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»Wandern« ist ein altes deutsches Wort. Es gehört als Nebenform zu »wandeln«, als abgeleitete zu »winden«. Der Wanderer meidet die gerade Straße, er sucht die gewundenen Pfade. Eine Spur im Gras, eine Lichtung im Gehölz, ein Wildwechsel am Waldsaum sind ihm Wegweiser genug. Der Romane hingegen kommt von der Straße nicht los, und sein Wortschatz für »wandern« führt unweigerlich auf via zurück. Wenn Richard Wagners Ausspruch »Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen treiben« richtig ist, so ist Wandern etwas ausgemacht Deutsches. Denn Wandern hat für uns wohl ein Ziel, aber keinen Zweck, dieser wäre denn das Wandern selbst. Es steckt uns so tief im Blut, daß uns ein Dichter, der nicht ein einziges Wanderlied gedichtet hat, beinah fragwürdig ist.
Wandern ist eine Tätigkeit der Beine und ein Zustand der Seele. Sogar wenn er in der Eisenbahn sitzt, bringt der geborne Wanderer es noch fertig, zu wandern: mit Aug und Gemüt. In diesem Sinn gibt es wenige Wanderstrecken, die dankbarer wären als Alpenübergänge. Wir fahren sie oft mit der Bahn, bis uns eines Tages unwiderstehlich die Lust ankommt, das lockende weiße Band endlich einmal zu Fuß abzugehn, und sieh! jetzt ist uns sogar die Straße lieb geworden, denn an jeder Wegbiegung begegnen wir der Empfindung wieder, mit der wir sie vom Zugfenster aus begrüßt haben.
Fürs Wandern kann man keine Regel aufstellen, das ist das Schönste daran. Wandern ist der Inbegriff von Unabhängigkeit. Gibt es einen spannenderen Umweg, um durch ein reines Verhältnis zu den Dingen zu uns selbst zu kommen? Und gibt es eine zauberhaftere Möglichkeit, aus der Zeit, in der wir im Alltag leben, in die Zeitlosigkeit Eduard Mörikes hinüberzugleiten? Wie langsam wanderte und reiste man in der guten alten Zeit! Aber was hindert uns, sie für unsern persönlichen Gebrauch jederzeit wieder hervorzuholen? In hundert Jahren werden wir von unsern Urenkeln ja doch beneidet, wir, die wir noch »in der guten alten Zeit« lebten. Es kostet uns nichts als ein klein wenig Mut zur Selbständigkeit, und sie lebt in uns.
Es gibt hunderterlei Arten zu wandern, und jede, die jeweils zu unserem Wesen paßt, ist gut. Und es gibt viele Mittel, und eins ist so schön wie das andre. Warum nicht wandern im Ruderboot? im Faltboot? warum nicht auf Skiern? Es kommt nicht auf das Mittel an, sondern auf die Gesinnung. Sicher ist nur so viel, daß Wandern nie und nimmer ein Sport ist, so wenig wie Skifahren oder Bergsteigen. Selbst zum Tennis gehören mindestens zwei; zum Wandern genügt einer.
Im Wandern ist eine vornehme Zwecklosigkeit. Man darf nicht viel Gepäck mitschleppen, auch nicht im Geist. Fontane zum Beispiel, trägt er nicht ein wenig zu viel märkische Geschichte in seinem Ranzen? Man sollte nicht zu viel wissen, eh man den Wanderstecken ergreift, nicht zu viel Pläne machen, sondern sich von Dingen und Begebnissen lenken lassen. Im Gassenlabyrinth Venedigs gibt es kein bewährteres Rezept sich zu verlaufen, als vorsichtig nach dem Stadtplan zu gehn. Wer sich hingegen dem Menschenstrom anvertraut, steht beglückt auf einmal vor dem Colleoni-Denkmal, zu dem er wollte.
Am Ende wird es sogar gleichgültig, wo wir wandern. Der alte Horaz bummelte vergnügt durch die heilige Straße aus dem Forum mitten im kaiserlichen Rom, und nichts zu suchen, das war sein Sinn. An einem Wiesenbach Hans Thomas kann einer Schöneres von Gottes Welt entdecken als ein anderer am Strand von Sorrent. Gibt es eine reizlose Landschaft? Es gibt nur reizstumpfe Augen.
