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Ihr Häuschen lag ganz weit draußen in der Ebene. Mittendrin in den Wiesen, an dem Bache, der einst die kleine Mühle getrieben hatte, die jetzt stumm war. Seit Jahren stand das Mühlrad still. Der Frühling überzog es alljährlich mit grünem Moose, der Winter behängte es mit großen Eiszapfen. Seit ein paar Jährlein war der alte Müller tot. Keiner seiner Söhne hatte das Handwerk erlernen wollen, denn es war nicht mehr einträglich genug, seit in der nahen Kreisstadt die große Kunstmühle eröffnet worden war. Sie hatten sich dann ins Dorf hinein verheiratet, – ein vollständiger Bruch freilich mit der ganzen langen Familientradition, – und die Tochter war in die Stadt gezogen.
So war die Großmutter allein geblieben in der stillen Mühle, – lange, gar lange schon, – und sie träumte da glücklich den sanften Traum ihres Alters.
Man konnte ihr Häuschen nicht sehen vom Dorf aus. Nur von dem Hügel hinter dem Dorf wußte es mancher zu finden. Man mußte die Lücke in den Pappeln wissen, die zerstreut in der Ebene standen, Sah man da durch, dann stand die große Erle, die oben eine breite Krone ausgebildet hatte, so regelmäßig, als ob sie geschnitten sei, und die von ferne aussah, als sei sie ein großes Adler- oder Storchennest. Von dieser Erle aus standen, weiter in die Ebene hinein, in einer Reihe sechs, acht Weidenstümpfe, und wo die aufhörten, stand das Haus der Großmutter.
Ja, da lag es, aber die Leute sahen's nur, weil sie's wußten. Oder sie sahen wirklich einmal den weißen Giebel in der Sonne blinken – ein helles Dreieck nur. Denn das Häuschen lag tief verdeckt, meist aber im grauen Wiesendunst verborgen.
Wenn die Wiesen in der Frühe dampften, legte sich's dicht um das Haus der Großmutter wie grauer, glänzender Schein. Und wenn der Tag auch schon laut geworden war, lag doch das Häuschen noch verhüllt. In der Stille des Mittags – da vielleicht sank der Dunst, und rings um das Häuschen war's frei und klar. Dann saß die Alte in ihrem Lehnstuhl und nickte ihren Mittagsschlummer. »Nur ein Viertelstündchen«, – und bis sie wieder aufstand und ihren Kaffee richtete, da regte sich's schon auf dem Wasser und im Wiesengrase, unhörbar, unmerkbar, – der Sonnenglanz lag noch im Stübchen, der Kaffee summte im blanken, verzinkten Kessel, die Katze schnurrte auf der Fensterbank, – und bis ein Stündchen um war, ging der Wiesenmann schon wieder von Baum zu Baum und knüpfte die Fäden an, und noch ein Stündchen, zog er die Nebel auf, bald dichter und dichter, bis sie wie schwere weiße Laken an den Asten hingen. Und wenn die Großmutter ihr Abendbrot verzehrte, – die Katze hatte sich längst von der Fensterbank aufgemacht und schlief hinterm Ofen, und der Sonnenschein war gänzlich davongegangen, – wenn die Dämmerung über die Höhen schlich und in den Tiefen das Dunkel drohte, da saß schon der Wiesenmann im Weidenstumpf, hatte sich die Pfeife angezündet, daß sie glimmte, die kurze Kalkpfeife, und hielt nun das Haus der Großmutter umhüllt, die ganze Nacht, daß kein Lichtschein vom Dorfe oder der Landstraße oben zu sehen war und kein Hundegebell in seine Stille drang. So tief umhüllt hielt er's.
Und so konnte auch oft am Tage keiner die alte Mühle finden, und wenn er ihren Platz auch wußte, – und wenn sie zufällig einer, vom Hügel hinterm Dorf aus oder von der Landstraße oben, sah, blieb er stehen und wunderte sich, wie still sie da im Frieden lag und der Welt so meilenfern. –
Und Großmutter träumte darin den sanften Traum ihres Alters, – und die stumme Mühle träumte mit ihr. –
Großmutter war nun an den Achtzig. So rechnete sie sich. Sie hatte schon vor ein paar Jahren ihren Geburtstag, in letzter Zeit auch ihr Geburtsjahr vergessen; aber ihr ältester Sohn, der Hufschmied im Dorfe, war nun fünfzig und ihre älteste Enkelin bald dreiundzwanzig. Und danach rechnete sie sich ihr Alter.
