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Dulce est inter maiorum versari habitacula et veterum dicta factaque recensere nenirua
(Hegesippus)
Von den Werken, die in den letzten Jahren durch das Wort und noch eindringlicher durch Bilder für die wenig bekannten Schönheiten alter deutscher Städte Kenner und Liebhaber warben, ist das schönste unstreitig das über »Alt-Bayern und Bayrisch-Schwaben« von Hans Karlinger. Die 365 fotografischen Aufnahmen von einzelnen Baudenkmälern und deren Teilen, von ganzen Städtebildern und malerischen Winkeln daraus, von besonders schönen oder charakteristischen Landschaften aus Ober- und Niederbayern, der Oberpfalz und Schwaben gehören sowohl, was Bildausschnitt und Bildaufnahme, wie was ihre Wiedergabe betrifft, zum Gelungensten, Klarsten und Erfreulichsten der einschlägigen Sammelwerke. Soweit es sich nicht um Teilausschnitte handelt, bei denen Schärfe die wichtigste zu fordernde Eigenschaft ist, sind sie alle nicht nur vom Fotografen, sondern auch vom Künstler ausgewählt und aufgenommen, so daß sie nicht nur ein Bild geben, sondern auch selber ein Bild sind.
Es ist nicht leicht, in unsern alten Städten mit dem Apparat in der Hand suchend herumzugehen, denn sie enthalten soviel Schönheiten im großen und im kleinen, daß man bei beschränkter Zeit in Verlegenheit kommt, wo man anfangen, bei unbeschränkter in Schwierigkeit, wo man aufhören solle. Wer das Gebiet nur einigermaßen kennt, weiß, daß die reichste Auswahl nur besonders bezeichnende Gegenstände, bei weitem nicht Vollständigkeit geben kann. Das gilt in dem Grade, daß sich mit Leichtigkeit von einer großen Anzahl der hier behandelten Städte eine ebenso reich illustrierte Sonderdarstellung geben ließe. Nicht etwa nur von so unerschöpflich reizvollen Reichsstädten wie Augsburg oder Regensburg, oder uralten Bischofssitzen wie Freising oder Eichstätt, sondern für kleine Landstädte wie Moosburg, an denen täglich dreißig Züge vorbeifahren, ohne daß ein Reisender zu seinem Vergnügen ausstiege. Wenn Passau in der Schweiz läge, wäre die Kenntnis, daß es eine ganz wundervolle Stadt ist, nicht eine Art Geheimwissenschaft, die eins dem andern weitersagt wie den Fundort eines edlen Tropfens. Selbst von den Landeskindern wissen wenige, wieviel Vätererbe sie erst erwerben müßten, um es zu besitzen. Viele deutsche Besucher von Paris bewundern alljährlich in Versailles das große und das kleine Trianon und kennen die entzückendsten Gebilde des Rokokopavillons nicht, weil sie nur zwanzig Minuten vom Münchner Hauptbahnhof im Nymphenburger Schloßpark stehen: die Badenburg, Pagodenburg und Amalienburg, drei ganz kleine Gartenschlösser von einer Anmut und einem Geschmack, daß man den Namen Mozart nennen muß, um etwas Ähnliches auszudrücken.
Aber vielleicht war es gut, daß diese köstlichen Städte bis in die neueste Zeit einen Dornröschenschlaf hielten und der Verkehr, um ihnen nicht weh zu tun, in einem großen Bogen an ihnen vorbeiging, wie an Wasserburg, Burghausen, Landsberg. Inzwischen wurde in den Großstädten Stil um Stil durchprobiert, nicht nur hübsche, sondern ehrwürdige Bauwerke und Teile davon teils aus Fanatismus für mißverstandene Reinheit des Stils gänzlich vernichtet, teils so gründlich, kahl und lieblos restauriert, daß völlige Zerstörung besser gewesen wäre. Man hatte keinen Sinn für das innige Bedürfnis jeder Zeit, in ihrem lebendigen Geschmack zu schmücken, und war, neu bekehrt, gestern belehrt und heute schon lehrsüchtig, gegen jedes räumliche Nebeneinander verschiedener Stile intolerant, weil man von dem geschichtlichen Nacheinander, dessen natürliche Frucht es war, nur einen möglichst schwindsüchtigen Normalbegriff von Gotik gelten lassen wollte. (Ein Seitenstück dazu bildet die Entwicklung des neueren Kirchenlieds in deutscher Sprache. Auch hier beschnitt man aus gut gemeintem, aber kurzsichtigem musikalischem Purismus die schönsten Weisen der dem Volke liebsten Gesänge, statt liebevoll eine Überlieferung zu pflegen, die aus der Zeit uralter Heiliggeisthymnen über die der großen Choralmeister der Renaissance bis ins frischeste, blühendste, süddeutsche Barock fränkischer und schwäbischer Marienlieder reichend, sich in Schuberts Deutscher Messe aussang.)
