Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Die Wieskirche bei Steingaden

(1928)

I.

Schon ein paarmal hatten wir gehört, zwischen Amper und Lech stehe irgendwo eine Wallfahrtskirche hart am Gebirg, herrlich anzuschauen, aber umständlich zu erreichen, das wahrhaftige Dornröschen im Tann. Doch unsre Gewährsmänner kannten sie auch bloß vom Hörensagen, selber gesehen hatte sie keiner. Im letzten Kriegssommer nun, wie wir an einem hellen Tag auf dem Aussichtsturm des Peißenberges stehen und mit freiem Aug und dem Feldstecher ringsum jeden Fleck absuchen, den wir von früher her kannten, geraten wir unversehens ins Gespräch mit ein paar von den Fliegerbeobachtern, die oben hausen, einfachen Soldaten, lauter bayrischen und schwäbischen Landsleuten. Ein Wort gibt das andere. Zufällig sagt einer, die Gegend da herum heiße der Pfaffenwinkel. »Warum?« fragt ein anderer. Wir haben's ihnen erklärt und ein wenig von Andechs erzählt, von Diessen und Wessobrunn, Rottenbuch und Raisting, Polling und Steingaden; wie schön die Kirchen sind, aus was für einer Zeit. Da sagt einer, der bis dahin still gewesen: »Die allerschönste haben sie vergessen. Das ist die dort hinten.« »Wo?« »Sehen Sie den weißen Tupfen mitten im Wald? Schauen Sie einmal mit dem Glas hinüber!« »Aber das muß ja eine ziemlich große Kirche sein«, sagt einer, »wie kommt denn so ein Ding mutterseelenallein in die Einöd?« »Das kann ich nicht sagen«, erwidert der erste, »aber daß sie die schönste ist von allen, das weiß ich.« »Verstehst du denn was davon, weil du das für so gewiß hinstellst?« »Wär schon gut, wenn ich das als gelernter Fassadenmaurer nicht verstünd! Was eine feine Stukkatur ist und ein Gepfusch, kenn ich Gott sei Dank auseinander. Das dürfen mir die Herren ruhig glauben« (er hatte sich an uns beide gewandt), »daß die Wies die schönste Kirche ist im Oberland bis hinüber nach Ottobeuren. Ich habe selber mitgearbeitet, wie sie restauriert worden ist.«

Jetzt schauten wir sie doppelt begierig an; am liebsten hätten wir sie mit dem Glas herübergezogen. Das also war die sagenhafte Wies! Zum erstenmal sahen wir sie mit eignen Augen, wenn auch aus meilenweiter Ferne. »Jetzt darf sie uns nicht mehr auskommen«, sagten wir zueinander, während wir die schönen Berghalden hinabstiegen, »wo wir so nah dran sind.« Daß der Maurer sie selbst gesehen hatte und nicht andern Leuten nachredete, gab den Ausschlag. Abends in Kohlgrub fragten wir nach dem Weg. Die Wirtin war als junges Mädel ein paarmal drüben gewesen »mit dem Kreuz«, die Kellnerin erst im vorigen Herbst: Freilich sei sie wunderschön, soviel verstünden sie auch. »Die sollten Sie sich wirklich anschauen«, sagte ein fremder Herr am andern Tisch, »der Maurer hat nämlich recht, sie ist tatsächlich – ich will nicht sagen die schönste, da wär Ettal auch noch da –, aber die geistreichste und eigenartigste, gewissermaßen das letzte Wort des bayerischen Rokoko in kirchlicher Innenarchitektur, etwa wie die Amalienburg in der weltlichen. Sie ist von keinem Geringern als Dominikus Zimmermann, der auch die Kirchen in Günzburg und Steinhausen gebaut hat. Steinhausen in Württemberg, ganz richtig, im oberschwäbischen Pfaffenwinkel, wo ebenfalls die feinen Sachen dicht beieinanderliegen wie hier: Ravensburg, Weingarten, Steinhausen, Ochsenhausen, Schussenried, Rot, dann geht's schon herüber ins Bayerische, Buxheim, nebenbei auch von Dominikus Zimmermann, dann käme Ottobeuren, für das er sogar ein paar Pläne entworfen hat, aber genommen wurde keiner davon; da hat der alte Mann, wie es scheint, als würdigen Abschluß seiner Tätigkeit in der Wies den einen Plan ausgeführt, wenigstens im Grundgedanken, und zu guter Letzt drauflos gebaut nach Herzenslust. Was dabei herausgekommen ist, werden Sie ja morgen sehen.«

