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Die Nacht vom 16. zum 17. Februar war eine gesegnete Nacht. Ueber ihrem Dunkel stand der Himmel offen. Es war Marius und Cosette's Hochzeitsnacht.
Der Tag war herrlich gewesen.
Allerdings kein romantisch-mythologisches Fest, wie es des Großvaters Phantasie entworfen hatte; kein Feenstück mit einem Gewimmel von Cherubim und Liebesgöttern über den Häuptern des Brautpaars, eine Hochzeit, die über dem Gesims einer gothischen Thür hätte figurien können; aber es war gemüthlich und heiter zugegangen.
Hochzeiten wurden 1833 nicht so gefeiert, wie heutzutage. Frankreich hatte damals noch nicht von England die ungeheuer feine Sitte entliehen, gleich beim Herauskommen aus der Kirche seine Frau zu entführen, mit ihr davonzulaufen, sich zu verbergen, als schäme man sich seines Glücks und die Ekstasen des Hohenliedes mit dem Gebaren eines Bankrotteurs zu verquicken. Man kapirte damals noch nicht, wie keusch, zart und sittsam es ist, in einer Postkutsche zu kosen, seine Küsse von Peitschengeknall sekundiren zu lassen, als Brautlager das erste, beste Hotelbett zu wählen und die schönste Nacht des Lebens vielleicht neben der Kabuse zu feiern, wo sich die Herbergsmagd mit dem Diligencenkondukteur amüsirt.
In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts genügen der Bürgermeister und seine Schärpe, der Geistliche und sein Meßgewand, das Gesetz und Gott nicht mehr; sie müssen durch den Postillon von Lonjumeau ergänzt werden, eine blaue Jacke mit rothen Aufschlägen und Glöckchenbehang, grüne Lederhosen, Flüche über normannische Pferde, unechte Tressen, einen Wachstuchhut, gepuderte Haare, eine riesige Peitsche und Stulpenstiefel. In Frankreich treibt man freilich die Eleganz noch nicht so weit, wie die englische Nobility, die auf die Postkalesche Neuvermählter einen Hagel von alten Pantoffeln und abgelaufenen Schuhen niederprasseln läßt, zur Erinnerung an Churchill, später Herzog von Marlborough, der an seinem Hochzeitstage von seiner wütenden Tante so begrüßt wurde und dem dieser Gruß Glück brachte. Noch bildet altes Schuhzeug keinen nothwendigen Bestandtheil unsres Hochzeitsapparats; aber Geduld! Wenn der feine Geschmack sich verallgemeinert, bringen wir's auch noch so weit.
1833 und vor hundert Jahren wurde Hochzeit noch ohne Pferdegalopp gefeiert.
Zu jener Zeit bildete man sich seltsamer Weise noch ein, eine Hochzeit sei ein Familien- und ein geselliges Fest, ein patriarchalischer Schmaus verderbe keine häusliche Feierlichkeit, die Lustigkeit, auch wenn sie über das nöthige Maß hinausgehe, thue, wenn sie nur gut gemeint sei, dem Glück keinen Abbruch, und es sei eine achtungswerte und gute Sitte, daß die Verschmelzung zweier Geschicke, aus der eine Familie hervorgehen soll, in dem traulichen Heim beginne und daß die Eheleute in Zukunft das Brautgemach zum Zeugen ihrer Handlungen haben.
Und demzufolge war man schamlos genug, seine Hochzeit zu Hause zu feiern.
So wurde denn auch Marius und Cosette's Hochzeit nach dieser heutzutage schon abkommenden Mode in Gillenormands Haus begangen.
Eine so natürliche und so gewöhnliche Sache das Verheiraten auch ist, aber das Aufgebot, die Aufsetzung der Urkunden, die Verhandlungen mit den Standesamts- und Kirchenbehörden, sind immer etwas komplicirter Natur und so konnten auch Marius und Cosette mit den Vorbereitungen zu ihrer Hochzeit nicht vor dem 16. Februar fertig werden.
Nun traf es sich aber, – wir berichten diese Nebensache nur der Genauigkeit wegen – daß der 16. Februar mit der Fastnacht zusammen fiel. Dieser Umstand verursachte Bedenken, Skrupel, namentlich seitens der Tante Gillenormand.
»Die Fastnacht!« rief der Großvater. »Desto besser. Ein altes Sprüchwort sagt, Leute, die sich an dem Tage verheiraten, bekämen keine undankbaren Kinder. Lassen wir also die Bedenken und nehmen wir den sechzehnten. Oder hast Du Lust zu warten, Marius?«
»Bewahre!« rief eifrig der Bräutigam.
»Dann also hinein ins Vergnügen!« schloß der Großvater.
Die Hochzeit fand demzufolge am 16. statt, trotzdem es ein öffentlicher Festtag war. Es war regnerisches Wetter, aber für die Glücklichen reservirt der Himmel immer ein Fleckchen Azurbläue, das die Liebenden sehen, auch wenn die ganze übrige Schöpfung sich unter dem Regenschirm befindet.
Am Abend zuvor übergab Jean Valjean in Gegenwart des Großvaters dem Bräutigam die fünfhundert vierundachtzigtausend Franken.
Da ausgemacht war, daß zwischen den Eheleuten Gütergemeinschaft herrschen sollte, so waren die Formalitäten sehr einfache.
Die Dienste der Toussaint konnte Jean Valjean von nun an entbehren; Cosette erbte sie und avancirte sie zum Range einer Kammerfrau.
Was Jean Valjean anbetrifft, so stand im Gillenormandschen Hause ein eigens für ihn möblirtes Zimmer zu seiner Verfügung und Cosette hatte ihn so unwiderstehlich gebeten: »Vater, thu's mir zu Liebe!« daß er ihr halb und halb zugesagt hatte, er würde zu ihr ziehen.
Einige Tage vor der Hochzeit stieß Jean Valjean ein Unfall zu, wobei er sich den Daumen der rechten Hand etwas quetschte. Es war keine bedenkliche Verletzung; er erlaubte auch nicht, daß irgend Jemand sich damit beschäftigte, noch ihn verband, noch die Wunde in Augenschein nahm, nicht einmal Cosette. Indessen sah er sich genöthigt sich die Hand mit einem Stück Leinwand zu umwickeln und den Arm in einer Binde zu tragen; auch wurde er dadurch am Schreiben gehindert und konnte die Urkunden nicht unterzeichnen, so daß Gillenormand als Cosettens Mitvormund seine Stelle vertreten mußte.
Wir wollen den Leser weder nach der Mairie, noch nach der Kirche begleiten. Folgt man doch nicht leicht einem Liebespaar bis dahin und pflegt man doch dem Drama den Rücken zu kehren, sobald es einen Bräutigamsstrauß in sein Knopfloch steckt. Wir beschränken uns darauf einen merkwürdigen Zwischenfall zu berichten, der, von der Hochzeitsgesellschaft freilich nicht bemerkt, sich während der Fahrt von der Rue des Filles-du-Calvaire ereignete.
Es wurde zu jener Zeit das Pflaster an dem nördlichen Ende der Rue Saint-Louis reparirt. In Folge dessen war diese Straße von der Rue du Parc-Royal an gesperrt, so daß die Hochzeitsequipagen nicht direkt nach der Kirche Saint-Paul fahren konnten, sondern einen Umweg machen mußten. Das Einfachste war, man wählte den Weg über die Boulevards. Dagegen wendete einer der Gäste ein, es sei Fastnachtsdienstag und deswegen würde in den Hauptstraßen ein großer Wagenverkehr herrschen. – »Warum?« fragte Gillenormand. – »Wegen der Masken.« – »Das ist ja sehr schön,« entgegnete der Großvater. »Dann wollen wir da entlang fahren. Für junge Leute, die sich heiraten und den Ernst des Lebens kennen lernen sollen, ist es eine gute Vorbereitung, wenn sie noch einmal Masken zu sehen bekommen.«
Die Gesellschaft schlug also den Weg nach den Boulevards ein. In der ersten Hochzeitsberline saßen Cosette und Tante Gillenormand, Herr Gillenormand und Jean Valjean. Marius, der dem Brauche gemäß noch von seiner Braut getrennt bleiben mußte, folgte erst in der zweiten Equipage. So schloß sich denn der Hochzeitszug der langen Reihe von Wagen an, die von der Magdalenenkirche bis zum Bastillenplatz und vom Bastillenplatz bis zur Magdalenenkirche eine endlose Kette bildete.
Es tummelten sich viel Masken auf dem Boulevard, trotzdem es hin und wieder regnete. Da der Winter 1833 guter Laune war, konnte auch Paris sich sehr wohl venetianisch geberden. Heutzutage wird die Fastnacht nicht mehr so gefeiert; seitdem alles Bestehende ein einziger Karneval ist, kann es keinen wahrhaft heiteren Karneval mehr geben.