Bis vor ein paar Jahren waren ihre Augen noch gut gewesen. Sie hatte bis dahin ohne Brille in ihrem Gesangbuch, dem mit dem großen Druck, lesen können, und sie hatte es eifrig gethan. Von Jahr zu Jahr aber waren ihre Augen matter geworden. Sie konnte nicht mehr so recht lesen, aber sie sagte das niemand. Das war so ihre Eitelkeit, es sollte ihr nichts fehlen.
Da sprach einmal einer bei ihr vor, der die Landstraße oben hingezogen war und ihr Häuschen im Wiesengrunde hatte liegen sehen, und riet ihr eine Brille an. Sie probierte. Endlich hatte sie eine gefunden, mit der sie wieder in ihrem Gesangbuch lesen konnte und die ihren alten Augen wohl that. Sie war ganz glücklich.
Aber das sei nun eine seiner stärksten, meinte der Brillenhändler, und sie dürfe ja nicht viel lesen. Je seltener, je besser, sonst reiche bald auch die nicht mehr aus, und dann gäb's nicht viel stärkere mehr. Sie müsse vorsichtig sein. Sie habe nun schon ihre paar Jährchen auf dem Rücken, da sei nicht mehr zu spaßen, besonders mit den Augen nicht. Gar wenn sie mal angegriffen seien. Da sei's bald mit dem Sehen ganz aus.
»Ja«, scherzte die Großmutter, »da klopfe bald einer an und mache alle Lädchen zu, daß es ganz dunkel sei.«
»Wenn auch das nicht gleich – –«
Er möge nur zufrieden sein. Sie sehe jetzt wieder – und da sie so wie so allzuviel doch nicht mehr zu sehen habe, wolle sie ihre paar armen Tage doch auch nicht ganz ungenützt lassen und sich wenigstens an dem noch ein wenig erbauen, was ihr immer lieb gewesen sei. Und sei's mal aus mit den Augen, sei's wohl bald auch ganz aus.
Dann vereinbarten sie den Preis.
Da der Brillenhändler, wie der Großmutter schien, sich ein wenig begehrlich in der Stube umgesehen hatte, erzählte sie ihm, während sie ihr Taschentuch aufknotete, daß ihr Sohn in der Waschküche draußen gerade eben dem Hund einen Maulkorb anziehe, da er den Morgen einen Feldarbeiter, der sich habe Wasser holen wollen, so gar arg gebissen habe. Er sei nun zu wild, der Sultan, und es sei Zeit, daß er totgeschossen werde; er fürchte bald auch seinen Herrn nicht mehr.
Indessen hatte sie das Geld für die Brille aus ihrem Taschentuchknoten entnommen, lauter Nickel und Kupfer, und der Händler war still und vorsichtig gegangen.
Und die Großmutter lächelte.
»Man muß vorsichtig sein«, sagte sie sich, »und der liebe Gott wird mir die Sünd' verzeihen. Es ist halt nicht so leicht, wenn man so ganz allein steht.« –
Großmutter las nun wieder ziemlich eifrig. Sie holte ein altes vergeß'nes Geschichtenbuch hervor, das dickes rauhes Papier und zierliche, ein wenig verschnörkelte Schriftzüge hatte. Ihr Ohm hatte es vor langen Jahren geschrieben, der Lehrer bei dem Grafen auf dem Schloß gewesen war. Gott, war das lange her!
Darin las sie. Früher hatte sie das Buch schon einmal gelesen, aber jetzt kamen ihr die einfachen Geschichten viel tiefer und bedeutungsvoller vor, weil sie für alles in ihnen einen tieferen Sinn und eine tiefere Deutung in sich trug.
Und eine Geschichte fand sie, »die Geschichte von den drei roten Blumen«, die griff ihr besonders ans Herz:
War ein Jüngling ausgezogen, aus einem fernen, einsamen, vergessenen Thale, tief versteckt in den Bergen drin. An einer Quelle war er eines Tags gestanden, und hatte dem Lauf des Wassers nachgesehen, das im Zickzack den Berg hinunterlief und sich ein tiefes Bett gewühlt hatte. Er beschloß, dem Wasser nachzugehen. Und er kam in eine tiefe Schlucht, schmal und dunkel, und darin war es kalt und graulich. Da standen die Bäume verkrüppelt und verknorrt, – und ihre Wurzeln lagen obenauf auf der Erde und klammerten sich an den Felsen fest, in deren Risse und Sprünge sie kleine zähe Würzelchen schickten.
Da war ihm seltsam.
Er mußte denken, wie schön es wäre, von Tag zu Tag zu leben und nicht mehr zu wissen, was gestern war. So wie er den Weg gegangen war und immer Neues gefunden hatte und Neues sah, und nicht mehr wußte und wissen wollte, wo das Alte war und wie es war.
