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Buchschmuck

Der Held

Der Ochsenwirt zu Schafbach hatte ein Preiskegeln ausgeschrieben. »Erster Preis: eine goldene Uhr, zweiter Preis: ein Regulateur, dritter Preis: ein Revolver.«

Er hatte damit die ganze Gegend in Aufruhr gebracht. So hohe Preise, das war ja unerhört! Allerdings war auch der Einsatz ziemlich hoch. Aber das war ja natürlich.

Der Ochsenwirt lachte sich ins Fäustchen. Er hatte es gut gemacht diesmal. Die ganze Woche war sein Lokal jeden Abend gestopft voll. Jeder wollte die Preise sehen. Es war ja nicht zu glauben, so hohe Preise! Und erst am Sonntag! Da war's ein Geschäft! Von Latzenbach kamen sie, von Werden, von Bellenbach, von Sundsbach, ja von Hatzbach, ganz drüben hinterm Gebirge, und von Weilau und Buchenau, ganz drunten im Thal, fünf, sechs Stunden Wegs.

Er hatte es dem Sternwirt zum Ärger gethan. Darüber konnte der nicht. Es war für die Pfingstmusik, die der ihm abgespannt hatte.

»Dem hewwe mer emol – ha, ha, ha! – E Schoppe noch, Hannes? – un Sie auch noch an, Herr Nochber? – Na – un sein Se de Sunndag aach debei? – Die schön guldenig Uhr! – Do gucke Se nor emol! – – – Prost! bekumms Ihne!«

Es war erst Mittwoch heut, aber der Ochsenwirt animierte schon tüchtig. Er war ein Geschäftsmann. »Wann mer Wert is, muß mer Wert sein!« war sein Wort. Und darin lag ihm alle Klugheit und Geschicklichkeit, alle List und Verschmitztheit als Recht und Sinn des Lebens.

Eins war dumm, daß ihm jetzt grad – es war am Donnerstag Nachmittag – seine »Alte« ins Kindbett kommen mußte. – Wer, Deiwel, sollte die Arbeit all schaffen am Sonntag! Da hieß es Beine machen, – unter Umständen auch Fäuste. Vor allen Dingen aber: Hand zu und Augen auf!

Aber der Peter Knoll war ein Geschäftsmann. »Wann mer Wert is, muß mer Wert sein!«

Er ließ ausschellen und ins »Kreisblättchen« setzen, daß das Kegeln auf den Sonntag darauf verschoben sei – »auf Wunsch vieler Kegler aus Schafbach und Umgegend« – und daß die Preise im großen Saal »zum Ochsen« ausgestellt blieben.

Das gab Ärger. Das vermehrte aber auch die Hitze. Jeder war jetzt ungeduldig. Der Ochsenwirt wußte das, er verstand sein Geschäft. Er kannte aber auch seine Leute. Jeder hatte ja in Gedanken schon die goldene Uhr in der Tasche – oder den Regulateur an der Wand – oder wenigstens knallte er schon mit dem Revolver.

Der Ochsenwirt hatte so noch einmal am Sonntag ein vollbesetztes Lokal und das Haus »voll Disput«, wobei er tapfer ausschenken konnte. Er hatte »seinen Schnitt« bereits gemacht. »Ja, das Geschäft muß man verstehen!« Er hatte beinahe die Preise schon wieder verdient. Denn wieder waren sie gekommen, von Latzenbach und Werden, von Bellenbach und Sundsbach, ja von Hatzbach, von Weilau und Buchenau sogar. Es war ja »was Unerhörtes«, kaum zu glauben. So hohe Preise!

Man hatte »das Kreisblättchen« dreimal durchstudiert und jedem Schellen genau zugehört, ob es nicht wieder eine Verschiebung gegeben habe. Keiner hatte was davon gelesen, ausgeschellt war's auch nicht worden. Das Preiskegeln fand also statt. »Sonntag Nachmittag von 3 Uhr ab.«

Schon am Sonntagmorgen ging's beim Ochsenwirt hoch her. »Ich wett' en Humpe« – »ich e Fäßche« – »der krickt die Uhr – der krickt se!«

»Halt die Meiler!« sagte der Schusteranton. »De Hannphilipp von Garnbach hot noch all die Preiskegele rundherum gewunne, der krickt aach die Uhr diesmol – do will ich eich mein Kopp verwette. Un ich were den Regulateur krieje, daß er meiner Fraa als die Stunne schlägt, wann ich owends hocke bleib« – fügte er hinzu. Es war noch kein rechter Witz, wie sie der Schusteranton sonst machte, aber er hatte auch noch nicht »unnerm Dach«.

Schlag drei Uhr warf dann Peter Knoll eine Kugel in die Vollen. Damit eröffnete er das Preiskegeln. Und dann begann die Reihe. Auf jeden Einsatz drei Kugeln, die erste in die Vollen. Der Polizeidiener und der Lehrer führten die Liste. Die waren unparteiisch.

Anfangs ging's still her. Nur bei einem guten Wurf ein kurzes Halloh. Dann ruhig die Reihe weiter. Der Lehrer rief die Namen und bestimmte die Kugeln, der Polizeidiener rief die Würfe.