So zogen wir voll Erwartung los am nächsten Tag in aller Früh; gingen die Straße über Bayersoyen, rechts und links Wiesenmulden, Hügel, Moor; scharf hinab zur Ammer, die sich an der Stelle tief eingegraben hat und ein Knie macht. Feierliche, fast strenge Landschaft: ein kühler Grund mit einem weißen Bauernhaus, der dunkle Fluß, dunkle Bäume rings an den Steilhängen, ein Fleck helle Wiese, braune Pferde grasen. Auf der andern Seite ebenso steil in die Höh, die Straße gabelt sich bald, wir nach Westen, immer die sanften Berge des Trauchgaus zur linken Hand, weiter zurück und höher die zackigen Tannheimer. Die Gegend wird allmählich anders. Das Gelände beruhigt sich; alles streckt sich lang hin, nicht mehr wellig und hüglig. Abwärts durch schönen Wald, da liegt schon Steingaden, sofort kenntlich an der mauerumgebenen alten Klosteranlage mit der Collegiatskirche in der Mitte. Den zwei Satteltürmen sieht man's an, daß sie schon in romanischer Zeit da gestanden ist, den geschweiften Fenstern, daß ihr erst das Barock die endgültige Form gegeben hat. Die Chorapsis außen unverdorben romanisch mit schlichten Blendarkaden. In den kleinen spätromanischen Kreuzgang warfen wir im Vorbeigehen einen vorläufigen Blick; eigenartige Säulen, fast jede anders. Der Ort ist um den Kirchplatz herumgebaut, so daß die obere Schmalseite die Kirche bildet, zwei Häuserzüge die zwei Langseiten, nach unten zu schließen Bäume. Gegessen auf der Post, einem treuherzigen Gasthaus voll Sommerfrischler, die sich's wohl sein lassen. Alles mutet schon schwäbisch an, wenn es auch amtlich noch zu Altbayern gehört. Alle Fenster voll blühender Geranien, neben der sauberen Post eine kleine Apotheke. Oben der Glaser, schräg gegenüber der Kaufmann. Wir aßen gut und preiswert und gingen durchs Tor neben dem Glaser in den Friedhof, der um die Kirche her liegt. Rechter Hand ein Kegelturm, darunter die Gruftkapelle der Grafen Dürckheim-Montmartin, denen das Schloß und der halbe Ort gehört. Die Kirche ein wuchtiger Bau, ursprünglich romanisch – es ist alter Welfenboden, auf dem wir stehen –, dann prunkvoll barockisiert, eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Freisinger Dom, das Altarhaus nüchterne späte Renaissance. Virtuose Deckengemälde, meisterhafte Stukkaturen, prächtiger Orgelchor, gutes Chorgestühl vorn. Das Hübscheste ist der kleine Kreuzgang mit der eckigen Lieblichkeit seiner unbeholfenen Säulen und dem verwilderten Wurzgarten dahinter.

