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In den Pariser Kloaken also befand sich jetzt Jean Valjean.
Auch eine Aehnlichkeit von Paris mit dem Meere: Wer in diese beiden Tiefen taucht, kann darin verschwinden.
Es war ein merkwürdiger Uebergang. Noch mitten in der Stadt, war Jean Valjean doch außerhalb derselben und im Umsehen, in der Zeit, die Jemand braucht, einen Deckel hochzuheben und wieder niederzulassen, war er aus dem hellsten Tageslicht in die tiefste Finsterniß, aus dem furchtbarsten Getöse in die lautloseste Stille, aus dem wildesten Getümmel des Lebens in die Ruhe des Grabes übergegangen und vermöge einer noch außerordentlicheren Fügung als diejenige, die ihn ehedem in der Rue Polonceau gerettet hatte, erfreute er sich nach der eben überstandenen, gräßlichen Gefahr der vollkommensten Sicherheit.
So plötzlich in einen Keller zu versinken, aus der Straße entkommen, wo der Tod in tausenderlei Gestalt umging, und in ein Grab hinunterzusteigen, wo das Leben gerettet werden konnte, kam ihm einen Augenblick so seltsam vor, daß er wie betäubt war und erstaunt aufhorchte. Der Himmel hatte ihm in seiner Güte gewissermaßen einen hinterlistigen Streich gespielt, indem er ihm die rettende Fallthür zeigte.
Leider machte der Verwundete nicht die geringste Bewegung und Jean Valjean wußte nicht, ob er da einen Lebenden oder einen Toten in die Grube getragen hatte.
Das erste Gefühl, das er empfand, war das der Blindheit. Eine Zeit lang sah er plötzlich gar nichts. Zugleich kam es ihm vor, als sei er auch taub geworden. Er hörte nichts mehr. Der rasende Mordlärm, der einige Fuß über ihm tobte, gelangte, wie wir schon erklärt haben, wegen der Dicke der Erdschicht, die dazwischen lag, nur gedämpft und undeutlich zu ihm, wie ein Brausen in einem tiefen Abgrund. Nur daß er festen Boden unter seinen Füßen fühlte, aber mehr brauchte er ja nicht. Er streckte also erst den einen, dann den andern Arm aus, betastete das Gemäuer auf beiden Seiten und erkannte, daß der Gang eng, und, da er ausglitt, daß die Fliesen, auf denen er stand, feucht waren. Nun setzte er einen Fuß vorsichtig weiter, aus Furcht in ein Loch, eine Senkgrube, irgend eine Vertiefung zu stürzen, fand aber, daß die Pflasterung ununterbrochen war und errieth an dem widerwärtigen Geruch, der ihm von allen Seiten entgegenströmte, an was für einem Ort er sich befand.
Nach Verlauf einer kurzen Spanne Zeit war seine Blindheit verschwunden. In das Loch, durch das er hereingekommen, fiel ein wenig Tageslicht und seine Augen gewöhnten sich allmählig an die Dunkelheit. Er fing an, einige Dinge zu unterscheiden. Der Gang, in den er auf seiner Flucht gerathen war, endete hinter ihm mit einer Mauer, war also eine Art Sackgasse. Vor sich sah er eine andre Mauer, eine solche, wie die Dunkelheit sie bildet. Denn das Licht, das durch das Loch hereinfiel, reichte bloß zehn bis zwölf Schritte von der Stelle, wo sich Jean Valjean befand, und beleuchtete mit seinem fahlen Schein kaum einige Quadratmeter der feuchten Wände. Weiterhin herrschte undurchdringliche Finsterniß und sich dort hineinzuwagen war so gut, als stürzte man sich in einen Abgrund. Indessen blieb Jean Valjean nichts Andres übrig, als nach dieser Seite hin vorwärts zu gehen und zwar mußte er sich beeilen. Er sagt sich, so gut wie er sich das Gitter unter den Steinen gesehen hatte, ebenso gut könnte es auch von den Soldaten bemerkt werden und von diesem Zufall hing alles ab. Sie konnten ebenfalls in den Schacht hinuntersteigen und den Gang durchsuchen. Es war also keine Minute zu verlieren. Er hob also Marius, den er, um sich zu orientiren, auf die Erde gelegt hatte, auf, lud ihn sich wieder auf die Schultern und schritt kühn in die Dunkelheit hinein.
In Wirklichkeit stand es mit der Rettung lange nicht so gut, wie Jean Valjean glaubte. Vielleicht warteten ihrer Gefahren andrer Art und nicht minder furchtbare. Nach dem Sturm der Schlacht, eine Höhle voller Miasmen und unbekannter Schrecknisse. Jean Valjean war blos aus einem Höllenkreis in einen andern gekommen.
Als er fünfzig Schritte zurückgelegt hatte, drängte sich ihm eine schwierige Frage auf, der Gang war zu Ende; er mündete in einen andern, der ihn senkrecht durchschnitt. Jean Valjean mußte also eine Wahl zwischen zwei Wegen treffen. Sollte er links oder rechts gehen? Und wie sollte er sich weiterhin, wie sich überhaupt in dem schwarzen Labyrinth zurecht finden? Ein Orientirungsprinzip freilich bot sich ihm von selber dar. Das Labyrinth war dem Flusse zugeneigt. Ging er also immer abwärts, so mußte er schließlich an die Seine gelangen.
Dies begriff Jean Valjean auf der Stelle.
Er vermuthete, daß er sich in der Markthallenkloake befinde, und sagte sich, wenn er sich links hielte und immer nach unten gehe, so würde er vor Ablauf einer Viertelstunde an irgend einer Kloakenmündung zwischen dem Pont-au-Change und dem Pont-Neuf ankommen, d. h. er würde am hellen lichten Tage in der belebtesten Gegend von Paris aus der Erde hervortauchen. Wo möglich kam er mitten auf einem öffentlichen Platze ans Tageslicht. Großes Staunen über die zwei mit Blut bedeckten Menschen, neugierige Fragen, großer Auflauf, Herbeikunft pflichteifriger Schutzleute: Man wurde arretirt, ehe man kaum herausgekommen war. Es war also viel besser, er ging tiefer in den unterirdischen Straßenwirrwarr hinein, trotz der Dunkelheit, und überließ es der Vorsehung, die Frage, wie er hinauskommen sollte, zu lösen.
Er kehrte also wieder um und ging aufwärts, den rechten Arm des Querganges entlang.
Als er hinter der Ecke des ersten Ganges angekommen war, verlor er das Licht aus den Augen und wurde wieder blind, denn völlige Finsterniß umgab ihn hier. Er schritt trotzdem weiter und zwar so schnell, wie es ihm irgend möglich war, indem er mit der einen Hand sich an der Wand entlang tastete. Mit der andern hielt er Marius fest, dessen beide Arme er sich um den Hals gelegt hatte. Marius Wange berührte die seinige, ja klebte daran, denn sie war mit Blut übergossen. Er fühlte, wie ein lauer Strom über ihn niederrieselte und durch seine Kleider hindurchdrang. Indessen bewies eine feuchte Wärme an seinem Ohr, das der Mund des Verwundeten berührte, daß noch Athem und folglich Leben da war. Die Galerie, die er jetzt entlang ging, war weniger schmal als die erste, aber es ließ sich schwerer darin gehen. Das Regenwasser vom vergangenen Tage war noch nicht abgelaufen und bildete in der Mitte einen kleinen Bach, so daß er sich dicht an der Mauer halten mußte, um nicht im Wasser waten zu müssen.
Indessen, da hier und da das Tageslicht durch irgend eine Oeffnung drang und das dunstige Dunkel etwas erhellte oder seine Augen sich mehr der Umgebung anpaßten, so konnte er doch etwas sehen und bald die Wand, an der er sich weiter fühlte, bald die Gewölbe, unter denen er entlang ging, erkennen. Die Pupille dehnt sich in der Dunkelheit aus und lernt das Licht finden, so wie die Seele sich im Unglück erweitert und Gott findet.
Sich hier unten zu orientieren war keine leichte Sache.
Die Lage der Kloaken ist wesentlich bedingt durch die Richtung der Straßen in der Oberstadt. Nun gab es aber in dem damaligen Paris zweitausendzweihundert Straßen und hätten die Kloaken eine einzige, gerade Linie gebildet, so wäre diese dreiundvierzigtausend Meter lang gewesen.
Jean Valjean fing gleich mit einem Irrthum an. Er glaubte, er befinde sich unter der Rue Saint-Denis und es war unangenehm für ihn, daß dies nicht der Fall war. Unter der Rue Saint-Denis liegt nämlich eine alte, steinerne Kloake, die aus der Zeit Ludwigs XIII. stammt und sich in gerader Richtung bis zu dem Sammelkanal, die den Namen die große Kloake führt, erstreckt und nur ein einziges Knie bildet, nur einen einzigen Zufluß empfängt: Die Kloake Saint-Martin. Aber die Galerie der Petite-Truanderie, deren Eingang unweit des Wirtshauses Corinthe lag, hat nie mit dem Untergrund der Rue Saint-Denis in Verbindung gestanden, sondern sie mündet in die Kloake Montmartre und nach der Richtung hin hatte sich Jean Valjean gewandt. Dort fehlte es nicht an Gelegenheiten, sich gründlich zu verirren. Die Kloake Montmartre ist nämlich eine der verworrensten des alten Netzes. Zum Glück hatte Jean Valjean die Kloake der Markthallen, die noch labyrinthischer war, hinter sich gelassene; aber vor ihm lag noch so manche Straßenecke, wo er in Verlegenheit gerathen konnte; erstens, links die große Kloake Plâtrière, deren vielfach verschlungene T- und Z-förmige Arme Anlaß genug zum Kopfzerbrechen geben konnten und die unter dem Postgebäude und unter der Rotunde der Getreidehalle bis zur Seine geht, wo sie in zwei schräge Arme endet; zweitens, rechts den großen, krummen Korridor mit seinen drei Zinken, die an dem andern Ende ohne Verbindung sind; drittens, links das Zweigsystem des Mail, das beinah am Anfang die Gestalt einer Gabel annimmt und sich in vielen Zickzacken nach der großen Krypta des Louvre begiebt, die ihrerseits nach allen Richtungen Zweige entsendet; endlich rechts der ausgangslose Gang unter der Rue des Jeuneurs, ganz abgesehen von vielen kleineren Einbiegungen auf dem Wege nach der Gürtelkloake, der einzigen, in der Jean Valjean zu einem so weit entfernten Ausgang gelangen konnte, daß er in Sicherheit gewesen wäre.
Hätte Jean Valjean auch nur eine Ahnung von den eben angedeuteten Thatsachen gehabt, so würde er bei der bloßen Betastung der Mauer gemerkt haben, daß er sich nicht in der unterirdischen Galerie der Rue Saint-Denis befand. Statt der ehemals gebräuchlichen Quadersteine, des alten, stolzen und sogar noch in den Kloaken königlichem Architekturstils mit der Bettung und den Steinlagen aus Granit und fettem Kalkmörtel, wovon die Klafter achthundert Livres kostete, hatte er das billigere, moderne Material unter seiner Hand gefühlt, den in hydraulischen Mörtel gesetzten Mühlenkalkstein aus einer Betonlage, das spießbürgerliche Mauerwerk aus sogenanntem kleinen Material; aber alle diese charakteristischen Merkmale waren unserm Jean Valjean unbekannt.
Er ging bloß immer vor sich hin, voller Sorgen, aber mit ruhiger Besonnenheit, aufs Geratewohl, dem Zufall, d. h. der Vorsehung vertrauend.
Allmählich allerdings wandelte ihn Furcht an, drang die Nacht, die ihn umgab, auch in seine Seele ein. Befand er sich doch an einem räthselvollen Ort. Alle die Kreuzungen, Kniee, Windungen konnten Schwindel erregen. Wie schauerlich, so planlos durch diese Finsterniß irren zu müssen! Jean Valjean war gezwungen sich zurecht zu finden, ohne die Wege sehen zu können. In diesem unbekannten Wirrwarr konnte jeder Schritt, den er that, sein letzter sein. Wie würde er blos hinauskommen? Ob er überhaupt einen Ausgang finden würde? Und bei Zeiten? Es war ja gerade, als stecke er in einem großen, steinernen Schwamm und solle sich einen Weg nach der Außenseite suchen. Ob er nicht vielleicht in ein Labyrinth hineingerieth, aus dem er sich überhaupt nicht mehr herausfinden würde? Wie wenn Marius sich verblutete und er selber vor Hunger umkäme? Vielleicht wurden sie auch der Sammlung von Skeletten beigesellt, die sich hier in Menge herumtreiben mußten! Alle diese Fragen beschäftigten seinen Geist, aber beantworten konnte er sie nicht.
Plötzlich passirte ihm etwas Merkwürdiges. Als er es am wenigsten erwartete und nachdem er doch immer geradeausgegangen war, bemerkte er, daß es nicht mehr aufwärts ging; das Wasser kam von hinten statt von vorn und er fühlte, daß er abwärts stieg. Was sollte das bedeuten? Näherte er sich jetzt wieder der Seine? Das war sehr gefährlich, aber die Umkehr konnte noch verhängnißvoller für ihn werden. Er marschirte also weiter.
Er ging aber keineswegs auf die Seine zu. Der Boden von Paris fällt auf dem rechten Flußufer an der einen Stelle nach zwei Seiten hin ab und ergießt seine Gewässer einerseits in die Seine, andrerseits in die große Kloake. Der Kamm dieser Wasserscheide bildet eine sehr unregelmäßige Linie. Die höchste Spitze, diejenige, wo der Abfluß sich theilt, liegt in der Kloake Sainte-Avoye jenseit der Rue Michel-le-Comte, in der Kloake des Louvre, unweit der Boulevards und in der Kloake Montmartre unweit der Centralmarkthalle. An diesem Punkte also war Jean Valjean angelangt und wanderte auf die Gürtelkloake zu, befand sich also auf dem rechten Wege, was er freilich nicht wußte.
Jedesmal, wenn er an einen Zweiggang kam, betastete er die Ecken, und wenn die Oeffnung, die er ihm darbot, weniger breit war, als der Korridor, den er entlang schritt, so ließ er ihn unbeachtet. Er ging von der richtigen Ansicht aus, daß jeder schmalere Weg keinen Ausgang haben könne und ihn nur von seinem Ziele entfernen würde. Auf diese Weise entging er denn auch der Gefahr, in die vier oben beschriebnen Labyrinthe zu gerathen.
In einem gewissen Augenblick merkte er, daß er aus demjenigen Theil der Stadt, wo der Aufruhr jedwedem Verkehr ein Ende gemacht hatte, herausgekommen war und sich wieder in einem Viertel befand, wo das moderne Leben pulsierte. Das erkannte er an einem gewissen donnerartigen, wenn auch stark abgeschwächten Geräusch über seinem Kopfe, dem Rumor der Wagen.