Er ging weiter, und wie er so ging, sah er tief am Bachufer, an der dunkelsten Stelle, drei rote Blüten leuchten. Sie leuchteten wie Blutrubinen, sie glühten wie rote Flammen, und ihm war, sie müßten heiß sein, wenn er sie anrührte.
Und wie er vor ihnen stand, war die eine eine schöne goldene Flamme, die alles verklärte, worauf ihr Schein lag, – die zweite eine Fackel, heiß wie die Sonne am Mittage, – und die dritte ein kleines rotes flackerndes Flämmchen, singend und wehend, dabei so sanft, wie letzte Glut am Abend.
Und da er ihren Duft geatmet hatte, kam ein seliges Vergessen über ihn. Und ein Drang, immer hinauszuwandern in die Weite.
Er blickte auf. Noch ein paar Schritte weiter, – da war schon der Ausgang der Schlucht. Nun schien ihm alles verändert. Die drei Blumen sah er nicht mehr – er hatte sie wohl auch schon wieder vergessen.
Aber wo er nun eine Blume erblickte, schien sie ihm eine Fackel, die lohte und drängte. Er fühlte ihre Glut in sein Mark, in sein Blut gehen, und wie er wanderte und wanderte, immer weiter hinein ins Leben, da fühlte er seine Kraft wachsen und wachsen.
Und bald lohte und drängte die rote Blume, die überall blühte, wie eine Fackel leuchtend, weniger und weniger, und gemach ward es stiller in ihm.
Und einmal sah er die Fackel nicht mehr.
Immer, wo eine Blume stand, stand ihm fern ein kleines, wehendes Flämmchen, singend, sanft wie des Abends letzte Glut. Und gar kein Drängen mehr war in ihm. Still war sein Schreiten geworden, und sein Sinn gelassen. Fern noch stand ihm die kleine, singende Flamme, und lächelnd fühlte er, wie er auf sie zuschritt, – näher und näher. Und er wanderte und wanderte …
Und einmal stand ihm das Flämmchen so nahe, nahe wie jede Blume, die sein mattes Auge noch sah.
Da fühlte er eine Ruhe in seinem Gemüte, die ihn beglückte, aber auch eine Mattigkeit in seinem Blute, daß er oft rasten mußte und am Wege sitzen. Und mußte sehen, wie die anderen an ihm vorüberhasteten. Und er lächelte.
Und einmal ging er dem Laufe eines Bächleins nach durch weite Wiesen hin. Da sah er Kinder im Grase sitzen und sah Kinder im Kreise gehen, andere sah er Blumen pflücken und Kränze winden, und alle hörte er jubeln und singen. Seltsam ward ihm. – Er mußte stehen bleiben und dem Spiele der Kinder zusehen. Und lange, lange that er so. Er mußte wieder sinnen. So gar lange hatte er nicht mehr gesonnen. Es hatte ihm stets an der rechten Muße gefehlt, dünkte ihm.
Und wie er die Augen aufhob und über die Wiese sah, da blühten die Blumen so schön, und über einer jeden sah er eine feine, goldene Flamme stehen, die alles wunderbar verklärte – die schöne rote Flamme, die er die ganze Zeit seines langen Lebens nicht mehr gesehen hatte.
Er fühlte nun den Drang zu wandern nicht mehr. Er wollte ruhen und den Glanz schauen rings um sich und das Blühen. Und er dachte nicht mehr an das Morgen, und auch das Gestern vergaß er nicht mehr. Er war wie von einem Zauber erlöst. Und sein Herz trug keinen Wunsch mehr für sich, – es war nur eines seligen Friedens voll.
Eines Tages aber, da er zum Wasser hinabstieg, sich einen Trunk zu schöpfen, sah er die roten Blumen wieder blühen, alle drei zusammen, tief drunten auf dem Grunde, – und er stieg hinunter, sie zu pflücken, immer tiefer und tiefer, – und über ihm rauschte das Wasser zusammen, das ein großes Meer geworden war, und er stieg nicht wieder empor, nie wieder – – –
– Die Großmutter hatte lange gesonnen. Das hatte sie gerührt, und sie mußte einig werden in sich über diese Geschichte. Und als das geschehen war, war sie heiter geworden, sehr heiter, und sie beschloß, die Geschichte ihren Enkelinnen vorzulesen, wenn sie wieder zum Kaffee kämen.
