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Der Tag nach einer Hochzeit ist ein ruhiger. Man läßt die Glücklichen allein und erlaubt ihnen, sich zu sammeln. Und respektirt auch ihre späte Morgenruhe. Der Lärm der Besuche und Glückwünsche beginnt erst später. So war es auch am 17. Februar schon etwas über zwölf Uhr Mittags, als Baske, Serviette und Staubwedel unter dem Arm, das Vorzimmer in Ordnung brachte. Da klopfte Jemand leise an die Thür. Geklingelt wurde nicht, was sehr rücksichtsvoll war. Baske machte auf und sah Fauchelevent vor sich. Er führte ihn in den Salon, wo noch die wildeste Unordnung herrschte, und noch die Spuren der Ausgelassenheit vom vergangnen Abend zu sehen waren.
»Wir sind heute spät aufgestanden,« bemerkte Baske achselzuckend.
»Ist Ihr Herr schon auf?« fragte Jean Valjean.
»Was macht Ihr Arm, Herr Fauchelevent,« gab Baske zurück.
»Es geht. Ist Ihr Herr schon auf?«
»Welcher? Der alte oder der neue?
»Herr Pontmercy.«
»Der Herr Baron?« entgegnete Baske stolz aufgerichtet.
Wenn der Herr ein Baron ist, vergißt es der Diener nicht leicht. Fällt doch auch für ihn etwas davon ab. Von dem Adelstitel spritzt, wie ein Philosoph sich ausdrückt, auch etwas auf sie und das schmeichelt ihrer Eitelkeit. Marius, beiläufig gesagt, ein entschiedner Republikaner, der die Aufrichtigkeit seiner Ueberzeugungen durch die That bewiesen hatte, war jetzt Baron wider Willen. In der Familie hatte sich nämlich eine Umwandlung der Ansichten betreffs des Titels vollzogen. Jetzt lag Gillenormand daran, daß Marius Baron war, und Dieser dachte gleichgültiger über diesen Punkt. Aber da der Oberst Pontmercy in seinem Testament den Wunsch geäußert hatte, daß sein Sohn den Baronstitel führen sollte, so gehorchte Marius. Außerdem aber freute sich Cosette, in der die Fraueneitelkeit sich zu regen begann, daß sie »Frau Baronin« war.
»Der Herr Baron?« wiederholte Baske. »Ich will nachsehen. Ich werde ihm sagen, daß Herr Fauchelevent da ist.«
»Nicht doch. Sagen Sie ihm nicht, daß ich es bin. Sagen Sie, Jemand wünsche ihn unter vier Augen zu sprechen, und nennen Sie keinen Namen.
»Hm!« meinte Baske.
»Es handelt sich um eine Ueberraschung.«
»Hm!« wiederholte Baske; indem er sich selber mit dem zweiten Hm! das erste erklärte, und ging hinaus.
Jean Valjean blieb allein.
Im Salon herrschte, wie wir schon erwähnten, die größte Unordnung. Es war, als könnte man, wenn man gespannt lauschte, noch einen dumpfen Nachhall des Festlärms vernehmen. Auf dem Parkett lagen allerhand Blumen, die aus den Guirlanden und den Frisuren der Damen herabgefallen waren. Die bis auf einen Stummel niedergebrannten Kerzen hatten zu den Krystallen der Kronleuchter Wachsstalaktite hinzugefügt. Kein Möbel stand an seinem Platz. In den Ecken sahen einige aneinander gerückte Fauteuils so aus, als wollten sie die Unterhaltung fortsetzen. Aber der Gesamtüberblick war ein heitrer. Auch den Ueberbleibseln eines Festes haftet noch etwas Lieblichkeit an. Hier hat das Glück gewaltet. Auf jenen verschobenen Stühlen, unter diesen verwelkten Blumen sind fröhliche Gedanken entstanden. Die Sonne vertrat die Stelle des Kronleuchters und warf ein heitres Licht in den Salon.
Einige Minuten vergingen, Jean Valjean stand unbeweglich an der Stelle, wo Baske ihn verlassen hatte. Er war sehr blaß. Seine Augen lagen in Folge der Schlaflosigkeit so tief in ihren Höhlen, daß sie fast darin verschwanden. Den Falten seines Rockes sah man es gleichfalls an, daß er die Nacht hindurch getragen worden war. An den Ellbogen hafteten jene weiße Fasern, die daran geriebene Leinewand zu hinterlassen pflegt. Jean Valjean betrachtete das Abbild des Fensters, das der Sonnenschein auf dem Fußboden abzeichnete.