Wir gingen das Sträßchen hinaus, bergan gegen den Wald, durch ein Dorf, wo wir uns weiterfragten, nach etwa einer Stunde bog eine schmale Straße nach rechts – da liegt sie, die Wies, auf den ersten Blick eine weiße Wallfahrtskirche wie hundert andere, bloß ungewöhnlich groß, von außen nichts Besonderes, der Hauptteil macht einen wunderlichen Kamelbuckel, aber wie sie so dasteht auf dem grünen Anger, dahinter das Gebirg, hat sie etwas Seltsames, es zieht einen unwillkürlich hinein. Der erste Blick ins Innere: – unbeschreiblich! Hell, wie ein fürstlicher Saal, vor allem aber Raum! Raum! Wie wenn der gewaltige Druck des Innern die Wände auseinander triebe! Wie wenn sich nach oben zu alles rundum schwänge! Immer und immer wieder zwingt es den Blick in die Höh. Der Hauptraum blendend weiß, oben mit Gold, eirund, der blaue Deckenhimmel getragen durch acht Säulen- oder Pfeilerpaare – es sind weder Pfeiler noch Säulen, sondern beides, immer zwei schneeweiß und schlank nebeneinander, ganz oben ansetzend, sodaß dies Barock schier etwas Gotisches erhält, strebend leicht, anmutig, hoch, wundervoll hoch. Dazu die Farben! Das eirunde Schiff, wie gesagt, blühweiß mit goldnen Verzierungen an den Pfeilerköpfen. Da, wo sich's zum Altarraum verengt, im linken Pfeilerpaar breit und festlich die Kanzel, im rechten eine noble vergitterte Empore, die der Kanzel das Gegengewicht hält, wie zwei goldene Schildwachen vor dem Heiligtum; der Künstler hat die Farben schon reicher genommen, weil er, je näher er dem Hochaltar kommt, mit desto vollerem Werk spielen wird. Der Altarraum ist etwas schmäler, als das Langhaus erwarten ließe, und hat in den Verhältnissen und in der Zweigeschossigkeit etwas von der Asamkirche in München. Baulich und farbig ist da alle Kunst und Pracht zusammengefaßt. Auf den weißen Bögen des Untergeschosses mit den zartvioletten Schildern stehen die grüngrauen Säulen des obern Chorumgangs mit zierlicher Gitterbrüstung dazwischen, Säulen und Lichtöffnungen steigern sich gegenseitig zu höchster Wirkung: zwischen den geraden Schäften streben die hohen Fenster nach oben, die inneren Bogenwölbungen legen sich wie ein vorstehender Rahmen um die kleineren, vierfach geschweiften oberen Öffnungen; aber damit nicht genug: die Zwickel zwischen den Bögen sind wieder durchbrochen durch sechs Luken, die sich wie mit vorgeneigten Schultern schräg gegen das Deckengemälde anstemmen. Jeder Schritt nach rechts, links, vorn, zurück eine Durchsicht, Überschneidung, Verschiebung. Fenster, Wölbungen, Bilder scheinen miteinander, ineinander zu spielen, das Licht spielt mit. Ist das alles noch Rokoko? Die Gewölbeverbindungen im Presbyterium haben fast etwas Maurisches, wie in der Alhambra, wie Tropfsteinbildungen, die Säulen im Hauptraum aber etwas Gotisches, es ist wohl achtzehntes Jahrhundert, aber wie aus einer gotischen Raumphantasie heraus empfunden: statt der himmelanstrebenden Säulenschäfte, wie in St. Jakob in Straubing etwa, säulenförmig aufgelockerte Doppelpfeiler, nur daß dort das Licht ringsum gedämpft durch bunte Fenster sickert und alles feierlicher Ernst ist und dämmriges Geheimnis, hier aber scheint das Licht hereinzustürzen, siegreich und gewaltig und ist doch mit feinster Überlegung gebändigt, von beiden Seiten, von oben, und alles ist Fest und Farbe. Denn wahrhaftig herrscht hier die Farbe immer rauschender, je näher dem Altar. Die Säulen rechts und links oben graugrün mit Gold, die des Altars purpur mit Gold, auf dem Altarbild die vollsten blauen und roten Töne, noch verstärkt durch die weißen Leiber der Heiligenstatuen und der pausbäckigen Engelbüblein. Man sieht sich nicht satt am Raum und überschlägt sich im Kopf geschwind den Grundriß. Die Kirche, möchte man sagen, ist eigentlich dreischiffig, aber die beiden Außenschiffe sind so schmal, daß sie einräumig wirkt und die seitlichen Halbrunde mit dem Eirund des Raumkerns mitschwingen wie umrahmende Gänge. Der Mittelraum schiebt durch die acht Pfeilerpaare diese sanftgebogenen Seitengehäuse so dicht an die Fensterwände, als könnten die Außenschalen gerade noch den Riesendruck aushalten, der den Raum gleichsam von der Mitte auseinanderstemmt und zu sprengen drohte, packten ihn nicht von rechts und links mit gewaltigen Fäusten Kanzel und Empore und zwängen alles zur Ruh. So kreuzen sich in einem fort Licht- und Raumwirkungen, wie sie nur zu erreichen sind durch das bewegte Linienspiel von Pfeilern und Säulen mit einer Lichtfülle, einer Raumgröße, die nur die Einräumigkeit verleiht. Zwei entgegengesetzte Baugedanken sind in eins gedacht, durchdringen sich, heben sich auf in etwas Neuem, das jeden Systems spottet und in keiner Rubrik mehr unterzubringen ist. Von der Meisterschaft des einzelnen gar nicht zu reden. Bloß ein Beispiel: auf den ersten Blick sieht es aus, als umrandeten die roten Säulen das Altarbild. Aber nein, sowie man weiter vortritt, bemerkt man, daß es um ein paar Ellen zurückgesetzt ist; und ist man dicht daran, so wird man erst gewahr, daß wiederum der wirkliche Rahmen nicht ums Bild herumgelegt ist, sondern davor steht wie Kulissen. So bekommt das Altarblatt seine erstaunliche Tiefe.