Die Großmutter hatte sieben Enkelinnen, die im Dorfe wohnten. Sie kamen jeden Samstag zum Kaffee. Dann saßen sie um den braunen schweren Eichentisch, der noch vom Urgroßvater stammte. Großmutter saß in der Mitte, die zwei kleinsten links und rechts neben ihr, und dann so weiter bis zur »Größten«, die der Großmutter gegenüber saß und die Hausfrau machen mußte. Sie schenkte den Kaffee ein, legte den Kuchen vor, mahnte die Kleinen, schalt die Größeren und rief auch mal ein scharfes Pst!, wenn's gar zu laut wurde. »Die Kaffeemutter« hieß sie drum auch, und sie war sogar ein bißchen stolz darauf.
Freilich war's mit ihrer Macht und all der schönen Ordnung, die sich mit der Zeit so herausgebildet hatte, total vorbei, wenn die Enkel dazukamen, drei wilde Buben, die das Unterste zu oberst kehrten.
Lustig ging's beim Kaffee der Großmutter immer zu. Das war ein Geplauder und Geplapper, ein Lachen und Kichern. Und Großmutter saß immer still dabei, lächelte ein ganz klein wenig, so fein in sich hinein; die Ohren aber hielt sie offen. Und hatte sie mal ein Wort, eine Rede erlauscht, dabei ihr das Herz besonders bewegt war, sagte sie gerne: »Ei, recht so, Lenche, ist mir doch grad, als hab ich so geredet, als müßt ich auch mal so geredet[*kein Beistrich] haben!« Oder auch: »Ei, das gefällt mir, das gefällt mir, Käthe, da werd ich ja grad wieder jung dabei.«
Wer so ein Lob bekam, der freute sich und ward beneidet. Aber bald gingen die Schnäbel wieder lustig und standen erst stille, wenn wieder ein Wort der Großmutter fiel, mahnend oder belehrend, immer voll der guten Weisheit des Alters.
Und wenn der Kaffee getrunken war, baten die beiden Kleinsten neben der Großmutter: »Gelt Großmutter, erzählst uns was!«
Das that sie meist gerne. Sie setzte sich in den Lehnstuhl am Ofen, strich mit ihren welken Händen die spärlichen grauen Haare links und rechts vom Scheitel glatt, rückte ihr weißes Spitzenhäubchen zurecht und unterhielt sich mit ihren Enkelinnen, und dann und wann kam's zu einer längeren Geschichte. Die war dann meist von Menschen und Begebenheiten, die ihr aus ihrer Jugendzeit in Erinnerung geblieben waren, oder es war eine Erfahrung ihrer langen Lebensjahre, von der sie gerne sagte, »daß sie mehr wert sei, als all die Weisheit in den Büchern.«
Damals aber, als sie die Geschichte von den roten Blumen wieder gefunden hatte, da sagte sie ganz von selbst nach dem Kaffee zu den Enkelinnen: »Ich will euch was vorlesen, aus meinem alten Geschichtenbuch, das mir sehr lieb ist, denn mein alter Ohm hat's all geschrieben, was drin steht. Er war so Einer, dem immer allerhand einfiel, wenn er seine Schüler, die jungen Grafen, fortgeschickt hatte und mal Zeit fand zum Ausschnaufen. Das Buch soll der Lisbeth vermacht sein, wenn ich mal tot bin, weil sie die Älteste ist und meine Gote dazu. Sie kann die Geschichten dann auch einmal ihren Enkeln vorlesen, denn das Leben wiederholt sich immer. Und ihr sollt sie jetzt auch hören, daß ihr sie auch noch erzählen könnt, später mal, wenn niemand mehr was von mir weiß. Es ist mir grad, als laß ich euch damit etwas von mir selbst zurück, was länger lebt als das andere, was man daläßt.«
Dann las sie. Halblaut, manchmal fast flüsternd, ganz einfach, so wie sie sprach, so daß die Mädchen scharf zulauschen mußten. Und wie die Großmutter so bedächtig sprach, fast mit einer Zärtlichkeit und einer leichten Plauderhaftigkeit, als ob sie alles erlebt habe oder jetzt gerade miterlebe, wurden die Mädchen gar sehr gespannt. Und als sie geendet hatte, legte sie das dicke Buch in den Schoß und nahm die Brille ab.
Großmutter legte die Hände ineinander. Sie hatte die Lippen fest zusammengepreßt und nickte ein paarmal mit dem Kopfe. Man hätte jetzt ein Mäuschen laufen hören.
Dann sagte sie: »Ich bin alt und bin gewandert – und freu mich nun an euch Jungen. Das ist meine letzte Freude. Ihr seid jung und müßt noch wandern. Denkt dann an die Flammen, denn ohne die würde es euch schwer werden. Aber fürchtet euch nur nicht. Das Leben ist gar nicht so schwer, man muß nur Mut haben und zufrieden sein. Viel braucht's nicht dazu, Wie wenig man auch hat, man muß nur wissen, daß man's hat. Dann ist's schon gut.«
Und wieder war's still. Nur der Holzwurm tickte ein wenig in der Fensterbank.