So wanderte er ungefähr eine halbe Stunde, wenigstens soweit er selber es berechnen konnte und hatte sich noch nicht einfallen lassen, sich auszuruhen, nur daß er Marius jetzt mit der andern Hand festhielt. Die Dunkelheit, die ihn umgab, war noch undurchdringlicher als vorher, aber dieser Umstand beruhigte ihn.
Auf ein Mal sah er vor sich einen Schatten. Er zeichnete sich auf einem röthlichen Grunde ab, den der Boden zu seinen Füßen bildete und derselbe rothe Schein erhellte das Gewölbe über seinem Kopfe und die klebrigen Wände des Ganges. Hoch erstaunt wandte er sich um.
Hinter ihm, in demjenigen Theile des Ganges, den er eben durchschritten hatte, an einem Punkte, der ihm sehr fern vorkam, flammte in der Dunkelheit eine Art fürchterlicher Stern, der ihn anzusehen schien.
Es war die Polizei, deren Stern in der Kloake aufgegangen war.
Hinter dem Licht bewegten sich acht bis zehn schwarze, aufrechte, undeutliche, fürchterliche Gestalten.
Am 6. Juni wurden auf höheren Befehl die Kloaken abgesucht. Man fürchtete, die besiegten Insurgenten würden sie als Zufluchtsort benutzen und so ließ der Polizeipräsident Gisquet eine Streife in dem geheimen Paris unternehmen, während der General Bugeaud die öffentlichen Straßen säuberte, eine zwiefache Operation, die eine doppelte Entfaltung der zur Aufrechterhaltung der Ordnung bestimmten Streitkräfte, der Armee und der Polizei, erheischte. Drei Pelotons Schutzleute und Kloakenreiniger durchstreiften den Untergrund von Paris, der eine auf dem rechten, der zweite auf dem linken Ufer, der dritte in der Altstadt.
Die Schutzleute waren mit Karabinern, Totschlägern, Degen und Dolchen bewaffnet.
Die Laterne, deren Licht auf Jean Valjean geworfen wurde, war die der Runde des rechten Ufers.
Diese Truppe hatte die krumme Galerie und die drei Sackgassen, die unter der Rue du Cadran liegen, abgesucht. Während sie sich in diesen aufhielt, war Jean Valjean auf seinem Wege am Eingang der Galerie vorbeigekommen, hatte gesehen, daß sie schmaler war als der Hauptgang, und war nicht hineingegangen. Aber die Polizisten glaubten, als sie aus der Galerie du Cadran wieder zurückkehrten, nach der Gürtelkloake hin ein Geräusch von Schritten zu hören und irrten sich auch nicht. Deshalb hielt nun der Sergeant, der den Trupp kommandirte, seine Laterne in die Höhe, und Alle spähten in die Dunkelheit hinein, nach der Seite, woher das Geräusch gekommen war.
Hier durchlebte Jean Valjean wieder einmal einige Augenblicke unbeschreiblicher Angst.
Glücklicherweise war er den Polizisten gegenüber im Vortheil. Er sah sie, sie aber ihn nicht, weil sie im Lichte standen und er weit ab von ihnen, im Dunkel. Er blieb stehen und kauerte sich an der Wand nieder.
Uebrigens drang ihm, was da hinter ihm passirte, nicht vollständig ins Bewußtsein. In Folge der Schlaflosigkeit, des Mangels an Nahrung, der Aufregung, befand er sich in einem halb traumhaften Zustand. Er sah wohl in der Ferne einen grellen Schein, um den sich Schattenbilder bewegten; was die Erscheinung aber bedeutete, darüber nachzudenken, reichte seine Geisteskraft augenblicklich nicht aus.
Da Jean Valjean stehen geblieben war, so hörte auch das Geräusch seiner Schritte auf und so kam es, daß die Polizisten horchten und nichts hörten. Ebenso strengten sie ihre Augen vergeblich an, sie sahen nichts. Da berathschlagten sie mit einander.
An der betreffenden Stelle der Kloake Montmartre war damals eine Art Platz, den man seitdem von dem Plan des Pariser Untergrundes hat wegfallen lassen, weil sich daselbst nach starken Gewittern ein See zu bilden pflegte. Auf diesem Platze also war Raum genug für die ganze Truppe.
Jean Valjean sah, wie die Gestalten einen Kreis bildeten. Die Doggenköpfe näherten sich einander und flüsterten. Das Ergebniß der Berathung war, daß man sich geirrt, nichts gehört, Niemand gesehen habe! Statt zwecklos in der Gürtelkloake die Zeit zu vertrödeln, thäte man besser, eiligst umzukehren und sich nach der Kirche Saint-Merry zu begeben. Wenn irgendwo, so würde man in dem Viertel Arbeit bekommen und »Bousingots«Vergl.: Bassermannsche Gestalten. abfassen.
Von Zeit zu Zeit nehmen die politischen Parteien Aendrungen mit ihrem Schimpfwörterlexikon vor. So bevorzugte man 1832 zur Bezeichnung der weit nach links vorgeschrittnen Republikaner das Wort Bousingot, indem »Jakobiner« schon abgenutzt und »Demagoge«, das seitdem so ausgezeichnete Dienste geleistet hat, noch nicht aufgekommen war.
Der Sergeant wandte sich also mit seinen Leuten nach links, der Seine zu. Wären sie auf den Gedanken verfallen, sich in zwei Trupps zu theilen, und nach beiden Gegenden weiter zu gehen, so war Jean Valjean unrettbar verloren. Wahrscheinlich aber lauteten, angesichts der Möglichkeit, daß man auf stärkere Abteilungen Insurgenten stoßen könnte, die Instruktionen der Polizeipräfektur dahin, daß die ausgesandten Trupps sich nicht zerstückeln sollten. Die Runde setzte sich also wieder in Bewegung, indem sie Jean Valjean hinter sich ließ. Von alle dem sah dieser weiter nichts, als den plötzlichen Rückzug der Laterne.
Ehe er aber definitiv abzog, schoß der Sergeant, um das Gewissen der Polizei zu beruhigen, seinen Karabiner nach der verdächtigen Richtung hin ab. Der Wiederhall rollte von Gewölbe zu Gewölbe wie ein Gekoller in dem Leibe des Titanen, den die Götter lebendig unter einem Berg begruben. Ein Stück Mörtel, das in den Rinnstein fiel und das Wasser in geringer Entfernung von Jean Valjeans Standort in Bewegung setzte, zeigte ihm, daß die Kugel das Gewölbe über seinem Kopf getroffen hatte.
Taktmäßige und langsame Schritte hallten einige Zeit durch das Gewölbe, indem sie durch die allmählige Zunahme der Entfernung schwächer und schwächer wurden; die schwarzen Gestalten tauchten immer tiefer in die ferne Dunkelheit hinein; der Lichtschein schwankte von dannen, indem er an dem Gewölbe einen rothen Halbkreis bildete, der fortwährend abnahm und endlich verschwand; es trat wieder tiefe Stille und dichte Finsterniß ein. Aber Jean Valjean wagte nicht sich zu rühren, sondern schaute und horchte noch lange nach der verschwundnen Phantompatrouille.
Man muß der damaligen Polizei die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie selbst in den Zeiten, wo die Wellen der Politik am höchsten gingen, doch unentwegt ihre Pflicht als Hüterin der öffentlichen Ordnung erfüllte. Ein Aufruhr war in ihren Augen kein Vorwand den Verbrechern die Zügel schießen zu lassen und die Sicherheit der Bürger zu vernachlässigen, weil die Regierung in Gefahr sei. Der gewöhnliche Dienst litt nicht darunter, wenn die Polizei plötzlich noch so viel außergewöhnliche Arbeit bekam. Mochten auch Ereignisse von unberechenbarer Tragweite vor sich gehen, stand man auch einer möglichen Staatsumwälzung gegenüber, so kehrte man sich nicht an die Insurgenten und Barrikaden, sondern setzte ruhig die Jagd auf Mörder und Spitzbuben fort.
Ein derartiger Fall trug sich auch am Nachmittag des 6. Juni am rechten Ufer der Seine, ein wenig jenseit der Invalidenbrücke zu.
An dieser Stelle sah man zwei, durch eine gewisse Entfernung von einander getrennte Männer, die sich gegenseitig zu beobachten schienen. Der voranging, bemühte sich die Entfernung zu vergrößern, während der Andre näher an ihn heranzukommen suchte.
Das Spiel der Beiden erinnerte an eine Partie Schach. Keiner schien sich zu beeilen, Beide gingen langsam, als fürchtete Jeder, wenn er seinen Schritt beschleunigte, würde der Andre noch schneller gehn.
Abgesehen von dem besonderen Gebahren erinnerten die Beiden noch in Bezug auf ihre äußere Erscheinung an einen verfolgten Marder und an eine verfolgende Dogge. Der Vorderste war schmächtig und von schwächlichem Aussehen, während der Andre, ein Mann von hohem Wuchse und mit starkem Nacken, ein gefährlicher Gegner sein mußte.
Dieses Unterschiedes war sich der Erste auch wohl bewußt und deshalb suchte er gewiß von ihm loszukommen. Man konnte ihm aber an den Augen anmerken, daß er über die Rolle, die er spielen mußte, eine grenzenlose Wuth empfand.
Das Ufer war völlig menschenleer; ja sogar auf den hier und da angebundnen Kähnen waren weder Schiffer noch Lastträger zu sehen.
Man konnte die beiden Männer nur von dem andern Flußufer aus leicht bemerken und Jeder, der sie aus dieser Entfernung beobachtete, mußte unfehlbar zu dem Schlusse gelangen, daß der Eine, der Kerl mit der armseligen, zerlumpten Bluse, mit dem scheuen und unheimlichen Blick den untersten Schichten der Gesellschaft und der Andre mit seinem bis oben zugeknöpften Rock der Beamtenwelt angehören müsse.
Unsere Leser würden vielleicht die Beiden erkennen, wenn sie dieselben aus größerer Nähe sehen könnten.
Was bezweckte der Verfolger?
Wahrscheinlich hatte er es sich in den Kopf gesetzt, er wolle dem Andern zu einer wärmern Kleidung verhelfen.
Wenn ein von dem Staate eingekleideter Mann einen Lumpenmatz verfolgt, so will er bloß, daß der Staat dem armen Kerl diesen Gefallen thut. Leider sorgt er aber dabei, daß ein unliebsamer Unterschied zwischen ihm und dem Andern gemacht wird. Trägt er einen blauen Rock, auf den er stolz ist, so wünscht er, daß Jener eine rothe Jacke bekommt, die zu Tragen weder ein Vergnügen noch eine Ehre ist.
Der Purpur ist nicht blos eine Auszeichnung der Könige, und es ist die Vermuthung erlaubt, daß der Verfolgte einem unangenehmen Purpur aus dem Wege gehen wollte.
Wenn der Andre ihn noch vorangehen ließ und ihn nicht festnahm, so lag diesem schonenden Verfahren offenbar nur die Hoffnung zu Grunde, der Verfolgte werde sich vielleicht zu einem Stelldichein mit Leuten desselben Gelichters begeben, so daß der Fang noch besser ausfallen würde.
Daß diese Vermuthung sehr viel für sich hatte, bewies der Umstand, daß der zugeknöpfte Mann im Vorbeigehn einem Droschkenkutscher, der oben auf dem Quai hielt, winkte. Dieser merkte auch gleich, was unten am Wasser zwischen den Beiden vorging, machte Kehrt und fuhr langsam hinter ihnen her. Von diesem ganzen Vorgang merkte der verdächtige Lumpenkerl nichts.
Die Droschke fuhr also unter den Bäumen der Champs-Elysées dahin und man konnte den Kutscher, der mit dem Oberleibe und der Peitsche den Rand der Brüstungsmauer überragte, von unten sehen.
Eine der geheimen Instruktionen der Polizei enthält den Paragraphen: »Dafür sorgen, daß man erforderlichen Falles eine Droschke zur Verfügung hat.«
Indem sie also Beide mit meisterhaftem, strategischen Talent manövrirten, gelangten sie an eine Rampe, die vom Quai bis zum Wasser hinunter ging und die es den von Passy kommenden Kutschern erlaubte, an den Fluß heranzufahren und ihre Pferde zu tränken. Diese Rampe ist später der Symmetrie zu Liebe beseitigt worden. Mögen die armen Droschkengäule vor Durst verschmachten, wenn nur das Auge sein ästhetisches Wohlgefallen hat.
Man konnte vermuthen, daß der Blusenmann die Rampe hinaufsteigen und versuchen würde, sich in dem Gewühl der sehr belebten und mit Bäumen bepflanzten Champs-Elysées den Augen seines Verfolgers zu entziehen. Allerdings war da oben auch die Polizei stark vertreten, so daß der Andre leicht Beistand finden konnte.
Diese Stelle des Quai befindet sich unweit des Hauses, das von dem Oberst Brack im Jahre 1824 von Moret nach Paris gebracht wurde und das als das Haus Franz I. bekannt ist. Ganz in der Nähe ist ein Wachtposten.
Zur höchsten Ueberraschung des Verfolgers benutzte sein Opfer die gute Gelegenheit nicht, sondern ging weiter den Fluß entlang.
Auf diese Weise gerieth er aber in eine kritische Lage.
Was mochte er bloß vorhaben, es sei denn, daß er in die Seine springen wollte?
Er konnte nun nicht mehr auf den Quai hinaufgelangen, da keine Rampe, keine Treppe mehr kam. Außerdem war er nicht mehr weit von der Stelle, wo die Seine ein Knie bildet und sich nach der Pont d'Iéna wendet. Dort endet nämlich der zwischen dem Wasser und der Brüstungsmauer gelegne Streifen in eine Landzunge, die in den Fluß hineinragt. Er hatte dann die steile Mauer zu seiner Rechten, den Fluß zur Linken und vor sich, die Polizei hinter sich und war unrettbar verloren.
Allerdings war die Landzunge dem Blick durch einen sechs bis sieben Fuß hohen Haufen Bautrümmer entzogen. Aber konnte der Mann sich einbilden, daß er hier ein Versteck finden würde? Das Rettungsmittel wäre doch gar zu kindisch gewesen. Daran dachte er auch gewiß nicht, denn so naiv sind die Diebe und Strolche nicht.
Der Trümmerhaufen bildete am Rande des Wassers eine Erhöhung, die sich wie ein Vorgebirge bis zu der Quaimauer erstreckte.
Als der Verfolgte hier angekommen war, bog er um die Erhöhung herum, so daß er von dem Andern nicht mehr gesehen wurde.
Auf diese Weise verlor er auch seinen Verfolger aus den Augen und dieser benutzte die Gelegenheit, entsagte aller Verstellung und beschleunigte seine Schritte. So kam er wenige Augenblicke nach dem Andern bei dem Schutthaufen an, ging herum und blieb erstaunt stehen. Der Mann, auf den er Jagd machte, war nirgends mehr zu sehen!