Heut sind wir wieder dankbar und bescheiden geworden und versuchen überall die zerrissenen Fäden anzuknüpfen. Dank ihrem unechten Material zerbröselt die Vorlagenrenaissance unserer Bauten aus den siebziger Jahren sachte zur Ruine, und barmherzig wächst der wilde Wein über Gipsfassaden und Blechvoluten. Um uns freilich von gewissen Großstadtbauten zu erlösen, die nur als Gegenbeispiel den Wert der Abschreckung für sich in Anspruch nehmen können, dazu müßte einer unserer Zweiundvierziger durch die Luft kommen. Es ist einer der hoffnungerweckenden Züge unserer Zeit, daß die gewiß notwendige wissenschaftliche Inventarisierung durch kluge Auswahl des Trefflichsten den Kunstfreunden zugänglich gemacht wird. Das gilt für alle Gebiete. Unsere alten Volkslieder klingen wieder im Wald und auf der Heide, die Bücher vom Herzog Ernst und vom Doktor Faust, von Fortunat und der schönen Magelona kehren ins Volk zurück, woher sie gekommen, und Langewiesches Deutsche Dome, Deutscher Barock, Deutsche Burgen und Plastik des Mittelalters werden nicht nach Tausenden, sondern nach Zehntausenden gezählt.
Bezeichnend ist das erste Bild der fortlaufenden Reihe bei Karlinger, die Wallfahrtskirche zu Weihenlinden, das letzte der Blöckensteiner See im Bayrischen Wald: die Kirche mit ihrem weißen, großflächigen Barock, das so freundlich in der grünen Landschaft leuchtet, steht da wie ein Stück Natur, der stifterische Hochwald umfriedet das dunkle Auge des dunklen Sees wie eine Kirche. Architektur und Landschaft geben in Altbayern zusammen oft einen so reinen Klang, daß man das feine Gefühl dieser alten Baumeister, von denen wir oft nicht einmal mehr die Namen wissen, immer wieder bewundert. Den vollkommenen Gegensatz dazu bilden die Bauten Ludwigs II.; Neuschwanstein wirkt wie ein Hintergrund aus einer Tannhäuserausstattung in der Provinz, Linderhof ist ein störender Mißton in der feierlichen Landschaft des Ammerwaldes, um Herrenchiemsee gar muß in weitem Bogen herumfahren, wer sich den himmlischen Frieden des weiten Sees mit dem blauen Kranz schöngestalteter Berge nicht zerstören lassen will. Man vergleiche mit Linderhof etwa Maxlrain oder Blutenburg, mit Neuschwanstein die Burg Hohenaschau oder das fürstbischöfliche Schloß in Füssen, mit Herrenchiemsee Schwindegg, um zu erkennen, was in eine Landschaft hineinpaßt und was nicht. Die Alten haben das Problem, eine ganze Stadt in eine Wasserlandschaft hineinzustellen, spielend gelöst. Zwei der glänzendsten Lösungen sind Wasserburg und vor allem Burghausen, das einem erst den Schlüssel zum bürgerlichen und zum Festungs-Salzburg gibt (der zum geistlichen Salzburg ist in Italien zu suchen), ähnlich wie man Florenz erst in Pistoja, Bozen erst in Klausen und Sterzing ganz versteht. Die Krone der bayrischen Wasserstädte aber ist Passau, dem sich überhaupt, was Lage und architektonische Ausnützung der Lage anlangt, keine andere zur Seite stellen kann. Aber auch in unsern Tagen erleben wir noch, wie ein Flußlauf architektonisch wirksam wird in der Art, wie in München unmittelbar an der Isar gebaut wird. Was in den letzten fünfzehn Jahren dort entstand und noch im Entstehen ist, das Müllersche Volksbad, die Lehrerinnen-Bildungsanstalt, das Deutsche Museum, das kleine Elektrizitätswerk, vor allem die edlen Brücken, das gibt zusammen mit der hellen, festlich weiterschwingenden Häuserreihe am linken Ufer mit dem brückenkopfartig hingestellten Gebäude des Turnvereins Jahn am Ende ein Gesamtbild, das einmal zum schönsten in Europa gehören wird, vorausgesetzt, daß man auch den südlichen Teil verständig fortführt. Die Silhouette von München wird immer belebter und schöner, von welcher Seite man sich der Stadt nähern mag.