Gegen vier Uhr kamen die Burschen aus Buchenau. Sie kamen alle auf einmal, während sich die Gäste aus den anderen Ortschaften vereinzelt, zu zweien oder dreien, eingefunden hatten.

Bei den Buchenauern war der »Jean.« Der genoß ein ganz besonderes Ansehen. Der Jean wurde in der Gegend nur mit seinem Vornamen genannt. Höchstens hieß er auch noch »der Herr Ober«. Er war nicht in der Gegend geboren, er war ein Rheinhesse. Er war mit dem Grafen »herüber« gekommen, als dieser vom Militär kam. Er war sein Bursche gewesen – bei der Artillerie hatten sie gedient – und der Jean hatte dem Grafen gefallen. Und der Jean war auch gerne mit ihm gegangen. Während des Manövers hatte er mal im Odenwald gelegen, und da hatte es ihm gefallen: der Wald, die Berge! Seit zwei Jahren etwa war er nun der Oberknecht auf dem Gute des Grafen. So hatte er sich in die Höhe geschafft.

Und er war auch ganz der Kerl dazu. Schöner war keiner weit und breit. Und keiner stolzer.

Und gut war er. Er sorgte für seine Knechte; was sie ihm klagten, vertrat er beim Grafen. Und er forderte auch nicht zu viel von ihnen, keine Arbeit, die er nicht selbst that. Er that allen voraus.

Er hatte die schönsten Pferde. Die Schimmel hatte er sich genommen. Und wie sauber waren sie immer, wie glänzten sie. Er that alles selbst, er ließ sich nichts thun, so leicht er das gekonnt hätte. – Der Jean hielt sich stramm. Man mußte ihn fahren sehen, um ihn zu bewundern. Er stand immer auf seinem Wagen. Und man mußte den Jean gehen sehen, um zu wissen, daß er ein »Anderer« war. Er hatte nicht den schweren, tappenden Gang der Gebirgler, er schritt rasch, gerade, kerzengerade mit gehobener Brust. Er stieß nie an, er stolperte nie. In seinem Tritt war Tempo. Aber auch Kraft und noch mehr Selbstbewußtsein lag darin.

Der Gutsverwalter, in seinem besten Staat, sah neben dem Jean wie ein gewöhnlicher Knecht aus. Der Jean hätte der Graf selbst sein können. Er hatte Augen, die förmlich glühten, die alles festhielten, die alles lenkten. Wenn er über den Hof schritt, entging ihm nichts, wenn er über die Straße ging, war's, als ginge er allein. Er war kein Diener und kein Ducker. Der Jean war ein Herr.

Er war Knecht, aber wem fiel das ein! Niemand dachte daran. Er war's am Gesindetisch – und da saß er oben! – sonst war er's nie. Er war der »Ober«. Unser »Ober« sagten die Knechte und die Mägde – »der Gutsober« hieß er in Buchenau.

Die Mägde waren sämtlich in ihn verschossen, die Mädchen von Buchenau träumten von ihm. Er hätte sie billig wie Wecken haben können, die armen wie die reichen. Er wollte keine.

Er hatte keiner Magd noch einen verlangenden Blick zugeworfen, wie er sie auch schon gesehen hatte. Und nichts hatte bei ihm verfangen, wie's auch manche schon angelegt hatte. Kein Mädchen von Buchenau konnte sich seiner Gunst rühmen, er sah jede so stolz und unbefangen mit seinen scharfen Augen an, als seien sie alle gleich schön, oder gleich häßlich. Alle waren sie ihm gleichgültig.

Man sagte darum, er habe einen Schatz »überm Rhein«, dem sei er treu.

Außerdem – man mußte den Jean noch am Sonntag sehen, wenn er im Wirtshaus war. Da war er vornehm. Da rüpelte er nicht, da schrie er nicht. Er saß vor seinem Bier und hörte zu, gerade als gehöre er nicht zu den Leuten, als sei er nur zufällig unter sie geraten und suche auf gute Art mit ihnen auszukommen. Als sei er andere Gesellschaft gewöhnt. Und wirklich, der Schullehrer setzte sich zu ihm, der Bahnassistent und der Postassistent, der Gutsverwalter und der Gemeindeschreiber. Er war ihnen der »Ober«, und man brauchte sich nicht zu schämen mit ihm. Er sprach, was er verstand, und was er nicht verstand, redete er nicht. Hatte er sich aber eine Meinung gebildet, vertrat er sie mit Wärme. So jüngst, als die Hübnerslies mit ihrem Kind in den Grafenteich gegangen war. Alle verurteilten sie – wegen des Kindes und wegen des Selbstmordes. Der Jean allein that's nicht. Er sprach für sie – er entschuldigte nicht, er erklärte nur. »Leid ist mir für die arme Lies, was soll ich sie verdammen! Das Kind – ich kann's schon verstehen, wie das Mädel vertraute und fiel. Sie hat den Franz wohl gern gehabt und das kann was heißen bei einem jungen, feurigen Ding – und daß sie, wie alles so ausging und zu Ende ging, verzweifelte, – ich kann's schon verstehen. Da sind die Menschen alle so gut und haben nie einen Fehler gemacht und werfen darauf, als ob sie dazu bestellt seien. Aber helfen, helfen! – giebt's nicht. Die Menschen haben da immer Mitschuld, und ein gut Teil, gerade die ›guten‹, die das Maul so voll nehmen und die ›strengen‹, die so harte Augen, so verächtliche Blicke haben. Weh thun – wer nicht weiß, was weh thun heißt, der soll da nicht richten, das ist meine Meinung«, schloß er. Und er war sogar ein wenig hitzig dabei geworden, ganz gegen seine Art.