Von dem Trümmerhaufen bis zum Wasser waren es aber kaum noch dreißig Schritt und dort reichte die Brüstungsmauer in den Fluß hinein.
In die Seine konnte der Flüchtling nicht gesprungen, an der Mauer nicht emporgeklettert sein, sonst hätte der Andre es gesehen. Was in aller Welt war aus ihm geworden?
Der Mann mit dem zugeknöpften Rock ging bis an das äußerste Ende der Landzunge und blieb hier mit geballten Fäusten stehen, indem er seine Augen forschend umherschweifen ließ. Plötzlich schlug er sich gegen die Stirn. An der Stelle, wo das Land aufhörte und das Wasser anfing, bemerkte er nämlich eine breite und niedrige, oben halbbogenförmige, mit einem mächtigen Schloß und massiven Angeln versehene Gitterthür, die ebensowohl nach dem Fluß wie nach dem Ufer hinaus lag und aus der eine schwärzliche Flut sich in die Seine ergoß.
Hinter den dicken, rostigen Stangen sah man eine Art gewölbten, dunklen Korridor.
Der Geprellte kreuzte die Arme und maß die Thür mit einem vorwurfsvollen Blick.
Da dieser Blick aber keinen Eindruck auf die Thür machte, so stieß und schüttelte er sie kräftig, aber ohne besseren Erfolg; sie leistete einen sehr soliden Widerstand. Vermuthlich war sie eben geöffnet worden, obgleich kein Geräusch lautbar geworden war, ein merkwürdiger Umstand für ein so verrostetes altes Ding; jedenfalls aber war sie wieder zugeschlossen worden und hieraus folgte, daß Derjenige, der sie aufgemacht hatte, nicht einen Dietrich, sondern einen Schlüssel besaß.
Diese Schlußfolgerung zog der genasführte Verfolger auch sofort. Er rüttelte wüthend an der widerspenstigen Thür und rief:
»Das ist doch stark! Hat der Halunke einen obrigkeitlichen Schlüssel!«
Er beruhigte sich aber bald und concentrirte, indem er mit einer gewissen Selbstverspottung den Kopf schüttelte, die Fülle seiner Gedanken in die kurze Formel:
»Nein, so was, so was!»
Dann stellte er sich in der unbestimmten Hoffnung, der Mann werde wieder herauskommen oder Andre würden ihm nachfolgen, hinter dem Schutthaufen auf die Lauer und wartete geduldig wie ein Hühnerhund.
Die Droschke ihrerseits, die sich ganz nach ihm richtete, hielt oben gleichfalls an. Der Kutscher, der voraussah, daß der Aufenthalt lange währen würde, nahm die Gelegenheit wahr und hängte seinem Pferde den altüblichen Hafersack um den Hals. Es war ein merkwürdiges Schauspiel für die weniger Passanten des Pont d'Iéna, das diese unbewegliche Gruppe, die Droschke oben auf dem Quai und der ruhig dastehende Mann unten am Flusse ihnen darbot.
Jean Valjean hatte also seinen Marsch wieder aufgenommen und nicht wieder Halt gemacht.
Es war ein überaus beschwerlicher Marsch. Das Niveau der Gewölbe ist verschieden; ihre mittlere Höhe beträgt ungefähr fünf Fuß sechs Zoll und ist nach der Größe eines Mannes berechnet worden; Jean Valjean aber mußte, um nicht mit Marius oben anzustoßen, gekrümmt gehen; außerdem sah er sich jeden Augenblick genöthigt, sich zu bücken, sich wieder aufzurichten, unausgesetzt die Wände zu betasten. Da das Gemäuer aber feucht und klebrig war, so hatte er weder für die Hände, noch für die Füße sichre Stützpunkte, so daß er beständig Gefahr lief, in den ekelhaften Koth hineinzufallen. Dazu kam, daß die Tageslöcher sich recht rar machten und recht wenig und fahles Licht hereinließen; meistenteils wanderte er in dichter Finsterniß. Dazu war er hungrig und vor allen Dingen durstig; aber das Wasser, das ihn hier überall umgab, glich in einer Hinsicht dem des Meeres; es war nicht trinkbar. Seine ungeheure Körperkraft, der auch das Alter, keusch und mäßig, wie er war, nur geringen Eintrag gethan hatte, fing allmählich an nachzulassen; er fühlte Müdigkeit und in Folge dessen kam ihm seine Last noch schwerer vor. Marius aber war schon deshalb nicht leicht zu tragen, weil er sich ganz regungslos verhielt, ja vielleicht schon tot war. Jean Valjean hielt ihn so, daß die Brust nicht gedrückt wurde und der Athem frei aus- und eingehen konnte. Endlich verursachten ihm noch die Ratten, die ihm zwischen den Beinen hindurch huschten, ein unangenehmes Gefühl. Eine von ihnen biß ihn sogar in ihrer Angst. Nur von Zeit zu Zeit erfrischte ihn Luft, die durch die Kloakenmündungen hereinblies.
Es mochte drei Uhr Nachmittags sein, als er in der Gürtelkloake ankam.
Er wunderte sich anfangs über die plötzliche Verbreiterung des Weges. Denn er befand sich mit einem Male in einer Galerie, deren Wände er nicht zu gleicher Zeit mit beiden Händen berühren konnte, und unter einem Gewölbe an das er nicht mit dem Kopfe heranreichte. Die große Kloake ist nämlich acht Fuß breit und sieben Fuß hoch.
An der Stelle, wo die Kloake Montmartre mit der Großen Kloake wieder zusammentrifft, bilden zwei andre unterirdische Galerieen, die der Rue de Provence und der Rue de l'Abattoir, einen Kreuzweg. Die Entscheidung zwischen diesen vier Wegen wäre auch einem Andern, der in diesen Regionen besser Bescheid gewußt hätte, herzlich schwer gefallen. Jean Valjean's Wahl fiel auf die breiteste Galerie, nämlich die Gürtelkloake. Aber hier war er wieder vor die Frage gestellt, ob er aufwärts oder abwärts steigen sollte. Er sagte sich, es sei Gefahr im Verzuge und er müsse um jeden Preis an die Seine kommen, also in andern Worten, abwärts gehen. Dementsprechend wandte er sich denn nach links.
Zu seinem Glück. Denn es wäre ein Irtthum, wenn man glauben wollte, die Gürtelkloake habe zwei Ausgänge, den einen bei Bercy, den andern nach Passy hin, und sie ziehe sich, wie ihr Name zu bedeuten scheint, um den ganzen, auf dem rechten Seineufer gelegnen Theil von Paris herum. Die große Kloake, die, wie wir hier wieder in Erinnerung bringen müssen, nichts Andres ist, als der ehemalige Bach Ménilmontant, endet, wenn man aufwärts an ihr entlang steigt, in eine Sackgasse, d. h., man kommt an den Fuß des Hügels Ménilmontant, wo die Quelle des ehemaligen Baches entspringt, an den alten Ausgangspunkt der Kloake. Sie steht nicht in direkter Verbindung mit der Verzweigung, die von dem Stadtviertel Popincourt an die Pariser Gewässer sammelt und sich oberhalb der ehemaligen Insel Louviers durch die Kloake Amelot in die Seine ergießt. Dieser Zweigkanal, eine Ergänzung der Sammelkloake, ist unter der Rue Ménilmontant durch eine Feste getrennt, die eine Wasserscheide zwischen dem stromaufwärts und dem stromabwärts gelegnen Terrain bezeichnet. Hätte sich also Jean Valjean wieder aufwärts gewendet, so wäre er nach unsäglichen Anstrengungen vor einer Mauer angelangt und hätte folglich, schon zu Tode erschöpft, den Rückweg antreten müssen, wozu seine Kräfte nicht mehr ausgereicht hätten.
Streng genommen, hätte er, wenn er ein wenig rückwärts in den Gang der Filles-du-Calvaire hineingegangen wäre, an der gänsefußförmigen Ausstrahlung des Carrefour-Boucherat vorbei, den Korridor Saint-Louis entlang, dann links in die Galerie Saint-Gilles, dann rechts und ohne die Galerie Saint-Sebastien zu berücksichtigen, die Kloake Amelot erreichen und von dort aus, vorausgesetzt, daß er nicht in das F-förmige System unter der Bastille hineingeirrt wäre, bei dem Arsenal an die Seine kommen können. Aber um sich dahin zurecht zu finden, hätte er die ungeheure, unterirdische Madrepore mit allen ihren Verzweigungen und Ausgängen gründlich kennen müssen. Leider wußte er aber, wie wir nochmals betonen, in dem schrecklichen Wirrwarr, in dem er herumirrte, garnicht Bescheid, und wer ihn gefragt hätte, wo er sei, dem hätte er geantwortet: In der Dunkelheit.
Sein Instinkt gab ihm also das Richtige ein. Indem er sich abwärts wandte, beschritt er einen Weg, auf dem er sich in Sicherheit bringen konnte.
Er ging also, indem er sie rechts liegen ließ, an den beiden Gängen, die sich unter der Rue Laffitte und der Rue Saint-Georges klauenförmig spalten, und an dem langen, gegabelten Gang der Chaussée d'Antin vorbei.
Eine kurze Strecke, jenseit eines Nebenkanals, wahrscheinlich der Verzweigung La Madeleine, machte er Halt, um sich auszuruhen. An dieser Stelle ließ eine ziemlich große Tagesöffnung, wahrscheinlich die der Rue d'Anjou, ein beinah lebhaft zu nennendes Licht herein. Hier also legte Jean Valjean den verwundeten Marius mit brüderlicher Behutsamkeit auf die Wallbank der Kloake. Das blutige Gesicht des jungen Mannes sah bei dem weißen Licht der Tagesöffnung ganz totenhaft aus. Die Augen waren geschlossen, die Haare klebten an den Schläfen und sahen wie in rothe Farbe getauchte, trocken gewordne Pinsel aus, die Hände hingen schwer und wie tot herab, die Extremitäten waren kalt, an den Mundwinkeln sah man geronnenes Blut. Ein Blutgerinnsel erfüllte den Knoten des Halstuchs; das Hemde drängte sich in die Wunden hinein; der Rock rieb sich an dem bloßen Fleisch der Schnittflächen. Jean Valjean entfernte sorgsam mit den Fingerspitzen die Kleider von der Brust und fühlte nach dem Herzen: Es schlug noch. Dann zerriß er sein Hemde, verband die Wunden, so gut er konnte, und hemmte den Blutfluß; hierauf neigte er sich über den noch immer bewußtlosen Marius und betrachtete ihn mit einem Blicke des unaussprechlichsten Hasses.
Während er sich aber an Marius Kleidern zu schaffen machte, entdeckte er zwei wichtige Dinge, das Brod, das seit dem vergangnen Tage vergessen war, und Marius Portefeuille. Er aß das Brod und blickte in das Portefeuille. Auf der ersten Seite fand er die von Marius geschriebne Notiz, der sich der Leser noch erinnern wird:
»Ich heiße Marius Pontmercy. Man bringe meine Leiche zu meinem Großvater, Herrn Gillenormand, Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6, im Marais.«
Diese vier Zeilen las Jean Valjean beim Schein des Tageslichtes und blieb, in tiefes Sinnen verloren, eine Weile sitzen, indem er die Adresse, Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6, Herr Gillenormand, halblaut wiederholte. Dann steckte er Marius das Portefeuille wieder in die Tasche und lud sich, nun er gegessen hatte und sich gestärkt fühlte, den Verwundeten wieder auf den Rücken, stützte ihm sorgsam den Kopf mit seiner rechten Schulter und machte sich wieder auf den Weg.
Die große Kloake, die der Strombahn des Thales Ménilmontant folgt, ist nahe an achttausend Meter lang und zum großen Theil gepflastert.
Diesen Ariadnefaden, den wir durch die Nennung der Pariser Straßennamen dem Leser in die Hand geben und der ihm Jean Valjeans Marschroute bezeichnet, besaß Dieser nicht. Kein Kennzeichen gab ihm an, welche Zone der Stadt er durchschritt und welchen Weg er schon zurückgelegt hatte. Aber an der zunehmenden Mattigkeit des Lichts aus den Tagesöffnungen, an denen er vorbeikam, merkte er, daß die Sonne nicht mehr auf das Straßenpflaster des Obergrundes fiel und bald untergehen würde, und aus dem Umstande, daß jetzt weniger und immer weniger Wagen über seinem Kopf dahinrasselten, schloß er, daß er sich nicht mehr unter dem mittleren Theil von Paris befand und sich einem einsamen Stadtviertel, den äußern Boulevards oder den entferntesten Quais näherte. Wo aber weniger Häuser und weniger Gassen sind, da hat auch der Untergrund weniger Tagesöffnungen und so kam es, daß die Dunkelheit um Jean Valjean immer dichter wurde. Nichts desto weniger schritt er tapfer weiter, indem er noch vorsichtiger, als bisher, im Dunkeln mit den Händen um sich tappte.
Da gerieth er plötzlich in eine fürchterliche Gefahr.
Er fühlte, daß er in Wasser watete und nicht mehr das Pflaster, sondern Schlamm unter den Füßen hatte.
Es geschieht bisweilen in gewissen Küstengegenden der Bretagne oder Schottlands, daß ein Wandrer oder ein Fischer, indem er zur Zeit der Ebbe fern vom Meeresgestade über den Sand dahingeht, plötzlich inne wird, daß er seit einer Weile Mühe hat vorwärts zu kommen. Der Boden unter seinen Füßen ist wie Pech, oder die Sohlen seiner Stiefel kleben, so zu sagen, am sandigen Erdreich. Dabei ist der Boden vollkommen trocken, aber jedesmal, wenn der Mann den Fuß hochgehoben hat, sieht er, daß die Spur, die er hinterläßt, sich mit Wasser füllt. Währenddem hat er keine Veränderung bemerkt, das breite Gestade liegt glatt und ruhig da; der Sand hat überall dasselbe Aussehen; nichts unterscheidet den Theil, wo der Boden fest ist, von der Gegend, wo er es nicht mehr ist; die Meerflöhe umschwärmen ihn so muthwillig wie vorher. Der Mann geht weiter, vor sich hin, landeinwärts, versucht an die Küste zu gelangen. Er ängstigt sich nicht. Wozu auch? Nur hat er die Empfindung, als ob seine Füße bei jedem Schritt schwerer würden. Da sinkt er mit einem Ruck in die Erde hinein, um zwei bis drei Zoll. Hm! Er kann doch nicht auf dem richtigen Wege sein. Er bleibt stehen, um eine genauere Umschau zu halten. Plötzlich senkt er die Augen erdwärts, nach seinen Füßen hin. Die sind verschwunden, vom Sande bedeckt. Er zieht sie empor, will auf dem Wege, den er gekommen ist, umkehren und – versinkt tiefer. Der Sand reicht ihm an den Knöchel, er reißt sich los und neigt sich links, der Sand reicht bis zur Mitte der Waden; er wirft sich nach rechts, der Sand reicht ihm bis an die Kniekehlen. Da erkennt er mit unbeschreiblichem Entsetzen, daß er sich in einem beweglichen Erdreich befindet, daß er in einem Terrain steckt, wo der Mensch ebenso wenig gehen, wie der Fisch schwimmen kann. Er wirft, wenn er eine Last trägt, diese sofort nieder, macht es wie ein Schiff, das sich in der Gefahr seiner Ladung entledigt; aber ach, es ist zu spät; schon stecken seine Schenkel im Sande.