Die Bürgersteige wimmelten von Menschen und an allen Fenstern waren Neugierige. Die Säulenhallen der Theater waren mit Zuschauern überfüllt. Abgesehen von den Masken sah sich das Publikum den unendlichen Wagenzug an, der eine charakteristische Eigenthümlichkeit des Fastnachtsdienstags, wie des Wettrennens bei Longchamps bildet. Hier sieht man die mannigfaltigsten Gefährte, die durch die Polizeiverordnungen gleichsam aneinander gekettet und in Geleise eingezwängt, in größter Ordnung vorrücken. Wer sich in einem solchen Wagen befindet, ist zugleich Zuschauer und will gesehen werden. Die Schutzleute sorgten dafür, daß die beiden unendlichen, parallelen Wagenreihen sich in entgegengesetzter Richtung bewegten und daß die beiden Ströme nicht von außen her irgendwie gestört würden. Die durch Wappenschilder kenntlich gemachten Equipagen der Pairs von Frankreich und der Gesandten hielten sich in der Mitte des Dammes, wo sie sich ungehindert bewegen konnten. Gewisse lustige Prachtaufzüge, namentlich der Faschingsochse, hatten dasselbe Vorrecht. In dieses Pariser Getümmel ließ auch England sein Peitschengeknall hineinschallen, indem Lord Seymours Postchaise, vom Volke mit einem Spottnamen begrüßt, mit großem Lärm vorbeifuhr.
In der doppelten Reihe, an der die Municipalgardisten entlang galoppirten, wie eifrige Schäferhunde, wurden in ehrsamen, mit Großmüttern und Tanten überladnen Halbberlinen verkleidete Kinder herumkutschirt, reizende sechs- und siebenjährige Dingerchen in hübschen Kostümen, die sehr wohl fühlten, daß sie einen offiziellen Bestandtheil der öffentlichen Lustbarkeit bildeten, und von der Würde ihrer Harlekinade durchdrungen, sich gravitätisch wie Staatsbeamte benahmen.
Von Zeit zu Zeit trat irgendwo in dem Wagenzuge ein Hemmniß auf; dann hielt die betreffende Reihe an, bis der Knoten aufgelöst war; wenn nur ein Wagen nicht weiter konnte, so genügte dies, um die ganze Procession zum Stillstehen zu bringen. Nachher setzte sich dann wieder alles in Bewegung.
Die Karrossen unsrer Hochzeitsgesellschaft befanden sich in derjenigen Reihe, die sich nach dem Bastillenplatz hin bewegte und an der rechten Seite des Boulevard entlang fuhr. Als sie an der Rue du Pont-aux-Choux anlangten, wurden sie durch eine Stockung des großen Wagenstroms aufgehalten und beinahe in demselben Augenblick hielt auch die Reihe an, die sich nach der Magdalenenkirche hinbewegte. An dieser Stelle befand sich zufälliger Weise ein Wagen voll Masken.
Die Wagenladungen Masken sind den Parisern wohl bekannt. Fehlen sie an einem Fastnachtsdienstag oder Mittfasten, so würde das Publikum Verdacht schöpfen und sagen, dahinter stecke etwas. »Wahrscheinlich bekommen wir ein andres Ministerium.« – Ein wirres Durcheinander von Cassandrinos, Harlekins und Kolumbinen, das da auf dem Wagen geschaukelt wird, allerhand groteske Gestalten, Türken, Wilde, Herkulesse, die Marquisen tragen, Fischweiber, bei deren Zoten sich Rabelais die Ohren zugehalten hätte, wie seiner Zeit Aristophanes beim Anblick der Mänaden die Augen schamhaft niederschlug, Flachsperrücken, rosa Tricots, Stutzerhüte, ungeheuerliche Brillen, kolossale Dreimaster, lärmende Anulkung der Zuschauer, in die Seite gestemmte Fäuste, kecke Stellungen, nackte Schultern, maskirte Gesichter, schamlose Entblößung, ein mit Blumen geschmückter Kutscher – so ist diese Institution beschaffen.
Bedurfte Griechenland des Thespiskarrens, so braucht Frankreich Vadés Fuhrwerk.
Alles kann parodirt werden, sogar die Parodie. Die Saturnalien, eine Karikatur der antiken Schönheit, werden allmählich mehr und mehr entstellt und verwandeln sich in die Fastnacht und die ehedem mit Weinlaub bekränzte, von der Sonne des Südens bestrahlte Bacchantin, die halbnackt, wie eine Göttin ihren schneeweißen Busen zeigte, trägt heutzutage eine schmutzige Maske.
Die Sitte, gemiethete Masken durch die Straßen der Stadt fahren zu lassen, geht auf die ältesten Zeiten des französischen Königthums zurück. Unter Ludwig XI. wurden dem königlichen Schloßvogte zwanzig Sous für drei Kutschen voll Masken gelegentlich öffentlicher Festlichkeiten bewilligt. Heutzutage lassen sich diese Trupps von Schreihälsen gewöhnlich in einem alten Kremser mit geräumigem Verdeck oder in einem großen, ehrwürdigen Landauer, dessen Himmel niedergeschlagen wird, herumkutschieren. Es sind ihrer wohl zwanzig in einem Wagen zusammengepfercht, der für sechs Fahrgäste eingerichtet ist. Sie sitzen auf dem Bock, auf dem Nothsitz, an den Seitenwänden der Verdecke, auf der Deichsel. Sie reiten sogar auf den Wagenlaternen. Sie stehen, sie liegen, sie sitzen mit krummgezognen Beinen. Die Männer nehmen die Frauen auf den Schoß. Schon aus der Ferne fällt, wenn man über die Zuschauermassen hinwegblickt, solch ein bunter, toller Menschenknäuel auf. Diese Wagen sind wandelnde Burgen der Fidelität, die triumphirend dahinzieht und das Publikum mit saftigen Zoten, derben Witzen, plumpen Späßen beschießen. Sie schreien, kreischen, krächzen, brüllen, heulen, singen, juchzen, krümmen sich vor Lachen. Kurz, eine wahre Apotheose der Posse, ein Siegeswagen der Heiterkeit.
Aber eine zu cynische Heiterkeit, als daß sie aufrichtig sein könnte. In der That darf man Argwohn gegen diese Art Gelächter hegen; es hat nämlich einen offiziellen Zweck: Es soll den Parisern die Existenz des Karnevals beweisen.
Diese kanaillösen Fuhrwerke, die als Werkzeuge dunkler Machinationen dienen, geben dem Philosophen zu denken. Sie stehen in Beziehungen zur Politik und man sieht hier mit Augen, daß zwischen den Staatsmännern und dem Staat der öffentlichen Dirnen ein geheimnißvoller, moralischer Zusammenhang bestehen kann.
Daß aufeinander gehäufte Gemeinheiten als Summe eine Lustbarkeit ergeben, daß mit der Schaustellung des Lasters und der Schande die Staatsbürger kirre gemacht werden, daß die Spionage im Bunde mit der Prostitution die Menge amüsirt, das Volk einen ungeheuerlichen Haufen mit Flittern und Lumpen behangner, mit Unflat und Lustigkeit prahlender, brüllender und singender Unglücklicher auf einem vierrädrigen Miethwagen gern vorüberziehen sieht, daß diese aus allerlei Schande zusammengesetzte Herrlichkeit beklatscht wird, daß es kein Fest für die Menge geben kann, wenn die Polizei nicht diese zwanzigköpfigen Freudenhydren durch die Straßen paradiren läßt, das ist gewiß sehr traurig.
Allein dagegen ist leider nichts zu machen. Denn diese Wagenladungen samt ihrem, mit bunten Bändern und Blumen prangenden Jux werden von der öffentlichen Meinung geschmäht, aber auch gut geheißen. Diese Heiterkeit des Publikums trägt einen Theil der Schuld an der allgemeinen Erniedrigung. Gewisse ungesunde Festlichkeiten lösen das Volk auf und machen einen Pöbel daraus. Der Pöbel aber braucht wie die Tyrannen Possenreißer. Hielten sich die Könige des Mittelalters Narren, so will das Volk Hanswürste haben. Paris läuft jedes Mal, wenn es nicht ein Ideal verfolgt, einer Thorheit nach. Der Karneval ist hier eine politische Institution. Paris – gestehen wir es – läßt sich gern von der Gemeinheit Komödie vorspielen. Es verlangt von seinem Herren – wenn es gerade einen Herrn hat – nur Eins: Schminke mir den Unflat, damit er hübsch aussieht. Rom war ebenso geartet. Es liebte Nero, weil er ein großer Clown war.