Und als der Schullehrer und der Gemeindeschreiber abends noch ein Stück zusammen gingen auf dem gleichen Heimweg, da meinte der Lehrer: »Was der ›Herr Ober‹ da gesagt hat – es ging an mich. Das steht nicht im Katechismus – das kommt aus dem Herzen. Der muß schon was erlebt haben, der »Herr Ober«. Mir ist das heut Abend eingefallen, so was kann man nur erleben. Der trägt was in sich herum, kommt's mir jetzt vor. Aber ich hab Respekt. Ich hab Respekt.«

Buchschmuck

Manche sagten, der Jean sei selbst ein Grafensohn. Andere aber behaupteten – und das waren ein paar, die mit ihm beim Militär waren – er sei das uneheliche Kind einer Schauspielerin. Man erzählte sich das im ganzen Dorf. Aber es schadete dem Jean nicht. Er war einer von den Menschen, die man nicht nach Stellung, nach Herkunft und Anhang beurteilt, die man als sie selbst nimmt und nach dem Werte schätzt, der in ihrem Benehmen, ihrem Thun, ihren Leistungen, ihrer Art, eben in ihrer Persönlichkeit in die Erscheinung tritt. Darin war er ein Glücklicher.

Was aber seine Herkunft anbetrifft, so war er wirklich der Sohn einer Schauspielerin, in wilder Ehe geboren, als seine Mutter die »Direktrice« einer Schmiere war. Und er hatte ein Schicksal, er hatte »was erlebt.« Als Kind hatte er schon auf der Bühne gestanden. Als Kind schon hatte er gehungert, hatte er stehlen müssen, und oft war gerade er's gewesen, den man geschickt benutzt hatte, die vielen Gläubiger, die's an jedem Orte rasch gab, wo ihr Karren hielt, hinters Licht zu führen.

Und welches Leben hatte gerade er gehabt bei dem Vater, dem »Direktor«. Manchmal fielen ihm die hübschen Titel ein, die ihm der Vater beigelegt hatte. Dann knirschte er. Aber weinen hätt' er mögen, wenn er an all die Gemeinheiten und Lüderlichkeiten dachte, die er hatte ansehen müssen, wozu hatte die Not nur seine Mutter oft gezwungen! Er schämte sich heute noch. Eine Blutwelle stieg ihm jedesmal heiß ins Gesicht.

Da hatte er Verachtung und – Verzeihung gelernt. Denn er hatte sie in Verzweiflung gesehen, wildfeindlich gegen sich selbst, erstickend vor Ekel – vor Haß und Scham. Da hatte er das Mitleid gelernt.

Früh war er reif geworden. Das Schicksal hatte ihn in die Lehre genommen. Es hatte ihm die Jugend vergiftet, denn es hatte seinen Kinderaugen das Leben gezeigt, in seiner Härte und seinem Schmutz, in seinen Abgründen, Lockungen und Falschheiten.

Da ward er in sich selbst zurückgeschreckt. Er fühlte sich als Gegner zum Leben, zu all seinen Reizen und Genüssen.

Sein Wille ward so geweckt. Dem Leben einen besseren Wert! schrie's in ihm.

Er hielt sich allein. Er war ernst. Er ward froh im Freien, befreit und gesund in der Natur draußen, wenn er im Grase lag, wenn er die Straße hinwanderte, wenn er die Vögel singen hörte, die Blumen blühen sah und die Bäume Früchte tragen. Den Bauer liebte er, der den Acker bestellte, und er hätte einen Tag lang zusehen können, wie sein Pflug durch den Boden schnitt.

So hatte ihn sein Schicksal geformt.

Gering war er, aber so jung er noch war, er hatte sich nicht herabziehen lassen. Er hatte einen Stolz in sich und eine starke Sicherheit. Und das wußte er: Klagen und Sehnen konnten ihm nicht helfen, es galt eine That.

Er war siebenzehn geworden, und eines Tages wußte er, was er thun mußte. Eine ekelhafte Szene zu Hause hatte ihn zum Entschluß gebracht. Ganz plötzlich war's ihm eingefallen: er wollte ein Bauer werden. Morgen wollte seine Gesellschaft weiterziehen. Am Abend ging er. Ohne Abschied, gleichsam ein Wankendwerden fürchtend. Und er fand auch eine Stelle und blieb, bis er »einrücken« mußte.

So war er frei geworden. Er arbeitete mit Pflug und Hacke, unermüdlich, und atmete auf. Er befreite sich.