Er ruft, schwenkt seinen Hut oder sein Taschentuch; der Sand steigt höher, immer höher; wenn keine Menschen in der Nähe, wenn die Küste zu weit entfernt ist, das Gestade in zu schlechtem Rufe steht, wenn kein Held bei der Hand ist, so ist der unglückliche Wandrer verloren. Er ist verurtheilt, langsam, unfehlbar begraben zu werden. Er kann seinen Untergang weder verzögern, noch beschleunigen. Es dauert Stunden lang; es nimmt kein Ende; es packt ihn bei lebendigem Leibe, bei voller Gesundheit; es zieht ihn an den Füßen, reißt ihn bei jedem Versuch sich in die Höhe zu raffen, bei jedem Schrei, den er ausstößt, tiefer hinab; straft ihn für seinen Widerstand, indem es seine Wuth verdoppelt; es zwingt ihn langsam in die Erde hineinzusteigen, indem es ihm reichlich Zeit läßt, sich nach dem Horizont, den Bäumen, den grünen Auen, dem Rauch der Schornsteine, den Segeln der Schiffe, den fliegenden und singenden Vöglein, der Sonne, dem Himmel umzusehen. Der Triebsand ist ein Grab in Gestalt einer Flut, die aus den Tiefen der Erde an einem Lebenden emporsteigt. Jede Minute arbeitet unerbittlich an dem Begräbniß. Der Unglückliche versucht sich zu setzen, sich hinzulegen, zu kriechen; bei jeder Bewegung gräbt er sich tiefer ein; dann richtet er sich wieder auf und fühlt dabei, daß er noch weiter versinkt; er heult vor Angst, betet, ruft die Wolken an, ringt die Hände, verzweifelt. Jetzt steckt er mit dem Unterleibe im Sande; schon beengt es ihm die Brust. Er streckt die Hände empor, stöhnt wüthend auf, krallt seine Hände in den Boden, will sich festhalten, stemmt die Ellbogen auf, um sich emporzuschwingen, ächzt und tobt; der Sand steigt höher, immer höher, steigt bis an die Schultern, an den Hals; nun ist nur noch das Gesicht zu sehen. Er schreit wieder, der Sand dringt ihm in den Mund, er schweigt. Er rollt noch die Augen; auch diese überflutet der Sand und hüllt sie in ewige Nacht. Und höher steigt es, immer höher. Die Stirn, die Haare verschwinden. Da arbeitet sich eine Hand empor, fährt hin und her, – verschwindet. Welch grausige Vernichtung eines Menschenlebens!
Bisweilen versinkt der Reiter mit dem Pferde, der Fuhrmann mit dem Wagen. Ein Schiffbruch auf dem Lande, das sich mit dem Ocean verbündet, um den Menschen zu ersäufen. Der Sand lügt ihm vor, er sei das Festland und weicht ihm unter den Füßen wie Wasserwellen aus. So verrätherisch sind die Mächte der Tiefe.
Diese Art Unfall, der sich für gewöhnlich nur an bestimmten Küsten ereignet, war vor dreißig Jahren in den Pariser Kloaken noch möglich.
Denn vor der Beendigung der 1833 begonnenen Anlagen kam es hier und da vor, daß der Boden des Untergrundes sich senkte.
Das Wasser sickerte an gewissen Stellen, wo das Erdreich besonders unbeständig, nachgiebig, unsolide war, ein und veranlaßte so, daß die Bettung, ob sie nun wie bei den alten Kloaken, aus Pflastersteinen oder wie bei den neueren Galerien aus hydraulischem Kalk und Beton bestand, nachgab, da sie keine feste Stütze mehr fand und dies bewirkte eine mehr oder minder große Unterbrechung, eine Lücke, was man in dem betreffenden Fach einen Erdsturz nennt. An solchen Stellen nimmt dann das Erdreich dieselbe Beschaffenheit an, wie der Triebsand am Meere, die Kloake gleicht hier dem Gestade des Mont Saint-Michel. Der aufgeweichte Boden ist beweglich wie geschmolzenes Metall; all seine Molekeln sind in der Schwebe; es ist nicht Land und nicht Wasser. Bisweilen sind diese Lücken sehr tief, jedenfalls aber äußerst gefährlich. Denn wiegt das Wasser in dem Gemisch vor, so ertrinkt man und hat einen schnellen Tod; ist mehr Sand darin enthalten, so versinkt man und stirbt sehr langsam.
Kann man sich eine Vorstellung von einem solchen Untergang machen? Wenn es gräßlich ist, in dem Triebsand eines Meeresgestades zu versinken, um wie viel grauenvoller ist es, in einer Kloake umzukommen! Statt des freien Himmels, des hellen Tageslichtes, des klaren Horizontes, der gewaltigen Geräusche und Töne der Natur, der ungehemmten Wolken, aus denen Leben herabregnet, der in der Ferne gesehenen Kähne, der mannigfaltigen Hoffnungen, der Leute, die jeden Augenblick kommen können, der Möglichkeit noch in der letzten Minute gerettet zu werden, statt aller dieser tröstlichen Gedanken und Dinge Taubheit, Blindheit, ein finstres Gewölbe, ein schon fertiges Grab, der Tod im Unflat unter einem großen Sargdeckel, eine langsame Erstickung durch den Unrath, ein steinerner Kasten, in dem die Asphyxie ihre Klauen aus dem Schlamm herausstreckt und Dich bei der Gurgel packt, ein Verröcheln im Gestank, Schwefelwasserstoff statt des Orkans, Koth statt des Ozeans, und zu rufen und mit den Zähnen zu knirschen und sich zu winden und zu krümmen und zu verenden mit einer ganzen großen Stadt über dem Kopfe, die nichts von Einem weiß!
Unaussprechlich sind die Schrecknisse eines solchen Todes! Freund Hein entschädigt uns bisweilen für seine Härte dadurch, daß er uns angesichts der Oeffentlichkeit mit Größe aufzutreten gestattet. Auf dem Scheiterhaufen, auf einem Wrack kann man Würde zeigen; von Flammen umzüngelt, vom Gischt bespritzt, ist eine stolze Haltung möglich; man wird verherrlicht und verklärt, indem man so zu Grunde geht. Aber in einer Kloake nichts von alle dem. Ein unsaubrer Tod! So ins Jenseits hinüberzugehen ist demüthigend. Die Dinge, die man hier in den letzten Augenblicken sieht, sind gemein. Das Wort Unrath ist sinnverwandt mit Schande. So etwas ist klein, widerwärtig, schimpflich. In einem Faß Malvasierwein ertrinken, wie der Herzog von Clarence, kann man sich gefallen lassen; in einer Abtrittgrube ersticken wie D' Escoubleau ist greulig. Darin herumzuzappeln ist scheußlich; nicht genug, daß man die Todesqualen erleidet, man empfindet auch noch Ekel. Es ist finster genug, daß man sich in die Hölle versetzt glauben kann, schmutzig genug für eine erbärmliche Pfütze, und der so um sein Leben kommt, weiß nicht, ob er ein Geist oder eine Kröte werden wird.
In jeder andern Gestalt ist der Tod bloß grauenvoll, in dieser auch noch grotesk und ekelhaft.
Die Tiefe der Erdstürze, so wie ihre Länge und Dichtigkeit war ja nach der mehr oder weniger schlechten Beschaffenheit des Erdreichs sehr verschieden. Manche hatten eine Tiefe von drei bis vier, andre von acht bis zehn Fuß; bei mehreren konnte man keinen Grund finden. In den einen war der Schlamm beinah fest, in den andern beinah flüssig. In demjenigen, der den Namen Lumière führte, hätte ein Mensch einen ganzen Tag kämpfen können, ehe er untergegangen wäre, wogegen die Lücke Phélippeaux nicht mehr als fünf Minuten brauchte, ihre Opfer zu verschlingen. Der Schlamm trägt mehr oder weniger gut, je nachdem er mehr oder weniger fest ist. Wo ein Erwachsener einsinkt, kann ein Kind noch hinüberkommen. Die erste Regel, die man befolgen muß, wenn man glücklich herauskommen will, lautet dahin, daß man sich jedweder Last entledigen soll. Den Sack mit den Werkzeugen, die Kiepe, den Kalkkübel von sich werfen, war auch stets das Erste, was die Kloakenarbeiter thaten, wenn der Boden unter ihren Füßen nachgab.
Diese Erdstürze hatten verschiedne Entstehungsursachen: Bröcklige Beschaffenheit des Erdreichs, einen Zusammenbruch von Erdschichten in einer dem Menschen unzugänglichen Tiefe, heftige Gewitter im Sommer, Thauwetter im Winter, lang anhaltender feiner Regen. Zuweilen drückte die Last der oben gelegnen Häuser, wenn der Boden sandig war oder Mergel enthielt, die Gewölbe der unterirdischen Galerien ein oder brachte sie aus der geraden Richtung, oder es kam auch vor, daß die Bettung unter einem unwiderstehlichen Druck barst und Spalten bekam. So hat u. a. das Erdreich unter dem Panthéon, indem es sich sackte, schließlich einen Theil der Keller des Berges Sainte-Geneviève ausgefüllt. Wenn auf diese Weise eine Kloake unter der Last der Häuser einsank, so konnte man dies in einigen Fällen daran erkennen, daß oben in der betreffenden Straße das Pflaster eine sägenförmige Gestalt annahm; solch ein Riß schlängelte sich dann über die ganze Strecke hin, die der Länge der Galerie entsprach und dem Uebel konnte, da es sichtbar war, abgeholfen werden. Oefters aber geschah es auch, daß die innerliche Beschädigung sich außen nicht kund gab. Wehe den Kloakenreinigern in einem solchen Fall! Wagten sie sich, ohne die nöthigen Vorsichtsmaßregeln zu beobachten, in eine derartig eingedrückte Galerie hinein, so konnten sie das Leben einbüßen. Die alten Register erwähnen auch einige Brunnengräber, die auf diese Weise in den Erdstürzen umkamen. Sie geben mehrere Namen an; u. a. den des Kloakenarbeiters, der in der Kloake der Rue Carême-Prenant in den Schlamm versank, einen gewissen Blaise Poutrain; dieser Mann war ein Bruder von Nicolas Poutrain, des letzten Totengräbers des – Charnier des Innocents genannten – Kirchhofs, der 1785 ausrangirt wurde.
Wir haben vorhin den jungen und liebenswürdigen Vicomte d'Escoubleau erwähnt, einen der Helden der Belagerung von Lérida, wo die Franzosen in seidnen Strümpfen, eine Bande Violinspieler an der Spitze, gegen die Mauern Sturm liefen. Dieser d'Escoubleau befand sich eines Tages bei seiner Cousine, der Herzogin von Sourdis, als ihr Mann Einlaß begehrte, und floh, um nicht ertappt zu werden, in eine Kloake, wo er in einem Schlammloch elendiglich ertrank. Die Herzogin ließ sich, als man ihr erzählte, auf welche Weise ihr Vetter umgekommen war, ihr Fläschchen reichen und roch so eifrig daran, daß sie darüber den Toten zu beweinen vergaß. In einem solchen Falle hört auch die größte Liebe eben auf; die Kloake erstickt sie. Da weigert sich jede Hero, die Leiche ihres Leander zu waschen; da hält sich Thisbe vor Pyramus die Nase zu und sagt: »Pfui!«
Jean Valjean war also in ein Schlammloch gerathen.
Diese Art Erdstürze waren damals häufig in dem Untergrund der Champs-Elysées, der sich gegen alle hydraulischen Arbeiten sehr widerspenstig verhielt und wegen seiner übermäßigen Beweglichkeit auch die festesten Bauten nicht alt werden ließ: In dieser Hinsicht stand es hier noch schlimmer als in dem Stadtviertel Saint-Georges, wo man mit dem feinen Sand nur mittels eines Betonpackwerks fertig werden konnte, und in dem Viertel des Martyrs, dessen mit Gas geschwängerte Thonschichten so flüssig sind, daß man unter der Galerie des Martyrs eine gußeiserne Röhre legen mußte, um die nothwendigen Arbeiten ausführen zu können. Als 1836 unter dem Faubourg Saint-Honoré eines Umbaus wegen die alte, steinerne Kloake, in der wir in diesem Augenblick Jean Valjean in Gefahr schweben sehen, niedergerissen wurde, bildete der bewegliche Sand, aus dem die Unterschicht der Champs-Elysées bis zur Seine besteht, ein so entschiednes Hinderniß, das die Bauten beinah ein halbes Jahr in Anspruch nahmen, zum größten Verdruß der dortigen Bevölkerung, besonders der Haus- und Equipagenbesitzer. Die Ausführung der Arbeiten erwies sich nicht bloß als schwierig, sondern auch als gefährlich. Allerdings hatte man während der Zeit vier und einen halben Monat Regenwetter und dreimal einen hohen Wasserstand in der Seine.
Das Schlammloch, in das Jean Valjean gerathen war, verdankte seine Entstehung dem Platzregen, der Tags zuvor gefallen war. Das von dem darunter liegenden Sande schlecht gestützte Pflaster hatte nachgegeben und in Folge dessen war das Wasser in Menge eingedrungen, was wieder eine Rückwirkung auf die Bettung ausübte. Sie ging aus den Fugen und versank im Schlamm. Wie groß die betreffende Strecke war, läßt sich nicht sagen. Es herrschte hier eine noch dichtere Dunkelheit als in jedem andern Theile des Untergrundes.
Jean Valjean also fühlte, daß das Pflaster unter ihm aufhörte. Er wagte sich aber dennoch weiter in die schmutzige Flut hinein. Es war ja oben bloß Wasser und darunter ein Bischen Schlamm. Er mußte auf jeden Fall hindurch. An eine Umkehr war nicht zu denken, da er über die Maßen erschöpft war und Marius im Sterben lag. Wohin hätte er auch sonst seine Schritte wenden sollen? Jean Valjean ging also weiter. Uebrigens kam ihm das Loch bei den ersten Schritten nicht besonders tief vor. Aber je weiter er vorrückte, desto tiefer sanken seine Füße ein. Bald reichte ihm der Schlamm bis an die Mitte des Unterbeins und das Wasser bis über die Kniee. Während er so weiter ging, hielt er Marius mit beiden Händen so hoch er konnte. Als dann der Schlamm ihm bis zu den Kniekehlen und das Wasser bis an den Gürtel hinaufreichte, war es zu spät um zurück zu gehen. Er sank tiefer und tiefer ein. Der Schlamm war wohl dicht genug für das Gewicht eines Mannes, konnte aber offenbar nicht zwei tragen. Wäre jeder allein gegangen, so hätten sie hoffen dürfen, der Gefahr zu entrinnen. Trotz alledem setzte Jean Valjean seinen Weg fort, mit dem Sterbenden der vielleicht schon eine Leiche geworden war, in den Armen.
