mit nach Würzburg nehmen sollte. Dem Zureden ihrer Verwandten folgend, entschloß sie sich dann, die Kleine vorerst noch bei dem Bruder zu lassen. Sie dachte, die Rolle einer »Pensionsinhaberin« will erst gelernt sein, es wird zunächst allerlei Disharmonien geben, die Kinder sollen den neuen Wohnplatz erst sehen, wenn ich alles in ein gutes Gleis gebracht habe.
Sie begann, die ganze Angelegenheit als eine Anregung zu empfinden, und freute sich auf das neue Feld der Betätigung.
Julie von Höchheim und Kilian Menard verzichteten auf eine Polterabendfeier. Sie waren sich stillschweigend einig, daß es eine gewisse Rücksicht gegen die alte Baronin sei, davon abzusehen. Menard war feinfühlig genug, zu wissen, daß seiner Schwester die Gegenwart von Julius von Höchheim noch nicht ganz leicht fiel. Er hatte ein paar Worte mit ihr darüber gesprochen. Sie war ruhig geblieben. Sie versicherte sogar, die Wochen seit jenem kleinen Erlebnis genügten, es in die Vergangenheit zu rücken. Herrn von Höchheim solle es nach ihrem Willen gut gehen, und ihn fernerhin bei dem Zusammensein im Erbhaus zu sehen, bereite ihr keine Erregungen.
Sie teilte dem Bruder mit, daß sie bei ihrer Schulbehörde um ein Jahr Urlaub eingekommen war. Er möge zu niemand davon sprechen, aber sie wolle diese Zeitspanne verwenden, um eine literarische Arbeit zu fördern. Gelänge ihr etwas Gutes, so wolle sie weiter sehen. Gelänge es nicht, so könnte sie im Gefühl, sich immerhin durch freie Arbeit und freie Studien bereichert zu haben, in den alten Wirkungskreis zurückkehren. Sie war freundlich tätig, die Garderobe und Wäsche ihres Bruders durchzuprüfen, ihm einige elegante Kleinigkeiten zu besorgen und in der Wahl eines Schmuckes für seine Verlobte behilflich zu sein. Im Hause konnte vorerst alles bleiben wie bisher. Denn man hatte ja doch ein Jahr bei den Universalerben zu wohnen, um in den Besitz des kleinen Kapitals zu gelangen. Die Haushaltung ruhte, und Luise besaß Erspartes und etwas Geld von den Eltern her, um ihre Nebenausgaben decken zu können.
Das junge Paar gedachte sofort nach der Trauung und einem kleinen Essen draußen im Gasthof eine kurze Reise anzutreten, von der sie dann zu Frau von Arnim zurückkommen wollten. Menard lachte dazu: »Julie und ich lernen unterwegs das Pensionsleben.«
Statt der Polterabendfeier wollten sie zusammen mit einem Mietauto ins Freie fahren, dort zu Abend essen und dann noch eine Stunde bei der Großmutter verbringen. Menard bat einen Freund dazu, der auch sein Trauzeuge sein sollte, einen Kollegen von der Musikschule. Juliens Brüder mögen der Großmutter über die Stunden hinweghelfen, dachte er.
So war nun alles schön und einfach geordnet. Juliens Brüder, die am Tag vor der Hochzeit von ihrer Schweizerreise eintrafen, hatten aber noch Beweglichkeit im Blute und fanden es schicklich, doch für den Polterabend einige kleine Vorbereitungen zu machen. Sie durchstreiften die Stadt und ließen die Großmutter allein. Die alte Dame hatte sich gefaßt. Wenn sie ehrlich gegen sich war, mußte sie sagen, daß für Julie eine große Heirat nicht zu erwarten gewesen. Sie besaß nicht den Ehrgeiz, nicht das Temperament, nicht die Weltklugheit, die dazu führen können.
Die Baronin saß in ihrem alten Sofa, war ein wenig gerührt und erhob ihre Gedanken in die Länder der Hoffnung: Julius war vorbestimmt, dem Hause Höchheim wieder Glanz zu bringen, und Gudrune sollte ein hohes Lebensziel erreichen.