Manchmal zerrte es ja in ihm, so gering zu sein und unbeachtet. Aber er sprach sich Mut und Hoffnung zu. Geduld und Ausdauer, sagte er sich. Er würde schon »hinauf« kommen. Langsam in sich – und dann auch vor den Menschen.

Und er hatte ja auch ein wenig Glück dabei, Wenigstens war's ein Glück zu nennen, daß er an den Grafen gekommen war.

Buchschmuck

Der Jean war also mit den Buchenauer Burschen zur Kegelbahn nach Schafbach gekommen. Er war unterwegs zu ihnen gestoßen.

In der Kegelbahn war's nun schon laut. Und heiß, sehr heiß. Die Luft dick vom Tabaksqualm.

Der Jean wünschte, lieber nicht hierher gegangen zu sein. Wenn er noch mal draußen wäre, ginge er vorbei. Da er aber nun mal drin war – immerzu.

Er begrüßte den Lehrer, den er kannte.

Dann suchte er sich einen Platz abseits, von wo aus er gut sehen konnte. Er wollte nur zusehen.

Der Ochsenwirt brachte ihm ein Glas Bier.

»Nicht mitkegeln, Herr ›Ober‹?«

»Will mal sehen, später mal einen Wurf, warum nicht!«

Ein paar am Tisch hörten das.

»Dann kriegt der Herr ›Ober‹ die Uhr, dann adje Partie!«

Der Jean sagte aber nichts darauf, er sah still zu.

Weitere Gäste kamen, einzeln, zu zweien und dreien – meist aus den umliegenden Ortschaften. Die Schafheimer waren schon ziemlich vollzählig da.

Es war besetzt in der Kegelbahn. Nun kamen noch die Weilauer und gleich nach ihnen die Hatzbacher. Sie hatten die weitesten Wege und wurden darum allgemein begrüßt.

Jetzt hieß es zusammenrücken. Und man that's auch. Nur da und dort war mal einer, der schimpfte.

»Der Knoll soll for Disch und Stiehl sorje, so e Drickerei!«

An Jeans Tisch saßen ein paar Hatzbacher. Einer erzählte, die Italiener aus Hatzbach, die da beim Bahnbau beschäftigt waren, kämen noch.

»Giebt's aach noch Krawall heit«, sagte einer.

Ja, und sie hätten auch noch die Tremplers Anna bei sich. Die hätt' sich dem einen an den Hals geworfen, am Sonntag vor acht Tagen, auf der Tanzmusik hätt' sich's gemacht. Ein »schöner Kerl« sei der Italiener ja. Aber es sei doch schad für die Anna. Sie habe auch schon ihr Teil Schläge daheim gekriegt. Aber sie lasse scheints nicht los.

Sie habe doch ein paar tausend Mark Vermögen und sei von guten Leuten. Und sei auch immer so still und ordentlich gewesen. Und auf einmal ganz vernarrt.

Man müßt's ja sagen, schön sei der Italiener, der schönste und »feinste« von denen. Aber 's gäb doch auch noch »schöne Kerl« im »eigene Ort«.

Und dann wisse man auch, wie's da gehe. Erst alles Lieb's und Gut's. Dann mal so ein Suff – und dann sei's geschehen. Bis danns Kind da sei, sei der Kerl längst verduftet – oder käm's mal zur Heirat, dann Hunger und Schläge.

Da wär's doch schad um die Tremplers Anna. Und dann hätt' man ja immer 's Totenhemd bei den Kerlen an. Beim Geringsten 's Messer.

Der Jean hörte nur mit halbem Ohr.

Er kannte das ja all gerade so gut. Und bei der Hübnerslies war's ja gerade so gewesen. Die Mädels nehmen ja aber nicht Vernunft an.

Da waren die Italiener schon. Sechs, acht Mann.

Sogleich gab's ein Lärmen, daß das Kegeln einen Augenblick aussetzen mußte. Die Italiener forderten einen Tisch für sich.

Der Ochsenwirt sprang. Man mußte den rauflustigen Burschen rasch den Willen thun. Er hätte ihnen schon lieber gleich auf den Rücken gesehen. Das waren immer böse Gäste, und erst wenn sie betrunken waren! Und das waren sie bald. Sie tranken ja das Bier wie Wasser. Und das starke Rauchen und Lärmen dazu – da stieg's rasch ins Hirn.

Nun hatten sie ihren Tisch.

Die Anna saß mitten unter ihnen. Es wurde ihr doch bald ein bischen genierlich, dies Lärmen der Italiener, dies Welschen, das sie ja nicht verstand. Erst war ihr das so merkwürdig vorgekommen, und sie lachte dazu. Bald war's ihr aber doch keine Unterhaltung mehr. Das Fremde hatte sie gereizt, die Gesten, die redenden Augen, das hatte ihr gefallen. Auch die gewandtere Art der Italiener. Wie wurde ihr nur das Glas hingehalten zum Prosit! Cara mia! wie lag ihr das im Ohr!

Bald hatte das alles aber den ersten lockenden Reiz verloren. Sie staunte nicht mehr, es war ihr bekannt, fast gewohnt. Fremd freilich blieb es ihr, so eine halb wehe Komik lag ihr darin. Heute wenigstens. Es war ihr unbehaglich. Vielleicht weil sie das einzige Mädchen auf der Bahn war.