Der Zufall fügte es also, wie wir oben gesagt haben, daß einer von den eben beschriebnen Klumpen maskirter Männer und Frauenzimmer, der sich in einer mächtigen Kalesche schaukelte, auf der linken Seite des Boulevard still stand, während die Hochzeitsequipagen rechts hielten. Indem sie so warteten, bemerkten die Masken, die von ihnen so verschiedne Gesellschaft.
»Seht mal!« rief Einer. »Da drüben ist ein Hochzeitszug.«
»So 'ne Idee,« antwortete ein Andrer. »Wenn ich mich in solch ein Unglück stürzen wollte, würde ich mir einen andern Tag dazu auswählen, und nicht einen, der dazu da ist, daß man sich amüsirt.«
Und da sie zu weit entfernt waren, um die »feinen Leute« anulken zu können und sich auch vor den Schutzleuten fürchteten, so blickten diese beiden Masken anderswohin.
Auch bekam diese ganze Wagenladung bald alle Mäuler voll zu thun, indem die Zuschauer anfingen, sie zu begrüßen, nämlich anzuulken und auszuschimpfen, und sie Kehrt gegen die Angreifer machen mußte. An diesem Zungenkampfe, zudem alle Reichthümer der vollständigsten Schimpfwörterlexika aufgeboten wurden, betheiligten sich auch die erwähnten beiden Masken, so daß sie sich nicht mehr mit der Hochzeitsgesellschaft beschäftigen konnten.
Indessen hatten auch zwei andre Masken, die in demselben Wagen saßen, ein älterer Mann in spanischer Tracht, der eine riesige Nase und einen mächtigen, schwarzen Schnurrbart trug, und eine junge Fischhändlerin mit einer Sammetmaske, nach der andern Seite hinübergesehen und unterhielten sich, während ihre Kameraden und die Zuschauer sich mit Schimpfreden regalirten, mit gedämpfter Stimme.
Ihr Gespräch wurde von dem Lärm übertönt, so daß Niemand es hörte. Die Regenhuschen hatten den offnen Wagen naß gemacht; Februarwinde sind auch nicht gelinde, und die dekolletirte Fischhändlerin zitterte vor Frost und hustete, während sie dem Spanier antwortete und über den Radau lachte.
Das Gespräch lautete folgendermaßen:
»Sage mal . . .«
»Was denn, Oller?«
»Siehst Du den Alten da?«
»Welchen Alten?«
»Den da in der ersten Eklopage, der nach uns hin sitzt.«
»Der den Arm in einem schwarzen Tuch trägt?«
»Ja.«
»Na, was ist denn mit dem los?«
»Ich bin sicher, daß ich den kenne.«
»Hm!«
»Der Deibel soll mich beim Schlafittchen kriegen, wenn mir die Physiognomie nicht schon irgendwo begegnet ist. Aber wo? Kannst Du die Braut sehen, wenn Du Dich aus dem Wagen hinausbeugst?«
»Nein.«
»Und den Bräutigam?«
»Der ist nicht in die Eklopage.«
»Na, wenn Du nicht kieken kannst!«
»Es müßte gerade der andere Alte sein.«
»So strenge doch Deine Kulpen an, damit Du die Braut zu sehen kriegst.«
»Soweit kann ich mich nicht rausneigen.«
»Na, das ist ganz eingal, den Alten mit der Pote, den kenne ich. Darauf kann ich Gift nehmen.«
»Na, was hast Du denn davon, wenn Du ihn auch kennst?«
»Mir sind alle Ollen schnuppe.«
»Ich kenne ihn . . .«
»Na, wenn's Dir Spaß macht, immerzu!«
»Wie kommt er in die Gesellschaft?«
»Na, ich denke, wie wir; in' ne Eklopage.«
»Wo kommen die bloß her?«
»Mit die Wissenschaft kann ich nicht dienen.«
»Hör mal . . .«
»Na, was denn?«
»Du könntest mir einen Gefallen thun?«
»Was für einen?«
»Aussteigen solltest Du und mal sehen, wo die Eklipage bleibt.«
»Was für einen Zweck soll denn das haben?«
»Ich möchte wissen, wo sie hinfährt und was das für Kunden sind. Mach schnell, Tochter, Du hast junge Beine.«
»Ich darf nicht raus.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich engagirt bin.«
»Hol's der Deibel!«
»Ich stehe den ganzen Tag über im Dienst der Präfektur.«
»Ja leider!«
»Du weißt, wenn ich aus den Wagen steige, kriegt mich der erste Polizeiinspektor, der mich sieht, beim Kanthaken.«
»Ja freilich.«
»Für heute hat mich die Obrigkeit gekauft.«
»Ich kann den Alten nicht verknusen.«
»Da hast Du denselben Geschmack wie die jungen Mädchen. Die können auch die Ollen nicht leiden.«
»Er sitzt im ersten Wagen . . .«
»Was meinst Du damit?«
»In der Eklopage der Braut . . .«
»Na, und . . .?«
»Also ist er der Vater.«
»Ach Oller, wenn Du wüßtest, wie wurschtig mir das ist!«
»Ich sage Dir, er ist der Vater von der Braut.«
»Vater zu werden, davor ist Keiner sicher.«
»Ich will Dir was sagen . . .«
»Schon wieder?«
»Ich kann nicht gut anders, als maskirt ausgehen. Hier habe ich nichts zu fürchten, hier sucht mich Keiner. Aber morgen werden keine Masken mehr getragen. Morgen ist Aschermittwoch. Da riskiere ich verschüttet zu werden, wenn ich mich aus meinem Loch herauswage. Du dagegen bist frei.«
»Nicht besonders.«
»Immer mehr als ich.«
»Na, meinetwegen.«
»Du mußt also herauszukriegen suchen, wo die da hinfahren.«
»Wo sie hinfährt?«
»Ja.«
»Weiß ich.«
»Wohin denn?«
»Nach dem Cadran Bleu.«
»Der liegt nicht in der Richtung.«
»Nach La Râpée.«
»Ja wohl – oder anders wohin.«
»Na ja. Jeder kann hinfahren, wo er will.«
»Laß das. Ich wiederhole Dir, du mußt mir ausspijonieren, wo die Gesellschaft da wohnt.«
»Sollte mir einfallen! Du bist komisch, Oller! Also nach so und so viel Tagen soll man rauskriegen, wo eine Hochzeitsgesellschaft in dem Fastnachtstrubel geblieben ist! Ich danke! Das ist ja gerade, als sollte man eine Stricknadel in einem Heuhaufen suchen.«
»Gieb Dir Mühe, Azelma. Dann wird's schon gehen.«
In diesem Augenblick setzten sich die beiden Wagenreihen wieder nach den entgegengesetzten Richtungen in Bewegung und der Wagen mit den Masken verlor die »Eklopage« der Braut aus den Augen.
Sein Ideal verwirklichen! Wem ist das wohl vergönnt? Es müssen wohl im Himmel Wahlen stattfinden, um festzustellen, wer dazu berufen werden soll. Wir sind alle ohne unser Wissen Bewerber um dieses Glück, und die Engel stimmen über uns ab. Jedenfalls hatte eine solche Wahl Marius und Cosette getroffen.
Cosette sah auf dem Standesamt und in der Kirche wunderbar elegant und zugleich lieblich aus. Bei ihrer Toilette war ihr die Toussaint im Verein mit Nicolette behülflich gewesen.
Sie trug über einem weißseidenen Unterkleide eine kostbare Guipurerobe, einen Schleier aus Point d'Angleterre, ein echtes Perlenkollier, und einen Brautkranz aus Orangenblüten. Alles dies war weiß und diese Farbe brachte ihre Schönheit, ihre jungfräuliche Zartheit und Anmuth zur vollsten Geltung. Sie erinnerte an eine Sterbliche, die zu einer Göttin verklärt wird.
Marius schöne Haare schimmerten und dufteten; unter den dicken Locken sah man hier und da blasse Streifen, die noch die vernarbten Kopfwunden bezeichneten.
Der Großvater, der stolz, mit hocherhobnem Haupte einherschritt und sowohl in seiner Toilette, wie in seinen Manieren die ganze Eleganz der Directoriumszeit repräsentirte, figurirte als Brautvater an Stelle Jean Valjeans, der wegen seiner Binde der Braut nicht den Arm geben konnte.
Jean Valjean, in einem schwarzen Anzuge, ging lächelnd hinter ihnen her.
