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Das Arbeitszimmer im Palais des Marquis de Bresançon. Durch ein hohes Fenster im Hintergrunde fällt der matte Schein einer Straßenlaterne auf den Schreibtisch. Rechts führt eine etwas geöffnete Türe in die Bibliothek, links eine geschlossene in das Schlafzimmer. Neben dem Fenster, fast schon in der Ecke, eine Tapetentüre. Alles im Raum ist alt, einfach und wertvoll, mit einem Wort: kultiviert. Der Marquis de Bresançon kommt vom Filmball, er eilt sofort in sein Arbeitszimmer im ersten Stock und entledigt sich erst unterwegs seines Mantels, Schals und Hutes, wobei ihm Jean behilflich ist; dieser schaltet auch das Licht ein, eine Lampe auf dem Schreibtisch, die aber genügend hell leuchtet, um den ganzen Raum erkennen zu können.
Marquis, Jean.
Marquis tritt durch die Tapetentüre ein: Haben Sie den Alten geweckt?
Jean Sehr wohl, Herr Marquis! Er sitzt in der Bibliothek – Er deutet auf die Türe rechts. Und die avisierte Dame ist auch bereits eingetroffen, ich habe sie unten in den Salon geführt.
Marquis Lassen Sie sie warten, bis ich rufe.
Jean Sehr wohl, Herr Marquis! Er will ab.
Marquis als würde ihm plötzlich noch etwas einfallen: Und: es wird noch ein gewisser Herr Nevieux kommen, den führen Sie sofort zu mir.
Jean Sofort! Er verbeugt sich und ab durch die Tapetentüre mit Mantel, Schal und Hut.
Marquis.
Marquis steht kurze Zeit mitten im Raum und denkt vor sich hin; geht dann langsam an seinen Schreibtisch, öffnet eine Lade, holt ein Notizbuch hervor und scheint Zahlen zu addieren; unten im Parterre schlägt eine alte Uhr die dritte Stunde; nun hält er das Büchlein in der Hand, als würde er es wiegen wollen – plötzlich zuckt er zusammen und lauscht; durch die Stille dringt aus der Bibliothek leises Schnarchen, das allerdings immer kräftiger wird; er muß unwillkürlich lächeln, erhebt sich, geht an die etwas geöffnete Türe rechts, öffnet sie ganz und ruft hinein: Bientôt! Das Schnarchen bricht ab. Komm!
Marquis, Bientôt.
Bientôt taucht in der Türe rechts verschlafen auf.
Marquis freundlich: Setz dich! Zigarre? Er hält ihm ein Kistchen entgegen.
Bientôt setzt sich unfreundlich in einen breiten Lehnstuhl:
Nein. Ich pflege Nachts nicht zu rauchen, sondern zu schlafen. Oder zu trinken.
Marquis deutet auf ein Tischchen: Dort steht Kognak!
Bientôt Wo? Er erhebt sich wieder, geht auf das Tischchen zu und schenkt sich ein. Seltsam! Ich hab zuvor grad von Kognak geträumt –
Marquis Tröste dich, du bist nicht der Einzige, den ich aus seinen Träumen reißen mußte – Nevieux wird auch sogleich erscheinen.
Bientôt stockt beim Trinken: Nevieux? Dreht es sich also darum?
Marquis Ja. Immer hab ich gehofft und hab es doch klar gewußt, daß mit der Zeit auch dieser Augenblick seine Aufwartung machen wird –
Bientôt Was für ein Augenblick?
Marquis Es kommt ans Licht.
Bientôt schreit: Ist nicht Ihr Ernst! Also ich hab kein Wort, keine Silbe! Nichts, nichts! Ich hab geschwiegen Sommer und Winter, Jahr für Jahr, Tag und Nacht! Er leert verzweifelt sein Glas und schenkt sich rasch wieder ein mit zitternden Händen.
Marquis ruhig: Warten wir auf Nevieux.
Stille.
Marquis zuckt plötzlich zusammen; unterdrückt. Hast du gehört?
Bientôt Was?
Marquis bange: Es geht jemand draußen –
Bientôt Wer?
