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Es herbstete. Und es ging gegen Abend.
Der Himmel war ganz mit grauen Wolken überzogen. Und jetzt, da die Sonne sich immer tiefer neigte, brachte sie es noch einmal fertig, zwischen den Wolken durch auf die müde Erde zu sehen und ihr mattes, fahles Licht über sie zu streuen. Aber auf ein paar Augenblicke nur. Dann lag das weite Feld noch stiller, grauer da.
Oktoberabend.
Fern rumpelte ein beladener Wagen vom Felde heim – da und dort gingen noch ein paar Bauern mit Knechten und Mägden – sonst war es still auf der Landstraße und leer.
Nur jetzt, um die breite Biegung, kamen zwei Fremde.
Handwerksburschen? Aber keiner trug ein Felleisen.
Landstreicher? – Landstreicher wohl.
Ihre Kleider hatten einen modischen Schnitt, soweit man den noch erkennen konnte. Denn sie waren ein wenig sehr abgetragen. Und doch hatten die beiden so etwas, was halb zum Modischen ihres Anzuges, halb zu seiner Zerrissenheit und Schäbigkeit paßte – und halt eben umgekehrt wieder nicht paßte.
Dann war noch eins, das auffiel: wie sie mit diesen Kleidern auszukommen wußten. Denn gewiß waren sie einmal nicht für sie gemacht worden – und doch fanden sie sich so trefflich mit ihnen ab, daß man wieder an ihrer Unzugehörigkeit zweifeln konnte.
Feine Lumpen – oder zerlumpte Gentlemen – je nach Geschmack.
Zwei problematische Kerle, nach denen die Gendarmen mit schiefen Augen sehen – auch noch, wenn sie ihre Papiere in Ordnung fanden.
Zunächst gingen die zwei aber noch unbelästigt. Denn das Dorf lag immerhin noch ein gutes Stück weit vor ihnen.
Der eine seufzte. »Du – nun sind's ein paar Jahre!«
» Tempi passati!« knurrte der andere so halb vor sich hin.
»Weißt du – am Rhein – – am Stadttheater in Mainz. Tragischer Held! –«
»Mein Sohn, geh nicht an den Rhein!«
»Du, der Bonvivant – frisch und flott – –«
» Tempi passati – basta!«
Dann gingen sie wieder stumm nebeneinander her.
»Du«, meinte nach ein paar Schritten der vergangene Tragische, »wenn wir doch aus anderem Holze wären. So aus dem Holze, das hübsch gerade wächst, hübsch bedächtig und langsam in die Höhe, Zweige ansetzt, die Äste werden, die Äste Kronen bilden – weißt, so breite, volle Kronen, in denen die ›gold'nen Früchte‹ hangen im Sonnenschein – hübsch geborgen vorm Sturme – – Ja, es könnte anders sein!«
»Nun sei mir still! Nimm's doch, wie's ist.«
»Ja, wie's ist – mit geflickten – – er hüstelte – – Hosen und zerrissenen Schuhen, daß die Sonne die Zehen liebkosen kann! Und den grauen Hunger im Leibe und den Brand in der Kehle! Und immer so die Landstraße hin – mit all dem Talent zwei zerlumpte Kerle! Wie's eben ist, du hast recht.«
»Ja, aber dafür hast du doch gelebt! Gelebt hast du doch, hast du denn das vergessen? Sakra! Und nun laß mir mal das Lamento!« Er schüttelte sich und warf die Arme in die Luft: »'s ist doch was Herrliches, so recht, so recht gelebt zu haben!«
»Weißt was, ich ärger mich halb drüber.«
»Sauertopf! Denk, die selige Erinnerung!«
»Hm – herrje! – aber man wird nicht satt davon.«
Der Bonvivant von ehedem blieb stehen und maß ihn mit großen, verachtenden, strafenden Augen –: »Philister!!«
Noch streckte er straff den rechten Arm abwärts und wies mit dem Zeigefinger tief zur Erde, als er schon mit großen Schritten vorwärts stürzte.
Der Tragische seufzte dazu.
Und der Bonvivant ließ eine Rede vom Stapel:
»Denk nur, wie wir gelebt haben! Wie wir gelebt haben! Genossen bis zur Hefe! Weiber und Champagner! Immer verliebt, immer fidel! Wonne, wo ist dein Ende, Leben, wo ist dein Stachel!«
»Na!« warf der Tragische rasch ein.