Da ließ sich ein Geräusch an der Thür vernehmen. Er hob die Augen auf.
Marius trat herein, stolz aufgerichtet, mit lächelndem Munde, Heiterkeit im Gesicht und Siegesfreude im Blick. Auch er hatte nicht geschlafen.
»Sie, Vater!« rief er, als er Jean Valjean's ansichtig wurde. »Der dumme Kerl, der Baske, that so geheimnißvoll . . .! Aber Sie kommen zu früh. Es ist erst halb eins. Cosette schläft noch.«
Das Wort »Vater,« womit Marius Fauchelevent anredete, bedeutete die höchste Glückseligkeit. Es hatte zwischen den beiden Männern, wie man sich erinnern wird, stets eine gewisse Abneigung, Kälte und Zwang bestanden, ein Eis, das irgend einmal entweder brechen müsse oder schmelzen konnte. Jetzt hatte aber Marius' Glückseligkeit eine solche Steigerung erfahren, daß die Abneigung vergessen war, das Eis sich auflöste und Herr Fauchelevent für ihn wie für Cosette ein Vater war.
Er wartete nicht auf die Antwort, sondern sprach weiter mit jener Redseligkeit, die den Paroxysmen der Freude eigen ist.
»Wie ich mich freue, daß Sie gekommen sind! Wenn Sie wüßten, wie sehr wir Sie gestern vermißt haben! Guten Tag, Vater! Wie steht's mit Ihrer schlimmen Hand? Hoffentlich besser?«
Und zufrieden mit der Antwort, mit der er selber seine Frage beantwortet hatte, fuhr er fort:
»Wir haben alle Beide viel von Ihnen gesprochen. Cosette hat Sie sehr gern. Vergessen Sie ja nicht, daß Sie hier Ihr Zimmer haben. Wir wollen von der Rue de l'Homme-Armé nichts mehr wissen. Absolut nichts. Wie sind Sie bloß auf den Gedanken gekommen nach einer Straße zu ziehen, die so öde, so unfreundlich und für Wagen versperrt ist. Man friert, wenn man so etwas bloß sieht. Sie ziehen zu uns. Sie ist gesonnen, uns Alle nach ihrer Geige tanzen zu lassen; das sage ich Ihnen im Voraus. Sie haben Ihr Zimmer gesehen; es ist ganz nahe bei dem unsrigen und geht nach den Gärten hinaus; wir haben das Schloß repariren lassen, das Bett ist gemacht, alles ist bereit; also brauchen Sie bloß einzuziehn. Cosette hat neben Ihr Bett einen großen alten Lehnstuhl mit Plüschsitz stellen lassen, auf dem sich's bequem ausruhen läßt. Jedes Frühjahr kommt eine Nachtigall und singt ihre Lieder auf dem Akazienbaum, der vor Ihrem Fenster steht. In zwei Monaten werden Sie sie hören. Ihr Nestchen links und unseres rechts von Ihnen. Des Nachts der Vogelgesang, am Tage Cosettes Geplauder. Ihr Zimmer liegt genau nach Süden. Cosette wird Ihre Bücher aufstellen, Ihre Reisebeschreibung von Kapitän Cook und die andre, die von Vancouver und Ihre Sachen ordnen. Sie haben ja auch wohl einen kleinen Handkoffer, an dem Ihnen viel liegt; für den habe ich einen Ehrenplatz reservirt. Sie haben das Herz meines Großvaters erobert, Sie gefallen ihm sehr. Können Sie Whist spielen? In dem Falle würden Sie ihn vollends entzücken. Sie sollen Cosette an den Tagen, wo ich im Justizpalast beschäftigt bin, spazieren führen; dann geben Sie ihr den Arm wie damals, als Sie noch nach dem Jardin du Luxembourg mit ihr kamen. Wir sind fest entschlossen uns des Lebens zu freuen und Sie sollen an unserm Glück theilnehmen. Merken Sie Sich das Vater! Heute frühstücken Sie doch mit uns?«
»Herr Baron,« antwortete Jean Valjean, »ich habe Ihnen etwas mitzutheilen: Ich bin ein ehemaliger Galeerensklave.«
Wie es Töne giebt, die zu hoch sind, als daß sie zur akustischen Wahrnehmung gelangen könnten, so giebt es auch für den Verstand eine Grenze, über die hinaus er nichts mehr wahrnimmt. Die Worte: »Ich bin ein ehemaliger Galeerensklave!« hörte Marius nicht; ihm war, als sei eben etwas gesagt worden, aber er wußte nicht was und starrte fassungslos Jean Valjean an.