Marquis wie zuvor: Ich weiß es nicht.
Bientôt Es gibt keine Gespenster!
Die Tapetentüre öffnet sich langsam.
Heilige Jungfrau!
Marquis schnellt empor: Wer da?!
Die Vorigen, Unbekannte.
Unbekannte erscheint in der Tapetentüre und sieht ängstlich herein.
Marquis Ach, Sie –
Unbekannte mit leisem Vorwurf: Sie sind schon zuhaus und ich wart im Salon –
Marquis Hat Sie der Diener herauf?
Unbekannte Nein.
Marquis Hübsch.
Unbekannte Wieso? Ich hab hier oben einen Lichtstrahl gesehen und bin halt herein –
Marquis ironisch: Nur einen Lichtstrahl?
Unbekannte begreift plötzlich; empört: Wo denken Sie hin?! Ich werd doch nicht spionieren! Aber Ihr Salon ist ja eine dumpfe Gruft, mit lauter Totenmasken, und da soll man warten, warten, warten, und weiß überhaupt nicht, auf was, warum und wieso?!
Marquis Später!
Unbekannte ruckartig entschlossen: Ich geh jetzt.
Marquis tritt ihr in den Weg: Halt!
Unbekannte Auf der Stell oder ich schrei!
Marquis ruhig, doch bestimmt: Nehmen Sie, bitte, Vernunft an.
Bientôt Richtig!
Unbekannte erblickt ihn erst jetzt und erschrickt heftig: Da ist ja noch einer!
Marquis deutet vorstellend auf Bientôt: Herr Bientôt, mein Freund!
Unbekannte stutzt, mustert Bientôt; sieht den Marquis ungläubig an.
Jawohl, mein Freund – der treu meinem Hause diente.
Unbekannte lächelt: Achso –
Marquis fixiert sie: Sie werden warten.
Unbekannte unwillig: Warum?!
Marquis wie zuvor: Es dreht sich immerhin um ein Leben.
Unbekannte sieht ihn groß an und schweigt.
Marquis sehr bestimmt. Sie warten.
Unbekannte Aber nicht in der Gruft!
Marquis muß leise lächeln: Dann hier – Er geleitet sie zur Türe rechts. Sie werden es nicht bereuen.
Unbekannte frech aus Unsicherheit: Sie müssen es ja wissen!
Marquis plötzlich sehr ernst: Gewiß! Er schließt hinter ihr die Türe rechts.
Marquis, Bientôt.
Bientôt kichert vor sich hin: Daß die über mich erschrocken ist –
Marquis Freut dich?
Bientôt Ja. Wer war denn das?
Marquis sitzt wieder am Schreibtisch und blättert in seinem Notizbuch: Später!
Bientôt Seltsam! Die sieht ihr nämlich ähnlich –
Marquis Wem?
Bientôt Ihr.
Marquis herrscht ihn an: Schweig!
Es klopft an die Tapetentür.
Marquis zuckt zusammen; dann. Herein!
Die Vorigen, Jean.
Jean tritt ein: Herr Nevieux!
Marquis erhebt sich: Ich lasse bitten!
Jean läßt Nevieux eintreten und schließt die Tapetentüre hinter sich.
Marquis, Bientôt, Nevieux.
Der Kohlenhändler Nevieux ist ein lebhafter Herr von ungefähr fünfundvierzig Jahren; Kleidung, Sprache und Benehmen nach ist er ein braver Kleinbürger, doch etwas an seinem Wesen erinnert an einen passionierten Kartenspieler. Er scheint recht nervös zu sein.
Nevieux verbeugt sich: Marquis! Er entdeckt Bientôt. Ah, Bientôt! Noch gute Nacht oder schon guten Morgen, man weiß es nicht, was man wünschen soll!
Marquis schenkt sich Kognak ein: Es wird bald licht.
Marquis Wir haben noch Zeit. Bitte – Er bietet Nevieux Platz an.
Alle setzen sich.
Marquis leise: Ich bat Euch zu mir, um klar zu sehen, und zwar sofort. Wir drei sind die einzigen, die jene tragische Verkettung alltäglicher Umstände – doch nein – nein! Ich will mich nicht freisprechen! Es war und bleibt meine Schuld.