»Herr Fauchelevent,« sagte zu ihm Gillenormand, »dies ist ein schöner Tag. Ich stimme für die Abschaffung der Betrübniß und des Kummers. Es sollte in Zukunft keine Traurigkeit mehr irgendwo geben. Bei Gott, ich dekretire die Alleinherrschaft der Freude. Das Böse hat keinen Berechtigungsgrund. Daß es unglückliche Menschen giebt, macht der Azurbläue des Himmels wahrhaftig Schande. Das Uebel kommt nicht vom Menschen, der von Natur gut ist. Alles menschliche Elend verdanken wir der Centralregierung der Hölle, die man ja die Residenz des Teufels nennt. Da haben wir's! Jetzt führe ich gar demagogische Reden! Nun meinetwegen! Ich für mein Theil habe keine politischen Meinungen mehr. Mögen alle Menschen reich, d. h. vergnügt und glücklich sein. Weiter verlange ich nichts.«
Als sie nach Beendigung aller Formalitäten und Ceremonien, nachdem sie vor dem Maire und dem Geistlichen alle möglichen Ja ausgesprochen, ihre Namen in die Register der Municipalität und der Sakristei eingetragen, ihre Ringe ausgetauscht, als sie, vom Weihrauchduft umwallt, unter dem weißen Moirébaldachin nebeneinander gekniet hatten und sie, von Allen bewundert und beneidet, Cosette in weißer Toilette, Marius schwarz gekleidet, hinter dem in Oberstepauletten prangenden, mit der Hellebarde gegen die Fliesen schlagenden Kirchendiener und zwischen zwei Reihen bewundernder Zuschauer hindurchgingen und an dem weit geöffneten Portal der Kirche ankamen, um wieder in den Wagen zu steigen, konnte Cosette, obgleich alles zu Ende war, nicht an die Wirklichkeit ihres Glückes glauben. Sie sah Marius an, überschaute die Zuschauermenge, blickte zum Himmel empor, und sah aus, als fürchte sie aus dem schönen Traum zu erwachen. Ihre erstaunte und ängstliche Miene verschönerte in diesem Augenblick noch ihre reizvolle Erscheinung. Um nach Hause zurückzukehren, stiegen sie in dieselbe Equipage ein, Marius neben Cosette, Gillenormand und Jean Valjean ihnen gegenüber. Tante Gillenormand wurde etwas in den Hintergrund gedrängt und fuhr in dem zweiten Wagen. – »Kinder,« sagte der Großvater, »jetzt seid Ihr Herr Baron und Frau Baronin mit dreißigtausend Franken jährlichem Einkommen.« Und Cosette, dicht an Marius Brust geschmiegt, flüsterte ihm zärtliche Worte zu, die wie Engelgekose in seinem Ohr klangen:
»Es ist also wirklich wahr. Ich heiße Marius. Ich bin Frau Du!«
Diese beiden Menschen strahlten vor Glück. Sie durchlebten ja jetzt den schönsten Augenblick des Lebens, der nie wiederkehrt; sie standen auf dem unvergleichlichen Kreuzungspunkt, wo die blühendste Jugend und die höchste Freude sich begegnen. Waren sie doch Beide noch nicht zwanzig Jahre alt! Sie verwirklichten das Ideal der Heirat; sie waren wie zwei Lilien. Sie sahen sich nicht, sie bewunderten sich nur. Für Cosette's Augen schwebte Marius in einer Glorie; für Marius stand Cosette auf einem Altar. Und zu diesen beiden Apotheosen gesellte sich im Hintergrunde die zarte, bei Cosette noch dunkle, bei Marius feurige Sehnsucht nach den Freuden, die im Brautgemach ihrer warteten.
Alles Herzeleid, das sie überstanden, kam jetzt in ihre Erinnrung zurück, um ihren Glücksrausch zu steigern. Es dünkte sie, der Kummer, die schlaflos verbrachten Nächte, die Thränen, die Angst, das Entsetzen, die Verzweiflung, die zu Liebkosungen und Wonnen geworden waren, machten die schöne Stunde, der sie jetzt entgegengingen, noch schöner und daß die ehemalige Traurigkeit nun eine Magd war, die der Freude diente. Wie gut, wenn man Trübsal durchgemacht hat! Ihr Unglück bildete eine Glorie um ihr Glück. Ihre lange Liebespein endete mit einer Himmelfahrt.
Ihre beiden Seelen wurden von derselben Wonne getragen; nur daß sie bei Marius sich mit einem Lustgefühl, bei Cosette sich mit holder Scham paarte. Sie sagten zu einander ganz leise: »Wir gehen doch ein Mal nach der Rue Plumet und sehen uns unser Gärtchen an?« Die Falten von Cosettens Kleid bedeckten Marius Knie.
Ein solcher Tag ist ein unbeschreibliches Gemisch von Träumerei und Gewißheit. Man ist im Besitz und hofft noch. Man hat noch Zeit vor sich um zu rathen. Man genießt zugleich die Freude, daß es Mittag ist und daß die Mitternacht kommen wird. Das Hochgefühl, das die beiden Herzen empfanden, strömte auf die Zuschauer über und stimmte sie fröhlicher.
In der Rue Saint-Antoine blieben die Leute vor der Kirche stehen, um durch die Glasthür des Wagens die Orangenblüten auf Cosettens Köpfchen nicken zu sehen.
Hierauf kehrten sie nach der Rue des Filles-du-Calvaire, nach Hause, zurück. Marius stieg Arm in Arm mit Cosette stolz und glückselig die Treppe hinauf, die man ihn einst sterbend hinaufgetragen hatte. Die Bettler, die vor der Thür in Menge gewartet hatten, segneten sie; so reichlich waren die Spenden, die ihnen zu Theil geworden. Ueberall waren Blumen; das Haus duftete nicht weniger als die Kirche; nach dem Weihrauch die Rosen. Sie glaubten Stimmen im Aether zu hören; sie hatten Gott im Herzen; das Geschick zeigte sich ihnen wie ein Sternengewölbe; sie sahen über ihrem Haupte Morgensonnenglanz. Plötzlich schlug die Uhr. Marius blickte auf Cosettens reizenden Arm und Busen, der durch die Spitzen ihres Mieders rosig hindurchschimmerte, und Cosette erröthete bei diesem Blick bis in das Weiße der Augen.
Eine Menge alter Freunde der Familie Gillenormand waren eingeladen worden und drängten sich um Cosette, die sie um die Wette als »Frau Baronin« begrüßten.
Der Lieutenant Théodule Gillenormand, der zum Hauptmann avancirt war und bei der Garnison von Chartres stand, war gleichfalls gekommen, um der Hochzeit seines Vetters Pontmercy beizuwohnen. Cosette erkannte ihn garnicht wieder.
Er seinerseits war es gewöhnt, von allen Frauen hübsch gefunden zu werden und erinnerte sich nicht Cosettens speziell.
»Wie sehr ich Recht hatte, nicht an die Prahlereien meines Lanzenreiters zu glauben!« dachte Gillenormand bei sich.
Gegen Jean Valjean war Cosette nie so liebevoll gewesen, wie an jenem Tage. Sie stimmte denselben Ton an wie Vater Gillenormand; nur daß er seine Freude in Aphorismen und Maximen äußerte, während sie Liebe und Güte athmete. Das Glück will, daß alle Welt glücklich sei.
Sie fand im Gespräch mit Jean Valjean die zarten Modulationen ihrer Stimme wieder, womit sie als kleines Mädchen ihn beglückt hatte. Sie liebkoste ihn mit ihrem Lächeln.
In dem Speisesaal war ein Festmahl angerichtet.
Eine tageshelle Beleuchtung ist die notwendige Würze einer großen Freude. Dämmerung und Dunkelheit lassen Glückliche sich nicht gefallen. Die Nacht ja! Finsternis, nein! Wenn man kein Sonnenlicht hat, muß man welches schaffen.
Der Speisesaal enthielt eine wahre Sammlung von Gegenständen, deren Anblick das Herz erfreute. In der Mitte, über dem prachtvoll geschmückten Tisch ein venetianischer Kronleuchter mit flachem Glasbehang und allerhand bunten Vögeln, blauen, violetten, rothen, grünen, die zwischen den Kerzen saßen; um den Kronleuchter Girandolen! an den Wänden Spiegelleuchter mit drei oder fünf Armen; dazu allerhand Spiegel, Krystall, Glassachen, Vasen, Porzellan, Fayence, Gold, Silber, alles hellfarbig und glänzend. Die Lücken zwischen den Kandelabern waren mit Blumen ausgefüllt, so daß da, wo kein Licht war, eine Blume prangte.
Im Vorzimmer spielten drei Violinen und eine Flöte gedämpft Haydnsche Quartette.
Jean Valjean hatte sich im Salon auf einen Stuhl hinter die Thür gesetzt, deren einer Flügel so zurückgeschlagen war, daß er fast dahinter versteckt war. Kurz bevor sich die Gesellschaft zu Tisch setzte, kam Cosette mit liebenswürdig muthwilliger Miene und machte ihm eine tiefe Verbeugung, indem sie mit den Fingerspitzen ihr Brautkleid breit auseinander hielt und fragte ihn mit einem zärtlich schelmischen Blick:
»Väterchen, bist Du zufrieden?«
»Ja,« sagte Jean Valjean, »ich bin zufrieden.«
»Nun dann lache auch!«
Und Jean Valjean lachte.