Da bemerkte er, daß der Mann, der mit ihm sprach, entsetzlich verstört war. Ganz mit den Gedanken an sein Glück beschäftigt, war es ihm bis zu diesem Augenblick entgangen, wie schrecklich blaß Jean Valjean aussah.
Dieser band das schwarze Tuch ab, das um seinen rechten Arm geschlungen war, nahm die um seine Hand gerollte Leinwand ab, legte seinen Daumen bloß und zeigte ihn Marius.
»Ich habe nichts an der Hand,« sagte er.
Marius sah den Daumen an.
»Sie ist auch überhaupt nicht schlimm gewesen,« fuhr Jean Valjean fort.
In der That war keine Spur von einer Verletzung zu bemerken.
Jean Valjean sprach weiter:
»Es war nothwendig, daß ich mich von der Unterzeichnung der Urkunden fern hielt. Ich habe diese Verwundung fingirt, um mich nicht einer Fälschung schuldig zu machen, um Ihren Heiratskontrakt nicht der Gefahr einer Ungültigkeitserklärung auszusetzen, um nichts unterschreiben zu müssen.
»Was soll das heißen?« stammelte Marius.
»Das soll heißen,« antwortete Jean Valjean, »daß ich im Zuchthaus gewesen bin.«
»Sie bringen mich von Sinnen!« schrie Marius voll Entsetzen auf
»Herr Baron,« sagte Jean Valjean, »ich habe neunzehn Jahre gesessen: Wegen eines Diebstahls. Nachher bin ich zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilt worden. Wieder wegen eines Diebstahls. Also Rückfall. Gegenwärtig bin ich bannbrüchig.«
Mochte Marius sich noch so sehr gegen die Wirklichkeit sträuben, sich noch so ablehnend gegen den Augenschein verhalten: schließlich mußte er sich doch überzeugen lassen. Er fing an zu begreifen, und begriff, wie dies in solchen Fällen zu geschehen pflegt, zu viel. Ein gräßlicher Gedanke blitzte in ihm auf und verursachte ihm das größte Entsetzen; er glaubte, daß ihm selber großes Unheil bevorstehe.
»Sagen Sie die ganze Wahrheit!« rief er. »Sagen Sie Alles! Sie sind Cosettens Vater!«
Und er trat mit einer Bewegung des höchsten Abscheus einige Schritte zurück.
Jean Valjean richtete sich so majestätisch empor, daß er weit über sein gewöhnliches Maß zu ragen schien.
»Es ist nothwendig, daß Sie meinen Worten in dieser Hinsicht Glauben beimessen und obgleich die Justiz Unsereinen nicht zum Schwur zuläßt . . .«
Hier schwieg er; dann fuhr er mit feierlicher Bestimmtheit fort, indem er die Silben langsam und mit Nachdruck artikulirte:
»Sie werden mir glauben. Ich Cosettens Vater? Nein, nicht vor Gott, Herr Baron Pontmercy. Ich bin ein Bauernsohn aus Faverolles. Ich verdiente mein Brod als Baumputzer. Ich heiße nicht Fauchelevent, sondern Jean Valjean. Zwischen mir und Cosette besteht keine Verwandtschaft. Beruhigen Sie Sich also.«
Marius stammelte:
»Wer beweist mir . . .«
»Ich. Wenn ich es sage, muß es wahr sein.«
Marius sah ihn an. Er sah schwermüthig und gefaßt aus. Ein Mann mit einer solchen ruhigen Haltung war keiner Lüge fähig. Man fühlte, daß aus dieser Grabeskälte nur die Wahrheit hervorgehen konnte.
»Ich glaube Ihnen,« sagte Marius.