Stille.
Ihr, meine Freunde, – ich darf Euch wohl so nennen?
Nevieux Aber Marquis!
Marquis winkt ab: Ich bin mir der Kluft bewußt zwischen ehrbaren Menschen und meiner Person! Ihr seid die einzigen Zeugen jener Tat, die mein Schicksal sein sollte. Und Ihr habt meine Last mitgetragen, seit jener verhängnisvollen Stunde, in der es geschah – seit jener Nacht, in der eine Seele erlosch durch meine Schuld.
Nevieux der nervös-gelangweilt zuhörte, als hätte er diese Eröffnungen schon unzähligemal gehört, kann nun seine Neugierde nicht mehr bezähmen: Sie sagten mir vorhin am Telephon, es müßte jemand gesprochen haben?
Bientôt Also ich kein Wort!
Nevieux Auch nicht im Rausch?
Bientôt böse: Junger Mann, wenn ich einen Rausch hab, dann werd ich totenstill!
Marquis Sprechen wir leise, es ist wer nebenan!
Nevieux Wer?
Marquis Jemand, der alles weiß.
Nevieux erschrickt sehr: Wie bitte?! Sehr aufgeregt. Herr Marquis, ich hab keinen Ton, keine Silbe, keine Andeutung, schon im ureigensten Interesse! Heiligstes Ehrenwort! Er leert hastig sein Glas Kognak.
Stille.
Marquis Es hat also jeder geschwiegen?
Nevieux rasch: Jeder!
Marquis Da sich also keiner von uns erinnert, gesprochen zu haben, stehen wir vor einem Rätsel.
Nevieux wird immer nervöser: Vielleicht hat wer –
Marquis unterbricht ihn scharf: Wer? Er fixiert ihn. Wer weiß noch davon außer uns?
Nevieux rasch: Niemand! Verzeihung, Marquis, es war nur eine gedankenlose Redensart – Er grinst verlegen. Verzeihung!
Marquis mißtrauisch geworden: Bitte!
Stille.
Nevieux versucht seine Nervosität niederzuringen: Sie sagten zuvor, nebenan wäre jemand, der alles wüßte –
Marquis Stimmt. Eine junge Frau.
Nevieux Ach!
Marquis Eine Schauspielerin, allerdings ohne Engagement.
Nevieux Aha. Erpressung?
Marquis Ich nehme es an.
Nevieux Was denn sonst?
Bientôt Dem Luder möcht ich mal meine Meinung ins Gesicht –
Marquis unterbricht ihn: Du wirst dich beherrschen!
Nevieux Hier hilft nur Geld, wenigstens meiner persönlichen Erfahrung nach. Nur Geld!
Marquis Werden sehen.
Nevieux Trumpf sticht!
Marquis nickt: Rien ne va plus.
Nevieux Die Kugel rollt –
Marquis Rot oder schwarz.
Stille.
Nevieux Und wenn wir verspielen?
Bientôt »Wir«? Ich weiß nichts! Radikal nichts!
Nevieux Erzählen Sie das der Polizei!
Marquis herrscht ihn unterdrückt an: Nicht so laut! Er erhebt sich. Ich danke Euch!
Bientôt erhebt sich ebenfalls: Wiedersehen!
Marquis Ich kenne den Einsatz, ich kenne das Spiel. Zwar besitz ich nur einen einzigen Trumpf, aber ich werde mich wehren bis zum Nichts.
Nevieux der sich auch erhoben hat, verbeugt sich: Marquis!
Ab mit Bientôt, der die Kognakflasche mitgehen läßt, durch die Tapetentüre.
Marquis, Unbekannte.
Marquis überlegt einen Augenblick, geht dann an die Türe rechts und öffnet sie: Darf man bitten!
Unbekannte tritt ein.
Marquis hat sich an seinen Schreibtisch gesetzt. Nehmen Sie Platz!
Unbekannte setzt sich verärgert neben den Schreibtisch.
Haben Sie drüben alles gehört?
Unbekannte empört: Ich werd doch nicht horchen! Für was halten Sie mich denn?!