In den Maximen des Herzogs von La Rochefoucauld steht der Spruch: »Betrachtet man's genau, so ist unser Leben eine Wanderung: mit unerwarteten Fernblicken, Wegbiegungen, Raststätten und einem Ziel, das wir nicht kennen.« Aber wenn Leben Wandern heißt, so heißt umgekehrt auch Wandern Leben: wann jemals fühlen wir uns vom Leben so erfüllt bis zum Rand, bis zum Überströmen, wie auf einer Wanderung? Wir atmen freier, das Blut pulst fröhlicher, die Welt dünkt uns farbiger, reicher, das Glück singt vor uns her von Baum zu Baum wie ein Fink, und jeder Brunnen, aus dem wir trinken, enthält einen Schluck Lethe – gibt es ein besseres Mittel Ärger und Sorgen, selbst Kummer zu vergessen?
Von Gustav Kenßner stammt der Ausspruch: »Alle Wege führen nach Rom, aber zur bildenden Kunst führt nur ein Weg, der Weg durchs Auge.« So führt auch zum Wandern nur ein Weg, der Weg mit Füßen und Beinen. Alle schönen Dinge lernt man durch sie selber: Geigen durch Geigen, Lesen durch Lesen, Wandern durch Wandern.
Meine erste große Wanderung machte ich – wie hätt' es anders sein können? – gleich nach der Reifeprüfung, vom Tegernsee über den Achensee, Jenbach, Schwaz, Hall bis Innsbruck. Ich hatte ein besonderes Glück, das ich – so gehts beim Wandern oft – zuerst nicht als Glück erkannte: der Mitschüler, mit dem ich die Fahrt ausgemacht hatte, sagte im letzten Augenblick ab, einen andern Begleiter trieb ich nicht auf, so mußt' ich wohl oder übel allein losziehn. Aber gerad für den Anfänger ist Alleingehen vielleicht noch schöner, sicher lehrreicher, als das Gehen zu zweit. Meine Ausrüstung war so falsch wie möglich: statt des Rucksacks ein Ränzchen, statt des Steckens ein Regendach von vorsintflutlicher Spannweite. Vor Ärger ließ ich's auf dem Rückweg an einem Baum im Ammerwald stehn. Tags drauf goß es in Strömen: wie froh wär ich im Oberammergauer Passionsspiel, wo ich mir nur den billigsten ungedeckten Platz leisten konnte, um das schnöd verstoßene Paraplui gewesen! Mein erstes Nachtlager war in Achenkirchen: alle Gasthöfe überfüllt, der letzte Wirt wies mich – ich sah wohl aus wie ein Handwerksbursch – an die Benediktiner im Pfarrhof. Noch hatte ich keinen Tropfen Tiroler gekostet in meinem jungen Leben, die geistlichen Herren waren die Leutseligkeit selbst, an der Wand stand ein Spinett, seine Stimmung war rein, ich bin den halben Abend dran gesessen und habe immer wieder Mozart versucht vom Papageno bis zum Ave Verum. Als ich auf dem Heimweg – wir waren, eine fröhliche Vagantenschar, über den Fernpaß gebummelt, ich zog allein weiter über Weilheim und den Peißenberg – in Kaufbeuren endlich einstieg, waren meine Füße wund, meine Stiefel durch, meine Börse leer, aber, ohne daß ichs wußte, hatte ich allerhand gelernt, was zum Wandern gehört.
Am Fernpaß hatte ich entdeckt, daß es ein Vergnügen ohne Anstrengung sei, über Pässe zu wandern, und so war, als ich nach mehreren Jahren auf drei Wochen in die Schweiz fuhr, nichts natürlicher, als daß ich mir die berühmten Übergänge vornahm: zu Fuß von Göschenen über das Gotthardhospiz – gesegnete Forellen! gesegneter Asti! – bis Bellinzona, wo ich zu meinem Verdruß umkehren mußte, weil mich mein Rundreiseheft ins Berner Oberland zwang. Wieder hatte ich etwas gelernt: Das Schönste an Wanderplänen ist, daß man sie umstoßen kann. Niemals sich binden! Wandern ist kein zielbewußtes Reisen, Wandern ist Laune, Willkür, Erleuchtung des Augenblicks, heut hier, morgen dort, starre Wanderpläne sind Sünde gegen den heiligen Geist. Mit solcherlei Gedanken pilgerte ich, abermals von Göschenen, abermals durch die Schöllenenschlucht bis zur Wegscheid zwischen Hesperien und der welschen Schweiz, über Furka, Rhonegletscher, Grimsel hinab nach Meiringen, über große und kleine Scheidegg nach Interlaken. Am Thuner See gabs mir plötzlich einen innerlichen Ruck: erste Ahnung, daß diese tiefsatte, sanfte Landschaft mit den alten Nußbäumen edler sei als all das Pathos der Veduten, denen ich bis dahin nachgegangen war. Es war ein wonnevolles Wandern damals in der Schweiz. Auto gabs noch keins, und die flinken Zweispänner begrüßte der Fußgänger über die Pässe munter, gleichsam als besser situierte Genossen, wofern ihn nicht gar, wie Eichendorffs Taugenichts, freundliche Damen mit wehenden blauen Schleiern einluden, eine Strecke Wegs mitzufahren. Als ich im Jahr darauf Beer-Walbrunns Lied in der »Jugend« zu Gesicht bekam, mit dem holden Schluß »es zog das Glück an uns vorbei, wir wußten's kaum«, da schwebten seenblau, gletschersilbern, nußbaumgrün allerlei Schweizer Visionen traumhaft vorüber.