»Und denk an den Alten – wie hieß er rasch? – egal! – dem wir den Kontrakt brachen! Den haben wir unser gehörig Teil geärgert, den Schubjack par excellence! Zehn Jahre ist er früher gestorben, ich wette dir. Gott gehab ihn fröhlich! – Und denk an die Gläubiger, die noch auf ihr Geld warten! Des Nachts träumen sie heute noch von uns, die Geizhälse, und am Morgen ist ihr Ärger doppelt. An deine Wirtin denk, deinen Schneider, deinen Schuster – und die Angedenken, die sie dir bewahren, und die Segenswünsche, die sie für dich haben! So was thut wohl!«
»Sela! – Auch ein Trost!« knurrte der Tragische.
»Der Mensch muß sich zu trösten wissen, du bist ein Prachtkerl, ich sag's ja; immer findest du das Richtige! Bruderherz! – Und denk an die dicke Jule und an die schlanke Lisbeth und an die schöne Emma und an die blasse Milli und an die süße Lizzi und an das zimperliche Käthchen! Und an die keusche Flora und an die prüde Evi und an die fromme Anna! Die mit der dicken Nase – prrr! Die mit den falschen Locken – prrr! Die mit den großen Füßen – prrr, prrr! Nu schüttel dich. ›Nur durch das Morgenthor des Schönen drangst du in der Erkenntnis Land!‹ Glücklicher! Lass' dich preisen! Hochsingen will ich dir!«
»Aber nun lass'! Lass', lass' – ich vertrag das nicht! Das thut mir weh, weil's so lustig ist, es macht mich traurig, weil's so schön ist!«
»O geh! Du!« Und er schlug ihm auf die Schulter. »Denk an die Nächte, die seligen, und an die Tage, die fröhlichen! Den Nachgeschmack, den Nachgeschmack! Und träum doch mal: so in den Morgen im Bett zu liegen – nichts von Sorgen, nichts von Beruf! Träumen in den Morgensonnenschein – all das Leben nur Morgenlicht, all das Leben nur Freude! Genial! Genial, du!
Guck – jetzt sei kein Kopfhänger. Du hast ja recht, wir sind nur krummes Holz – da eine Biegung hin und dort eine hin – wohin uns das Verlangen zieht, und wir kommen vor lauter Biegungen halt nicht zu einer Krone und ›goldnen Früchten‹. Doch was schadet's! Wir nehmen das Licht von allen Seiten, und das Gute, wo's herkommt. Nehmen wir also auch den Sturm dazu und den Regen und den Staub und die Trockenheit. Also sei lustig!«
»Ich hab jetzt den Ekel vollends. Wenn man wenigstens Sonne bekäme, wo man Sonne will, wenn man dabei krumm wachsen muß. Diese ewige Hast – pfui Teufel! Vom Stadttheater ans Sommertheater und weiter bergab zur Schmiere und da von Nest zu Nest. Immer noch auf der Bühne – aber pure Verzweiflung. Und den grauen Hunger im Leibe. Statt des Sektes Schnaps – und statt der Weiber – na!«
»Der Mantel fiel, und der Herzog mußte mit.«
»Wohl, aber gleich gehörig tief. Ein Leben das! Ein elendes Dachstübchen für ein paar Tage – gepackten Koffer, wenn man überhaupt noch einen hat. Und eine Gage! Und Schulden! Und Ausreden! – Und dann, wenns ›Theater‹ nicht mehr ›zieht‹ – auf der Hut sein zur Abreise, daß man den Hausleuten wenigstens noch den Koffer abschwindeln kann. Und dann anderswo denselben Kram von vorne – immer so halb am Staatsanwalt vorbei.«
»Höchst interessant, finde ich –«
»Und nun ohne Engagement – Spätjahr – den Hunger im Leibe und nicht mal einen Schnaps! Und in solchem Zustande auf der Landstraße hin. Da kommt einem die Erkenntnis: Stromer sind wir, du.«
» Fidonc!« sagte der Bonvivant. »Ein fröhlich Herz behalten, frisch in den Tag hinein. Einen rechten Lumpen verläßt der liebe Herrgott nie.«
Dann gingen sie wieder ein paar Schritte stumm nebeneinander her.
Endlich fing der Tragische wieder an: »Der ganze Kasus ist der, wir imponieren nicht mehr. Der Mensch muß immer imponieren, sonst ist's aus mit ihm.«
Das stimmte den Bonvivant ein klein wenig herunter. Aber er trumpfte auf: »Ich lasse mir immer noch nicht imponieren. Ich spiel Heldenmütter, wenn's sein muß.«
»Wo?«
»Und wenn alle Stricke reißen, muß halt das ›Kümmelblättchen‹ helfen. Der Mensch darf sich vom Leben nicht imponieren lassen, sag ich. Das Leben ist ja doch nur eine Schweinerei. Und zuletzt dreht sich alles in der Welt nur um den Anfang.«
Jetzt blieb der Tragische stehen und musterte den Genossen vom Kopf bis zu den Zehen und stellte sich in Pose.