Als das Wasser ihm bis zu den Achselhöhlen emporstieg, war er in beständiger Gefahr umzufallen und konnte sich in dem tiefen dicken Koth kaum noch bewegen. Noch trug er Marius und konnte mit unglaublichen Anstrengungen vorwärts kommen; aber er sank immer tiefer. Schon ragte bloß noch sein Kopf über das Wasser und seine beiden Arme, mit denen er Marius hoch emporhielt. So erinnerte Jean Valjean an alte Darstellungen der Sintflut, wo eine Mutter es mit ihrem Kinde ebenso macht.
Immer tiefer gerieth er hin und mußte schon, um nicht Wasser in den Mund zu bekommen und athmen zu können, den Kopf rückwärts neigen. Wer ihn so in der Dunkelheit gesehen hätte, würde geglaubt haben, es schwimme da eine Maske; Jean Valjean erblickte über sich Marius herabhängenden Kopf und sein blasses Gesicht; da raffte er sich zu einer verzweifelten Anstrengung auf setzte den Fuß weit nach vorn und stieß an etwas Festes, das einen Stützpunkt abgeben konnte. Es war auch die höchste Zeit.
Er warf sich nach vorn über, wand sich und faßte mit wilder Energie festen Fuß. Ihm war, als stände er jetzt wieder auf der ersten Stufe einer Treppe, die ihn wieder ins Leben hinaufführen würde.
Der Stützpunkt, den er in der höchsten, schrecklichen Noth gefunden hatte, war der andre Theil der eingesunknen Bettung, der nachgegeben hatte, aber ganz geblieben war und wie ein Brett wenn auch krumm gebogen, in das Wasser hinabragte, denn gute Pflaster bilden in solchen Fällen oft ein Gewölbe und können ihren Zusammenhang bewahren. Dieses Stück der Bettung gab also eine richtige Rampe ab und nun Jean Valjean es erreicht hatte, war er gerettet. Er stieg die schiefe Ebene hinauf und gelangte so an das andre Ende der Lücke.
In dem Augenblick, wo er aus dem Wasser hinausstieg, stolperte er über einen Stein und sank in die Knie. Diese Haltung schien ihm die passendste für ihn und er blieb so liegen, um Gott in seinem Herzen zu danken.
Dann erhob er sich wieder, von feuchter Kälte durchschauert, unter der Last des Sterbenden gebeugt, triefend von ekelhaftem Unflat, die Seele mit himmlischem Licht erfüllt.
Er machte sich also jetzt noch einmal auf den Weg.
Mit dem Leben war er nun wohl aus dem Schlammloch davongekommen, aber seine Kraft schien er darin zurückgelassen zu haben. Diese letzte Anstrengung hatte ihn vollends erschöpft. So groß war jetzt seine Müdigkeit, daß er alle drei oder vier Schritte gezwungen war, sich an die Wand zu lehnen, um Athem zu schöpfen. Das eine Mal als er sich, um Marius Lage zu ändern, auf die Wallbank hinsetzen mußte, glaubte er, es würde ihm nicht möglich sein weiter zu gehen. War es aber auch mit seiner Körperkraft vorbei, sein Wille war ungebrochen.
Er stand wieder auf, marschirte mit verzweifelter Anstrengung und beinah schnell, kam so etwa hundert Schritte weiter, ohne den Kopf emporzuhalten, fast ohne Athem zu holen und stieß sich mit einem Mal an der Mauer. Er war nämlich an einem Knie der Kloake angelangt und statt sofort einzubiegen, mit gesenktem Kopf noch ein paar Schritte weiter gegangen, bis er an der gegenüberliegenden Wand anrannte. Er hob die Augen auf und bemerkte an dem Ende der Galerie, in weiter, weiter Ferne ein Licht. Nicht das röthliche Licht der Polizisten, daß ihm solchen Schrecken eingejagt hatte, sondern schönes, weißes Tageslicht.
Jean Valjean sah den Ausgang vor sich.
Ein Verdammter, der, in seinem Glutmeer schwimmend, plötzlich das Höllenthor offen sähe, würde das Gefühl empfinden, das Jean Valjean hatte. Die arme Seele würde sinnlos vor Freude mit ihren verstümmelten Flügeln dem Ausgang zufliegen. Jean Valjean spürte keine Müdigkeit mehr, fühlte nicht einmal die Last, die er trug; seine Knie wurden wieder fest wie Stahl. Er rannte mehr als er ging. In dem Maße, wie er näher kam, zeichneten sich die Umrisse der Oeffnung deutlicher ab. Es war eine Bogenöffnung, die weniger hoch als das Gewölbe war, das allmählich kleiner wurde, und weniger breit als die Galerie, die sich in demselben Maße verengte. Der Tunnel endete also trichterförmig: ein verkehrtes System, das der bei Gefängnißthüren üblichen Einrichtung nachgeahmt und für diese wohl zweckmäßig war, unpraktisch aber für die Kloaken und das deshalb seitdem aufgegeben worden ist.
Am Ausgang angelangt, blieb Jean Valjean aber stehen. Denn – er konnte nicht heraus.
Die Bogenöffnung war nämlich durch ein starkes Gitter versperrt und dieses, das allem Anschein nach höchst selten in seinen oxydirten Angeln gedreht wurde, war an seine steinerne Einfassung mittelst eines dicken Schlosses befestigt, das mit Rost überzogen war und einem großen Mauerstein glich. Man sah das Schlüsselloch und den tief in die Schließkappe eingelassenen Riegel. Der Schlüssel war offenbar zweimal herumgedreht worden. Das Schloß war eins von jenen Festungsschlössern, für die man in dem alten Paris eine besondre Vorliebe hatte.
Jenseit des Gitters die freie Luft, der Fluß, das sehr schmale, aber zum Weggehen genügende Ufer, die fernen Quais, Paris, die große Stadt, wo man sich so leicht verstecken kann, der weite Horizont, die Freiheit. Rechts stromabwärts unterschied man den Pont d'Iéna und links stromaufwärts den Pont des Invalides. Es war eine der einsamsten Gegenden von Paris, das Ufer, das dem Gros-Caillou gegenüberliegt. Die Fliegen flogen durch das Gitter aus und ein.
Es mochte halb neun Uhr sein. Der Tag neigte sich seinem Ende zu.
Jean Valjean legte Marius an der Wand auf eine trockne Stelle der Bettung, trat dann an das Gitter und packte eine Stange mit seinen Fäusten. Aber so gewaltig er es auch rüttelte, das Gitter rückte und rührte sich nicht. Er schüttelte eine Stange nach der andern in der Hoffnung sie herausbrechen und als Hebel benutzen zu können, um die Thür von unten aus den Fugen zu bringen oder das Schloß abzubrechen. Aber keine Stange wankte. So fest sitzen nicht die Zähne eines Tigers in ihren Höhlen. Das Hinderniß ließ sich nicht überwältigen. Keine Möglichkeit, die Thür aufzubekommen.
War es also wirklich zu Ende mit ihm? Was thun? Was sollte nun werden? Zurückzugehen, den schrecklich weiten Weg, den er schon durchmessen hatte, noch einmal durchwandern, dazu hatte er nicht die Kraft. Wie sollte er u. a. von Neuem über das Schlammloch hinüberkommen, aus dem er sich nur wie durch ein Wunder gerettet hatte? Und konnte er nicht nachher wieder auf die Polizeirunde stoßen, der er das zweite Mal sicherlich nicht entrinnen würde? Und wohin sollte er dann gehen? Welche Richtung einschlagen? Wieder Abwärts zu gehen hatte keinen Zweck. Gesetzt, er fand einen andern Ausgang, so war auch dieser sicherlich irgendwie versperrt. Es gab hier überhaupt keinen offnen Ausgang, und wenn er durch ein Gitter hereingekommen war, so hatte er es nur dem Zufall zuzuschreiben, daß dieses gerade lose war. Aber gewiß war es das einzige und es war ihm weiter nichts geglückt, als daß er sich in ein Gefängniß geflüchtet hatte.
Es war also vorbei. Alles, was er gethan hatte, war vergeblich gewesen. All die Qual endete mit einem Mißerfolg.
Sie hatten sich Beide im Netze des Todes gefangen und schon fühlte Jean Valjean, wie das Ungethüm in der Dunkelheit auf sie zugekrochen kam, um seine Beute zu verschlingen.
Er wandte sich von dem Gitter weg und fiel, mehr als er sich setzte, auf das Pflaster hin, neben Marius, der noch immer regungslos da lag, und ließ den Kopf zwischen die Knie hinabhängen. Kein Ausgang! Es war der letzte Tropfen, der noch in den vollen Becher der Angst fiel.
Wo weilten seine Gedanken in dieser tiefen Kümmerniß? Weder bei seinem eignen Unglück, noch bei Marius. Er dachte an Cosette.
Während er so wie vernichtet da saß, legte sich eine Hand auf seine Schulter und leise flüsterte eine Stimme ihm die Worte ins Ohr:
»Halb Part!«
Ein Mensch in dieser Oede? Nichts gleicht so sehr dem Traum wie die Verzweiflung: Jean Valjean glaubte zu träumen. Hatte er doch keine Schritte gehört. War denn so etwas möglich? Er hob die Augen auf.
Vor ihm stand ein Mann.
Derselbe war mit einer Blouse bekleidet, ging mit bloßen Füßen und trug seine Schuhe in der linken Hand; offenbar hatte er sie deshalb ausgezogen, um ohne gehört zu werden, an Jean Valjean herankommen zu können.
Jean Valjean brauchte keinen Augenblick nachzudenken und sich zu besinnen. So wenig er diese Begegnung vorausgesehen hatte, aber den Mann kannte er. Es war Thénardier.
Obgleich, so zu sagen, ganz plötzlich ertappt, gewann Jean Valjean, der Ueberrumpelungen und Schicksalsschläge, die rasch parirt werden mußten, gewöhnt war, auf der Stelle seine ganze Geistesgegenwart wieder. Uebrigens konnte seine Lage nicht schlimmer werden, als sie schon war; für einen gewissen Grad des Schrecklichen ist kein crescendo mehr möglich und Thénardier selber konnte die Nacht, in der sich Jean Valjean befand, nicht noch dunkler machen.
Es trat eine kurze Pause ein.
Thénardier hob die flache Hand an die Stirn empor, so daß sie einen Schirm für die Augen bildete, zog die Brauen zusammen und blinzelte, indem er dabei den Mund etwas fester zukniff, alles Zeichen, daß er sich angestrengt bemühte, die Züge des Andern zu erkennen. Das gelang ihm aber nicht. Jean Valjean saß, wie schon gesagt, mit dem Rücken gegen das Tageslicht und war auch von Schmutz und Blut so entstellt, daß man ihn am hellen Mittag nicht erkannt hätte. Thénardier dagegen, dem das Licht, allerdings ein fahles Kellerlicht, das aber doch alle Umrisse scharf hervorhob, gerade ins Gesicht schien, stand so, daß sein Mienenspiel deutlich sichtbar war. Diese Ungleichheit der Bedingungen genügte, um Jean Valjean in dem bevorstehenden Zusammenstoß gewisse Vortheile zu sichern.
Jean Valjean merkte von vorn herein, daß Thénardier ihn nicht erkannte.
Sie betrachteten sich eine Weile im Halbdunkel, als wollten sie sich mit einander messen. Thénardier brach das Stillschweigen zuerst.
»Wie wirst Du's anfangen, um hier herauszukommen?«
Jean Valjean gab keine Antwort.
Thénardier fuhr fort:
»Die Thür mit Tandelei oder Haken aufmachen oder knacken, daran ist nicht zu denken. Raus mußt Du aber doch.«
»Natürlich,« stimmte ihm Jean Valjean bei.
»Na, dann halb Part.«
»Was willst Du damit sagen?«
»Du hast den da kalt gemacht, nicht wahr? Und ich habe den Schlüssel zu der Thür.«
Er wies dabei auf Marius und sagte noch:
»Ich kenne Dich nicht, aber ich will Dir in Deiner Verlegenheit beispringen. Du mußt ein Kamerad sein.«
Jetzt fing Jean Valjean an, zu begreifen, was Jener wollte. Thénardier hielt ihn für einen Meuchelmörder.
»Höre mal, guter Freund; Du hast Den da doch nicht abgemuckt, ohne Dir seine Taschen anzusehen. Gieb mir meine Hälfte, so mache ich Dir die Thür auf.«
Mit diesen Worten zog er unter seiner arg durchlöcherten Blouse einen großen Schlüssel halb hervor und sagte:
»Sieh mal, so sieht der Schlüssel aus, der ins Freie führt.«
Jean Valjean war so verdutzt, daß er an der Wirklichkeit dieses Abenteuers zweifelte. In welch scheußlicher Gestalt erschien ihm da die Vorsehung! Ein Thénardier konnte auch ein guter Engel sein!?
Dieser fuhr jetzt mit der Faust in eine breite, innere Tasche seiner Blouse, holte einen Strick hervor und hielt ihn Jean Valjean hin.
»Da, den Strick kriegst Du zu!«
»Was soll ich damit?«
»Du brauchst noch einen Stein, aber den wirst Du draußen finden. Es liegt da ein Haufen Abraum.«
»Was soll ich mit dem Stein?«
»Schafskopf, Du muß den Kunden doch ins Wasser schmeißen und wenn Du ihm keinen Stein um den Hals bindest, würde er doch oben schwimmen.«
Jean Valjean nahm jetzt den Strick an. In seiner Lage mußte er wohl zu Allem Ja sagen.
Thénardier schnappte mit den Fingern, wie manche Leute zu thun pflegen, wenn ihnen ein Gedanke plötzlich kommt.