Von da verging kein Jahr ohne eine Reihe längerer Fußwanderungen, besonders seit ich 1899 durch den Höhenweg vom Nebelhorn zum Hohen Licht die spröderen Reize des Gehens im Fels kennengelernt hatte. Börse, Rucksack und Herz waren leicht, das Straßenbahnzehnerl tat man vorsichtigerweise schon bei Antritt der Reise ins Geheimfach des Geldbeutels, der letzte Rest wurde in Kufstein oder Bregenz in Tiroler angelegt. 1903 erfuhr ich in Paris das prickelnde Behagen des Herumschlenderns in einer ganz großen Stadt; mit meinem Freund kam ich täglich auf das alpine Normalquantum: 7 bis 8 Stunden. Im nächsten Jahr waren wir stolz, mit barbarisch staubigen Schuhen die Umgebung von Florenz – ich besitze die Karte noch, 1:25000, sie kostete 1 Lira 80 – nach allen Himmelsrichtungen abzugehen. Welch unbeschwerte tempi passati! Zu Ostern wanderten wir in Italien, zu Pfingsten rund um den Wilden Kaiser, gleich nach Schulschluß von Oberaudorf über ein Dutzend Gipfel und Scharten zum Karwendel ins Inntal. Das war jedoch nur der Anfang: Damals hatten wir noch den einzig naturgemäßen süddeutschen und österreichischen Schuljahrgbeginn im Herbst, und so begann das richtige Wandern erst am 1. September, von Feldkirch über lauter Jöcher und Gipfel im Rhätikon nach Bludenz, geschwind über den Brenner, von Sterzing aus in die Stubaier, hinaus durch das herbstlich prangende Gschnitztal nach Steinach, zurück, nein, noch nicht heim! schnell noch hinauf zum Rofan! Zu Weihnachten gerodelt vom Brünnstein, und von Hall aus die festlichste aller Schlittenbahnen von den Herrenhäusern im Karwendel – alles in einem einzigen Jahr! Ich könnte es selber nicht glauben, hätt' ich mir nicht all meine Wanderungen aufgeschrieben.
So verflog die Zeit bis zum Krieg. Man wußte es nicht mehr anders: Schultür zu, Coupétür auf! An Ostern Italien, im Sommer Hochgebirg, Weihnachten auf Skiern, worin ich's aber nie weit gebracht habe. 1910 wiederholte ich die Wandrung über den Gotthard: ich war betroffen, daß mit meinem Erinnerungsbild von 1897 außer dem Asti und den Forellen so gut wie nichts stimmte; noch betroffener, daß sich kurze Zeit nach dieser Begehung wieder jene völlig unwirkliche Phantasievision herstellte. Damals dämmerte mir zum erstenmal auf, daß nicht die Wirklichkeit das für uns Reale ist, sondern nur, was unser inneres Auge aus ihr macht. Damals zugleich, gegen den Vierziger zu, begann ich zu ahnen, daß das Auffrischen alter Eindrücke tieferen Genuß gewährt als das Zusammenraffen neuer. Wie oft bin ich seitdem das noch himmlisch unentdeckte Ostufer des Gardasees abgewandelt, von Nago über den Paternostersteig am Monte Baldo bis Malcesine und weiter bis San Vigilio ! Was war die Gardasana in jenen Tagen ein schmales, einsames Sträßchen! Und wie beseligend klangen die österlichen Glocken von Tremosine über die blaue Flut!