»Fast möcht ich lachen: Der Anfang! Der Anfang vom Ende. So doch nicht.«
»Es handelt sich ja alles doch nur um den Magen.«
»Freilich, der wird auch im Zuchthaus befriedigt.«
»Geh, Schwarzseherei!«
Und dann trollten sie weiter.
Und wieder begann der Tragische: »Wir sind Blätter, die vom Baume fallen.«
»Der große Grausige – mir wird bange. Aber die Flöte blas' ich nicht gerne.«
Sie waren wieder stille.
»Das ganze Leben ein genialer Bummel – mach's uns einer nach«, meinte der Bonvivant.
»Alles ist mir zum Ekel. O, ich hab einen Ekel am Leben. Ich bin am Ende.«
»Du wirst dich doch nicht aufhängen wollen, du?« –
Der Tragische ließ den Kopf sinken und sagte nichts. Zehn Schritte lang. Und dann, mit vollster Überzeugung, mit tiefem Brustton: »Du, das will ich.«
»Mensch, was denn?«
»Mich aufhängen.«
»Ha, ha, ha! Das hatt' ich ja schon wieder vergessen.«
»Also!«
»Du phantasierst. Gieb deinen Puls her.«
»Mein Ernst.«
Dem Bonvivant hatte das einen Eindruck gemacht. Er sagte nichts mehr.
»Wo soll das all noch hinaus! – Das Leben ist nur noch vergebliche Müh' – zu dem Ende kommt's doch noch. Spar ich mir die Müh'. – Also ich mach ein Ende, ich häng mich auf.«
Er blieb stehen.
»Hier sind schöne Nußbäume«, sagte der Bonvivant.
»Ja.«
Sie standen stumm bei einander. Jeder wartete jetzt auf ein Wort vom anderen. Aber keiner wußte jetzt was Rechtes zu sagen.
»Woran denn?« – fragte jetzt der Bonvivant.
»Hosenträger«, sagte halb ärgerlich der Tragische, denn er war sich längst darüber vollständig klar geworden.
Wieder standen sie stumm.
»Nach welcher Seite du?« fragte der Bonvivant.
»Nach Westen, wo mich die scheidende Sonne sieht.«
»Ich wählte lieber Osten, wo mich die Morgensonne küßt.«
»Hier an den Ast«, meinte der Tragische.
»Hier an den«, meinte der Bonvivant.
»Nun denn«, sagte der Tragische.
»Kannst du klettern?« fragte der Bonvivant.
»Ich – ja!«
»Dann hilf mir erst hinauf. Der Streich ist genial. Er belustigt mich.«
Der Tragische stellte sich an den Stamm und hielt die Hände mit verschlungenen Fingern auf, daß der Bonvivant sie als Tritt benutzen konnte. Dann stellte sich der Bonvivant dem Tragischen auf die Schultern und schwang sich von da auf den Ast.
Als er oben war, kletterte der Tragische nach.
Der eine saß nach Osten, der andere nach Westen.
Jeder machte sich still mit den Hosenträgern zu schaffen.
Mittlerweile war es dunkel geworden.
Bald fragte der Bonvivant: »Hängst du?«
»Noch nicht«, sagte der Tragische dagegen. »Du?«
Und wieder war's still auf dem Baume.
Bald aber fragte der Tragische: »Hängst du?«
»Noch nicht«, sagte der Bonvivant dagegen. »Du?«
»Nein, gleich.«
Dann war's wieder still.
»Du, der Mond geht auf«, sagte der Tragische.
»Es wird ein seltener Anblick sein – bei Mondscheinbeleuchtung«, meinte der Bonvivant.
Und dann war's wieder still auf dem Baume.
Der Mond lächelte so freundlich.
Der nach Osten war in seinen Anblick versunken.
Auf einmal lachte er laut auf.
»Du, wir wollen noch einmal leben!«
»Geh! Du! Nein, ich will nicht mehr!«
»Na, noch einmal, komm!«
Da kletterte der Bonvivant schon vom Baume herunter.
Der Tragische sah ihm nach.
Er seufzte.
»Noch einmal also!«
Und er knüpfte seinen Hosenträger ab, der schon am Aste baumelte.