Nicht minder stimmen Landschaft und Berg oder Hügel zusammen im alten Burghausen mit sämtlichen wohlerhaltenen Laufmauern, Streichwehren und Zwingern, in Landsberg am Lech, das sich so hübsch zwischen Steilufer und Hügel hineinschmiegt, in Landshut, dessen Linien mit der des Trausnitzer Bergs ganz natürlich zusammenfließen, in Freising, wo der verstorbene Seidl das prachtvolle Bild des Dombergumrisses, das durch einen schauderhaft waschküchenartigen Neubau für ewig verpatzt schien, durch einen famosen Abschluß des Klerikalseminars noch zu retten verstand, in Hohenaschau, das mit schwindischer Anmut die Talöffnung gliedert und beherrscht, und abermals im unvergleichlichen Passau mit dem Mariahilfberg zur Rechten, dem sich zum Niederhaus abstufenden Festungsberg zur Linken und dem niedrigeren Domberg mit seinen starken Horizontalen in der Mitte.
Welch behäbige Gemütlichkeit spricht aus den alten Plätzen, die alle natürlich entstanden als Funktionen, nicht wie die neueren unnatürlich, als Straßenschnittpunkte. Die kleineren, meist ovalen, sind ehemalige Friedhöfe, die größeren, meist rechteckigen, ehemalige oder noch benutzte Getreide-, Obst-, Gemüsemärkte, genau wie die Piazza Erbe in Verona. Der weiträumige Innstädter Hauptplatz ist ein fröhliches, sonniges Ding; wenn unsere Vorfahren gern Akazien in ihn hineinstellten, bewiesen sie wieder ihre sichere Hand, weil dieser Baum, rund verschnitten, die Architektur nicht durch zu hohen Trieb stört. Ein so lustiger Platz wie der Viktualienmarkt in München ist einzig in seiner Art und steht nicht einmal dem Wiener Naschmarkt nach. Auf diesen Plätzen fließen oft Brunnen von einer Schönheit, daß man weit in deutschen Landen suchen muß, um etwas ähnliches zu finden. Augsburgs drei Glanzstücke, der Herkules- ,Merkur- und Augustusbrunnen, lassen sich nur mit Raphael Donners Glanzstück in Wien vergleichen.
Wenn man das Buch Karlingers anschaut, ruft es einem aus hundert Bildern zu: Introite, nam et heic Rothenburg est! In Bayern stehen viele Dutzende richtiger, alter, noch nicht aus Unverstand freigelegter Tore, die rechts und links die Reihen der Häuser fassen wie ein Erwachsenes je ein Kind bei der Hand nimmt und den Reigen führt. (Nur die Triumphpforte kann frei stehen!) Welchen Reichtum haben wir an Rathäusern, wie das ehrwürdige, einfache von Regensburg, die von Wasserburg und Deggendorf mit den Treppenstufengiebeln, das Sulzbacher, wo aus den Treppenstufen Streben geworden sind wie in Norddeutschland, das Lindauer mit der überdachten Freitreppe, an dessen Giebel die Schnecken von Stufe zu Stufe mit Wellenanmut bis zum goldenen Bäumchen der Spitze hinaufspielen, das Landsberger mit seinen zierlichen Stuckmedaillons, das spitzgieblige von Amberg mit dem eleganten Maßwerk des Brüstungsbandes, das mächtige Augsburger Rathaus von Elias Holl, dessen Modelle man im dortigen Maximiliansmuseum studieren mag, wenn man erfahren will, wie gescheite bürgerliche Auftraggeber Projekt um Projekt, so blendend jedes war, abwiesen, weil es nicht in die architektonische Umgebung, nicht für seinen bürgerlichen Zweck oder unter den nördlichen Himmel gepaßt hätte, bis der geniale Baumeister ein ganz ernstes, geschlossenes, schmuckloses Modell daherbrachte.
Der Zufall läßt das Buch Karlingers gleich denen seiner Vorgänger in schwerer Zeit erscheinen. Matthäus Merian der Ältere, das Baseler Ratsherrenkind, der in Frankfurt am Main Weib und Beruf fürs Leben fand, gab seine bayrische Topographie vier Jahre vor dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs heraus. Michael Wening begann seine Beschreibung der bayrischen Rentämter vier Jahre vor der Sendlinger Mordweihnacht und führte sie während der freudlosen Jahre der Regierung Maximilian Emanuels freudig und fleißig zu Ende; A. W. Ertel ließ seinen Churbayrischen Atlas im Jahr der Verwüstung der Pfalz erscheinen. Auch Zimmermanns Monumenta Boica fallen noch in die gedrückte Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg. Es scheint, die Bayern haben sich gerade in kriegerischen Zeitläuften besonders gern und eindringlich ihrer schönen Heimat erinnert:
»Wir wollen halten und dauern, Fest uns halten und fest der schönen Güter Besitztum. ›Dies ist unser!‹ so laß uns sagen und so es behaupten!«