Doch da wollte sie sich drüber wegsetzen.

Aber ewig dieses Italienisch um sie herum. Sie war ordentlich froh, wenn sie deutsch radebrechten. Sie hatte das neulich bei der Tanzmusik gar nicht so bemerkt, gar nicht gefühlt. Da war die Musik, da waren die anderen Mädchen.

»Ein schöner Italiener!« hatten die gesagt.

Und sie hatte er zum Tanz geholt. Darauf war sie stolz. Sie hatte ja auch bei der Tanzmusik bei ihm und den anderen Italienern gesessen. Aber das war ihr ganz anders vorgekommen. Dies Lärmen, dies Fluchen und Spucken, es war ihr heute rein zum Ekel.

Sie betrachtete sich ihre Freunde. Die braunen, hartknochigen Gesichter unter den großen Hüten, die schwarzen Augen. Sie hätte sich fürchten mögen. Selbst ihr Lächeln war bös, kam ihr verzerrt vor.

Ein paar Geschichten fielen ihr ein. Sie schauderte heimlich. Sie mußte an die Hübnerslies denken, die mit ihrem Kinde in den Grafenteich gegangen war. Und der Italiener war fort über alle Berge.

Und an den Rothekarl mußte sie denken, wie er tot dalag am dritten Kirchweihtag. Wegen einer Kleinigkeit hatten sie ihn erstochen. Und keiner hätte sagen können, wer's gethan hatte.

Die Anna mußte an ihren Heimweg denken. Nein, nicht für alles, sie ginge allein mit denen nicht nach Hause – am Abend, die fünf Stunden Weg.

Und wie die wieder heut' tranken! Auch der Fiori. Sie mußte immer mit ihm trinken.

O, wenn sie nur heraus könnte! Fortlaufen möchte sie. Beständig mußte sie an den Abend denken, an den Heimweg. Und die Hübnerslies fiel ihr ein, und der Rothekarl. O, sie hatte Angst! Eine Angst hatte sie! –

Sie betrachtete den Fiori. Er war ja schön. Diese dunklen, leuchtenden Augen! Die roten Lippen und das schwarze Schnurrbärtchen darüber.

Aber sie hatte Angst.

Ein bißchen Furcht hatte sie ja immer gehabt, wenn sie sich abends hinterm Garten trafen. Aber so noch nicht wie heute.

Hätte sie ihr Vater nicht gleich geschlagen – sie hätt' ja nicht den Kopf aufgesetzt. Aber so –

Doch jetzt wußte sie's, sie mochte doch den Fiori nicht.

Sie malte sich ihr zukünftiges Leben mit ihm aus. Er verdiente ja viel, er verbrauchte aber auch viel. Dies starke Trinken! Und den ganzen Tag sie allein, ein paar Kinder zu besorgen, und dann in der Mittagshitze hinaus auf den Arbeitsplatz, den Essenkorb in der Hand. Und immer die Angst um ihn bei der gefährlichen Arbeit! Wie oft geschah ein Unglück bei den Sprengarbeiten! –

O, dann wär sie auch bald so alt und abgerackert wie die anderen Italienerweiber! Und schließlich ging's wo anders hin! Gott weiß wohin! Unter ganz, ganz fremde Leute! Lauter fremde Menschen! Weinen könnt' sie ihr gut Teil, das Lachen wär ihr was Seltenes! Und die armen Würmchen, die Kinder! –

Noch nie hatte sie seither ans Heiraten gedacht, so ernstlich wenigstens noch nie.

Ach, wie war's ihr jetzt so furchtbar!

Da stieß der Fiori schon wieder an ihr Glas.

Sie war ganz verzweifelt. Sie wollte nicht mehr trinken.

Da stieg ihm eine Zornglut zu Kopfe, er stieß sein Glas hin, er zischte einen Fluch, und er kollerte einen langen italienischen Satz heraus, daß ihn die anderen beruhigten. Sie beruhigten ihn, sie merkte es an ihren Geberden; denn sie verstand ja ihre Sprache nicht.

Aber ganz außer sich war sie. Wenn sie nur eine Hilfe finden könnte! Aber wen, aber wie!

»Du lieber Herrgott!«

Sie nahm ihr Glas und trank.

Sie sah sich um, als ob sie eine Hilfe finden könnte. Über alle Tische ging ihr Blick, in jedes Auge. Er fiel auch auf den Jean. Der hatte schon die ganze Zeit beobachtend zu ihr herüber gesehen.

Er musterte sie. Er musterte sie mit tiefer Befriedigung und stillem Wohlgefühl. Ein Weib! Es war sofort ein unbewußtes Einssein, ein Verlangen, ein Besitz. Aber in Reinheit, nichts Prostituierendes war darin. Es war wie ein Erwachen über den Jean gekommen, wie eine Verklärung lag's in ihm.

Und so wuchs alles in ihm, wie er diese Anna der Italiener betrachtete. Es wuchs still, wie eine heimliche Glut. Es machte ihm nicht heiß, es machte ihm nur wohl. Es nahm ihm nicht die Herrschaft über sich und peitschte ihm nicht die Sinne.