Einige Augenblicke nachher kündigte Baske an, daß der Tisch gedeckt sei.
Die Hochzeitsgäste, Gillenormand mit Cosette an der Spitze, begaben sich in den Speisesaal und nahmen am Tische nach der vorgeschriebnen Reihenfolge Platz.
Rechts und links von dem Sitze der Braut standen zwei große Fauteuils, der erste für Gillenormand, der zweite für Jean Valjean. Gillenormand setzte sich; aber der andere Fauteuil blieb leer.
Alles sah sich nach »Herrn Fauchelevent« um.
Er war nicht mehr da.
Gillenormand fragte Baske:
»Weißt Du, wo ›Herr Fauchelevent‹ geblieben ist?«
»Ja, richtig, Herr Gillenormand,« antwortete Baske. »Herr Fauchelevent hat mich beauftragt, ich sollte Ihnen sagen, seine rechte Hand thäte ihm weh und er könnte nicht mit dem Herrn Baron und der Frau Baronin speisen. Er bäte deshalb um Entschuldigung und würde morgen früh wiederkommen. Er ist eben erst gegangen.«
Der Umstand, daß der Sessel leer blieb, drückte einen Augenblick die Festesfreude herab. Aber wenn Fauchelevent fehlte, so war Gillenormand da und des Großvater's heitre Laune reichte für Zwei aus. Er versicherte, Herr Fauchelevent thäte gut daran, früh zu Bett zu gehn, wenn er Schmerzen hätte; es wäre aber nur ein unbedeutendes »Wehweh«. Diese Erklärung genügte Allen. Was bedeutete auch ein dunkler Fleck auf einem so glänzenden Freudenspiegel? Cosette und Marius befanden sich in einer egoistischen und gesegneten Stimmung, wo man keine andre Fähigkeit besitzt, als die, das Glück zu empfinden. Außerdem hatte Gillenormand einen gescheidten Einfall. Gut, der Fauteuill ist unbesetzt. So komme Du hierher, Marius. Deine Tante wird es, obgleich sie Rechte auf Dich hat, gestatten. Dieser Sitz kommt Dir zu. Das gehört sich so und das ist nett. Fortunatus neben seiner Fortunata.« – Allgemeiner Beifall. Marius nahm neben Cosette Jean Valjeans Platz ein, und es machte sich schließlich so, daß Cosette's Betrübniß über Jean Valjeans Abwesenheit sich in Zufriedenheit verwandelte. Da Marius der Ersatzmann war, so hätte sie den Herrgott selber nicht vermißt. Sie setzte sanft ihr mit weißem Atlas beschuhtes Füßchen auf Marius Fuß.
Da der Fauteuil besetzt war, wurde Fauchelevent vergessen und nach Verlauf weniger Minuten lachte alle Welt von dem einen Ende des Tisches bis zum andern so seelenvergnügt, als wenn er da gewesen wäre.
Als der Nachtisch aufgetragen war, erhob sich Gillenormand von seinem Sitze, hielt sein Champagnerglas empor, das er nur halb gefüllt hatte, damit seine zittrigen Hände nichts verschütten könnten, und brachte einen Toast auf das junge Ehepaar aus.
»Ihr werdet zwei Predigten nicht entgehen,« sagte er. »Ihr habt am Morgen die des Pfarrers gehört; heute Abend müßt Ihr die des Großvaters über Euch ergehen lassen. Merkt also auf. Ich will Euch einen Rath geben. Der lautet: Betet Euch an. Ich werde nicht erst eine Menge Umschweife machen, sondern gerade aufs Ziel los gehen: Seid glücklich. In der ganzen Schöpfung giebt es nichts, das so weise wäre wie die Turteltauben. Die Philosophen sagen: Bezähmet Eure Freude. Ich aber sage Euch: Laßt Eurer Freude die Zügel schießen. Seid verliebt wie Narren, seid toll wie Teufel. Die Philosophen schwatzen Unsinn. Ich wünschte, ich könnte ihnen den Mund stopfen mit ihrer Weisheit. Kann es zu viel Blumenduft, zu viele Rosenknospen, zu viel singende Nachtigallen, zu viel grünes Laub, zu viel Morgenröthe im Leben geben? Kann man sich zu sehr lieben, einander zu sehr gefallen? Also, man soll sagen: Liebchen, hüte Dich; Du bist zu schön. Hüte Dich Nemorinus, Du bist ein gar zu hübscher Mann. Mit solchen Albernheiten bleibe man mir vom Halse! Kann man sich gegenseitig zu sehr entzücken, zu sehr schmeicheln, zu sehr liebkosen? Kann man sich zu sehr des Lebens freuen, zu glücklich sein? Mäßigt Euch im Glück! Nun ja doch! Nieder mit den Philosophen! Die wahre Weisheit besteht darin, daß man recht viel jauchze. Jubelt, laßt uns Alle jubeln. Sind wir glücklich, weil wir gut sind, oder sind wir gut, weil wir glücklich sind? Hat der Diamant Sancy seinen Namen davon, daß er Harlay de Sancy gehört hat, oder hat er Harlay de Sancy einen berühmten Namen verschafft? Ich weiß es nicht; das Leben ist reich an derartigen Rätseln; die Hauptsache aber ist, daß man einen Sancy, daß man das Glück besitze. Seien wir glücklich ohne Tifteleien. Gehorchen wir blindlings der Sonne. Was meine ich mit der Sonne? Die Liebe. Wer das Wort Liebe nennt, der nennt das Wort Weib. Ja ja! Wenn es etwas Allmächtiges auf Erden giebt, so ist es das Weib. Fragt einmal den Demokraten, den Marius, ob er nicht der Sklave der kleinen Tyrannin Cosette ist. Und aus freiem Entschlusse ist er's, der erbärmliche Feigling! Das Weib! Gegen sie kommt kein Robespierre an.
Wenn ich noch für das Königthum bin, so meine ich dieses, die Herrschaft der Frauen. Was war Adam? Evas Unterthan und Eva ist durch keine Revolution abgesetzt worden. Einstmals gab es ein königliches Scepter mit einer Lilie, ein kaiserliches Scepter mit einem Globus; wir hatten das eiserne Scepter Karl des Großen, das goldne Ludwig des Großen; aber die Revolution hat sie mit ihren fürchterlichen Händen zerbrochen, als wären es dünne Halme gewesen. Entzwei, weggeworfen, vernichtet; es giebt keine Scepter mehr. Nun unternehmt aber einmal eine Empörung gegen das gestickte Taschentüchelchen, das nach Patschuli duftet! Das möchte ich erst sehen, ehe ich es glaube. Versucht es? Warum ist es so fest? Weil es so weich und geschmeidig ist. Ihr brüstet Euch mit Eurem neunzehnten Jahrhundert. Was hat es denn vor anderen voraus. Wir thaten uns seiner Zeit auf unser achtzehntes Jahrhundert unendlich viel zu gute und waren doch ebenso dumm wie Ihr. Bildet Euch doch nicht ein, Ihr hättet das Weltall geändert, weil Ihr die Ruhr »Dysenterie« getauft habt, weil Ihr die Neidischen und Unzufriedenen »Sozialisten« nennt. Es bleibt dabei, daß die Frauen die Macht behalten, weil wir ihrer Liebe bedürfen. Diese Teufelinnen sind unsere Engel. Ja, die Liebe, das Weib, der Kuß bilden einen Kreis, aus dem Ihr es bleiben lassen sollt, herauszukommen, und was mich anbelangt, so möchte ich herzlich gern wieder in den Kreis hinein. Wer von Euch hat nicht den Planeten Venus aufgehn, das Meer beruhigen sehen? Da habt Ihr in dem unendlichen Weltenraum auch so eine Kokette und der Ocean ist der Brummbär, der sich gegen sie auflehnen will. Aber er mag schimpfen so viel er will; sobald die Venus erscheint, muß er lächeln, muß das dumme Vieh kuschen. Und so sind wir Alle. Ingrimm, Gepolter, Raserei, daß man denken könnte, das Haus stürzt ein. Läßt sich aber ein Weib sehen, so kriechen wir zu Kreuze. Vor sechs Monaten war Marius ein Schlagododro und jetzt ist er ein Ehemann. Er hat recht gethan. Ja, Marius; ja, Cosette; Ihr habt Recht. Erkühnt Euch Eins für das Andre zu leben, liebäugelt, dahlt, macht uns rasend vor Wuth, daß wir's nicht ebenso machen können; vergöttert Euch. Nehmt in Eure beiden Schnäbel alle die winzigen Hälmchen Glück, die es auf Erden giebt, und baut Euch daraus ein Nestchen, in dem Ihr Euer Leben lang mollig wohnen könnt. Kinder, lieben und geliebt werden, wenn man jung ist, das ist nichts ungeheuer Wunderbares. Bildet Euch nicht ein, daß Ihr das erfunden habt. Auch ich habe geträumt, sinnirt, geseufzt; auch ich habe für