Jean Valjean neigte den Kopf, als wolle er andeuten, daß er Notiz nehme von Marius Erklärung, und fuhr fort:
»Was bin ich für Cosette? Ein Fremder, den sie eine Zeit lang gekannt hat. Vor zehn Jahren wußte ich nicht, daß sie existirte. Allerdings liebte ich sie. Ein Kind, das man hat aufwachsen sehen, während man selber schon alt war, liebt man immer. Wenn man alt ist, hegt man großväterliche Gefühle gegen alle kleinen Kinder. Sie dürfen, dünkt mich, voraussetzen, daß ich etwas habe, was wie ein Herz aussieht. Sie war eine Waise. Kein Vater und keine Mutter. Sie bedurfte meiner. Das ist der Grund, warum ich sie lieb gewann. Die Kinder sind so schwach, daß der erste Beste, selbst so Einer wie ich, ihr Beschützer sein kann. Diese Pflicht habe ich Cosette gegenüber erfüllt. Ich glaube nicht, daß man eine solche Kleinigkeit wirklich eine gute Handlung nennen kann: aber wenn es eine ist, nun so nehmen Sie an, daß ich eine gute Handlung gethan habe. Schreiben Sie diesen mildernden Umstand an. Von heute an spielt Cosette keine Rolle mehr in meinem Leben; unsere Wege gehen von nun an auseinander. In Zukunft gehe ich Sie nichts mehr an. Sie ist Frau Pontmercy. Sie hat jetzt eine andre Vorsehung und hat bei dem Tausch gewonnen. Also ist alles gut. Was die sechshundert tausend Franken betrifft, so erwähnen Sie den Punkt nicht; ich will aber Ihrem Gedanken entgegenkommen. Das Geld habe ich für Cosette aufbewahrt. Wie ich dazu gekommen bin, ist Nebensache. Ich gebe das Geld ab. Mehr darf Niemand von mir verlangen. Um diese Wiedererstattung zu vervollständigen, gebe ich meinen wahren Namen an. Auch dies geht nur mich an. Mir liegt daran, daß Sie wissen, wer ich bin.«
Und Jean Valjean sah Marius in die Augen.
Die Aufregung, in die Jean Valjeans Erklärung Marius versetzte, machte diesen unfähig, seine Gedanken zu sammeln. Das Schicksal sendet uns eben bisweilen Stürme, die unser Inneres mächtig aufwühlen.
Wir Alle haben wohl solch eine Unruhe kennen gelernt, wo der Zusammenhang unsres Denkens aufgelöst wird; in einer solchen Gemüthsverfassung sagen wir das erste Beste, irgend etwas und nicht immer das, was wir sagen müßten. Es giebt plötzliche Offenbarungen, die uns den Verstand benehmen, wie ein gefährlicher Wein. Marius war angesichts der neuen Gestaltung der Dinge, die ihm diese Enthüllung zu bringen schien, so fassungslos, daß er Jean Valjean gegenüber fast so sprach, als verdrieße es ihn, daß er die Wahrheit gehört hatte:
»Aber wozu sagen Sie mir eigentlich dies Alles? Sie konnten Ihr Geheimniß für sich behalten. Sie sind weder denunzirt, noch in Gefahr, wieder eingefangen zu werden. Sie haben einen Grund, daß Sie mir freiwillig eine Enthüllung machen. Fahren Sie fort. Sie haben mir noch etwas zu sagen. Wie kommen Sie zu diesem Geständniß? Was bezwecken Sie damit?«
»Was ich damit bezwecke?« antwortete Jean Valjean so leise und so dumpf, als spräche er mit sich selbst und nicht mit Marius. »In der That aus welchem Grunde kommt der und der Galeerensklave und sagt: Ich bin im Zuchthaus gewesen. Nun ja, der Grund ist ein recht seltsamer. Aus Gewissenhaftigkeit. Sehen Sie, das Unglück ist, daß ich da einen Faden im Herzen habe, der mich fest hält. Besonders wenn man alt wird, sind dergleichen Fäden recht haltbar. Wenn alles rings um Einen sich auflöst, so halten die noch. Hätte ich den betreffenden Faden los machen, entzweireißen, den Knoten aufmachen oder zerschneiden, weit weg gehen können, so war ich gerettet, so brauchte ich bloß abzureisen. Wozu sind die Diligencen in der Rue du Bouloy da? Nun Ihr glücklich seid, hätte ich gesagt, mache