Man sieht sich nicht satt an der Wies. Wir gingen in das kleine Gasthaus nebenan, weil wir müde waren vor Sehn und Gehn und Schauen. Die Wirtin erzählte uns, zur Zeit der Säkularisation sei die Kirche schon als baufällig für den Abbruch ausersehen gewesen, aber ein Jäger habe sie gerettet; er habe den im Trauchgebirg jagenden König wie zufällig in die Nähe geleitet und dem Monarchen, der von der Herrlichkeit ganz entzückt war, gesagt, das solle alles abgerissen werden. Ohne den Jäger stände die Wies nicht mehr. Auch von Steingaden wußte sie zu berichten: der Pfarrer sammle seit Jahren zur würdigen Wiederherstellung, aber es sei ein so großmächtiger Bau und koste viel Geld. Manchmal packt einen eine wahre Wut, wenn man durch die alten Gaue geht und überdenkt, was die Säkularisation verwüstet hat, was alles sie noch hätte in ihrer Torheit zerstören wollen, hätten nicht die einfachsten Leute oft mehr Gefühl fürs Schöne gezeigt als die Aktenhengste von Anno dazumal. Es litt uns nicht lang, wieder zwang es uns hinüber und hinein. Inzwischen hatte sich die Sonne hinter Wolken versteckt, und der Wundertraum schimmerte kühl im Schleierlicht. Wie müßte das wirken an einem klaren Wintertag, am Spätnachmittag, wenn die Abendglut rot auf den Wänden liegt und sich um die Säulen legt wie Laubgewind! Leider war's inzwischen halb sechs geworden, und wir hatten noch über drei Stunden zu gehen. Ungern rissen wir uns los, mit dem festen Vorsatz, sobald als möglich wieder herzukommen. Es war ein einsamer Heimweg durch herbstlichen Wald, über rostrote Heide und braunes Moor. Wir waren nicht viel auf Wegen, meist sahen wir nur Spuren, einen helleren oder dunkleren Streifen im blassen Gras. Zuerst Fichten, dann viel Laubbäume, besonders Birken; der kurze Rasen wie ein federnder Teppich. An Einödhöfen und Schwaigen vorbei, viel muntre braune Fohlen. Hinunter wieder zur Ammer, über den schmalen Steg hinüber, zum Schluß auf schlechtem Sträßchen über Saulgrub heim. Wir redeten uns mit der Wies in den Schlaf, und am nächsten Morgen vom Hörnle aus das erste, was wir suchten, war unser gestriger Weg und die Wies, die wie verzaubert blinkte in der düster-schönen Landschaft. Schwer zu erreichen ist sie: von Kohlgrub dreieinhalb Stunden, gut gegangen, von Schongau etwa gerad soviel, von Lechbruck, an sich das nächste, aber bis man nach Lechbruck fährt! zwei Stunden über Steingaden. Darum steht dies Märchen so verwunschen einsam auf grünem Plan vor dem Hohen Trauchberg mitten im Wald.