den Mondschein geschwärmt. Amor ist ein sechstausend Jahre altes Kind. Er hätte das Recht, einen langen, weißen Bart zu haben. Methusalem ist ein Säugling im Vergleich mit Cupido. Seit sechzig Jahrhunderten helfen sich der Mann und das Weib über das Elend des Daseins hinweg, indem sie sich lieben. Der Teufel, der ein Pfiffikus ist, haßte den Menschen; da erfand der Mensch, der noch pfiffiküsser ist, die Liebe. Auf diese Weise hat er sich mehr Gutes gethan, als der Teufel ihm Böses zugefügt hat. Dieser Pfiff ist schon im irdischen Paradiese ausgetiftelt worden. Die Erfindung, liebe Freunde, ist also alt, aber sie ist ewig neu. Zieht Nutzen aus ihr. Seid Daphnis und Chloë, bis Ihr einmal Philemon und Baucis sein könnt. Verhaltet Euch so, daß wenn Ihr beisammen seid, Euch nichts mangle, und daß Cosette Marius's Sonne und Marius Cosette's Weltall sei. Möge, Cosette, immer schönes Wetter für Dich sein, wenn Dein Mann lächelt; möge, Marius, Regenwetter für Dich herrschen, wenn Deine Frau Thränen vergießt. Und möge es in Eurem Hause nie regnen. Ihr habt Euch aus der Lotterie des Lebens eine Glücksnummer geholt, die von der Kirche gesegnete, eheliche Liebe; Ihr habt das große Loos gezogen, paßt gut auf, daß es Euch nicht abhanden kommt; verwahrt es gut; verschleudert es nicht, betet Euch an und pfeift auf alles Uebrige. Glaubet, was ich Euch da sage. Die gesunde Vernunft kann nicht lügen. Hege das Eine gegen das Andre Ehrfurcht. Ein jeder hat seine eigene Methode, Gott anzubeten; aber Sapperlot! die beste Art besteht darin, daß man seine Frau liebt. Ich liebe Dich! So lautet mein Katechismus. Wer liebt, hat den rechten Glauben. Liebe Freunde, die Frauen sollen leben! Ich bin alt, so behaupten die Leute; aber es ist merkwürdig, wie sehr ich mich dazu aufgelegt fühle, jung zu sein. Ich habe Lust in den Wald zu gehen und den Dudelsack spielen zu hören. Der Anblick unseres Pärchens, die es so schön fertig kriegen, hübsch und glücklich zu sein, wirkt berauschend auf mich. Ich würde stramm heiraten, wenn mich Jemand haben wollte. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, daß Gott uns zu etwas Andrem geschaffen hat, als zur Liebe. Girren, liebäugeln, kokettiren, stutzern, schön thun, schmeicheln, vom Morgen bis zum Abend sich schnäbeln, dem Liebesgenuß nachgehn, sich in den Augen seines Weibchens spiegeln – das ist der Zweck des Lebens. So dachten wir, – nehmt es nicht übel – zu unsrer Zeit, wo wir junge Leute waren. Schwere Brett, was es damals für allerliebste Mädel gab, was für reizende Lärvchen, was für zarte und frische, muntre Krabben! Ich muß es wohl wissen, ich habe ja genug Verwüstungen unter den süßen Wesen angerichtet. Also liebt Euch. Wenn es keine Liebe gäbe, so wüßte ich wahrlich nicht, wozu der Frühling da wäre; und ich für meinen Theil würde den lieben Gott bitten, er solle all die schönen Dinge, die er uns zeigt, einschließen, sie uns wiedernehmen und die Blumen, die Vögelchen und die hübschen Mädchen wieder in seine Truhe stecken. Liebe Kinder, empfanget den Segen Eures alten Großvaters!«
Die Unterhaltung war eine lebhafte, lustige, ungezwungne. Die hinreißend gute Laune des Großvaters gab den Grundton der Stimmung an; ein Jeder nahm sich die Herzlichkeit und Munterkeit des hochbetagten Mannes zur Richtschnur. Es wurde ein wenig getanzt und viel gelacht; kurzum, es war eine recht gemüthliche Hochzeit, die vor dem Urtheil der guten, alten Zeit mit Ehren hätte bestehen können. Allerdings war sie auch durch Vater Gillenormand würdig vertreten.
Nach dem Tumult tiefe Stille.
Das junge Ehepaar verschwand.
Bald nach Mitternacht wurde das Gillenormandsche Haus zu einem Tempel.
Hier aber halten wir an. Auf der Schwelle der Brautnächte steht ein Engel, der lächelnd den Finger auf den Mund hält.
Das Gemüth wird beschaulich gestimmt vor dem Allerheiligsten, wo das Liebespaar dargebracht wird.
Ueber solch einem Hause muß ein Lichtschimmer schweben. Die Freude, die sie bergen, entschlüpft doch wohl als heitre Klarheit und leuchtet milde in der Dunkelheit. Es ist nicht anders möglich, als daß von diesem heiligen, von Gott gewollten Feste ein himmlischer Glanz in das Unendliche ausstrahlt. Die Liebe ist der Tiegel, in dem die Verschmelzung des Mannes und des Weibes zu einem Wesen vollzogen wird; aus diesem Gefäß geht das vollendete, das dreitheilige Wesen, die menschliche Dreieinigkeit hervor. Dieses Zusammenfließen zweier Seelen in eine muß Freude erregen bei den Mächten des Jenseits. Der Bräutigam fungirt als Priester und weiht die Jungfrau in das Geheimnis der Liebe ein, über das sie freudig erschrickt. Etwas von dieser Freude steigt zu Gott empor. Wo eine wahre Ehe besteht, d. h. wo die Liebe zwei Seelen verbindet, da blicken auch die Himmlischen hin. Ein Brautbett ist ein Lichtblick in der nächtlichen Finsterniß. Wäre es dem leiblichen Auge vergönnt die schrecklichen und lieblichen Wesen des höheren Lebens zu schauen, so würde es wohl die Gestalten der Nacht, die geflügelten Unbekannten, die unsichtbaren Bewohner des blauen Raumes sehen, wie sie dicht gedrängt um das beglückte Haus schweben und zufrieden, segnend und das Antlitz vom Widerschein der menschlichen Glückseligkeit bestrahlt, sich gegenseitig die junge Gattin zeigen würden. Wenn in dieser hehren Stunde das Liebespaar, das allein zu sein wähnt, seinen Liebesrausch vergessen könnte und horchen wollte, so würde es in dem Brautgemach leise Flügel rauschen hören. Vollkommnes Glück erweckt die Theilnahme der Engel. Die kleine, dunkle Kammer hat den ganzen Himmel zur Decke. Wenn zwei menschliche Wesen, durch die Liebe geheiligt, sich einander nähern, um ein andres zu zeugen, so ist es nicht anders möglich, als daß von ihrer Umarmung der Sternenäther erbebt.
Die Liebeswonne ist die einzig wahre. Eine andre Freude als diese giebt es nicht. Die Liebe allein erregt Ekstase. Alles Uebrige ist Thränen.
Lieben oder geliebt haben genügt zum Glück. Verlangt nichts darüber hinaus. Ihr werdet keine andre Perle in den finstern Tiefen des Lebens auflesen. Die Liebe ist das Höchste.
Wo war Jean Valjean geblieben?
Unmittelbar nachdem er auf Cosettens liebenswürdigen Befehl gelacht hatte, war Jean Valjean, ohne daß Jemand auf ihn achtete, aufgestanden und hatte sich unbemerkt in das Vorzimmer geschlichen. Es war derselbe Raum, den er acht Monate vorher zuerst betreten, als er von Pulverdampf geschwärzt, mit Koth und Blut besudelt, Marius seinem Großvater wiedergebracht hatte. Das alte Getäfel war mit Laub- und Blumengewinden behangen; auf dem Sofa, auf das der Verwundete gelegt worden war, saßen die Musiker. Baske, im schwarzen Frack, Kniehosen, weißen Strümpfen und weißen Handschuhen, legte um jede Schüssel, die aufgetragen werden sollte, einen Rosenkranz. Ihm zeigte Jean Valjean seine Binde, beauftragte ihn seine Abwesenheit zu entschuldigen und ging davon.
Die Fenster des Speisesaals lagen nach der Straße. Jean Valjean blieb in der Dunkelheit einige Minuten stehen und horchte unbeweglich empor. Der Lärm der Festesfreude drang gedämpft bis zu ihm hinunter. Er hörte die laute und eindringliche Stimme des Großvaters, das Geigenspiel, das Geklirr der Teller und Gläser, das fröhliche Gelächter, und in all dem Wirrwarr unterschied er deutlich Cosettens sanfte, fröhliche Stimme.