ich, daß ich fortkomme. Ich habe versucht, den Faden zu zerreißen, habe daran gerissen, aber er hat sich gewehrt, er ist nicht entzwei gegangen und mein Herz zerrte er mit sich. Da habe ich eingesehen, daß ich anderswo nicht leben kann. Ich muß hier bleiben. Sie haben ja Recht, es ist dumm von mir, daß ich Ihrer Aufforderung nicht einfach Folge geleistet habe. Sie bieten mir ein Zimmer im Hause an; die Frau Baronin hat mich sehr gern, sie hält einen bequemen Lehnsessel für mich in Bereitschaft; Ihr Herr Großvater möchte mich auch gern um sich haben, weil ich ihm gefalle; wir sollen Alle beisammen wohnen und zusammen speisen; ich soll Cosetten – Verzeihung, der Frau Baronin – die Macht der Gewohnheit – den Arm geben: ein Dach, ein Tisch, ein Kamin; kurz, alles Glück, alle Freude soll ich haben, die das Familienleben bieten kann, soll ein Mitglied Ihrer Familie sein, – Ihrer Familie . . .«
Bei diesen Worten regten sich Bitterkeit und Grimm in Jean Valjeans Gemüth. Er verschränkte die Arme, betrachtete den Fußboden, als wollte er mit den Augen einen Abgrund hineinbohren und seine Stimme wurde plötzlich heftig und laut:
»Familie! Nicht doch. Ich gehöre zu keiner Familie. Zu der Ihrigen nicht, zu der Menschenfamilie nicht. In den Häusern, wo Leute unter sich sind, bin ich überflüssig. Für mich giebt es keine Familie. Ich bin der Unglückliche, ich stehe außerhalb der Welt. Habe ich Vater und Mutter gehabt? Fast möchte ich's bezweifeln. An dem Tage, wo ich das Kind verheiratet habe, war's vorbei; sie war glücklich mit dem Mann vereint, den sie liebte, gern gesehen von dem guten, alten Großvater und aller Güter theilhaftig, die des Menschen Herz erfreuen können. Da sagte ich mir: Nun ist alles gut, Du aber bleibe davon. Ich hätte lügen, Sie Alle täuschen, Herr Fauchelevent bleiben können. So lange es ihr zum Vortheil gereichte, habe ich lügen dürfen; jetzt aber, wo ich den Nutzen davon hätte, darf ich es nicht mehr. Ich brauchte bloß zu schweigen, so wäre Alles beim Alten geblieben. Sie fragen, was mich denn zwingt zu reden. Ein sehr merkwürdiges Ding, mein Gewissen. Mein Geheimniß für mich zu behalten hätte sich ja leicht genug machen lassen. Ich habe auch die Nacht über versucht es mir einzureden – denn Sie forschen mich aus und was ich Ihnen gesagt habe, ist allerdings etwas so Außergewöhnliches, daß Sie das Recht dazu haben; – also ich habe die Nacht schlaflos zugebracht, um mir plausible Gründe auszudenken, und habe auch sehr gute gefunden, sodaß ich sagen kann, ich habe mein Möglichstes nach der Richtung hin gethan. Aber zwei Dinge sind mir nicht gelungen: den Faden zu zerreißen, der mein Herz hier festhält und Jemand, der, wenn ich allein bin, leise zu mir spricht, zum Schweigen zu bringen. Deshalb bin ich heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen Alles zu gestehen. Alles oder so ziemlich Alles. Es ist Manches, das nicht gesagt zu werden braucht, weil es nur mich betrifft; das behalte ich für mich. Die Hauptsache aber wissen Sie jetzt. Also habe ich mein Geheimniß hergebracht und es vor Ihren Augen bloß gelegt. Der Entschluß ist mir nicht leicht geworden. Die ganze Nacht habe ich mich dagegen gesträubt. Glauben Sie nur, ich habe mir selber gesagt, daß der gegenwärtige Fall nicht mit dem Champmathieuschen zu vergleichen ist, daß ich durch die Verheimlichung meines Namens Niemandem Schaden zufügen würde, daß mir der Name Fauchelevent von Fauchelevent selbst zum Dank für einen ihm erwiesenen Dienst geschenkt worden ist und daß ich also das Recht habe ihn zu behalten, daß ich in dem Kämmerchen, das Sie mir