»Geht nun heim, Kinder. Es wird bald Abend«, sagte die Großmutter. »Ihr habt grade noch Zeit, euren Müttern einen Sonntagsstrauß zu pflücken. Und wenn ihr droben am Friedhof vorbeigeht, denkt an den alten Müller, euren Großvater. Er war ein lustiger Mann. ›Ich hab mein Wasser und mein Mühlrad‹, sagte er, ›und da laß ich klappern, ob ich zu mahlen hab oder nicht!‹ Und er ist gut dabei durchgekommen.«
Dann sagten sie sich Gute Nacht! – und die Mädchen gingen. Noch ein paarmal las die Großmutter nach dem Samstagskaffee aus ihrem Buche vor, kleine Geschichten aus den Napoleonkriegen, von denen sie manche noch als Erlebnisse erzählen gehört hatte, und dabei wurden ihr selbst Leute und Umstände wieder derart lebendig, daß sie in diesen Erinnerungen förmlich auflebte. So machte sie Zusätze und gab Aufklärungen, und die Mädchen sahen eine Zeit lebendig werden, von der sie nur Schweres und Schreckliches gehört hatten, und sie waren überrascht, wenn die Großmutter schloß: »So hat auch so harte Kriegszeit helle Tage und bringt dem einen Not, dem andern Brot, wie das ganze Leben immer. Aber schrecklich ist der Krieg. Gott soll euch bewahren!«
Bald merkte die Großmutter, daß es mit dem Lesen nun zum Ende gehe. Die Augen thaten nicht mehr mit, und die Brille reichte nicht mehr aus. Eine stärkere hatte sie ja aber nicht. Aber wieder ließ es ihre Eitelkeit nicht zu, etwas zu sagen.
Als am Samstag wieder der Kaffee getrunken war und die Enkelinnen wieder um eine Geschichte baten, setzte sich die Großmutter in den Lehnstuhl wie immer, setzte sich auch die Brille auf und ließ sich das Buch reichen. Die kleine Grete saß neben ihr auf dem Schemel und hielt den Band, blätterte auch um, wenn's ihr die Großmutter bedeutete. Und nun that sie ernsthaft, als ob sie lese.
Anfangs zitterte ihre Stimme ein wenig. Allmählich aber wurde sie sicherer und sicherer. Sie wuchs mit den Ereignissen.
Und die Mädchen lauschten gespannt.
»Liest sie denn?« flüsterte einmal die schwarzhaarige Trude der Lene ins Ohr.
Aber die Lene gab ihr einen leichten Stoß als Antwort und nickte mit dem Kopfe.
»Gieb doch acht!« flüsterte die kleine Marie hinter der Trude. »Schwätzbas, die du bist!«
Die Trude war nun still, aber um ihre Lippen kräuselte ein Lächeln.
Die Geschichte spielte wieder in den Napoleonkriegen –
... Die Geschwister saßen all mäuschenstill in den Ecken. Das Öllicht stand unterm Tisch. Der war rings verhangen, daß kein Lichtschein draußen zu sehen war. Die Läden waren geschlossen und das Thor. Und hinterm Thor stand eine große Bütte mit Wasser. Und oben im Taubenschlag, der im Thorbogen war, saß der Vater mit dem Gewehr.
Die Franzosen kämen aus Rußland zurück. Und da der Vater immer gegen sie war und oft dagegen gesprochen hatte, daß die Deutschen zu ihnen hielten, die Bayern und die Württemberger und die Badener und die Hessen, war er als »Preuß« verschrieen. Und die Franzosen würden alle »Preußen« erschießen, hieß es, und ihre Häuser abbrennen, wenn sie auch jetzt geschlagen wären.
Die Kinder zitterten wie Espenlaub und weinten heimlich. Die Mutter hatte die Hände gefaltet und betete.
Und der Vater saß auf der Lauer im Taubenschlag und wollte jeden zusammenschießen, der eintreten sollte.
Und ganz langsam ging die Zeit herum, – und die Mutter putzte dann und wann das Licht – und wenn sich was rührte, nur der Wurm im Holz oder ein Mäuschen im Kasten, – dann fuhren alle zusammen und lauschten, was es wäre, und ob's die Kanonen wären oder die schweren Reiter, die Franzosen oder unsere eigenen Leute.
Aber meist war's nichts, – und ängstlich krochen alle zusammen – bis sich wieder was rührte und sie auffuhren.