Er verließ die Rue des Filles-du-Calvaire und ging in der Richtung der Rue de l'Homme-Armé weiter.
Um nach Hause zu kommen, durcheilte er die Rue-Saint-Louis, die Rue Culture-Sainte-Catherine und les Blancs-Manteaux; das war nicht der kürzeste, aber es war derjenige Weg, auf dem er seit drei Monaten, um die enge, belebte und schmutzige Rue Vieille-du-Temple zu vermeiden, täglich von der Rue de l'Homme-Armé nach der Rue des Filles-du-Calvaire mit Cosette gekommen war.
Der Umstand, daß Cosette hier entlang gegangen, ließ in ihm keinen Gedanken an einen andern Weg aufkommen.
Jean Valjean ging nach Hause. In dem Zimmer des Portiers zündete er sein Licht an und ging die Treppe hinauf. Die Wohnung war leer, denn auch die Toussaint war nicht mehr da. Jean Valjeans Schritte hallten in den Zimmern stärker als gewöhnlich. Alle Schränke standen offen. Er ging in Cosettens Kammer. Es waren keine Laken im Bett. Das Zwillichkissen lag ohne Bezug und Spitzenbesatz auf den zusammengelegten Schlafdecken am Fußende der Matratzen, deren Stoffüberzug man sah. Alle die kleinen, niedlichen Gegenstände, auf die Cosette etwas hielt, waren mitgenommen worden; so daß nur die größeren Möbel zurückgeblieben waren. Auch das Bett der Toussaint war seines Zubehörs beraubt. Nur ein Bett war gemacht und schien auf Jemand zu warten, der es einnehmen sollte, Jean Valjean's.
Jean Valjean ließ seinen Blick über die Wände irren, machte einige Schrankthüren zu, ging aus einem Zimmer ins andere.
Zuletzt blieb er in seiner Kammer stehen und stellte sein Talglicht auf einen Tisch.
Mittlerweile hatte er sich seiner Binde entledigt und bediente sich seiner rechten Hand, als wäre sie unverletzt gewesen.
Er ging auf sein Bett zu und seine Augen blieben – zufällig oder absichtlich – auf dem kleinen Handkoffer haften, den er nie aus den Händen gab und auf den Cosette so eifersüchtig war. Er hatte ihn am 4. Juni, als er nach der Rue de l'Homme-Armé kam, auf ein Tischchen, das am Kopfende seines Bettes stand, gestellt. An dieses Tischchen nun trat er mit einer gewissen Lebhaftigkeit heran, nahm aus seiner Tasche einen Schlüssel und schloß den Koffer auf.
Nun holte er langsam die Kleider heraus, die zehn Jahre zuvor Cosette angehabt hatte, als sie Montfermeil verließ; zuerst das schwarze Kleidchen, dann das schwarze Umschlagetuch, dann die soliden, plumpen Kinderschuhchen, die Cosette beinahe noch jetzt gepaßt hätten, so kleine Füße hatte sie; dann das dicke Barchentjäckchen, das gestrickte Unterröckchen, die Schürze mit der Tasche, die wollenen Strümpfchen. Diese Strümpfe, an denen die niedlichen Umrisse eines Kinderbeinchens noch markirt waren, übertrafen an Länge kaum Jean Valjeans Hand. Alle diese Kleidungsstücke waren von schwarzer Farbe. Er war es, der sie nach Montfermeil mitgebracht hatte. Er nahm sie eins nach dem andern heraus und legte sie auf das Bett. Während dieser Beschäftigung dachte er nach und rief alte Erinnerungen wach. Es war im Winter, an einem sehr kalten Dezembertage, daß er sie getroffen hatte, als sie nur dürftig in Lumpen gehüllt und die armen, roth gefrornen Füßchen nur mit Holzpantienen bekleidet, durch den Wald ging. Er, Jean Valjean, hatte sie ihrer Lumpen entledigt und ihr dafür die Trauerkleidung gegeben. Wie glücklich die Mutter wohl in ihrem Grabe gewesen sein mochte, als sie ihre Tochter um sie trauern sah und besonders, weil ihre Tochter warme Kleider anhatte. Er gedachte des Waldes von Montfermeil, durch den sie zusammen, Cosette und er, gewandert waren; er dachte an das unfreundliche Wetter, an die entlaubten Bäume, an die Oede, in der kein Vogel sang und die kein Sonnenstrahl erhellte. Und doch war es eine schöne Erinnerung! Er ordnete die Sächelchen auf dem Bett, legte das Umschlagetuch zu dem Unterrock, die Strümpfe neben die Schuhe, das Jäckchen neben das Kleid und betrachtete eins nach dem andern. Sie war damals ein kleiner Käsehoch, trug ihre große Puppe auf dem Arm, und ihr Goldstück in der Schürzentasche; sie lachte; sie hielten sich Beide bei der Hand; sie hatte Niemand auf der Welt als ihn.
Da fiel sein ehrwürdiger, weißer Kopf auf das Bett nieder, das alte, stoische Herz zerging ihm vor Jammer und Weh, sein Gesicht vergrub sich in Cosettens Kleider und wenn Jemand in jenem Augenblicke die Treppe hinaufgekommen wäre, – er hätte furchtbares Schluchzen gehört.
Der gewaltige alte Kampf, von dem wir schon mehrere Phasen gesehen haben, begann aufs Neue.
Jakob rang mit dem Engel nur eine Nacht hindurch. Ach, wie oft haben wir Jean Valjean von seinem alten Adam gepackt und gezwungen gesehen, sich angstvoll seines starken Gegners zu erwehren.
Ein furchtbarer Kampf! Manchmal gleitet der Fuß aus; andre Male stürzt der Boden ein, auf dem man steht. Wie oft hatte ihn sein Gewissen, das nichts als strenge Unterordnung unter das Gute kannte, gefaßt und niedergedrückt! Wie oft hatte ihm die unerbittliche Wahrheit das Knie auf die Brust gesetzt! Wie oft hatte er, von den Mächten des Lichtes niedergeworfen, um Gnade gewimmert! Wie oft hatte ihn dieses erbarmungslose Licht, das der Bischof in ihm angezündet, gewaltsam geblendet! Wie oft hatte er sich im Kampf emporgerichtet, nachdem er neue Kraft aus dem Sophismus gezogen, um bald sein Gewissen niederzuwerfen, bald von ihm niedergeworfen zu werden. Wie of hatte es ihn, wenn er versuchte, es mit egoistischen Einwänden zu bethören, zornig elender Betrüger gescholten! Wie manches Mal hatte er gestöhnt, wenn er den Weg sah, den ihm die Pflicht vorzeichnete, und er sich sträubte, ihrem Gebot zu folgen! Widerstand gegen Gott, tötliche Angst! Wieviel geheime Wunden, die er allein bluten sah! Wie oft hatte er sich blutig, zerdrückt, zerschlagen, aber mit der Erkenntniß der Wahrheit, Verzweiflung im Herzen, aber Frieden in der Seele erhoben und, obgleich besiegt, das Bewußtsein empfunden, einen Sieg errungen zu haben! Und wenn ihn dann sein Gewissen mißhandelt, gewürgt, niedergetreten, so stand es unbeugsam, stolz, ruhevoll da und sagte: »Jetzt gehe in Frieden!«
Aber ach, was war das für ein Friede, den er aus jedem solchen Kampfe davongetragen hatte!
In dieser Nacht jedoch fühlte Jean Valjean, daß er seinen letzten Kampf kämpfte.
Er stand vor einer qualvollen Frage.
Der den Menschen vom Schicksal vorgeschriebne Lebensweg entwickelt sich nicht in gerader Richtung. Er bietet Abzweigungen dar, die keinen Ausgang gestatten, Kreuzungspunkte, wo eine Wahl getroffen werden muß. Vor einem der gefährlichsten von diesen Kreuzwegen stand jetzt Jean Valjean.
Wieder kreuzten sich auf seinem Lebenspfade das Böse und das Gute. Wieder standen ihm, wie schon oft zuvor, zwei Wege offen, von denen der eine ihn lockte, der andre ihn schreckte. Welchen sollte er wählen?
Derjenige, vor dem er sich fürchtete, wurde ihm von dem geheimnisvollen Finger gezeigt, den wir jedes Mal bemerken, wenn wir unsre Augen auf das Ideal richten.
Jean Valjean hatte abermals die Wahl zwischen dem unwirtlichen Rettungshafen und dem lieblichen Fallstrick.