anbieten, glücklich leben konnte, Niemandem im Wege, daß ich nicht gestört sein würde in meinem Heim und dann, der Gedanke, mit Cosette in demselben Hause zu wohnen, mich glücklich machen würde, während Sie Sich ihres Besitzes erfreuten. Dann wäre Jeder des Glückes theilhaftig geworden, das für ihn paßte. Alles hätte sich gemacht, wenn ich den Namen Fauchelevent beibehalten hätte. Nur mein Gewissen hätte dagegen protestirt. Während äußerlich alles gut gewesen wäre, hätte es in meinem Innern sehr dunkel ausgesehen. Das materielle Glück genügt nicht; der Mensch muß auch zufrieden mit sich sein. Also ich hätte ›Herr Fauchelevent‹ bleiben sollen? Mein wahres Gesicht verstecken; während Sie in Ihrer Arglosigkeit mir Ihr vollstes Vertrauen schenkten, ein Geheimniß mit mir herumgetragen; ohne Sie zu warnen, mir nichts dir nichts, Sie in Beziehungen mit dem Zuchthaus bringen; mich an Ihren Tisch setzen mit dem Gedanken, daß Sie mich wegjagen würden, wenn Sie wüßten, wer ich bin; mir Handreichungen leisten lassen von Bedienten, die, wenn sie hinter mein Geheimnis kämen, mir voll Abscheu den Rücken zudrehen würden? Ich hätte Sie berühren, meine Hand in Ihre legen und Ihren Gruß ergaunern sollen. Es hätte sich also mein schmachbedecktes Haupt mit den ehrwürdigen, weißen Haaren Ihres braven Großvaters in Ihre Achtung getheilt! Bei jedem traulichen Beisammensein, wenn alle Herzen einander ehrlich entgegengeschlagen hätten, wäre Einer von uns Vieren ein Unbekannter gewesen. Ich wäre neben Euch her durch das Leben gewandelt mit keinem andern Gedanken, als daß ich niemals sehen lassen dürfte, was der Deckel meines fürchterlichen Brunnens verbirgt. Also ich, der ich für die Welt tot bin, ich hätte mich Euch aufdrängen sollen, die Ihr zu der Gesellschaft der Glücklichen gehört. Sie, Cosette und ich – drei Köpfe unter der grünen Mütze! Und bei diesem Gedanken erzittern Sie nicht? Ich bin nur der unglücklichste Mensch, dann würde ich der nichtswürdigste geworden sein. Und dieses Verbrechens, dieser Lüge hätte ich mich Tag für Tag schuldig machen, die unheimliche Maske jeden Tag tragen, Euch jeden Tag mit meiner Schande besudeln sollen! Euch meine innigst geliebten, arglosen Kinder! Also Sie meinen, das Einfachste wäre gewesen, ich hätte geschwiegen. Nein, so etwas ist nicht einfach. In gewissen Fällen ist das Stillschweigen eine Lüge. Und meine Verlogenheit und meinen Betrug und meine Nichtswürdigkeit und meine Feigheit und meinen Verrath hätte ich tropfenweise herunterschlucken, wieder ausspeien und wieder heruntertrinken sollen? Und wenn ich am Abend damit fertig geworden wäre, hätte ich am nächsten Morgen wieder von vorn angefangen? Ich hätte damit schlafen, es zu meinem Brod essen, Cosette gerade ansehen und sie anlächeln sollen, ich, der Verdammte, den Engel! Und wozu dieser abscheuliche Betrug? Um glücklich zu sein? Ich und glücklich! Habe ich das Recht glücklich zu sein? Ich stehe ja außerhalb der Menschheit!«
Hier hielt Jean Valjean inne mit seiner Rede, die Marius schweigend anhörte. Wie hätte er auch einen so wehevollen Herzenserguß unterbrechen können! Jean Valjean senkte nun wieder die Stimme, aber sie klang dieses Mal nicht dumpf, sondern schaurig.
»Sie fragen mich, warum ich gesprochen habe? Ich bin nicht denunzirt, ich werde nicht verfolgt, sagen Sie. Doch, ich bin denunzirt, ich werde verfolgt! Von wem? Von mir! Ich selber verlege mir den Weg, ich selbst, schleppe und hetze mich in die Verdammniß. Wenn man sich aber selbst gepackt hält, giebt's kein Entrinnen.«
Bei diesen Worten nahm er seinen Rock in die Faust und hielt ihn Marius hin.