Es kam, daß die alte Dame ein wenig einnickte. Soviel Blumen dufteten im Zimmer. So weich und verklärt war der noch helle Septemberspätnachmittag. Man würde nachher eine Stunde Musik hören, Sekt sollte gereicht werden, dazu etwas Kuchen und anreizende kleine belegte Brötchen. Alles war bereit. Warum also einem kleinen Schlummer wehren? – –
Gudrune hatte nicht an der Flurtür geklingelt, sondern ein altes Klopfzeichen angewendet, und so das Mädchen herbeigerufen. »Ist Frau Baronin zu Hause?« fragte sie leise, vernahm, sie wäre ganz allein in ihrem Wohnzimmer. Da bat Gudrune um Stille, öffnete für ihren Mann die Tür von Walters Schlafzimmer, tat Hut und Mantel ab und trat dann bei der Großmutter ein. Alle zurechtgelegten Reden schwanden aus ihrem Gedächtnis, als sie die alte Frau schlafend erblickte. Die Hinfälligkeit ihrer Jahre wurde deutlich, die Energien, die man sonst so stark an der Großmutter fühlte, waren ausgelöscht durch den Schlaf.
Und für Augenblicke lang dachte Gudrune: Ich bin eine Barbarin. Ich komme und werfe über eine alte Frau Schrecken und Erregung.
So stand sie ein paar Minuten wartend und fühlte dann, wie in ihrem Herzen eine große Demut aufstieg.
Sie wußte plötzlich, sie hatte hier nicht große Worte vom Recht der Jugend zu sprechen und nicht als eine strahlende Heldin aufzutreten.
Der Weg bis zu dem Sofa hin wurde ihr lang, wurde ihr schwer.
Ungewollt machte sie Geräusch mit einem Stuhl, den sie zur Seite rückte, und die alte Frau erwachte.
»Wie, ich habe doch nicht geschlafen, was ist?«
Und Gudrune tat, was sie nicht im mindesten vorgehabt hatte. Sie lief rasch auf die Großmutter zu, war zu ihren Füßen, küßte die welken Hände und sagte sehr leise:
»Ich bin es, Großmama, deine Gudrune. Ich komme, um dich um Verzeihung zu bitten.«
Die Baronin begriff nichts. Sie strich über Gudrunes schönes dunkles Haar und sagte mühsam: »Du bist doch mein Stolz. Du kannst doch nichts Ungutes getan haben?«
Da lächelte die junge Frau, lächelte und konnte es nicht hindern, daß ihr Tränen entstürzten. Und wußte dabei, nun rasch, rasch.
»Großmama – ich habe mich verheiratet.« Sie hielt zitternde Hände fest, überströmte sie mit der Kraft ihrer Jugend.
»Ich habe geheiratet, nicht weil ich ohne Haltung bin und nicht warten konnte, sondern weil ich wußte, du müßtest dich so quälen um mein Vorhaben. Ich habe einen jungen Gelehrten geheiratet, einen Bürgersohn aus dieser Stadt. – Erschrick nicht, es ist der beste, der liebste Mensch, und ich hab' ihn über alles lieb.«
Die alte Frau schien immer noch nicht zu begreifen.
Ihre Augen wurden wie blind, ihre Zunge lallte.
»Julie will morgen heiraten, ich weiß. Sie ist einfacher Art. Sie will sich versorgen. Was hat das mit dir zu tun, Gudrune?«
Gudrune fühlte sich fern. Sie hatte an einen rascheren Sieg geglaubt. Sie begann zu erzählen, zu beschwichtigen, alles klarzustellen.
Plötzlich stand die alte Baronin auf, ging weg von Gudrune. Sie suchte nach ihrer Stielbrille, fand sie, nahm sie vor die armen Augen und fixierte Gudrune.
Eine spöttische, schrille Stimme klang auf: »Gudrune von Höchheim ist eine – Bürgerin geworden? Eine – Bourgeoise?«
Gudrune war nicht als Kämpferin hier. Sie trat der erregten alten Frau näher und sagte belebt, warm: »Eine Weltbürgerin, wenn du es so nennen willst, Großmama. Ich bin Frau geworden, Großmama. Und eine sehr glückliche Frau. Erlaube doch, daß mein Mann dir die Hände küssen darf.«
Die Baronin wurde erregt, ihr Gesicht bekam einen listigen Ausdruck. »Willst du mich sehr überraschen? Bist du kindisch vor Freude? Hast du – Graf Worms – –?«
Gott führe dies zu einem guten Ende, dachte Gudrune. Sie blickte über das vertraute Zimmer hin, als erwarte sie Beistand von ihm. Und sagte in plötzlicher Eingebung: »Hast du denn in deiner großen Menschenkenntnis nicht gesehen, daß Graf Worms unter irgendeiner schweren Enttäuschung geht und mich überhaupt nicht beachtete? Selbst wenn ich freien Herzens gewesen wäre, hätten sich deine Pläne nicht erfüllen lassen!«
Die alte Frau starrte in die Luft, stand aufrecht, rang nach Fassung. Flüchtig, schattengleich, zogen die enttäuschenden Dinge ihres Lebens an ihr vorüber. Sie wußte, ich erlebe heute nicht das Schlimmste, was mich je betroffen hat, doch es sind die Jahre, in denen es nicht mehr viel zu hoffen gibt. Ihr Stolz sagte ihr, sie hatte eine Bankrotterklärung zu buchen. Ihr Streben war gegangen, den Enkelkindern Ehrgeiz einzuimpfen und vor allem das Gefühl des Familienbegriffes, des Standesgemäßen. Sie blickte ins Leere. Gedachte gleitend der auffälligen Heiraten, die in ihre Zeit gefallen waren: Erzherzöge, die ihren Rang wegen einer zweifelhaften Dame aufgaben, Prinzessinnen, die sich scheiden ließen, um eine Frau Soundso zu werden. Darüber hatte man gelächelt, gewitzelt oder schroff sein Mißfallen ausgesprochen.