Marquis unbeirrt: Kennen Sie einen Herrn Nevieux?
Unbekannte Nevieux? Ja. Warum?
Marquis Interessant.
Unbekannte Ich kenn sogar zwei Nevieux. Der eine hat eine Fischhandlung und der andere ist ein Souffleur.
Marquis ironisch: Nur zwei?
Unbekannte braust auf: Jetzt wirds mir aber zu bunt! Zuerst kommandierens mir auf dem Ball, ich soll sofort zu Ihnen, dann lassens einen in einer Gruft warten, dann schreiens mich an, ich spionier und ich horch, und dann wollens noch, daß ich einen dritten Nevieux kenn!
Marquis Man bittet um eine andere Taktik, Madame!
Unbekannte Ich hab überhaupt keine Taktik, bitt ich mir aus!
Marquis Einen Augenblick! Sie erklärten mir auf dem Ball, Sie würden alles veröffentlichen, allerdings unter bestimmten Voraussetzungen.
Unbekannte Stimmt! Nämlich unter der bestimmten Voraussetzung, daß ich die wahre Geschichte der Unbekannten erfahre. Ich kenne sie leider noch nicht.
Marquis starrt sie an, als würde ihn momentan der Schlag getroffen haben; leise, doch außer sich: Was? Was reden Sie da?!
Unbekannte Keine Ahnung!
Marquis braust auf: Aber Sie erklärten mir doch eindeutig, daß Sie einen Film an Hand der wahren Begebenheit –
Unbekannte unterbricht ihn: Das hab ich nicht Ihnen erklärt, sondern dem Bildreporter vom »Journal«, und da haben Sie gehorcht, Sie und nicht ich! Sie haben mich ja überhaupt nicht zu Wort kommen lassen! Diesem blöden Reporter habe ich doch nur aus Reklamegründen etwas vorgeschwindelt, genau wie dem Semper, zu guter Letzt aus Selbsterhaltungstrieb und aus sonst nichts! Haben Sie eine Ahnung in Ihrem Palais, was dazu für ein Ränkespiel gehört, um als anständige Unbekannte eine Titelrolle zu erreichen! Was man sich da alles erklügeln muß – ujjeh! Es war doch überhaupt meine Idee, einen Film mit dieser Totenmaske zu drehen, aber mein Exposé wurd nicht anerkannt, wahrscheinlich aus Neid, und jetzt sitzen meine Kollegen verzweifelt im Terminus, weil ihnen kein richtiges Motiv einfällt, warum daß die Unbekannte in die Seine gegangen ist! Und wie Sie mich dann auf dem Ball so seltsam gefragt haben, da hats mir einen direkten Stich gegeben und ich hab es gefühlt, daß Sie etwas wissen müssen, und bin her zu Ihnen, vielleicht um etwas zu erfahren, was wir verwerten können, filmisch und dergleichen! So, jetzt wissens alles!
Marquis Es genügt.
Stille.
Unbekannte Gebens mir, bitt schön, ein Glas Wasser!
Marquis erhebt sich, schenkt ein und reicht es ihr.
Danke! Sie trinkt aus.
Marquis Hats geschmeckt?
Unbekannte Sehr.
Marquis Das ist die Hauptsache – Er setzt sich und lächelt irr.
Unbekannte wird wieder unsicher: Ich mag nämlich eigentlich keinen Alkohol.
Stille.
Marquis betrachtet sie: Und Sie wollen die Unbekannte spielen?
Unbekannte Ja.
Stille.
Marquis wie zuvor: Die war anders.
Unbekannte wird immer unsicherer: Wenn ich mich anders frisiere –
Marquis Nein. Ich meine, da drinnen – Er deutet auf sein Herz.
Unbekannte Das ist mein Fach.
Stille.
Marquis fixiert sie: Schämen Sie sich nicht?
Unbekannte Wieso?
Stille.