Und dann auf einmal – die Annelies schrie auf – und der Konrad wollte hinaus in den Taubenschlag krabbeln und wollte es dem Vater sagen, die Franzosen wären da. Aber die Mutter hielt ihn fest.
Die Franzosen! – die noch vorhin mal ein bißchen Mut hatten und groß gethan hatten, verloren ganz die Kourage, und die Ängstlichsten sonst waren jetzt die Beherztesten.
Ein Trappeln, ein Fahren, ein Kollern, daß die Wände wackelten und die Gläser im Schrank zu klirren anfingen.
»Die Franzosen! – Gott steh uns bei!« sagte die Mutter.
»Wird der Vater zittern«, sagte der Konrad. »Ich sollt ihm doch helfen. Und daß er aus dem Taubenschlag herausgeht. Am Ende schießt sein Gewehr gar nicht.«
Aber die Mutter hielt ihn.
»'s steht ja die Bütt Wasser hinterm Thore, da fallen die Franzosen gleich herein«, sagte die Annelies.
Da rumpelte es stärker draußen, daß alle zusammenkrochen und sich an die Mutter kuschten.
Nur die Älteste, die Lisbeth, die lächelte. Und streckte den Hals weit vor und lauschte. Viel mehr wie die anderen. Als erwarte sie etwas.
Und das Trappeln kam immer näher.
Da schmetterte ein Signal hinterm Dorfe, auf dem Hügel vielleicht.
Und immer näher kam das Trappeln und Fahren und Kollern – ja draußen war's nun, draußen vor dem Thore.
Das Signal schmetterte wieder.
Und das Trappeln hielt nicht, und die Wagen und Kanonen und Pferde hielten nicht.
Und schon wieder schmettert das Signal, jetzt etwas weiter entfernt, vielleicht schon etwas auf der anderen Seite des Hügels, weiter unten, wo der Weg sich um den Wald biegt, nach Neustadt zu. –
– Nun mußte die Grete umblättern. –
Die Stühle zitterten und der Tisch klapperte, – von den schweren Wagen und Kanonen, die draußen vorbeifuhren und von den harten Tritten der Soldaten.
Eilig ging's, arg eilig. Und wild durcheinander ein Welschen, daß einem das Hören verging.
Ein Pferd hielt. Ein paar deutsche Flüche, aber fette.
Da kroch der Jüngste, der Jörg, unter den Tisch und blies das Öllicht aus.
»Sie komme herein«, sagte er.
Aber schon wieder schmetterte das Signal, das Pferd schlug wieder auf und jagte davon, – und weiter ging's, immer weiter und immer eilig.
Und dann und wann das Signal – immer weiter entfernt vom hintern Walde her, aber daß man's noch hörte in der tiefen Nacht.
Und eine Stunde, – oder eine halbe nur, – denn denen im dunklen Zimmer ward die Zeit gar lang – machte die Lisbeth das Ofenthürchen auf, daß mal ein heller Schein ins Zimmer kam.
»Sie gehe ja vorbei«, sagte sie.
Aber noch war der Spektakel draußen, und der Jörg machte das Ofenthürchen rasch wieder zu.
Und bald war's auch draußen still und das Trappeln und Kollern war fern, und das Signal hörte ganz auf.
Aber die in der Stube saßen noch in Ängsten.
Nur die Lisbeth lächelte. Aber niemand sah das.
Und nun regte sich auch der Vater im Taubenschlag. Er war ganz hinten in die Ecke gekrochen und hatte einen Korb vor sich gestellt und sein Gewehr im Stroh versteckt, denn's war ihm nicht geheuer geworden, als die Franzosen wirklich gekommen waren. Und nun kroch er hervor und klappte an seinem Gewehrschloß und wollte jeden Franzosen totschießen, der hereinkommen sollte.
Und noch ein Weilchen, stieg er herunter vom Taubenschlag und kam in die Stube, ganz leise. Und ein paar Taubenfedern hingen ihm noch am Rock, und mit den Hosen hatte er sich arg in den Kot gesetzt.
»Ich glaub, Kinder, sie sind fort. Ich wollt's ihnen aber auch geraten haben. Das Signal hat sie wohl weiter gerufen. Und eilig ging's. Ja, die Russen hinterdrein und der Blücher, da nehmen sie die Beine untern Arm.«
Nun machte der Jörg das Ofenthürchen ganz auf, der Konrad kroch unter den Tisch und holte die Lampe, und der Vater machte einen Fidibus und zündete das Öllicht an, das jetzt auf den Tisch gestellt wurde.
Da klopfte es am Laden.
Der Vater nahm sein Gewehr zum Schuß. Aber er zitterte sehr.
Es klopfte ungestümer.