Diese Anna war schön. Sie hatte volles, blondes Haar, große blaue Augen. Ihr runder Kopf saß auf einem schlanken Hals, der aus einer weißen Krause wie feines Elfenbein leuchtete. Ihre Wangen waren rot, aber zart wie das Rot des Pfirsichs. Sie waren sauber und appetitlich zum Anbeißen.

Der Jean sah nach der Bewegung ihrer Hände. Auf ihre Anmut legte er Wert. Er hatte sich schon oft dabei ertappt, daß er das bei allen Menschen that. Leute mit ungeschickten Händen, mit Steifheit und Ungeschick in ihren Handbewegungen, konnten ihn abstoßen. Das hatte er wohl noch vom Theater her in sich.

Ohne weiteres Gezier mit den Fingern hatte sie ihr Glas genommen. Die Hand hatte sich hübsch gerundet, das Gelenk leicht gebogen. Er lächelte. Sie hatte nicht gerade eine kleine Hand, aber groß war sie auch nicht. Und daß sie nicht plump und täppisch war, war ihm jetzt alles.

Die Anna saß da wie eine beleidigte Prinzessin, wie ein ängstliches Kind.

Und wie jetzt ihre Blicke umgingen!

Jean erkannte sofort: die schämte sich.

Und alles war in ihr gespannt. Es wirkte direkt auf ihn, auch in ihm trieb etwas zu einer Spannung. Er sah scharf zu ihr hin. Wie sie sich vor dem Italiener hütete, förmlich vor ihm verbarg.

Sie hatte Angst – das wußte er mit einemmal.

Sie war voller Unruhe, aber sie verhielt sich ruhig. Sie wußte, daß sie ein gewagtes Spiel spielte.

Voller Harmlosigkeit deutete sie dem Italiener dies und das in der Kegelbahn, wohin ihre Augen gegangen waren. Er sah hin – ihr Auge ging darüber weg. Fast mit einer Rührung fühlte der Jean: die fleht zu den Menschen stumm und fromm.

Er sah ihr lange zu.

Und nun dachte er: sie ist doch raffiniert.

Doch wie er sie nun weiter sah, hilflos, flehend, da schalt er sich. Sie war doch herzlich, arm und bittend wie ein Kind. Keiner verstand ihren Blick. Blitzschnell ging er weiter.

Eine Verzweiflung lag nun schon darin. Er wurde heißer und heißer. Er war fast irr. Sie würde es nicht mehr aushalten können, sie würde sich ihm verraten. Und sie wäre verloren – er würde sie niederstechen.

Da sah sie zu Jean.

Sie sah seinen Blick. Sie zuckte. Einen Moment.

Sie flehte, flehte, flehte. Ganz Kind. Einen Moment.

Sie wußte schon, daß sie verstanden und erhört sei.

Sie atmete auf. Ihre Brust hob sich. Ein Weiches trat in ihren Blick, legte sich über ihre Züge.

Die Spannung in ihr wollte sich lösen, sie fühlte es, und man sah es deutlich.

Da ging's wieder wie ein Schreck über ihr Antlitz, fuhr in ihr Auge.

Sie raffte sich auf.

Sie warb, warb, warb. Einen Moment. Einen heißen, tiefen Moment. Der Jean rührte sich nicht. Aber sie verstand sein Auge.

In diesem Augenblick war sie nur noch Weib. Sie strich sich ein Stirnlöckchen von der Stirne hoch und glitt mit der Hand über die Augen. Sie lockte. Aber es war nicht gewöhnlich, es war ein unendliches Glück darin. Und sie mußte die Augen schließen, sie mußte sie schließen. Sie war wie im Taumel.

Ein Lächeln spielte um ihren Mund.

Der Italiener stieß sie an.

»Prost!« sagte sie.

Er that einen tiefen Zug.

Aber in seinen Augen flackerte es.

Er verfolgte jede ihrer Bewegungen, jeden ihrer Blicke. Er lag auf der Lauer wie ein Luchs. In dem Jean war die Glut zur Flamme geworden. Sie schlug nun auf und wuchs hoch in ihm.

Und er selbst wuchs dabei. Er fühlte seine Kräfte, und er fühlte sich ihr Meister.

Er hatte sich vorhin gefragt: wie bring ich dies Mädchen aus dieser Gesellschaft? Er fragte sich's nicht mehr. Er sagte sich: dies Mädchen muß aus dieser Gesellschaft heraus.

Er hatte sich einen Augenblick geängstigt: kann dies Mädchen in dieser Gesellschaft rein geblieben sein? Es fiel ihm ein – sie war ja zu kurz darin, sie mußte rein sein – sie war rein.

Er sah noch ihren flehenden Kinderblick, ihr ängstliches Werben. Immer sah er diese Augen, diese Wimpern, die weit aufschlugen, die sich scheu senkten und schlossen, während die Hand von der Stirne herunter über die Augen glitt.

Und plötzlich wußte er's: sie mußte sein werden.