Unbekannte sehr unsicher, möchte irgendetwas sagen: Und –
Marquis fällt ihr scharf ins Wort: Und?! Er erhebt sich und geht auf und ab. Es ist mir bewußt, daß ich leichtfertig annahm, Sie müßten alles wissen, was verborgen bleiben sollte. Da ich mich aber nunmal in diese Situation manövriert habe, wünsche ich keineswegs, daß sich die Legende auch meiner Person bemächtigt, ich will eine verlorene Position nicht länger verteidigen und ziehe die Wahrheit vor. Hören Sie: vor einem Menschenalter arbeitete hier im Hause, in der Gärtnerei, ein Mädchen. Der alte Bientôt, über den Sie vorhin erschraken, war damals noch keine Mumie. Er war ihr Chef – und der Einzige unter der Dienerschaft, der sie nicht immer prügelte, mit Worten, Blicken und sogar in der Tat. Sie hatte keine Eltern, keine Freunde – niemand. Sie kam aus dem Heim zum guten Hirten.
Unbekannte Ist das ein Waisenhaus?
Marquis Nein, das ist eine Korrektionsanstalt für verwahrloste weibliche Jugendliche. Die gesamte Dienerschaft, außer, wie gesagt, jene Mumie, fühlte sich durch die Anwesenheit dieses Mädchens beleidigt, entehrt, beschimpft, und gab es ihr tausendmal kund. Aber sie trug jede Kränkung, allen Spott und Schimpf mit heiliger Geduld. Ich war überzeugt von ihrer absoluten Anständigkeit. Um ihre Peiniger zu beschämen, gab ich ihr eine Gelegenheit, ihre Ehrlichkeit beweisen zu können: ich sandte sie in die Stadt, eine größere Summe auf der Bank abzuholen. Den ganzen Tag wartete ich. Sie kam erst spät in der Nacht und – hatte das Geld verloren. Erschüttert glaubte ich ihr kein Wort. Hier in diesem Raume, da, da schrie ich es ihr ins Gesicht und jagte sie vor versammelter Dienerschaft aus dem Hause. Dort ging sie hinaus. Ich werde ihren Blick nie vergessen, der mich traf. – Eine halbe Stunde später kam ein braver Mann mit dem Geld, er hatte es im Eisenbahnabteil gefunden. Sie hatte es verloren.
Stille.
Als ich dann jene Totenmaske erblickte, erkannte ich sie sofort. Ich und Bientôt, sonst keiner – denn keiner hatte sie im Leben jemals lächeln gesehen. Ja, es ist das Lächeln eines Engels, das Lächeln der Unschuld. Und ich bin ihr Mörder.
Unbekannte entsetzt: Nein!!
Marquis Doch!
Unbekannte wie zuvor: Sie sind doch kein Mörder, das seh ich Ihnen an!
Marquis scharf: Was sehen Sie mir an, was wissen Sie von mir?! Was wissen Sie von Ihrem Geliebten, Ihren Eltern, Freunden, Bekannten?! Nichts! Sie kennen die Fassade eines Hauses, vielleicht einige Zimmer, das ist alles! Decken Sie die Dächer ab: welche Verbrechen würden Sie entdecken! Hier! Er reicht ihr hastig aus seiner Brieftasche einen vergilbten Brief. Lesen Sie ihren Abschiedsbrief! Ihr letztes Wort, das sie mir gab – Lesen Sie!
Unbekannte liest den Brief und legt ihn dann langsam auf den Schreibtisch: Die Schrift gefällt mir nicht –
Marquis faßt sich ans Herz: Ich muß Sie bitten, in einem anderen Ton über dieses Wesen zu sprechen, das mein Schicksal geworden ist. Ich bitte um Ehrfurcht. – So, nun gehen Sie hin und drehen Sie Ihren Film!
Unbekannte schluchzt.
Marquis horcht auf und ändert den Ton; fast sanft. Was ist Ihnen?
Unbekannte fährt sich mit dem Taschentuch an die Augen; sehr leise: Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil Sie mich für etwas Schlechtes halten –
Stille.
Marquis Verzeihen Sie einem alten Mann –
Unbekannte weinend: Lächerlich! Sie sind doch kein alter Mann!
Marquis horcht wieder auf.
Unbekannte ängstlich. Darf ich jetzt gehen?