II.

Ich gesteh es offen: wie wir wiederum an der Wegscheide nach Süden abbogen und wiederum die Wies vor uns stand, weiß und groß, trieb uns eine andere Ungeduld, als jene gewesen war, mit der wir zum erstenmal auf sie losgestürmt waren; und als wir die Klinke des Kirchtores drückten und durch den Vorraum eilten, war es mit Bangen: Wird sie keine Enttäuschung sein? Wird sie, kann sie noch so wirken wie das erstemal?

Wir hatten manches gesehen inzwischen und manches verglichen. Die Honigmond-Begeisterung, mit der wir das erstemal durch den Pfaffenwinkel gerannt waren, war verrauscht. Das innerlich Frostige gerade der virtuosesten und scheinbar temperamenthitzigsten Barocklösungen hatte uns abgekühlt; Steingaden, wie manch andere ursprünglich romanische und erst nachträglich verbarockte Anlage diesmal fremd gelassen, der frühe Kreuzgang mit dem grünen Gartenfleck daneben war uns lieber gewesen als all das Prunken mit Stuck und Gold. Zudem waren wir erst vorgestern in Ettal gewesen, und uns wieder klar geworden, daß sich neben dem fürstlichen Adel dieses herrlichen Doppelrunds von allem, was wir in der letzten Zeit gesehen hatten, schlechthin nichts hielt, außer Ottobeuren: alles sonstige war dritten, fünften Ranges. Auch im künstlerischen Genuß erkauft man Erkenntnis nur durch Verzicht, und eine einzige vollkommene Leistung läßt hundert erfreuliche Mittelmäßigkeiten versinken. Beim Barock gar kommt man bälder als bei der Gotik hinter das Handwerkmäßige der landläufigen Lösungen und entdeckt unter der pompösen Perücke den wackern Maurermeisterkopf, dessen gescheite Einfälle einen sicher immer wieder freuen, aber nicht mehr als genial überraschen, geschweige als einzigartig überwältigen. Ist man schließlich nicht so weit, selbst dem glänzendsten Barock im Punkte von gewissen – wir wollen nicht sagen Geschmacklosigkeiten, aber uns nicht mehr zugänglichen Geschmackseigentümlichkeiten der Zeit ein für allemal einiges vorzugeben, und sich an das Bedeutende zu halten, das trotz alledem bleibt? Geht man nicht an die vorzüglichsten Leistungen mit jener leisen Resigniertheit, die sich da, wo die tiefsten Saiten des Gemüts und die feinsten der Phantasie nicht mehr zum Schwingen gebracht werden, mit der angenehmen Mittellage des Künstlerischen bescheidet, einer durchwegs festgehaltenen großwürfigen Tüchtigkeit, die wohl mit dem Besten der eigenen Zeit fröhlich wetteifert, aber sich nicht gleichen Rangs neben das Beste aller Zeiten stellt, weil jenes letzte Ringen mit sich selber darin nicht zu spüren ist, dem das Vollkommene gerade gut genug dünkt?