»Sehen Sie diese Hand an,« fuhr er fort. »Finden Sie nicht, daß sie das Tuch so fest hält, daß er nicht los kommen kann. Das Gewissen aber hält den Menschen noch viel fester. Man muß, wenn man glücklich sein will, Herr Baron, nicht wissen, was die Pflicht ist; sonst stellt sie unerbittliche Ansprüche. Man könnte glauben, sie bestraft Einen, weil man sie kennt; aber nein! Sie belohnt Einen, denn in der Hölle, in die sie Einen stürzt, fühlt man Gottes Odem. Hat man sich, um ihr zu gehorchen, gemartert, so hat man Frieden mit sich selbst.«
Und in einem Tone, der dem Zuhörer in die Seele schnitt, fuhr er fort:
»Herr Baron, es hört sich unsinnig an, aber ich bin ein ehrlicher Mann. Indem ich mich vor Ihnen erniedrige, steige ich in meiner Achtung. Ich bin schon in derselben Lage gewesen; aber solche Qual war es nicht, nicht im Entferntesten. Ja, ein ehrlicher Mann. Ich würde es nicht sein, wenn Sie, von mir irre geführt, fortgefahren hätten mich Ihrer Achtung zu würdigen; nun Sie mich aber verachten, bin ich es. Mein böses Geschick will es ja, daß mir keine andre Achtung zu Theil werden kann, als gestohlene, die mich demüthigt und mir innerlich weh thut. Damit ich hoch von mir denke, ist es nöthig, daß mich die Leute verachten. Dann richte ich mich auf. Ich bin ein Verbrecher, der seinem Gewissen gehorcht. Ich weiß wohl, daß sich das unwahrscheinlich anhört; aber das kann ich nicht ändern: Es ist so. Ich habe mir gegenüber Verpflichtungen übernommen und halte sie. Es kommt im Leben vor, daß man, um sich für eine erwiesene Wohlthat dankbar zu beweisen, einem vom Zufall herbeigeführten Retter dieses oder jenes Versprechen geben muß und dergleichen Versprechen binden. Mir ist viel passirt im Leben, Herr Baron.«
Hier machte Jean Valjean wieder eine Pause. Er schluckte seinen Speichel mühsam herunter, wie wenn seine Worte einen bittern Nachgeschmack hätten und sprach weiter:
»Wenn man mit einem so grauenvollen Geschick behaftet ist, hat man nicht das Recht, Andren, ohne daß sie es wissen, einen Theil davon abzugeben, sie mit seiner Krankheit anzustecken, sie in denselben Abgrund gleiten zu lassen, ohne daß sie es merken, mit seinem Elend heimtückisch ihr Glück zu belasten. Sich an Gesunde heranschleichen und sie im Dunkeln mit seinen Schwären berühren, ist eine Nichtswürdigkeit. Mag auch Fauchelevent mir seinen Namen geliehen haben, – ich habe nicht das Recht, Gebrauch davon zu machen; er durfte ihn mir geben, mir geziemte es nicht, ihn anzunehmen. Ein Name ist ein Ich. Sehen Sie, Herr Baron, ich habe ein wenig nachgedacht in meinem Leben und viel gelesen und Sie werden bemerkt haben, daß ich die Worte einigermaßen zu setzen weiß. Ich suche mir Alles zu erklären und habe mich bemüht, mir selber einige Kenntnisse beizubringen. Nun also – einen Namen stehlen und sich dahinter verstecken ist unehrlich. Denn Buchstaben kann man stibitzen, so gut wie ein Portemonnaie oder eine Taschenuhr. Ehe ich aber beständig als eine lebendige Fälschung unter ehrlichen Leuten einhergehe, will ich lieber alles mögliche Leid erdulden, bluten, weinen, mir mit den Nägeln die Haut vom Leibe reißen, mich Nächte hindurch in Qualen krümmen, mir Körper und Seele aufzehren. Deshalb bin ich gekommen Ihnen dies Alles zu erzählen.«
Er holte schwer Athem und beschloß seine Rede mit den Worten:
»Ich habe wohl früher einmal, um nicht verhungern zu müssen, Brod gestohlen; heute will ich nicht, um leben zu können, einen Namen stehlen.«
»Um leben zu können?« fiel ihm Marius ins Wort. »Dazu brauchen Sie doch den Namen nicht?«
»O ich weiß, was ich sagen will,« antwortete Jean Valjean, indem er mehrere Mal den Kopf hob und senkte.