»Thut mir auf«, sagte einer, »ich bin der Müller-Jean aus der Kettenmühle.«
»Was willst Du?« donnerte der Vater.
»Euch was sagen, – thut mir auf.«
Da ging der Vater, das Gewehr im Arm, ans Thor hinaus.
Die Lisbeth aber ging zur Mutter und flüsterte ihr ins Ohr.
Der Müller-Jean hatte nämlich vor ein paar Tagen um die Lisbeth angehalten. Aber der Vater habe ihn grob angefahren. Denn der Vater war sehr stolz, weil er der Küster und der Schullehrer war.
»Was er denn gelernt habe?«
»Er sei Müller und blase die Trompete auf den Kirchweihen.«
»Das sei aber mal was!«
»Das sei auch was«, hatte er geantwortet, »und ein ehrlicher Kerl sei er dazu. Und wenn einer sein Handwerk verstehe und richtig treibe, ernähr's ihn auch, und ein Müller sei nicht geringer, wenn er ein ordentlicher Mensch sei, als ein Studierter. Und es könne auch nicht lauter Schullehrer in der Welt geben.«
Aber der Vater sagte ihm: »vorläufig müss' er mal noch warten, er müßt erst mal zuhören, was er für einer sei.«
Da ging der Müller-Jean, und die Lisbeth weinte sehr. –
Jetzt traten die Männer ein. Dem Vater war noch ordentlich heiß, denn ein schwer Stück Arbeit war's, die Bütte am Thore wegzubringen.
»Ich hab das Signal geblasen«, sagte der Jean ganz verkeucht. »Ich hab sie euch fortgelockt, euch und dem ganzen Dorf, und quer durch den Wald bin ich hierher gelaufen. Denn ich wollt euch mal zeigen, daß ich für die Lisbeth was thun könnt. Und nun gebt sie mir. Gebt sie mir, oder ich geh hin und stell mich den Franzosen, und laß mich standrechtlich erschießen, denn das steht zum mindesten drauf.«
– Die Großmutter hatte sich indessen selbst den Blattrand ertastet und rasch das Blatt umgewendet.
»Daß ich's kurz mach«, sagte sie – »so hat euer Urgroßvater eure Urgroßmutter bekommen, 's war gewiß kein leichtes Stück. Aber für die Lieb' muß einer schon was thun können, sonst ist's keine rechte. Und ohne eine rechte Lieb' ist das ganze Leben arm – ihr werdet's schon selbst sehen. Geb jeder von euch der liebe Herrgott so einen guten Mann, wie mein Vater einer war, – und so einen lustigen. So lustig wie der, war selbst euer Großvater, der Müller, nicht, und dem lag gewiß nicht viel an den Menschen. War ihm das Herz schwer und wußte er sich gar nicht mehr anders leicht zu machen, da stand er oben am Giebelfenster und blies die alten Signale von den Franzosen oder ein Stück von der Kirchweih – auf die ging er längst nicht mehr, als ich Kind war, – und 's klang wie in der Kirche, wenn die Töne übers Wiesenthal hinzogen, so ganz lang und feierlich.
Und war er fertig, ging er wieder runter, lächelte ganz still und sagte zur Mutter selig: »Mutter, 's geht jetzt wieder. Lach, Lisbeth! 's is nit anders in der Welt. Man darf nur 's Lachen nicht verlernen.« –
»Hatt ich nun recht?« flüsterte die Trude.
»Steht die Geschichte auch im Buch?« fragte die kleine Marie ein bißchen schnippig-vorwitzig.
»'s steht alles drin, was in meinem Kerzen steht«, erhielt sie zur Antwort. –
»Es ist ein wunderlich Buch«, sagte die Lene auf dem Heimwege.
»Wunderlicher ist die Großmutter«, meinte die Trude. »Sie macht uns weis zu lesen und erzählt doch nur. Ich glaub, die Geschichte von den drei roten Blumen stand auch nur in ihrem Herzen drin.«
»Die hat sie gelesen«, eiferte die Marie.
»Aber sie wird doch ihr Teil dazu gemacht haben«, sagte die Trude wieder ein bißchen pikiert. »Sie sitzt den ganzen Tag so allein auf der Mühle da, – ja, da fallen ihr so Geschichten ein, besonders wenn man alt ist. Und dann hat sie's auch ein bißchen geerbt von ihrem Großvater-Bruder, der der Lehrer drüben im Schloß war und auch das Buch geschrieben haben soll. Aber merken will ich mir – ohne rechte Lieb will ich keinen, – er muß was thun können.«
Ein paar strafende Blicke, – ein Kichern, – ein »ja, ich merk mir's auch –«
»Und dann – lustig muß er sein«, fuhr die Trude fort. »Nur ein lustiger Mann ist auch ein guter Mann, wie der Großvater einer war.«
»O, ihr Gänse«, sagte die Älteste, die Lisbeth. »Wenn ihr nichts anderes zu schwätzen wißt! – –«
»Du – Du! – mußt Nonne werden –.«
Ein Arbeiter aus dem Felde hatte die Nachricht ins Dorf gebracht, die Großmutter liege krank. Die ganze, zahlreiche Familie ging hinaus in die Mühle.