Es klopft auf die Tapetentüre.
Marquis zuckt zusammen: Herein!
Die Vorigen, Jean.
Jean tritt durch die Tapetentüre aufgeregt ein: Marquis, ein aufgeregter Mensch möcht Sie sofort sprechen, er hat mich sogar bedroht! Ein Doktor Huelsen!
Unbekannte Heiliges Känguruh, mein Bräutigam!
Jean feig: Wer?!
Unbekannte entsetzt zum Marquis: Rettens mich, rettens mich! Der glaubts mir ja nie und nimmer, daß ich nur wegen Ihnen bei Ihnen bin!
Marquis perplex: Wegen mir?
Unbekannte Oder wegen uns! Ist ja gehupft, wie gesprungen! Rettens mich, der bringt mich noch um!
Marquis Nana!
Jean Sicher!
Unbekannte zum Marquis: Sie kennen seine Novellen nicht!
Marquis Leider – Er muß lächeln und deutet dann auf die Türe rechts. Bitte! Ich werde schweigen.
Unbekannte wirft ihm einen ängstlich-dankbaren Blick zu: Oh, Sie sind lieb – Rasch ab in die Bibliothek.
Marquis horcht abermals auf; dann zu Jean: Ich lasse bitten!
Jean verbeugt sich hastig, läßt Huelsen ein und schließt stumm aufatmend die Tapetentüre hinter sich.
Marquis, Huelsen.
Huelsen stürzt befrackt, ohne Hut und Mantel, herein; er ist außer sich.
Marquis erkennt ihn überrascht: Ach! Ich hatte bereits die Ehre –
Huelsen bitter: Gewiß! Auf dem literarischen Tee bei der Baronesse Kalkowska! Marquis! Lange Worte haben wenig Sinn: bei Ihnen ist meine Braut. Ich weiß es unfehlbar! In der Bar, vom Mixer!
Marquis kann es nicht fassen: Von Robert?
Huelsen Vom Jüngeren!
Marquis beruhigt: Achso.
Huelsen Er hörte Sie telefonieren, daß eine junge Frau zu Ihnen kommen würde. Leugnen hat keinen Sinn! Ich fuhr sofort mit der Untergrund her, leider ist die Verbindung in der Nacht miserabel –
Marquis fällt ihm ins Wort: Ihr Mixer hat sich geirrt. Hier im Hause befindet sich keine junge Dame.
Huelsen Ehrenwort?
Stille.
Marquis leise: Ja. Ehrenwort.
Huelsen Danke! Ich bin historisch bewandert, und es ist mir bekannt, daß ein Marquis de Bresançon noch nie sein Ehrenwort brach, ja, daß Ihr Geschlecht den Adel dem Tatbestand verdankt, daß einer Ihrer Vorfahren sein Wort, selbst auf der Folter, nicht gebrochen hat.
Marquis Ja.
Huelsen fixiert ihn: Er ist lieber gestorben.
Marquis Sie haben recht.
Stille.
Huelsen Verzeihung! Er verbeugt sich steif verabschiedend.
Marquis Bitte!
Huelsen rasch ab durch die Tapetentüre.
Marquis sieht ihm in Gedanken versunken nach.
Marquis, Unbekannte.
Unbekannte erscheint behutsam: Diesmal hab ich gehorcht –
Marquis hört kaum hin; wie zu sich selbst: Andere sind zwar lieber gestorben –
Unbekannte perplex: Wie bitte?
Marquis nickt ihr wehmütig lächelnd zu: Sie haben alles gehört?
Unbekannte Nicht alles. Nur, daß Sie nichts gesagt haben, das hab ich gehört – Sie lächelt dankbar. Und ich werd auch nichts sagen. Auf Ehrenwort.
Marquis gereizt: Schweigen Sie, bitte!
Stille.
Unbekannte faßt es nicht, warum er sie angefahren hat; sachlich aus Gekränktheit: Darf man jetzt weg?
Marquis deutet auf die Tapetentüre.
Unbekannte wendet sich langsam der Tapetentüre zu, am Fenster vorbei, blickt unwillkürlich hinaus und erschrickt sehr; unterdrückt. Oh Gott! Ich kann nicht fort! Er steht vor dem Fenster!