»Sag mal, Kamrad, wie hast Du's bloß angestellt, um über das Schlammloch herüber zu kommen? Ich hab's nie gewagt. Weißt Du, Du duftest nicht fein.«
Da keine Antwort kam, fuhr er nach einer Weile fort:
»Ich frage immerzu und Du antwortest nicht. Sehr gescheidt von Dir. Auf die Weise bereitest Du Dich gut auf das eklige Stündchen vor, wo der Untersuchungsrichter Dich ins Gebet nehmen wird. Und wenn man gar nichts sagt, läuft man auch nicht Gefahr, zu viel zu sagen. Das ist aber Nebensache. Weil ich Dein Gesicht nicht sehe und nicht weiß, wie Du heißt, brauchst Du Dir nicht einzubilden, ich wüßte nicht, was für Einer Du bist und was Du willst. Unsereiner weiß Bescheid. Du hast den Herrn da abgemurkst und möchtest ihn jetzt irgendwo unterbringen. Zu dem Zweck mußt Du an den Fluß, in dem sich Dummheiten so bequem begraben lassen. Dabei will ich Dir helfen. Einen wackern Kerl aus der Patsche ziehen, ist ganz mein Fall.«
Wie wohl er Jean Valjean wegen seiner Verschwiegenheit lobte, sah er es doch darauf ab, ihn gesprächiger zu stimmen. Er stieß ihn an die Schulter, um ihn von der Seite sehen zu können und rief, ohne indessen wesentlich lauter als vorher zu sprechen:
»Da wir gerade von dem Schlammloch sprechen, – sag mal, Du bist doch ein Rindvieh, wie's im Buche steht? – Warum hast Du den Kunden nicht da hineingeschmissen.«
Jean Valjean beobachtete Stillschweigen.
Thénardier rückte den Lumpen, der bei ihm die Stelle des Halstuchs vertrat, bis zu seinem Adamsapfel empor, was die Ueberlegenheit seiner Mienen und Geberden noch erhöhte und fuhr fort:
»Wenn man's recht nimmt, hast Du die Sache ganz gut überlegt. Die Arbeiter hätten, wenn sie morgen kommen und das Loch ausfüllen wollen, den Kunden sicherlich gefunden und man wäre dann ganz allmählich, Stück für Stück, Schritt für Schritt auf Deine Spur gekommen. Jemand ist durch die Kloaken gegangen. Wer? Wo ist er herausgekommen? Hat ihn Jemand herauskommen sehen? Die Polizisten sind gescheidte Leute. Die Kloaken pfeifen, daß es eine Art hat. Solch ein Fund ist eine Seltenheit, die Aufsehen erregt, denn nur wenige Leute kriechen hier herab, um Techtelmechtel zu besorgen, während zu dem Fluß alle Welt Vertrauen hat. Die Seine ist ein wahrer Kirchhof. Holen sie auch nach vier Wochen die Leiche aus den Netzen der Brücke von Saint-Cloud, so ist das Wurscht. Kein Hahn kräht nach dem Aas. Wer hat den Kerl da abgemuckt? Na, irgend Jemand in Paris! Und die Justiz stellt nicht einmal Nachforschungen an. Du hast also ganz Recht.«
Je mehr Thénadier schwabbelte, desto zugeknöpfter verhielt sich Jean Valjean. Aber Thénardier schüttelte ihn abermals bei der Schulter.
»Nun wollen wir aber zur Sache kommen. Ich denke, wir theilen die Sore. Du hast meinen Schlüssel gesehen, jetzt zeige mir Dein Geld.«
Thénardier hatte, während er dies sprach, eine scheue lauernde, mißtrauische, beinah drohende Miene, aber er geberdete sich dabei doch freundschaftlich.
Merkwürdiger Weise war sein Benehmen aber kein natürliches, einfaches, unbefangnes; es war, als plage ihn irgend eine geheime Unruhe; obwohl er nicht geheimnißvoll that, sprach er gleichwohl leise, hielt von Zeit zu Zeit den Finger auf den Mund und machte: Pst! Weshalb, war schwer zu errathen, denn außer ihnen war ja Niemand da. Jean Valjean erklärte sich dies Verhalten so, daß vielleicht andre Strolche in der Nähe wären, in irgend einem Versteck, und daß er nicht mit ihnen theilen mochte.
»Machen wir dem Ding ein Ende,« begann er endlich wieder. »Wieviel Draht hast Du dem Kunden da abgenommen?«
Jean Valjean griff in seine Taschen.
Es war ja, wie man sich erinnern wird, eine Gewohnheit von ihm, immer Geld bei sich zu führen. Da er dazu verurtheilt war, stets auf eine Nothlage vorbereitet sein zu müssen, so war dies eine Nothwendigkeit für ihn. Aber dies Mal kam er in Verlegenheit. Denn als er am Abend zuvor seine Bürgerwehr anzog, hatte er in seiner schwermüthigen Zerstreuung vergessen, seine Brieftasche mitzunehmen, so daß er nur wenig Geld in seiner Westentasche bei sich hatte. Er wandte sie mit all dem Schmutz, den sie enthielt, vor Thénardier's Augen um und legte auf die Wallbank einen Louisdor, zwei Fünffranken- und fünf bis sechs Zweisousstücke.
Thénardier schob die Unterlippe verächtlich vor.
»Da hast Du ein schlechtes Geschäft gemacht,« meinte er und begann sehr ungenirt, Jean Valjean's und Marius' Taschen zu visitiren, ein Geschäft, bei dem ihn Dieser nicht störte, da es ihm hauptsächlich darauf ankam, den Rücken stets dem Lichte zugewendet zu halten. Während aber Thénardier sich mit Marius Rock zu schaffen machte, fand derselbe, geschickt wie ein Taschenspieler, Mittel und Wege, einen Zipfel, ohne daß Jean Valjean irgend etwas merkte, abzureißen und unter seiner Blouse zu verstecken. Wahrscheinlich dachte er, dieses Stück Tuch würde es ihm später einmal ermöglichen, den Ermordeten und den Mörder wieder zu erkennen. Andre Ausbeute aber, als die schon hervorgelangten dreißig Franken, fand er nicht.
»Du hast die Wahrheit gesagt; Alles in Allem, habt Ihr nicht mehr, als das da,« bemerkte er und strich, vergeßlich wie er war, statt der Hälfte das Ganze ein.
Allerdings zögerte er etwas, als die Reihe an die Kupfermünzen kam. Nach reiflicher Ueberlegung nahm er sie aber auch.
»Mag Einer sagen, was er will, aber das Stück Arbeit hast Du zu billig gemacht,« murrte er.
Dann aber zog er den Schlüssel vor.
»Jetzt, guter Freund, mußt Du raus. Hier gilt dieselbe Regel, wie auf dem Jahrmarkt. Man zahlt, wenn man herauskommt. Du hast bezahlt, nun darfst Du raus.«
Bei diesen Worten lachte er.
Hatte er, indem er einem Unbekannten mit seinem Schlüssel zu Hülfe kam und einen Andern zur Thür hinausließ, nur die uneigennützige Absicht, einen Mörder zu retten? Man darf es bezweifeln.
Thénardier half nun Jean Valjean Marius wieder auf seine Schultern laden, ging auf den bloßen Fußspitzen an das Gitter, indem er ihm mit einem Wink bedeutete, er solle ihm folgen, blickte hinaus, legte den Zeigefinger auf seinen Mund und wartete dann noch einige Sekunden, als sei er noch unschlüssig; dann, nach Beendigung der Umschau steckte er den Schlüssel in das Schloß. Die Thür öffnete sich ohne Geknarr, ohne irgend ein Geräusch, ganz sacht. Augenscheinlich war alles gut geölt und that sich die Thür viel öfter auf, als es den Anschein besaß. Dies hatte eine unheimliche Bedeutung. Man merkte, daß sich durch diese Pforte Nachtmenschen, zweibeinige Wölfe heimlich aus- und einschleichen. Die Kloake war die Spießgesellin einer Verbrecherbande, die Gitterthür eine Hehlerin.
Thénardier machte die Thür nur noch so weit auf, daß Jean Valjean knapp hindurch konnte, warf sie wieder zu, drehte den Schlüssel zweimal herum und verschwand dann sofort in der Dunkelheit. So leise ging er dabei, als hätte er Tigerpfoten.
Jean Valjean stand jetzt draußen.
Er ließ Marius auf die Erde gleiten.
Also draußen!
Die Miasmen, die Dunkelheit, die Gefahren waren hinter ihm. Die reine, gesunde, frische, angenehme, athembare Luft umwehte ihn. Ringsherum tiefe Stille, aber die Stille eines Sonnenuntergangs bei heiterm Himmel. Es dämmerte schon und die Nacht senkte sich hernieder, die große Befreierin und Freundin aller Derer, die des Mantels der Dunkelheit bedürfen, um sich aus einer Bedrängniß zu retten. Ueberall am Himmel hehre Ruhe. Der Fluß umspielte kosend seine Füße. In den Lüften ließ sich das Gezwitscher der Vögel vernehmen, die sich aus ihren Nestern auf den Ulmen der Champs-Elysées gute Nacht sagten. Einige Sterne glänzten schon, nur dem Auge der träumerischen Betrachtung erkennbar, in dem blassen Blau des Zeniths. Kurz, der Abend entfaltete über Jean Valjeans Haupt alle Lieblichkeiten des Unendlichen.
Es war jene unentschiedene, schöne Tagesstunde, die weder Ja noch Nein sagt. Schon war die Dunkelheit so weit zur Herrschaft gelangt, daß man über eine gewisse Entfernung nichts mehr erkennen konnte, und zugleich war es noch so hell, daß die näheren Gegenstände sich dem Blick nicht entzogen.
Einige Sekunden lang gab sich Jean Valjean wiederstandslos dem bestrickenden Zauber hin, mit dem ihn die erhabene, freundliche Ruhe der Natur umfing. Es giebt ja Augenblicke, wo man vergißt, wo das Elend den Unglücklichen zu peinigen unterläßt, wo alles in beschauliches Denken aufgeht, wo Friede in das Gemüth einzieht und wie die Sterne am Himmel, so in der Seele helles Licht erstrahlt. So konnte auch Jean Valjean nicht umhin, emporzublicken zu dem klaren Schatten, der über ihm lag; nachdenklich badete er, umwoben von der majestätischen Stille des ewigen Himmels, seine Brust in Verzückung und Gebet. Dann aber neigte er sich hastig, wie wenn er sich der Verabsäumung einer Pflicht bewußt würde, zu Marius nieder und goß ihm einige Tropfen Wasser, das er mit der hohlen Hand aus dem Flusse schöpfte, über das Gesicht. Der Verwundete that die Augenlider nicht auf, aber sein halbgeöffneter Mund athmete.
Eben wollte Jean Valjean zum zweiten Male seine Hand in den Fluß tauchen, als ihn jenes unbehagliche Gefühl überkam, das sich einzustellen pflegt, wenn Jemand hinter uns steht und wir ihn noch nicht bemerkt haben.
Wir haben diese allbekannte Empfindung schon an einer andern Stelle erwähnt.
Jean Valjean wandte sich um und sah allerdings, wie kurz zuvor, Jemand hinter sich.
Ein hochgewachsener, mit einem langen Rock bekleideter Mann stand mit verschränkten Armen und mit einem Totschläger, dessen Bleiknopf sichtbar war, in der rechten Hand einige Schritte hinter Jean Valjean, der neben Marius kauerte.
Eine unliebsame Erscheinung, vor der sich einfältige Menschen wegen der Dämmrung als vor einem Gespenst und besonnene wegen des Totschlägers als vor einem Räuber gefürchtet hätten.
Jean Valjean erkannte in dem Mann Javert.
Der Leser hat ohne Zweifel schon errathen, daß Thénardiers Verfolger kein Andrer als Javert war. Nachdem er unverhofft aus der Gefangenschaft gerettet worden, hatte er sich nach dem Polizeipräsidium begeben, wo er dem Präfekten selber in einer kurzen Audienz Bericht erstattete, und dann sofort wieder seinen Dienst angetreten, um seinen Instruktionen gemäß längs des rechten Flußufers, auf das seit einiger Zeit die Aufmerksamkeit der Polizei gerichtet war, auf Insurgenten und andre verdächtige Subjekte zu fahnden. Dort hatte er denn auch Thénardier gesehen und war ihm nachgegangen. Das Uebrige ist dem Leser bekannt.
Selbstverständlich war es ein feiner Kniff, wenn Thénardier so bereitwillig Jean Valjean die Thür aufschloß. Er fühlte, daß Javert noch immer da war, vermöge jenes Instinkts, der den Verfolgten nie täuscht, und sagte sich, er müsse dem gefährlichen Hund einen Knochen hinwerfen. Ein Mörder! Was für ein Fang für einen Polizisten! So was schlägt man nie aus, selbst wenn man noch besseres im Auge hat. Indem Thénardier Jean Valjean an seiner Statt hinausließ, gab er der Polizei eine Beute, veranlaßte sie, seine Fährte aufzugeben, bewirkte, daß man ihn über etwas Wichtigerem vergaß, belohnte Javert für sein langes Warten, was einem Spitzel immer angenehm ist, verdiente dreißig Franken und rechnete daraus, daß er dank dieser Diversion entkommen würde.
Jean Valjean war aus dem Regen in die Traufe gerathen.
Zwei solche Begegnungen unmittelbar hintereinander, ein Javert nach einem Thénardier, das war arg.
Javert erkannte Jean Valjean nicht, der, wie wir schon gesagt haben, sich selber nicht mehr glich. Er faltete die verschränkten Arme nicht auseinander, faßte mit einem kaum bemerkbarem Ruck den Totschläger fester und fragte ihn kurz und in ruhigem Tone:
»Wer sind Sie?«
»Ich.«
»Wer, ich?«
»Jean Valjean.«
Javert nahm seinen Totschläger zwischen die Zähne, bog die Knie, neigte den Oberkörper nach vorn, legte seine gewaltigen Hände auf Jean Valjean's Schultern, so daß sie ihn wie zwei Schrauben hielten, sah ihn prüfend an, und erkannte ihn. Ihre Gesichter berührten sich beinahe. Javert's Augen blitzten fürchterlich.
Jean Valjean verhielt sich regungslos in Javerts Händen, wie ein Löwe, der sich von einem Luchs würde anpacken lassen.
»Inspektor Javert,« sagte er, »Sie haben mich in Ihrer Gewalt. Uebrigens betrachte ich mich schon seit heute Morgen als Ihren Gefangnen. Meine Adresse habe ich Ihnen nicht gesagt, um Ihnen zu entwischen. Führen Sie mich weg, aber gewähren Sie mir eine Gunst.«
Javert schien nicht zu hören, was Jean Valjean sagte. Er heftete seine Augen noch eindringlicher auf ihn und sein aufgeworfnes Kinn drängte die Lippen gegen seine Nase empor, ein Zeichen, daß er grimmigen Gedanken nachging. Endlich ließ er Jean Valjean los, richtete sich mit einem Ruck gerade in die Höhe, umspannte den Totschläger wieder mit der ganzen Hand und murmelte wie im Traum, mehr als er sprach, die Frage:
»Was machen Sie hier und was hat es für eine Bewandtnis mit dem Mann da?«
Er fuhr also fort, Jean Valjean nicht mehr zu duzen.
Jean Valjean antwortete und seine Stimme schien Javert aus seiner Zerstreuung zu wecken.
»Von Dem wollte ich eben sprechen. Verfügen Sie über mich, wie es Ihnen beliebt; aber helfen Sie mir, ihn nach Hause zu bringen. Nur darum bitte ich Sie.«
Javerts Züge zogen sich zusammen, wie dies jedes Mal der Fall war, wenn man ihn irgend einer Nachgiebigkeit für fähig hielt. Indessen sagte er nicht Nein.