Nun traf sie ein ähnliches Ereignis in ihrem Hause!
Und sie stand vor der vollzogenen Tatsache!
Und plötzlich wußte sie, vielleicht hatte sie Fehler gemacht, vielleicht war ihr Wort, daß sie die Jugend verstünde, eine Phrase gewesen.
Jedenfalls: die Zeit mit ihren veränderten Anschauungen schritt über sie hinweg.
Und sie fühlte sich zu matt und zu müde, noch zu streiten.
»Gudrune«, sagte sie nach einer langen Pause, »du weißt, was du getan hast, und daß alle Konsequenzen allein bei dir liegen. Ich habe keine Stellung zu deinen Dingen.«
Sie wurde halb weinerlich, begann zu zittern: »Aber sage mir, Gudrune, die schöne Arnim, die ist doch frei? Begreife, sie ist die gegebene Partie für Julius!«
Gudrune war es, als beträte sie rettendes Land.
»Die schöne Arnim ist so heiter und gelassen, daß sie fast kühl wirkt. Laß nur Julius sein Temperament spielen, Großmama. Julius macht sicher eine Heirat, wie du sie wünschest. Und sieh doch, als Künstlerin behalte ich ja meinen alten Namen, wenn du aber erst siehst, wie lieb und gut und schön mein kleiner Magnus ist, wirst du uns nicht mehr böse sein.«
Die alte Baronin fragte streng: »Gudrune, ging alles anständig und mit rechten Dingen zu? Du sagtest – der Mensch, den du geheiratet hast, gehört dem Kreise der Erben an? Hat er einen kleinbürgerlichen Anhang in der Stadt?«
Gudrune nahm die Hände der alten Frau: »Fasse dich, Großmama. Er hat nur einen Vater, sonst ganz abliegende Verwandte. Der Vater hat sein Geschäft – nun ja, es war eine Bäckerei – aufgegeben, ist nun Rentner und Hausbesitzer. Ein Atelier wird dort für mich gebaut. Und in einem Jahr ist mein Mann Privatdozent, wie Julius auch. Darf ich meinen großen Jungen nun rufen?« – –
Er kam unbefangen. Blond, schön, strahlend, abendlich gekleidet. Er verbeugte sich tief vor der alten Frau und sagte: »Gnädigste Baronin, Sie haben schon einem Bürgerlichen dieser Stadt verziehen, tun Sie es gütigst auch mir.«
Eine entwaffnende Frische. Die alte Dame sah in das schöne, blühende Gesicht, dachte flüchtig, es ist unwahrscheinlich, daß heute noch Leute wie ein Nibelung aussehen, und fragte: »Haben Sie gar keine Familienerinnerungen als eine – Bäckerei?«
Er lächelte. »Wir haben wohl Vorfahren mit gelehrtem Berufe. Doch das ist nicht sehr von Belang. Was aber Gudrune und mich betrifft, wir hoffen, eine gnädig gesinnte Großmutter verehren zu dürfen.«
Die alte Frau dachte jäh, diese Heirat ist besser, als wenn Gudrune eine unglückliche, unerfüllbare Liebe hätte. Und sie reichte dem guten Magnus die vornehme Hand.
Es gab kein langes Gespräch mehr, denn die Ausflügler kehrten zurück. Gudrune rief ihre Base ins Zimmer, verständigte auf dem Flur die Vettern.
Menard war durch Julie längst unterrichtet. Er wirkte ausgleichend, trat zu der Baronin und fragte, ob sie gestatte, daß er jetzt etwas Musik mache. Und er begann, während die andern sich Plätze suchten und ihre Gebärden zur Ruhe zwangen, die erdentrückten Klänge des Parsifalvorspiels.
Seine Schwester trat in eine Fensternische. Es war ein einsamer und banger Abend für sie, und sie sehnte sich heim in ihr stilles Zimmer.