Dennoch, zweimal in ein und demselben Jahr 1908 stieg in Italien mahnend das Bild der Heimat vor uns auf. Das erstemal froren wir Anfang April zu fünft hoch oben im etruskischen Volterra, das damals alles andre war als leicht erreichbar, im Speisezimmer des einzigen Gasthofs. Neben uns saßen Volterras Honoratioren, höfliche alte Herren, die, im Glauben, wir verstünden ihr Gespräch nicht, sich über uns unterhielten. »Seht nur diese Deutschen an«, sagte der Apotheker, »sie könnten uns wahrhaftig ein Muster sein. Überall kommen sie hin, alles kennen sie, kennen es meist besser als wir. Von Pisa bis Cecina sind doch zweieinhalb Stunden, eineinhalb auf unsrer elenden Nebenstrecke, vom Bahnhof bis herauf im Fuhrwerk noch zwei, aber sie lassen sich die sechs Stunden nicht reuen. Wir Einheimische hingegen! Wie wenige kennen das edle Siena, oder – er nannte eine Reihe von Städten – oder, uns Nachbarn ausgenommen, wer kennt das vielgetürmte San Gimignano?« Zuerst sahen wir uns geschmeichelt an, bis einer sagte: »Dem alten Manne verginge sein Respekt, wenn er wüßte, daß kein einziger von uns noch in Rothenburg war, oder in Burghausen, Goslar, Hildesheim, und noch ein paar Dutzend Städten, von denen uns im Grund jede näher stünde, als dies seltsame Etruskernest. Sind wir eigentlich nicht Narren, daß wir uns in den schauderhaften Anschlüssen dieser toskanischen Diluvialbahnen besser auskennen als auf der Hauptstrecke Nürnberg – Saalfeld – Halle – Berlin!«
Das war der eine Stoß. Den zweiten gabs uns im frühen Herbst. Als richtige Deutsche hatten wir zwei das Problem mit dem schönen Wort »eigentlich« beiseite geschoben, waren Anfang September prompt wieder ins gelobte Land gefahren, und lagen, jeder seine kurze Pfeife rauchend, oben auf dem Monte Cavo im dürren Gras, rechts und links Albaner Gebirg, vor uns im Nachmittagsdunst meilenweit und meilenbreit lateinisches Gefild, über braungelbem Gewölk, wie abgeschnitten, bleifahl und glanzlos die Peterskuppel, ganz draußen eine matt milchweiße Kimme: das Meer. Lang waren wir stumm in den Anblick der ungeheuren Rottmannlandschaft versunken. Ich weiß heut noch nicht, was mich plötzlich zwang laut zu denken: »Eigentlich sind wir verrückt, daß wir im September da herunten hocken.« Genug, der Bann war gebrochen: ingrimmig wühlten wir uns, Name um Name, in die Genüsse, die wir durch eigne Schuld für dieses Jahr verscherzt hatten. Also saßen wir auf dem Monte Cavo und psalmodierten ein langes Sündenregister. Warum, begann der eine, sitzen wir nicht auf dem grünen, grünen Gaisberg? Es ist himmelschreiend, antwortete der andere, aber ich war in meinem Leben noch nie in Salzburg. – Du auch? Dann brauch ich mich nicht mehr so arg zu schämen, warst du schon auf'm Käppele? Kennst du Würzburg? – Flüchtig, aber ich war wenigstens dort. – und Bamberg? Menschenskind, du warst noch nicht in Bamberg? – Dafür warst du noch nicht in Maulbronn, oder –? Und so fort, wie beim Skatspiel, Trumpf auf Trumpf. Das Merkwürdigste aber war, daß wir an dem bleiernen Schirokkonachmittag sonderbar vergnügt wurden, vergnügt uns unten in Frascati auf den Oberstock der Elektrischen setzten, vergnügt nachts an dem kleinen Marmortischchen vor der Kneipe des Fedelinaro die Fontana Trevi rauschen hörten, und Pläne schmiedeten, Pläne von gemeinsamem Kennenlernen des uns unbekannten Deutschland, unendliche, beglückende Pläne! Was war geschehen? Der Zauber wirkte nicht mehr, die Blendung war gefallen, der große Pan war tot:
... schon lockt nicht mehr das Wunder der Lagunen,
das allumworbene trümmergroße Rom –
wie herber Eichenduft und Rebenblüten,
wie sie, die deines Volkes Hort behüten,
wie deine Wogen, lebengrüner Strom ...