Der erste Schritt in die Wies, der erste Blick in den Raum, der erste nach oben – und all das ist wie weggeblasen; abermals steht man überwältigt, wieder sieht man sie zum erstenmal. Alles ist Raum, nach oben wird alles Bewegung. Die Pfeiler recken sich auf in schier vulkanischem Drang. Daß ihrer immer zwei gekuppelt sind, verstärkt das Strebende. Sie eckig zu machen, war ein glänzender Einfall; von den runden Säulen Neumanns in Neresheim gleitet das Auge ab zur rückwärtigen Wand. Zum erstenmal versucht der junge Zimmermann je einen Pfeiler in der württembergischen Wallfahrtskirche Steinhausen; aber dort sind sie schwerer und die Bogenwölbungen enger. Erst in der Wies findet der alte die letzte Leichtigkeit: immer je zwei schmal nebeneinander, wie in Neresheim, aber eckig, wie in Steinhausen. Jetzt schießen sie schlank in die Höhe wie Springbrunnen, und alles ringsum schwebt in Schwung und kreist nach vorwärts; die Außenwand, die durch die Pfeiler geschaffene ideale Innenwand; oben wälzen sich die Bögen hintereinander her wie Kämme von Wogen, wie rollende Räder. Die Decke aber schwingt besänftigend nach innen zu. Durch dies dreifache Schwingen scheint der obere Teil in unaufhaltsamer Bewegung. Beständig verschieben sich die oberen Öffnungen: eine in die andere, über die andere, durch die andere. Alles ist wie aufgelöst in jubelndem Reigen. Die Bewegung der Wände rückt langsam, während die Bögen rascher zu rollen scheinen und die Decke stetig einwärts quillt. Dies dreifache Bewegungsmotiv war nur mit der unruhigen Grundform des Ovals zu erreichen, das sich mit jedem Schritt verschiebt. Die köstliche Unruhe wird noch unterstrichen durch die Abwechslung der Bogenbreiten; es ist, wie wenn sich der Reigen der Pfeiler selbst bewegte und die weitergespannten Bögen von den strafferen mitgeschleudert würden, wie wenn bei einem Kinderreihen die Kette zu zerspringen droht. Im Oval fand Zimmermann die letzte Form des Rokoko für die Verschmelzung von Langhaus und Rundbau. Die Bogenformen aber sind jenseits allen Rokokos, stilistisch überhaupt nicht mehr einzuordnen, an der Grenze des Formlosen, wie Fruchtfleisch von Orangen. Diese Pfeiler sind lebendiger als Säulen; sie streben gewaltig nach rechts und links, als streckten sie Arme aus, als wollten sie zur Wand zusammenrücken. Unwillkürlich setzt das Auge alle Linien fort, sozusagen punktiert, zur Ruhe kommt es erst in der Mitte. Die Decke ist wie offener Himmel: weiße Brüstungen streben empor und grüne Bäume, Wolken und Engel schimmern im seligen Blau, alles ist in Bewegung, weiße Statuen, bunte Gestalten, Engel, flatternde Gewänder, zeigende, deutende, beteuernde Arme. Fessellos ist alles und alles gebändigt: Raum, Licht, Farbe, Formen, Linien. Sogar die Anordnung der Fenster wiederholt in der umschließenden Wand den Rhythmus des inneren Pfeilerumlaufs. Unmöglich kann man lange ruhig stehenbleiben in dieser Kirche; man hat das Bedürfnis, sich durch eigene Bewegung die künstlerische Bewegung ihrer Bauglieder in jedem Augenblick neu zu schaffen.

Aber wir wollen versuchen, Zimmermanns Plan kühl nachzurechnen: Hauptraum eine Längsellipse, Altarraum ein Rechteck mit rundem Schluß. Als Träger des Dachs freistehende Doppelpfeiler, vier Paare auf jeder Seite. Dadurch entsteht ein elliptisches Seitenschiff. Jetzt fängt er an, den Raum zu zerlegen: rechts und links in die Mitte der Langseiten stellt er einen Altar, hinten die Sängerbrüstung, vorn den Chor. Daraus ergibt sich von selbst die Stellung der Pfeilerpaare: das erste und zweite vorn an den beiden Schnittecken von Langhaus und Chor, das dritte und vierte hinten an den Schnittecken von Langhaus und Orgelmuschel. Die vier anderen stellt er je rechts und links vor die Seitenaltäre. So schafft er zwei Ellipsen, die äußere, wirkliche, der Wände, und die ideale, innere, der Pfeiler. Beide verbindet er quer zur Wand durch schmale Gurten, rundum unter sich durch weitgespannte Hufeisenbögen: vier davon breiter, der vordere, der rückwärtige, die beiden vor den Altären; die vier dazwischen schmäler, sodaß immer eine weitere Spannung wechselt mit einer engeren. Zwischen das vorderste Säulenpaar links stellt er als koloristischen Trumpf in all das weiße Leuchten die Kanzel, rechts eine vergitterte Laube. Die Säulenpaare haben gemeinsam schneeweißen Sockel und gemeinsames schneeweißes Gesims. Auf den goldenen Kompositenkapitälen wuchtet riesig das schneeweiße Hauptgesims, von ihm aus schwingt sich golden Bogen um Bogen. Der Umgang zwischen Säulen und Wand ist kein einfaches Tonnengewölbe, sondern den acht Bogenspannungen entsprechen acht Deckenjoche, jedes mit eigenem Gemälde. Damit nicht genug: über den schmalen Bögen zwischen den Säulenpaaren der innern Ellipse und den Pilasterpaaren der Wandellipse sind die Deckenbögen durch geschweifte oeils de boef unterbrochen, sodaß sich fortwährende Durchblicke ergeben von Raumglied zu Raumglied. Aus den Säulengesimsen wachsen die Zwickelstützen, die die Decke tragen, aber das Deckenbild beginnt nicht gleich überm Gebälk, das reich mit Girlanden verziert ist, sondern zuerst kommt noch eine Balustrade, eine kecke Verbindung von wirklicher Architektur (vier Chörchen über den Säulenpaaren rechts und links) und Scheinarchitektur, und jetzt legt er erst das Spiegelgewölbe seines festlichen Himmels drüber.