Marquis nickt ihr traurig zu: War zu erwarten – Er tritt an das Fenster und blickt hinaus; nach einer kleinen Pause. Stimmt. Er ist historisch bewandert, aber das Wort eines Bresançon gilt ihm nichts –
Unbekannte Der hat auch zu mir kein Vertrauen. Er ist ein geborener Pessimist.
Stille.
Marquis Es regnet.
Unbekannte ängstlich: Jetzt sieht er mich an.
Marquis Er kann uns nicht sehen.
Unbekannte wie ein Kind: Weil er geblendet ist?
Marquis Stimmt! Er verläßt das Fenster.
Stille.
Unbekannte Der wird sich noch eine Lungenentzündung holen, und ich bin so müd – Sie verbeißt ein Gähnen.
Marquis schenkt ihr einen Whisky ein: Wenn Sie befehlen, steht Ihnen jederzeit mein Schlafzimmer zu persönlicher Verfügung – Er deutet auf die Türe links.
Unbekannte Wo denken Sie hin?!
Marquis sieht sie groß an: Mein Kind, ich denk schon lange nichts – mehr – Er leert hastig seinen Whisky. Da es Ihr Bräutigam mir nicht glauben will, daß Sie nicht hier sind, zwingt er Sie, noch hier zu bleiben. Leider besitz ich keinen Notausgang – Er lächelt abermals wehmütig.
Unbekannte Oh, Sie sind lieb! Sie muß heftig gähnen.
Jetzt fahren die Scheinwerfer eines Autos durch das Zimmer, man hört aber keinerlei Geräusch.
Ein Auto! Es hält.
Marquis Hier?
Unbekannte Ein Herr steigt aus.
Marquis tritt wieder ans Fenster; überrascht: Nevieux!
Unbekannte Ach, ist das der dritte?
Marquis rasch: Ich muß Sie bitten, in der Bibliothek –
Unbekannte fällt ihm ins Wort: Ist da ein Divan drin?
Marquis Nein.
Unbekannte Also nur Bücher – Sie lächelt. Dann vielleicht doch lieber dort – Sie deutet nach links und droht ihm mit dem Zeigefinger. Aber nur zur allerpersönlichsten Verfügung!
Marquis ungeduldig: Ohne Zweifel! Er geleitet sie nach links.
Unbekannte Man ist doch kein Bücherwurm –
Marquis Schlafen Sie gut! Er schließt, kurz aufatmend, die Türe links hinter ihr.
Es klopft an die Tapetentüre.
Herein!
Marquis, Nevieux.
Nevieux tritt ein, er scheint noch nervöser zu sein: Marquis! Ich nehme an, Sie sind überrascht, daß ich abermals auftauche, aber Ihre Befürchtungen vorhin haben mich zutiefst erschüttert. Sind Sie mit der Person ins Reine gekommen?
Marquis hält Distanz: Die Kugel rollt noch.
Nevieux Dann kann man noch setzen. Marquis! Ich habe Ihnen ein Geständnis –
Marquis fällt ihm ins Wort: Sie haben geschwätzt?
Nevieux Nicht ich!
Marquis fixiert ihn: Nevieux, Sie sind ein Hasardeur.
Nevieux Leider! Aber jetzt haben Sie die Trümpfe und ich bloß Mist. Ich vermutete ja sogleich, wer geschwätzt haben dürfte, und ich nahm mir das Frauenzimmer, sowie ich wieder zuhause war, energisch vor – endlich gab sie es zu: sie hat es der Hausmeisterin erzählt.
Marquis Versteh kein Wort.
Nevieux Marquis! Als Sie vor einem Menschenalter nach jenem tragischen Vorfall heimlich nachforschten, ob Ihre Unbekannte nicht doch irgendwo einen Verwandten hat, dem Sie irgend etwas Gutes tun könnten, um Ihr Gewissen zu entlasten, da fanden Sie mich – einen sechzehnjährigen Lehrling. Zum Studium wars zu spät, also kauften Sie mir ein Kohlengeschäft, ja sogar im Testament, wenn ich wohl unterrichtet bin –
Marquis Zur Sache!