»Es ist also wirklich wahr? Die Seele kann genesen; aber das Schicksal bleibt nichts destoweniger unversöhnlich. Entsetzlich! Ein ewig unglückliches Leben!«
Die Frage, die sich ihm aufdrängte lautete:
Auf welche Weise sollte er sich in Bezug auf Cosette und Marius verhalten? Er hatte ihr Glück gewollt und es ermöglicht; er selber hatte sich die Waffe ins Herz gebohrt, und wenn er sie jetzt zufrieden betrachtete, so war es die Zufriedenheit eines Waffenschmiedes, der sich ein dampfendes Messer aus der Brust zieht und sein Fabrikzeichen auf demselben erkennt.
Cosette und Marius waren in den Hafen des Eheglücks eingelaufen. Sie besaßen alles, sogar Reichthum. Und er war es, der ihnen dazu verholfen hatte.
Aber nun er dieses Glück zu Stande gebracht, wie sollte er sich nun verhalten? Sollte er sich ihnen aufdrängen, sie für sich mit Beschlag belegen, um Theil an ihrem Glücke zu haben? Allerdings gehörte Cosette einem Andern; aber sollte er wirklich von ihr nehmen, was sie ihm geben konnte? Sollte er von den Rechten Gebrauch machen, die ihm seine Vaterschaft gab und die noch anerkannt wurden, nachdem er dieses Band selbst gelöst hatte? Sollte er sich ruhig an Cosettens Herd setzen? Durfte er, ohne sie aufzuklären, seine Vergangenheit an ihre Zukunft knüpfen; die Ahnungslosen den Gefahren aussetzen, die mit seinem tragischen Geschick verbunden waren; an dem friedlichen Kamin des Gillenormandschen Salons seine Füße wärmen, deren Brandmale noch nicht verwischt waren? Durfte sein Greisenalter Theil nehmen an den Zukunftsaussichten des jungen Ehepaares? Sollte er das Dunkel, in das er sich gehüllt hatte, verdichten, sie in ihrer Unwissenheit bestärken? Sollte er fortfahren zu schweigen? Kurz, sollte er neben diesen beiden glücklichen Menschen der Stumme des Schicksals sein?
Man muß an das Unglück und seine Tücken gewöhnt sein, soll man es wagen, emporzublicken, wenn gewisse Fragen sich uns in ihrer grauenvollen Nacktheit darbieten. Hinter diesem erbarmungslosen Fragezeichen stehen das Böse und das Gute. Was gedenkst Du zu thun? so fragt die Sphinx.
An diese Art Prüfung war Jean Valjean aber gewöhnt. Er sah der Sphinx fest in die Augen.
Er betrachtete also das unerbittliche Problem von allen Seiten.
Cosette mit dem Glück, das sie ihm bot, war für ihn das Floß, auf das er sich aus dem Schiffbruch des Lebens retten konnte. Was thun? Sollte er sich daran festklammern oder es loslassen?
Wenn er hinaufkletterte, so tauchte er aus dem Verderben empor, so kam er an das Sonnenlicht, so ließ er das bittre Wasser aus seinen Kleidern und Haaren herabrieseln, so war er gerettet, so gewann er das Leben.
Und wenn er es losließ?
Dann war er verloren.
So pflog er Rath mit seinen Gedanken. Oder, besser gesagt, er rang, er stürzte sich wild in sich selbst hinein, bald gegen seinen Willen, bald gegen seine Überzeugung ankämpfend.
Es war ein Glück für Jean Valjean, daß er hatte weinen können.
Die Thränen brachten ihm vielleicht die wahre Erkenntniß. Aber der erste Kampf war grimmig und qualvoll. Es brach in seinem Innern ein Sturm los, wie er ihn selbst auf seinem Leidenswege nach Arras nicht kennen gelernt hatte. Die Erinnerung an die Vergangenheit kehrte jetzt in sein Gedächtnis zurück, er verglich sie mit der Gegenwart und weinte bitterlich. Nun die Schleuse der Thränen geöffnet war, krümmte sich der Unglückliche vor Verzweiflung.
Er fühlte, daß er nicht weiter konnte.
Ach, wenn wir in dem Kampfe zwischen unserm Egoismus und unsrer Pflicht Schritt vor Schritt zurückweichen, geängstigt, hartnäckig, erbittert, gepeinigt vom Gefühl unsrer Schwäche einen Ausweg suchen, auf die Möglichkeit der Flucht hoffen und plötzlich hinter uns die Mauer fühlen, die die Mächte des Lichtes gegen das Böse aufgerichtet haben!
Das Gute läßt uns niemals Ruhe.
Also mit dem Gewissen wird man nun und nimmermehr fertig. Füge Dich darin, Brutus; finde Dich damit ab, Cato. Das Gewissen hat keinen Boden, da es Gott selber ist. In diesen Brunnen kann man die Arbeit eines ganzen Lebens, sein Vermögen, seinen Reichthum, Erfolg, Freiheit oder Vaterland, seine Wohlfahrt, seine Ruhe, seine Fröhlichkeit werfen und es ist noch nicht genug. Leert das Gefäß. Neigt die Urne tiefer, bis auch Euer Herz herausfällt.
In der finstern Unterwelt der Alten, sagt man, habe es solch ein bodenloses Faß gegeben.
Ist es nicht verzeihlich, wenn man endlich nicht weiter gehen will? Hat das Unerschöpfliche ein Recht gegen uns? Sind die Ketten ohne Ende nicht etwas, gegen das menschliche Kraft nicht aufkommen kann? Wer würde es Sisyphus und Jean Valjean verdenken, wenn sie sagten: »Nun ist's genug!«
Der Gehorsam des Stoffes hat eine Grenze an der Abnutzung. Giebt es für den Gehorsam der Seele keine Grenze? Darf man, wenn die beständige Bewegung unmöglich ist, beständige Aufopferung heischen?
Der erste Schritt ist nichts; der letzte ist wahrhaft schwer. Was bedeutete der Champmathieusche Proceß im Vergleich mit Cosettens Heirat und den Folgen, die sie nach sich zog? Was ist die Rückkehr in das Zuchthaus gegen die Rückkehr in das Nichts?
O wie dunkel ist es auf der ersten Stufe, die man hinabsteigen soll? O zweite Stufe Du bist noch viel finstrer!
Wie sollte er nicht dieses Mal das Haupt wegwenden?
Das Märtyrerthum ist eine Sublimation, eine ätzende. Die Qualen verleihen ein Königthum. Deshalb kann man sich wohl eine Weile dazu verstehen. Man setzt sich auf den rothglühenden, eisernen Thron, direkt die rothglühende Krone aufs Haupt, nimmt den glühenden Reichsapfel, das glühende Scepter in die Hand, aber noch bleibt der Flammenmantel übrig, und kommt nicht ein Augenblick, wo das arme Fleisch sich empört und wo man auf die Marter verzichtet?
Endlich ging Jean Valjean in einen ruhigeren Gemüthszustand über.
Er überlegte, prüfte, betrachtete die Alternation der Wagschaalen des Lichts und des Dunkels.
Sein trauriges Geschick an das Glück des jungen Paares knüpfen oder selber sein eignes Verderben vollenden! Einerseits die Hinopferung Cosettes, andrerseits seine Vernichtung!
Bei welcher Lösung der Frage blieb er stehen?
Welchen Entschluß faßte er? Wie lautete in seinem Innern die endgültige Antwort auf die Frage des unbestechlichen Fatums? Welches Thor entschied er sich zu öffnen? Welche Seite seines Lebens beschloß er zu verrammeln, und hinter sich zu lassen? Welche Wahl traf er zwischen all den bodenlosen Abgründen, die ihn umgaben? Welches Kreuz lud er auf sich? In welchen Schlund stürzte er sich?
Die qualvolle Ueberlegung dauerte die ganze Nacht hindurch.
Er blieb bis Tagesanbruch in derselben Haltung liegen, mit den Knieen auf der Erde und dem Körper auf das Bett gestützt, durch die Last des Schicksals niedergebeugt, vielleicht erdrückt, mit geballten Fäusten, die ausgestreckten Arme rechtwinklig gebogen, wie ein Krucifix, aus dem die Nägel heraus gezogen und das auf die Erde geworfen ist. Zwölf Stunden lag er da, zwölf Stunden in der langen eisigen Winternacht, ohne den Kopf aufzuheben und ohne ein Wort zu sprechen. Er war unbeweglich wie ein Leichnam, während seine Gedanken bald am Boden krochen, bald sich in höhere Regionen emporschwangen. Dem Anschein nach zu urtheilen war er tot; aber plötzlich erbebte er krampfhaft und sein Mund küßte Cosettens Kleider. Da sah man, daß er noch lebte.
Wer? Wie konnte man ihn sehen, da Jean Valjean allein und Niemand zugegen war?
Der »Man«, der unsichtbar in der Finsternis schwebt.