Im Jahr Neun mußte ich mich um einen andern Gefährten umsehen: mein armer Freund war bald nach der Heimkehr zur Asphodeloswiese hinabgestiegen. Aber was wir uns damals in Rom gelobt hatten, ich habe versucht, es zu halten. Die wichtigsten Lücken hatte ich bis Kriegsbeginn ausgefüllt. Zuerst, spät genug, das Wunder aller Wunder: Salzburg. Dann die holdselige Wachau zu Fuß bis Wien. Im Krieg fing ich an, den Chiemgau zu entdecken, die alten Nester an Salzach und Inn; den Pfaffenwinkel zwischen Isar und Lech sind wir abgegangen, nicht nur einmal, und dann zogen wir eines schönen Tags los, durch die Wälder, durch die Auen ins Württembergische, das uns Jahre lang immer wieder lockte. Wir dachten Steigerungen aus, wie Donauwörth, Nördlingen, Dinkelsbühl, Rothenburg, Nürnberg, es war wie ein Fieber über uns gekommen, wie eine Angst. Bis eines Abends – wir hatten uns den ganzen Tag in Bamberg rechtschaffen müd gelaufen, hügelauf, hügelab, Kirchen, Straßen, in den alten Quartieren am Wasser, und der »Reiter«, mindestens dreimal der »Reiter«, jedesmal neue Beleuchtung, und all die andern steinernen Bildniswunder – ja: bis wir an dem Abend beinsteif, aber überlebhaft vor Schauen und Schwelgen, auf einmal anfingen, den Hymnus anzustimmen auf die lateinische Welt, an der wir das Sehen gelernt hatten: Gesegnet jeder Tag, den wir »unten« zugebracht haben! Niemals hätten wir heut diesen Genuß gehabt, wären wir nicht so oft in Florenz gewesen, im Donatello-Saal und bei den Robbien, gesegnet der Süden, der großlinige, einfache, der die Waagrechte liebt und die ungebrochene Wand! Gesegnet die Stirnseite des Doms von Siena, gesegnet die noch zauberhaftere des Juwelenschreins von Orvieto –, und, weißt du noch, die weißen Rinder, die damals auf dem Pflaster knieten vor dem alten Palast der Päpste, und die steinerne Bank? ...
Heut ist es Mode, nur das Deutsche, das vermeintlich Germanische gelten zu lassen, es gar gegen das Südliche auszuspielen. Was verspricht man sich von dieser gut gemeinten Borniertheit? Hat man nicht im Gegenteil, je mehr man sich bemüht, Deutschland sehen zu lernen, desto feierlicher das Gefühl, im unendlichen abendländischen Raum zu stehn, der von Monreale bis Drontheim reicht und von Chartres bis Krakau? Gilt dies nicht sogar von der Landschaft? Vor dreißig Jahren, als ich die Italienischen Reisebilder von John Addington Symonds las, fiel mir auf, wie unbeschwert dieser Kenner aller Zonen italienische Gaue mit englischen Grafschaften verglich, etwa wie um rund 1500 Herr Steffen von Gumppenberg in seiner »Wallfahrt zum heiligen Grab« die palästinische Landschaft mit Albrecht Altdorfers Augen sieht: »Nicht fern vom Berg Thabor da ligt das Dorf Cana Galilea an einem Bühel, es war so lustig darumb mit Bäumen, Laub und Graß, daß nicht davon zu schreiben ist. Denn wo wir ritten, da stunden Wiesen und Anger mit allerley Farb von Blümlein, die man erdenken mag, und Bäum mit voller Blüet.«
Nach dem Wort des alten Herakleitos steigen wir nicht zweimal in denselben Fluß. So gehen wir auch nicht zweimal den nämlichen Wanderpfad: er ist jedesmal ein anderer, wir sind jedesmal andere. Am Ende mag uns wohl eine leise Stimme die Frage zurufen, was denn all dieses unsres Wanderns Sinn sei. Jeder hat diese Frage irgendwann vernommen, beim späten schweigenden Hinauspilgern über dunkelnde Matten zur ersehnten Rast. Dieses Gefühl
und dennoch sagt der viel, der Abend sagt, ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt wie schwerer Honig aus den hohlen Waben –
hat es uns nicht manchmal im fernen Hall einer Tiroler Aveglocke die Seele berührt? Oder, um es mit Schopenhauers Lieblingswort auszusprechen: »Wann einer, so den ganzen Tag redlich ausgeschritten, gen Abend in sein Quartier kömmt, dann mag er wohl sagen: Nun bin ichs zufrieden.«