Nevieux Ich schwieg, trug Ihre Last mit – aber jetzt hab ich Angst, denn ich habe die Skandalsucht der Öffentlichkeit mehr zu fürchten wie Sie!
Marquis Kaum!
Nevieux Doch! Dieser ganze Rattenschwanz von Presse und Polizei – Marquis! Ich bin ein Betrüger, ein erbärmlicher Betrüger! Und Ihre Unbekannte ist auch eine Betrügerin! Sie ist gar nicht tot, sie lebt!
Marquis Nevieux!!
Nevieux Sie ging wohl in die Seine, aber sie schwamm auch wieder heraus – und hat es der Hausmeisterin erzählt!
Marquis starrt ihn total durcheinander an: »Schwamm auch wieder heraus«?
Nevieux So wahr ich lebe.
Stille.
Marquis faßt sich ans Herz; sehr leise: Und, meine Totenmaske?
Nevieux zuckt die Schultern: Das ist eine andere.
Marquis Eine andere? Er fährt sich mit der Hand über die Augen. Nein – nein! Sie lügen!
Nevieux Ehrenwort!
Marquis macht eine wegwerfende Geste.
Ich kann es begreifen, daß ein Bresançon meinem Ehrenwort keinen Glauben schenkt.
Nicht schlagen, bitte.
Marquis Ich pflege nicht zu schlagen.
Stille.
Nevieux Wollen Herr Marquis Ihre Unbekannte sehen?
Marquis faßt sich wieder ans Herz: Sehen?
Nevieux Ich hab sie gleich mitgebracht. Ein korrekter Beweis aus Fleisch und Blut – Er öffnet die Tapetentüre und ruft hinaus. Tante, komme herein!
Die Vorigen, Tante.
Die unbekannte Tante ist eine Greisin, die immer beschränkt vor sich hinzulächeln scheint. Sie tritt auf einen Stock gestützt ein.
Tante zu Nevieux: Hast du mit ihm gesprochen?
Nevieux laut: Dort steht er!
Tante erblickt den Marquis erst jetzt: Ah! Sie verbeugt sich. Ihr Diener, Marquis!
Marquis erkennt sie allmählich erschüttert.
Tante zu Nevieux; ängstlich. Wird er mir verzeihen?
Marquis fixiert sie.
Nevieux zum Marquis; bange: Sie fragt, ob Sie uns verzeihen –
Marquis unterbricht ihn tonlos: Ja.
Nevieux Tausend Dank!
Marquis schneidet ihm mit einer unwilligen Geste das Wort ab; dann nur um etwas zu sagen, zur Tante: Und, wie gehts?
Nevieux zum Marquis: Sie müssen lauter reden – Laut.
Tante! Der Herr Marquis erkundigt sich, wie es dir geht?
Tante Gut. Sie lächelt den Marquis blöd an.
Stille.
Marquis plötzlich schneidend laut: Sie waren eine gute Schwimmerin, wie?
Tante glotzt ihn an und zuckt dann entsetzt zusammen; zu Nevieux: Robert, ich frier! Der Nebel ist schwarz und der Himmel ist Wasser –
Nevieux unterbricht sie: Pst! Wir sind nicht zuhaus! Zum Marquis. Verzeihung, sie ist halt ein bisserl senil – Er deutet auf seine Stirne; zur Tante. Komm! Zum Marquis, sich verabschiedend. Marquis! Ich werde alles in Raten zurück, jede Wohltat –
Marquis Ich verzichte!
Tante keifend: Bring mich ins Bett!
Nevieux herrscht sie an: Fängst schon wieder an?! Ab mit ihr durch die Tapetentür.
Marquis.
Marquis sieht der Tante und Nevieux nach; tonlos: Sie war es. – Er liest ihren Abschiedsbrief nochmals genau durch und blickt dann vor sich hin, als würde er sein Leben abrollen sehen; er nickt. Das war mein Leben. Aber die Schrift gefällt mir nicht – Er grinst und zerreißt ihren Abschiedsbrief.