Er beugte sich von Neuem nieder, nahm aus seiner Tasche ein Tuch, das er ins Wasser tauchte, und wischte damit das Blut von Marius Stirn.
»Der junge Mensch hat auf der Barrikade gestanden,« sagte er halblaut und als spräche er mit sich selber. »Es ist Derjenige, den sie Marius nannten.«
Vorzüglich begabt, wie er als Spion war, hatte er alles beobachtet, alles belauscht, alles gehört und sich gemerkt, trotzdem er glaubte, daß er ein Kind des Todes sei; hatte er in seiner Sterbestunde aufgepaßt, und am Rande des Grabes Notizen in seinem Hirn gesammelt.
Er griff nach Marius, um ihm den Puls zu befühlen.
»Er ist verwundet,« sagte Jean Valjean.
»Er ist tot,« fiel ihm Javert ins Wort.
Jean Valjean antwortete:
»Nein. Noch nicht.«
»Sie haben ihn also von der Barrikade hierher gebracht?« bemerkte Javert.
Er mußte wohl sehr stark mit seinen eignen Gedanken beschäftigt gewesen sein, sonst hätte er wohl über die gefährliche Flucht durch die Kloaken nähere Auskunft verlangt und hätte auch beachtet, daß Jean Valjean auf seine Frage keine Antwort gab.
Auch diesen seinerseits schien ein einziger Gedanke zu beherrschen. Er fuhr mit der Rede fort.
»Er wohnt im Marais, Rue des Filles-du-Calvaire, bei seinem Großvater . . . Den Namen habe ich vergessen.«
Nun durchsuchte er Marius Taschen, holte die Brieftasche hervor, schlug die Seite auf, wo Marius die Notiz niedergeschrieben hatte und hielt sie Javert hin.
In der Luft schwebte noch gerade so viel Helligkeit, daß man lesen konnte, abgesehen davon, daß Javerts Augen der Katzenphosphorescenz der Nachtvögel theilhaftig waren. Er entzifferte also leicht die von Marius niedergeschriebnen, wenigen Zeilen und murmelte:
»Gillenormand, Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6.«
Dann rief er: »Kutscher!«
Der Leser entsinnt sich wohl noch, daß die Droschke für alle Fälle wartete.
Javert behielt Marius Brieftasche.
Einen Augenblick später hielt der Wagen, nachdem er die Rampe, die nach der Tränke führte, herunter gekommen war, am Wasser, woraus Marius auf dem Rücksitz untergebracht wurde und Javert neben Jean Valjean Platz nahm.
Nachdem die Thür zugemacht war, entfernte sich die Droschke in schnellem Trabe, indem sie am Flusse entlang in der Richtung des Bastillenplatzes fuhr.
Endlich wandten sie sich von dem Ufer ab und fuhren in die Straßen hinein. Der Kutscher, als schwarze Silhouette auf seinem Bock ließ die Peitsche auf seine magern Gäule niederfallen. Im Wageninnern eisiges Schweigen. Marius, der unbeweglich, den Oberkörper in die Ecke des Rücksitzes geschmiegt, den Kopf auf die Brust gesenkt, mit herabhängenden Armen und steifen Beinen dasaß oder lag, schien nur noch auf seinen Sarg zu warten; Jean Valjean schien aus einem Schatten und Javert aus einem Stein zu bestehen, und in dem nächtlichen Dunkel des Wagens, dessen Innres jedes Mal, wenn es an einer Straßenlaterne vorbeikam, von einem fahlen Lichtblitz erhellt wurde, vereinigte der Zufall zu einer unheimlichen Gesellschaft drei tragische Unbeweglichkeiten: einen Leichnam, ein Gespenst, eine Statue.
Bei jedem Stoß, den die Droschke durch das Pflaster erlitt, fiel ein Tropfen Blut aus Marius Haaren herab.
Es war schon finstre Nacht, als der Wagen vor dem Hause Nr. 6 der Rue des Filles-du-Calvaire stehen blieb.
Javert stieg zuerst hinaus, vergewisserte sich, daß die Nummer über dem Thorweg die richtige war, hob den schweren, nach alter Mode mit zwei einander gegenüberstehenden mythologischen Gestalten, einem Bock und einem Satyr, verzierten, schmiedeeisernen Klopfer empor und donnerte damit heftig gegen die Thür. Der eine Flügel that sich auf und Javert stieß ihn weiter zurück. In der Oeffnung stand der verschlafene, gähnende Pförtner mit einem Talglicht in der Hand.
Alles schlief im Hause, denn im Marais geht alle Welt früh zu Bett, besonders, wenn es in der Stadt unruhig zugeht. Dieses gute, alte Stadtviertel flüchtet sich, wenn es durch eine Revolution geängstigt wird, in die Arme des Schlafes, wie die Kinder, wenn sie den schwarzen Mann kommen hören, schnell ihr Köpfchen unter die Decke verstecken.
Unterdessen zogen Jean Valjean und der Kutscher Marius aus der Droschke, indem Ersterer ihn unter die Arme faßte und der Andre seine Knie trug.
Während er so fortgeschafft wurde, griff Jean Valjean ihm unter die vielfach zerrissenen Kleider, befühlte seine Brust und überzeugte sich, daß das Herz noch schlug. Es schlug sogar etwas weniger schwach, als hätte die Bewegung des Wagens das matte Leben in einem gewissen Grade wieder angeregt.
Javert redete den Pförtner in dem Tone an, den die Obrigkeit gegenüber dem Diener eines Rebellen sich erlauben darf:
»Wohnt hier ein gewisser Gillenormand?«
»Ganz richtig. Was wünschen Sie von ihm?»
»Wir bringen ihm seinen Sohn.«
»Seinen Sohn?»fragte der Pförtner höchlichst verdutzt.
»Seinen toten Sohn.«
Jean Valjean, der hinter Javert in seinen zerrissenen und mit Koth bedeckten Kleidern stand und den der Pförtner mit einem gewissen Entsetzen betrachtete, bedeutete ihm mit einer verneinenden Bewegung des Körpers, daß Javert sich irre.
Der Polizeiinspektor fuhr fort:
»Er hat sich den Insurgenten angeschlossen und sich an einem Barrikadenkampf betheiligt.«
»Barrikadenkampf!« wiederholte der Pförtner.
»Dabei hat er sein Leben eingebüßt. Wecken Sie den Vater.«
Der Pförtner rührte sich nicht vom Fleck.
»So gehen Sie doch!« trieb ihn Javert an und sagte:
»Morgen giebt es hier im Hause ein Leichenbegängniß.«
In Javerts Kopf waren die gewöhnlichen Vorgänge, die sich auf den öffentlichen Plätzen und in den Straßen abspielen, nach wenigen Kategorien geordnet, was einen schnelleren Überblick und eine bessere Aufsicht ermöglichte, und jeder Vorfall hatte seine eigne Rubrik; es befanden sich also die möglichen Ereignisse so zu sagen in Schubfächern, aus denen sie erforderlichen Falles in beliebiger Zahl hervorgeholt werden konnten. Auf der Straße existirten für ihn hauptsächlich nur Krawalle, Revolten, Karnevalslustbarkeiten, Leichenbegängnisse.
Der Pförtner begnügte sich, Baske zu wecken: Baske weckte Nicolette; Nicolette weckte Tante Gillenormand. Den Großvater ließ man schlafen, da man meinte, er werde die Sache früh genug erfahren.
Sie trugen Marius, ohne daß irgend Jemand in den übrigen Theilen des Hauses es bemerkte, eine Treppe hinauf und legten ihn in Herrn Gillenormands Vorzimmer auf ein altes Sofa nieder, und während Baske nach einem Arzt ging und Nicolette die Wäscheschränke aufmachte, trat Javert an Jean Valjean heran und berührte seine Schulter. Dieser verstand den Wink und stieg, während Javert hinter ihm ging, die Treppe wieder hinunter.
Der verschlafne Pförtner sah sie gehen, wie er sie hatte kommen sehen, verdutzt und erschrocken.
Sie stiegen wieder in die Droschke und der Kutscher auf den Bock.
»Inspektor Javert,« hub Jean Valjean wieder an, »gewähren Sie mir noch eine Bitte.«
»Was denn?« fragte Javert in schroffem Tone.
»Lassen Sie mich einen Augenblick in meine Wohnung zurückkehren. Nachher thuen Sie dann mit mir, was Sie wollen.«
Javert versenkte nachdenklich das Kinn hinter seinen Rockkragen, verharrte einige Zeit in Stillschweigen und ließ dann die vordre Glasscheibe des Vordersitzes herab.
»Kutscher, Rue de l'Homme-Armé Nr. 7.
Sie sprachen kein Wort während der ganzen Fahrt.
Was bezweckte Jean Valjean mit dieser Heimkehr? Er wollte vollenden, was er begonnen hatte; Cosette benachrichtigen, ihr mittheilen, wo Marius war, ihr vielleicht noch einige nützliche Verhaltungsmaßregeln geben, gewisse letzte Anordnungen treffen. Was ihn, ihn persönlich anbetraf, so war es mit ihm vorbei; er war in Javerts Gewalt und sträubte sich nicht gegen sein Schicksal. Ein Andrer hätte vielleicht in seiner Lage zwischen dem Strick, den ihm Thénardier gegeben und den Eisenstangen des ersten besten Gefängnisses, in das er eingesperrt werden würde, eine gewisse gedankliche Verbindung hergestellt; aber seit seiner Begegnung mit dem Bischof hegte Jean Valjean, wie wir noch einmal nachdrücklich betonen müssen vor jedem Attentat, auch wenn es sein eigenes Leben betraf, einen tiefen, religiösen Abscheu.
Der Selbstmord, die geheimnißvolle Thätlichkeit gegen das Unbekannte, die in einem gewissen Maße den Tod der Seele nach sich ziehen kann, war Jean Valjean unmöglich.
An dem Eingang der Rue de l'Homme-Armé angelangt hielt die Droschke an, da diese Straße für jedweden Wagenverkehr zu schmal ist. Javert und Jean Valjean stiegen aus.
Der Kutscher stellte dem Herrn Polizeiinspektor demüthigst vor, daß der wollne Plüsch durch das Blut des Ermordeten und den Koth der Kleider des Mörders verdorben worden sei. Denn so hatte er sich den Vorgang, dessen Zeuge er gewesen war, gedeutet. Er habe also, fügte er hinzu, ein Recht auf Schadenersatz. Gleichzeitig zog er sein Buch aus der Tasche und ersuchte den Herrn Polizeiinspektor ihm die Sache gütigst bescheinigen zu wollen.
Javert wies das Buch zurück, das ihm der Kutscher hinhielt, und fragte:
»Wieviel verlangen Sie für alles zusammen, den Plüsch, den Aufenthalt und die Fahrt?«
»Die Fahrt hat sieben und eine Viertelstunde gedauert,« antwortete der Kutscher, und der Plüsch war ganz neu. Achtzig Franken, Herr Polizeiinspektor.«
Javert zog vier Napoleonsd'or aus der Tasche und entließ den Kutscher.
Jean Valjean dachte, Javert beabsichtige ihn zu Fuß nach dem Wachtposten des Blancs-Manteaux oder dem des Archivgebäudes, die beide in der Nähe liegen, zu führen.
Sie gingen in die Straße, die wie gewöhnlich menschenleer war, hinein, indem Javert Jean Valjean vor sich hergehen ließ. Als sie vor Nr. 7 ankamen, klopfte Jean Valjean. Als die Thür aufging, sagte Javert:
»So! Nun gehen Sie hinauf!«
Dann bemerkte er noch mit einer sonderbare Betonung, als koste es ihm eine Ueberwindung so etwas zu sagen:
»Ich warte hier auf Sie.«
Jean Valjean sah Javert an. Diese Art und Weise stimmte so wenig mit Javerts sonstigen Gepflogenheiten überein! Allein darüber, daß Javert jetzt ein gewisses, hochmütiges Vertrauen zu ihm hatte, jene Art Vertrauen, die einer rettungslos verlornen Maus von der Katze geschenkt wird, darüber konnte er, da er entschlossen war, jeden Fluchtversuch zu unterlassen und ein Ende zu machen, sich nicht besonders wundern. Er stieß die Hausthür auf, trat ein, rief, als er an der Wohnung des Portiers vorbeikam, der im Bett lag: »Ich bin's!« und stieg die Treppe empor.
Im ersten Stockwerk angelangt, machte er Halt. Wer einen schweren Gang thut, ruht gerne aus. Das Flurfenster, das zum Herunterlassen eingerichtet war, stand gerade offen. Es lag wie in vielen alten Häusern nach der Straße hinaus und ließ am Tage das Sonnenlicht in den Treppenraum hinein. Als Jean Valjean heraufkam, fiel der Schein der Straßenlaterne, die dem Hause gerade gegenüber stand, auf die Stufen, so daß die Beleuchtungskosten für das Treppenhans erspart werden konnten.
Sei es, um frische Luft zu schöpfen oder auch unwillkürlich und mechanisch trat Jean Valjean an das Fenster, lehnte sich hinaus und warf einen Blick auf die Straße. Sie ist kurz und die Laterne beleuchtete sie vollständig von dem einen bis zum andern Ende. Da fuhr Jean Valjean hoch erstaunt in die Höhe; es war unten kein Mensch zu sehen.
Baske und der Pförtner trugen Marius von dem Sofa, wo er noch immer kein Lebenszeichen gegeben hatte, nach dem Salon. Unterdessen war auch der Arzt gekommen, nach dem geschickt worden war, und Tante Gillenormand aufgestanden.
Das alte Fräulein lief erschrocken hin und her, rang die Hände und war unfähig irgend etwas Andres zu thun, als zu seufzen und zu jammern: »Herr Gott, wie ist so was nur möglich!« Und von Zeit zu Zeit eine Hausfrauenreflexion: »Wir werden lauter Blutflecken in alle Sachen kriegen!« Als die erste Bestürzung sich einigermaßen gelegt hatte, leuchtete in ihrem Geist ein gewisses Verständniß für das Wesen des Ereignisses auf und fand seinen Ausdruck in dem Ausruf: »Solch ein Ende mußte es ja nehmen!« Bis zu dem, bei solchen Gelegenheiten üblichen: »Das hatte ich ja gleich gesagt!« drang sie aber doch nicht vor.
Auf die Anordnung des Arztes wurde ein Gurtbett neben dem Sofa aufgestellt. Er untersuchte Marius und stellte fest, daß der Puls noch schlug, daß keine tiefere Wunde in der Brust zu entdecken sei und das Blut an den Mundwinkeln aus den Nasenlöchern stammte. Hierauf ließ er ihn flach auf das Bett legen, das Kissen wegnehmen, damit der Kopf nicht höher und sogar etwas niedriger liege als der Körper, und den Oberkörper entblößen, welche sämtliche Maßregeln den Zweck hatten, die Athmung zu erleichtern. Fräulein Gillenormand zog sich, als Marius entkleidet wurde, in ihr Zimmer zurück, wo sie ihren Rosenkranz abbetete.