Im Presbyterium steigert er das Motiv des Säulenumgangs: er zerlegt ihn waagrecht, rechts und links je drei niedrigere Rundbögen, im Stockwerk darüber je drei hufeisenförmige, nochmal so hoch, dazwischen Lettner mit Säulenbrüstungen und Gittern. Und wieder durchbricht er die Querwände zwischen Säulen und Pfeilern, und wieder verbindet er die Bögen zwischen Säule und Säule, diesmal durch hängend geschweifte Rahmen, sodaß sich womöglich noch schönere Durchblicke bilden als im Hauptraum. Den Hochaltar gliedert er in Kulissen. Vorderste: rotmarmorne Säulen mit goldenen Kapitalen. Mittlere: dieselben Säulen, verbunden durch den Bogen mit dem Lamm Gottes. Dritte: der Rahmen des Altarbildes, Gold mit weißen Engeln. Hintergrund: das warmtönige Altarbild selber. Ähnlich, nur schlichter, macht er's mit der Orgelmuschel. Farben: Langhaus weiß mit Gold. Säulen, Heilige, Orgelbrüstung, Bögen, Zwickel, Girlande, Plafondbalustrade – alles weiß mit Gold.

Ach Gott, wie schreibt sich das so pedantisch und tot, und ist vom Meister gefühlt, geschaut, gebaut, ein Wunderding an Geist und Leichtigkeit! Immer wieder sieht man sie zum ersten mal, die Wies. Sie könnte in Sevilla stehen mit ihren famaurischen Bögen; in Paris, mit ihrem Märchenrokoko; ist Venedig, und drückte die schwebende Vollkommenheit ihres Jahrhunderts reiner aus als jeder der dortigen Innenräume. Das Äußere freilich, dieser nüchterne, dreigegliederte Bau einer deutschen Wallfahrtskirche, ohne Anspruch auf Prunk und Wirkung, ohne alles Bestechende, nichts als geschwungene weiße Mauern mit geschwungenen Öffnungen, an der Schauseite ein Paar bescheiden vorgelegte Säulen, das könnte nirgends stehen als auf deutschem Boden, nirgends schöner als auf diesem grünen Stück Wiese, umrandet vom dunklen Forst mit dem schwermütigen Gebirg dahinter, meilenweit einsam im hügeligen Moor- und Heideland des bayrischen Lechrains. Nie könnte sich dieser schmucklose Schrein in der schillernden Lagune spiegeln oder im dunkelgrünen Kanal, kalkig und kahl stünde das weiß verputzte Gebäude in der braunen Quaderwärme eines südlichen Platzes, tolpatschig deutsch neben eleganten Pariser Fassaden. Hier, in dieser stillen süddeutschen Landschaft, wirkt es wie ein Volkslied, im Wald gesungen. Was der alte Mann gewollt und gemacht hat, ist nicht Fassade. Es ist Raum. Ein Innenraum von mozartischer Vollkommenheit.


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