»Es geht zum End'«, sagte die Großmutter.
Ein paar wischten die Thränen und schluchzten.
»Aber ihr dürft nicht flennen drum. Man ist ein Lichtelchen, angezündet worden ohne Frag und Geheiß und wird ausgeblasen auch grad so. So ging's immer, und so geht's weiter. Und Neue kommen, da gehen die Alten. Es ist gut so, und 's muß immer Platz sein. –
Ich seh euch nicht mehr recht, Kinder. Meine Augen sind längst müde und wollten sich schon lange zuthun. Aber das geht nicht gleich so. Sie haben sich so lange an die Welt gewöhnt, da wollen sie gern offen bleiben und die Welt behalten.
Meine haben das Zugehen leicht, sie sehen längst das Leben nicht mehr klar. Nun will ich nicht hadern. Das Leben hat's gut mit mir gemeint. Ich hab mir wenigstens immer was draus zu Nutz gemacht, wie's das Leben auch gemeint hat. So will ich auch, wenn jetzt die Sterbestund kommt, nicht klagen. Sie hätt' schon früher kommen können, und 's wär auch nicht spät gewesen.
Den Karl hält ich gern noch mal gesehen, den ihr auf die ›hoch Schul‹ gethan habt. Hinterlassen kann ich ihm nichts, was ihm was nützen könnt'. Ich hätt' ihm nur gern noch mal die Hand gegeben und ein Wort von meinem Vater gesagt, das ihm gut gewesen wäre, – es hätt' ihn vor Stolz bewahrt –: daß all die studierte Weisheit die dummste Sache in der Welt schon gemacht hätt', – und daß er sich im Leben nicht so sehr soll dran halten. Ich hab das auch gefunden in meinen langen Jahren, und euer Großvater, der Müller, hat's auch immer gesagt: ›des is des Best nit, was von auße in ein kommt, 's Best kommt immer von inne eraus. Freilich muß dann einer recht 's Herz dazu habe‹.« –
Nach zwei Tagen schlief die Großmutter sanft ein. Als sie begraben wurde, sagten die Leute: sie war eine gute Frau. In allem wußte sie Rat. Und sie hat so ein paar Sprüche gehabt, die thaten eim' manchmal recht im Herzen wohl.
Und jetzt noch – wenn einer auf dem Hügel steht, der hinter dem Dorfe liegt und durch die Lücke der Pappeln sieht, an der großen Erle mit der Nestkrone vorbei, die sechs, acht Weidenstümpfe hin, dann denkt er an die alte Lisbeth Müllerin, und er sagt auch wohl seinem Buben: »da zwischen den Pappeln – guck aber genau – da liegt die Eulenmühl, morgens und abends immer im Nebel, manchmal aber am Mittag, da sieht man ihren weißen Giebel, wenn man's weiß. Und jetzt verfällt er auch. Da hat die Lisbeth Müllerin drin gewohnt, eine gute Frau. Und deiner Mutter hat sie manchmal beigestanden mit einem guten Rat und Trost, wenn's uns übel ging. Über achtzig Jahr ist sie geworden, und nun ist sie auch schon ein paar Jahre tot.«
Das ist die Spur, die die Großmutter von ihren Erdentagen zurückgelassen. Sie war eine einfache Frau, und selbst nach diesem Wenigen hätte sie nie begehrt – –
Nachschrift: Der Enkel der Lisbeth Müllerin hat ihr diese Geschichte in das Buch nachgeschrieben, das sie ihrer ältesten Enkelin vermacht hat. Noch ein paar Seiten waren darin frei.
Seine breite feste Schrift steht freilich gar wunderlich neben den feinen Rokokoschnörkeln des Ahnen, der die jungen Grafen auf dem Schloß erzog. Aber sie muß sich halt damit vertragen.
Ein wenig gekratzt habe seine Feder auf dem alten, rauhen Papier, und manchmal sei's ihm ans Herz gegangen und oft auch schwer gefallen. Er hab's aber wie einen Dank empfunden, es niederschreiben zu können. Eine »Geschichte« sei's ihm ja wohl nicht geworden, – aber es sei jedenfalls ein gutes Leben, und das sei schon auch einer Niederschrift wert.