An dem Rumpfe war keine innre Verletzung zu bemerken; denn auch eine Kugel, die seine Brust getroffen hatte, war durch die Brieftasche abgeschwächt worden und hatte zwar, indem sie die Rippen entlang glitt, das Fleisch gräßlich aufgerissen, aber keine tiefe und folglich auch keine wahrhaft gefährliche Wunde hinterlassen. Das zerbrochene Schlüsselbein dagegen war in Folge des weiten Transportes durch die Kloaken vollends auseinander gegangen und diese Verletzung sah bedenklich aus. Die Arme waren mit Säbelhieben bedeckt. Im Gesicht sah man keine Wunden; dagegen war der Kopf wie zerhackt. Wie aber diese Kopfwunden beschaffen waren, ob sie tiefer durch die Kopfhaut in das Gehirn hinabgingen, konnte man noch nicht wissen. Ein schlimmes Symptom war, daß sie eine Ohnmacht veranlaßt hatten, eine Art Ohnmacht, aus der man nicht immer wieder erwacht. Außerdem hatte der große Blutverlust den Verwundeten geschwächt. Der untere Theil des Körpers von dem Gürtel an war durch die Barrikade vor Wunden bewahrt worden.
Baske und Nicolette rissen alte Hemden in Streifen; Nicolette nähte sie an einander und Baske rollte sie auf. In Ermanglung von Charpie hatte der Arzt das Blut vorläufig mit Wattenlagen gestaut. Neben dem Bett brannten drei Kerzen auf einem Tisch, auf dem ein chirurgisches Besteck ausgebreitet war. Der Arzt wusch Marius Gesicht und Haare mit kaltem Wasser, von dem ein Eimer voll in einem Augenblick ganz roth wurde. Der Pförtner stand mit einem Talglicht dabei und leuchtete.
Der Arzt schien in trübe Gedanken versunken zu sein und von Zeit zu Zeit schüttelte er den Kopf, als verneinte er irgend eine Frage, die er innerlich sich selbst gestellt hatte. Ein schlechtes Zeichen für einen Kranken, wenn der Arzt dergleichen geheimnißvolle Selbstgespräche führt.
In dem Augenblick, als der Arzt das Gesicht des Verwundeten abtrocknete und mit dem Finger die noch immer geschlossenen Augenlider streifte, ging im Hintergrund des Salons eine Thür auf und auf der Schwelle erschien eine lange blasse Gestalt.
Die beiden Revoltetage hatten Gillenormand in große Unruhe, Aerger und Kummer versetzt, so daß er die vorletzte Nacht schlaflos verbracht und den ganzen Tag über das Fieber gehabt hatte. Am Abend zuvor war er dann frühzeitig zu Bett gegangen, nachdem er seinen Leuten eingeschärft, sie sollten das Haus gut verriegeln, und war dann in Folge der Uebermüdung eingeschlummert.
Aber alte Leute schlafen leise und da ferner Gillenormands Schlafzimmer an den Salon stieß, so war er trotz aller Vorsicht, die man gebrauchte, durch das Geräusch wach geworden. Verwundert über das Licht, das durch eine Thürspalte hereinschimmerte, war er aus dem Bett gestiegen und hatte sich nach der Thür hin getastet.
Jetzt stand er auf der Schwelle, die Klinke der halbgeöffneten Thür in der einen Hand, den wackligen Kopf ein wenig nach vorn geneigt, den Körper in einen weißen Schlafrock gehüllt, der gerade und faltenlos wie ein Leichentuch herabfiel, mit erstauntem Gesicht, und glich einem Phantom, das in ein Grab blickt.
Nun bemerkte er die Bettstelle und auf der Matratze den mit Blut bedeckten, wachsbleichen, jungen Mann, der mit geschlossnen Augen, offnem Munde, fahlen Lippen, nackt bis zum Gürtel, mit rothen Wundenmalen bedeckt, von grellem Licht bestrahlt, regungslos da lag.
Den Großvater überlief bei diesem Anblick von Kopf bis zu Fuß ein so heftiger Schauer, wie er bei seinen verknöcherten Gliedern nur irgend möglich war; seine Augen, deren Hornhaut in Folge des Alters gelb geworden, verschleierte eine Art glasiger Glanz; sein ganzes Antlitz bekam in einem Augenblick die erdfarbnen Vorsprünge eines Totenkopfes, seine Arme fielen wie gebrochen schlaff herab und sein Schreck fand einen Ausdruck in der Spreizung der zittrigen Finger, seine Kniee knickten nach vorn ein und hielten den Schlafrock auseinander, so daß man seine schwachen, mit weißen Haaren bedeckten Beine sehen konnte.
»Marius!« murmelte er.
»Herr Gillenormand,« sagte Baske, »so eben sind ein paar Leute gekommen und haben Herrn Marius gebracht. Er hat sich bei einem Barrikadenkampf betheiligt und . . .«
»Ist tot geschossen worden!« rief der Alte mit gräßlichem Jammergeschrei. »O der nichtswürdige Bengel!«
Da richtete sich plötzlich der neunzigjährige Alte, jugendlich wie ein im Grabe Verjüngter, empor.
»Sie sind der Arzt; sagen Sie mir zunächst eins. Er ist tot, nicht wahr?«
Der Angeredete konnte vor Rührung und Mitleid kein Wort hervorbringen.
Da rang Gillenormand die Hände und lachte entsetzlich auf.
»Er ist tot, er ist tot! Er ist aus Haß gegen mich auf eine Barrikade gestiegen, damit sie ihn tot schießen sollten. Mir zum Aerger hat er das gethan! O der blutdürstige Schlingel, so kommt er wieder zurück. O weh mir, er ist tot!«
Er trat an ein Fenster, riß es weit auf, als wenn er erstickte und Luft schöpfen wollte und sprach in die Dunkelheit hinein.
»Zerstochen, in Stücke zerhauen, zerschossen, gewürgt, so läßt der infame Bengel sich zu mir bringen! Er wußte recht gut, daß ich ihn erwartete, daß ich sein Zimmer hatte in Ordnung bringen lassen, daß ich sein Bild aus der Zeit, wo er noch ein kleiner Junge war, neben das Kopfende meines Bettes angehängt hatte. Er wußte, daß er blos wiederzukommen brauchte und daß ich mich seit Jahren nach ihm sehnte, und daß ich des Abends vor meinem Kamin, die Hände im Schoß, saß und mich langweilte, weil er nicht da war und daß mich die Liebe zu ihm ganz dumm machte. Du wußtest es, daß Du blos zu kommen und ›Hier bin ich,‹ zu sagen brauchtest, und daß Du der Herr im Hause gewesen wärest und daß ich parirt und daß Du alles, was Du wolltest, mit Deinem alten Trottel von Großvater hättest anstellen können. Das wußtest Du, aber Du hast gesagt: ›Nein, der Alte ist ein Königlicher, zu dem gehe ich nicht.‹ Und da bist Du boshafter Bengel auf eine Barrikade gestiegen und hast Dich totschießen lassen, aus Rache, weil ich Dir bei unserm Streit wegen Seiner Königlichen Hoheit des Herzogs von Berry etwas gesagt habe, das Dir nicht gepaßt hat! Das nenne ich mal eine Schändlichkeit! Da soll Einer noch sich zu Bett legen und ruhig schlafen, wenn er aufgeweckt wird und sie zu ihm sagen, er ist tot.«
Der Arzt, der sich jetzt einer zweifachen Befürchtung hingab, ließ einen Augenblick Marius liegen, trat auf Gilenormand zu und ergriff ihn beim Arm. Der Greis wandte sich um, sah ihn mit Augen an, die vergrößert und mit Blut gefüllt schienen, und sagte ruhig:
»Herr Doktor, ich danke Ihnen. Ich bin ruhig, ich bin ein Mann; habe Ludwig XVI. sterben sehen und verstehe, das Unabänderliche zu ertragen. Eine Sache ist schrecklich, der Gedanke nämlich, daß Eure Zeitungen all das Unheil anstiften. Habt Ihr Federfuchser, Zungendrescher, Advokaten, Redner, Parlamente, Debatten, fortschrittlichen Unsinn, Aufklärung, Menschenrechte, Preßfreiheit, so werden Euch Eure Kinder in solch einem Zustande nach Hause gebracht. O Marius! Das ist abscheulich von Dir! Getötet, vor mir gestorben. Auf einer Barrikade erschossen! O Du Kanaille! Herr Doktor. Sie wohnen ja wohl hier in der Gegend? Ich kenne Sie sehr gut. Ich sehe Sie oft in Ihrer Equipage hier vorbeifahren. Ich will Ihnen was sagen, Herr Doktor. Es wäre ein Irrthum von Ihnen, zu glauben, daß ich wüthend bin. Einem Toten zürnt man nicht, das wäre eine Dummheit. Den Jungen habe ich groß gezogen. Ich war schon ein alter Kerl, als er noch in den Windeln lag. Er spielte gern im Tuileriengarten mit seinem kleinen Spaten und seinem Stühlchen und damit ihn die Aufseher nicht schelten sollten, machte ich nach und nach die Löcher, die er in die Erde grub, wenn er fertig war, mit einem Spazierstock wieder zu. Eines Tages schrie er: ›Nieder mit Ludwig XVIII.!‹ und ist weggegangen. Meine Schuld war's nicht. Der Junge hatte rosige Bäckchen und blonde Haare. Seine Mutter ist tot. Haben Sie beobachtet, daß alle kleinern Jungen blond sind? Woher kommt das? Er war doch der Sohn eines Loireräubers, aber die Kinder sind unschuldig an den Vorbrechen ihrer Eltern. Ich besinne mich noch auf ihn, wie er noch so klein war. Er konnte anfangs das D nicht aussprechen. Dabei papelte er so lieblich, daß es sich wie Vogelgezwitscher anhörte. Eines Tages, erinnre ich mich, gab es bei der Statue des Hercules von Farnese einen Auflauf, weil die Leute ihn sich ansehen wollten und ihn bewunderten; so hübsch war das Kind. Ein Köpfchen, sage ich Ihnen, Herr Doktor, wie man's auf Gemälden sieht. Ich pflegte ihn anzufahren, ihm mit dem Stock zu drohen, aber er wußte, daß ich's nicht ernst meinte. Wenn er des Morgens auf mein Zimmer kam, brummte ich, aber dabei war mir zu Muthe, als fiel mir ein Sonnenstrahl ins Herz. Gegen die kleinen Dinger ist man wehrlos. Sie packen Einen, halten Einen, lassen Einen nicht wieder los. Solch einen allerliebsten Jungen hat es nie gegeben, wie der einer war. Und jetzt, was sagen Sie dazu, daß Ihre Lafayette, Ihre Benjamin Constant, Ihre Tirecuir de Corcelles ihn mir umgebracht haben. Darf das so hingehen?«
Mit diesen Worten trat er an den totenblassen Marius, der sich noch immer nicht bewegte, heran und mit dem sich der Arzt jetzt wieder beschäftigte und begann wieder die Hände zu ringen. Die farblosen Lippen des Greises bewegten sich so zu sagen mechanisch und hauchten mit Aechzen untermischte Worte hervor, die kaum noch verständlich waren: »O Du herzloser Junge! Du Revolutionär! Nein, solche Schlechtigkeit! O Du Blutmensch.« – Leise Vorwürfe eines Sterbenden an einen Toten.
Allmählich aber kamen, da die Gefühle sich schließlich immer eine Bahn brechen und sich äußern, wieder zusammenhängende Reden heraus, aber der Greis schien nicht mehr die Kraft zu haben wie gewöhnlich zu sprechen und seine Stimme klang so dumpf und matt, als käme sie über einen Abgrund herüber.
»Nun meinetwegen, jetzt sterbe ich auch bald. Wenn man denkt, daß sich nicht leicht ein Mädel dem Elenden versagt hätte! Aber statt sich zu amüsiren und das Leben zu genießen, geht der Bengel hin und läßt sich totschießen wie ein Stück Vieh. Und für wen? Wozu? Für die Republik! Statt nach der Chaumière tanzen zu gehen, was doch die Pflicht der jungen Leute ist. Wozu ist die Jugend denn sonst da? Die Republik! Solch eine Verdrehtheit! Nun setzt noch hübsche Kinder in die Welt, ihr armen Mütter! Ja ja, er ist tot! Nun giebt's zwei Leichenbegängnisse auf einmal im Hause. Also so hast Du Dich zurichten lassen aus Liebe zu dem General Lamarque! Was hat er Dir denn zu Liebe gethan, der Säbelrasseler, der Schwabbelmichel? Sich für einen Toten totschlagen zu lassen! Könnte man nicht verrückt werden bei so einem Gedanken! Das begreife, wer's kann? Ist blutjung und geht davon, ohne sich umzusehen, wer hinter ihm zurückbleibt. Die armen, alten Stiefel können ja allein sterben. Krepire in Deinem Winkel, Du alter Uhu! Na aber, im Grunde genommen, ist es so besser, das kommt mir gelegen, nun werde ich einmal abkommen. Ich bin zu alt, ich habe hundert, hundert tausend Jahre auf dem Rücken und hätte schon längst das Recht gehabt, zu sterben. Nun kann's aber werden. Jetzt ist's vorbei mit mir. Ein wahres Glück! Wozu lassen Sie ihn nur bloß das Ammoniak einathmen, Sie Schwachkopf von Doktor, und wozu all die Medizin? Er ist tot, sage ich Ihnen, mausetot! Ich muß mich darauf verstehen. Bin ich doch selber auch schon tot. Er hat sich's gründlich besorgen lassen. Ja, wir leben in einer nichtswürdigen Zeit, verstanden? Das ist meine Meinung von Euch, Euern Ideen, Euern Systemen, Lehrern, Orakeln, Gelehrten, Euern Thunichtguten von Schriftstellern, Euern Lumpen von Philosophen und all den Revolutionen, die seit sechzig Jahren die Raben im Tuileriengarten aufscheuchen. Und da Du so erbarmungslos gewesen bist und hast Dich tot schießen lassen, so werde ich mir über Deinen Tod auch keinen Kummer machen. Hörst Du, Du Mörder?«
In demselben Augenblick, wo der Alte diese Worte aussprach, hob Marius langsam die Augenwimpern empor und ließ seinen, noch von lethargischem Erstaunen verschleierten Blick auf Gillenormand ruhen.
»Marius!« schrie der Greis. »Marius, mein Mariuschen! Mein Kind, mein geliebter Junge! Du machst die Augen auf, Du siehst mich an, Du lebst! Ich danke Dir.»
Und er brach ohnmächtig zusammen.