»Sie muß mein werden!« rief's in ihm. »Ich will sie erringen!«

Er stand auf – er ging wie im Traume.

Er kam sich viel größer vor als alle, viel stärker, viel wichtiger. Die anderen sah er nicht, er war nur ganz von sich erfüllt. Aber ganz in ihr und nur in ihr. Als ginge er eine weite Straße hin, war's ihm, in ein weites Land, ihr entgegen. Und aller Widerstand war ihm ein Spiel, spielend überwand er ihn – und sie sah ihm zu. Lächelnd, winkend.

So ging er wie im Traume. Weit war ihm die Welt geworden, und doch nur eine enge Bühne für seine Thaten. Vornehm, stolz-gerüstet, ein glänzender Ritter – seine Jugend grüßte ihn. Das Beste seiner Jugend – in seinem schönsten Lebensmomente.

Er zahlte seinen Einsatz.

»Der Jean wirft! Hurra!«

Er würde gewinnen, er wußte es. Siegen! Es war die größte That, die er jetzt vollbringen konnte.

Er stellte sich in die Reihe, er wartete geduldig. Er sah gar nicht, was die anderen warfen. Das war ihm gleichgültig.

Es rief seinen Namen. Er trat vor – wieder wie im Traume. Er nahm eine Kugel. Er prüfte nicht erst. Die erste beste nahm er und schob sie hinaus.

»Hurra! Alle Neune!«

Sie lagen alle.

»Alle Neune, richtig!« rief der Polizeidiener.

»Zweite Kugel, Herr ›Ober‹!« rief der Lehrer.

Jean schob die zweite.

»Runde! – Bravo, Bravo!«

»Der hot Glick! Dunnerwetter! Der hot die Uhr!«

»Runde, richtig!« rief der Polizeidiener.

»Dritte Kugel, Herr ›Ober‹ – auf den König!« rief der Lehrer.

»E fein Spritzkigelche jetzt«, sagte einer wohlmeinend zum Jean und klopfte ihm auf die Schulter, »do kimmt kaner driwwer.«

Der Jean schob die dritte. Er zielte jetzt doch ein wenig.

Zweimal zagte er. Dann beim drittenmal flog die Kugel. Fein mitten setzte sie auf. Drei Schritte lief er mit. »Der liegt!« sagte er und drehte sich um.

In der halben Bahn that die Kugel den ersten Sprung, gleich darauf noch einen, beim dritten »spritzte« sie über den liegenden Bauer, und der König lag.

»König!«

»König, richtig!« rief der Polizeidiener.

»Neun, Runde, König –«

Der Lehrer zählte dann die Würfe zusammen, aber der Lärm, das Hallo war so groß geworden, daß man's nicht mehr verstehen konnte.

Jean schritt auf seinen Platz zu. Stolz, hoch in die Brust geworfen. Die Buchenauer brachten ihm ein Hoch aus. Er schwenkte ihnen den Hut zu.

»Danke!« rief er. Dabei sah er die Anna an. Mit einem großen verschlingenden Blick.

»Einen Humpen! Einen Humpen Wein!«

Die Anna strahlte. Ihr Blick hing an dem seinen, so tief, so innig, so eins.

Das Fremdartige, was ihr an dem starken und schönen Italiener so sehr gefallen hatte, das wurde jetzt ganz in Schatten gestellt von der Kraft und Schönheit der eigenen Stammesart.

Heiß entbrannt war ihr Herz. Doppelt heiß in dieser Stunde, da er sie aus ihrer Bedrängnis befreien, aus der Gefahr, in die sie sich begeben, erlösen wollte. Sie war sein! Sie fühlte: der konnte sie fordern, er würde es thun. Ihr Blick gab ihm alle Rechte auf sie.

Sie zitterte. Nicht aus Angst – in glücklicher Erregtheit. Den Italiener fürchtete sie jetzt nicht mehr. Der war ihr gleichgültig.

Sie vertraute voll auf den Jean. Wie es werden sollte, was werden sollte, wußte sie ja nicht, konnte sie nicht ausdenken. Am liebsten wäre sie ihm in die Arme gestürzt, hätte ihn geküßt, nur geküßt, geküßt!

Aber sie that nichts. Sie wartete auf ihn. Er würde alles schon machen, dieser starke, stolze, umjubelte Mann.

Der Italiener knirschte. Er sprach erregt mit seinen Kameraden. Er hatte erkannt, daß hier einer um sein Mädchen warb – daß er ihm den Rang ablaufen würde. Ja, daß er schon gewonnen hatte.

Die Italiener tranken rasch leer.

»Auf!« – zischte er – » amante mia; Anna!« flötete er nach.

Sie gehorchte.

Da kam der Jean mit dem Humpen auf sie zu.

Flamme ging zu Flamme.

»Auf deine Gesundheit, Mädchen!«

»Prost! – Bravo!« schrie's rings. Man hatte jetzt den Jean verstanden.

»Prost!«

Hinten rollte dumpf eine Kugel in die Vollen.

Anna schlug die Augen nieder.

Der Jean that einen tiefen Zug. Dann reichte er den Humpen dem Mädchen.

Der Italiener hatte die Anna schon am Arm.

»Die bleibt hier!« sprach der Jean, als ob er ihr Herr, ihr Vater sei.

Sie stand schon an seiner Seite und atmete tief auf.

Die Italiener waren doch verblüfft. Einen Augenblick waren sie sprachlos. Dann brachen sie in Fluchen aus.

Die Anna schmiegte sich eng an den Jean. Der legte seinen Arm um ihren Nacken.

»Wer will nun noch was?«

Und groß stand er da.

»Bravo!« rief's.

Eben kam der Humpen mit dem Rest zurück.

Der Jean leerte ihn.

Wie er trank, flog ihm ein Messer an den Augen vorbei.

»Ha, ha!« sagte er. »Jetzt gilt's! Aber offen und ehrlich, Kraft gegen Kraft. Ein Schuft, der sich sein Mädchen nehmen läßt. Nun wer gewinnt!«

Rasch hatte er die Anna hinter sich auf einen sicheren Platz gesetzt.

Nun stand er zum Kampfe bereit.

»Hier stehe ich – allons!« sagte er.

Ein Italiener war schon gepackt worden. Der habe das Messer geworfen. Der Polizeidiener war dazwischen gesprungen – er war machtlos. Von allen Seiten sausten die Hiebe. Stöcke, Gläser, Fäuste. Alles ging schon drunter und drüber.

»Ehrlich!« rief der Jean, »Kraft gegen Kraft, nicht das Messer! Ein feiger Schuft, wer sticht!«

Vor ihm rangen sie, in einem solchen Durcheinander, daß Freund oder Feind schwer zu unterscheiden war. Nun sprang der Jean hinein. Wer von ihm gepackt wurde, fiel, den Freund befreite er, half ihm, den Verletzten riß er heraus. Keine Waffe hatte er, seine Faust, sein starker Arm genügten ihm.

Der verschmähte Liebhaber kämpfte wütend. Er suchte an den Jean heranzukommen.

Und auch dem Jean war's recht.

Jetzt hatte er freie Bahn.

»Ach Gott!« schrie die Anna.

Sie wußte, jetzt ging's auf Leben und Tod.

Der Italiener fiel den Jean an. Der war aber gefaßt. Kragen, Rock, Weste, Hemd wurden ihm nur aufgerissen.

Nun kämpfte er mit freier Brust.

Er packte den Gegner an den Armen. Wie Eisenringe legte er seine Finger um des Feindes Muskeln. Er drückte ihm die Arme in die Seiten. Der Italiener keuchte.

Anfangs leistete er Widerstand. Auf einmal ward er geringer. Aber der Jean war vorsichtig. Die Kraft des Gegners konnte ja noch nicht erschöpft sein.

Plötzlich schnellte er denn auch auf, den Jean, den er siegesgewiß wähnte, zu werfen.

Aber der hatte ihn schon an der Kehle gepackt und zusammengerissen, daß er sich überschlug.

»Hurra!« schrie's. »Der Jean hot gewunne!«

Der Italiener bäumte sich auf. Der Jean hielt ihm die Arme bei. Auch jetzt fürchtete er eine List.

Der Italiener warf sich auf die Seite. Er suchte nach seiner Messertasche.

»Freundchen, Messer nicht!« sagte der Jean.

»Steh doch einer dem Herrn ›Ober‹ bei!« rief's.

»Wenn der Kerl sein Messer erwischt!«

»Nicht helfen, keiner helfen – Kraft gegen Kraft! So will ich gewinnen!« rief der Jean halb außer Atem dagegen. Und mit aller Kraft suchte er dem Gegner den Kopf auf den Boden zu zwingen.

»Er hot gesiegt – gewunne! hoch der Herr ›Ober‹!« rief's schon.

Da gellte ein Schrei. Er gellte furchtbar durch Mark und Bein. Ein Menschenschrei – und doch kaum zu glauben, daß er aus einer Menschenkehle kommen könnte.

»Ah – hui–u–u–io!«

Das schnitt, das riß, das pfiff, das röchelte. Das ging durch eine ganze Tonleiter, durch alle Vokale. Entsetzen machte alle starr.

Der Streit war aus.

Der Jean war rücklings hingeschlagen.

»Schu–u–uffft!« – stöhnte er.

Einer der Italiener hatte ihm hinterrücks das Messer ins Herz gestoßen. Er stöhnte noch einmal – noch einmal warf er sich auf. Er schnellte hoch.

Schwer und dumpf fiel er nieder.

Dann lag er still, die Arme weit auseinander, Blut vorm Munde.

Die Italiener waren fort. In der Bestürzung hatte sich keiner nach ihnen umgesehen, selbst der Polizeidiener nicht. Unbemerkt hatten sie sich davon gemacht.

Welcher hatte gestochen? Der Fiori nicht.

Man stand um den Toten.

Einer bückte sich nieder und legte dem Jean das Ohr auf die freie Brust. »Er ist tot!« sagte er.

Die Anna saß auf ihrem Platz und weinte.

Sie konnte nichts denken, nichts begreifen.

Der Jean war tot.

Da lag er – nie wieder würde er aufstehen. Tot, tot!

Buchschmuck


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