Es trat eine Pause ein. Beide schwiegen, um gegen die Flut von Gedanken anzukämpfen, die auf sie einstürmten. Marius saß an einem Tisch und hielt den einwärts gebognen, kleinen Finger an den Mundwinkel gestützt. Jean Valjean ging im Zimmer auf und ab, bis er endlich vor einem Spiegel regungslos stehen blieb. Dann sagte er zum Schluß eines Selbstgesprächs, indem er die Augen auf den Spiegel richtete, ohne sich zu sehen:
»Während ich mich jetzt erleichtert fühle!«
Darauf setzte er sich wieder in Bewegung und ging nach dem andern Ende des Salons. Eben als er sich wieder umwendete, bemerkte er, daß Marius ihn beim Gehen beobachtete. Da sagte er in einem unbeschreiblichen Tone:
»Ich habe einen schleppenden Gang. Sie begreifen jetzt, warum.«
Dann wandte er sich ganz nach Marius um und sagte:
»Nun, Herr Baron, stellen Sie Sich einmal Folgendes vor. Gesetzt, ich hätte nichts gesagt, wäre Herr Fauchelevent geblieben und nehme den Platz in Ihrem Hause ein, den Sie mir zuweisen, gehöre zu Ihrer Familie, komme des Morgens in meinen Pantoffeln zum Frühstück herunter; wir gehen des Abends alle Drei ins Theater, ich begleite die Frau Baronin auf ihren Spaziergängen, kurz wir leben zusammen und Sie halten mich für Ihresgleichen. Eines schönen Tages sitzen wir wieder einmal traulich beisammen, plaudern und lachen; da hören Sie plötzlich eine Stimme: Jean Valjean! rufen und sehen die Hand der Polizei mir die Maske vom Gesicht reißen!«
Er schwieg wieder. Marius war zitternd vor Entsetzen von seinem Sitz aufgefahren. Jean Valjean hob wieder an:
»Was sagen Sie dazu?«
Marius Stillschweigen gab ihm eine beredte Antwort.
Da fuhr Jean Valjean fort:
»Sie sehen nun wohl, daß ich Recht habe, wenn ich nicht schweige. Genießen Sie also Ihr Glück, leben Sie im siebenten Himmel, seien Sie der Engel eines Engels, begnügen Sie sich damit und machen Sie sich keine Sorge darum, wie ein armer Verdammter es anstellt, um sich das Herz zu zerfleischen und seine Schuldigkeit zu thun; Sie haben Einen vor sich, dessen trauriges Los sich nicht erleichtern läßt.«
Marius kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
Aber Jean Valjean kam ihm nicht entgegen als Marius seine Hand ergriff. Diesem war zu Muthe, als drücke er ein Stück Marmor.
»Mein Großvater hat einflußreiche Freunde,« sagte Marius, »die Ihnen Ihre Begnadigung erwirken können.«
»Das ist nicht nöthig,« antwortete Jean Valjean. »Man hält mich für tot, das genügt. Die Toten unterstehen der polizeilichen Aufsicht nicht. Die läßt man in Ruhe. Der Tod ist ebenso gut wie eine Begnadigung.«
Und indem er seine Hand aus Marius Griff losmachte, sagte er mit unerbittlich strengem Stolze:
»Uebrigens ist die Pflicht die einzige Freundschaft, zu der ich meine Zuflucht zu nehmen pflege, und bedarf keiner andern Gnade als derjenigen, die mir mein Gewissen gewährt.«
In diesem Augenblick ging am andern Ende des Salons leise die Thür auf und in dem Spalt zeigte sich Cosette. Man sah von ihr nur das liebe Gesicht, und das Haar, das es in anmuthiger Unordnung umrahmte; ihre Augenlider waren noch vom Schlaf geschwollen. Sie machte eine Bewegung mit dem Köpfchen wie ein Vögelchen, das aus dem Nest herausblickt, sah erst Marius, dann Jean Valjean an und rief mit einem rosigen Lächeln:
»Wetten wir, daß Ihr über Politik sprecht? Wie dumm! Konntet Ihr nicht zu mir kommen?«
Jean Valjean fuhr zusammen.
»Cosette!« stammelte Marius verlegen und hielt inne. Sie sahen wie zwei schuldbewußte Verbrecher aus.
Cosette fuhr fort, Beide mit Augen anzusehen, aus denen paradiesisches Glück strahlte.
»Ich ertappe Euch auf der That,« sagte sie. »Ich habe eben durch die Thür gehört, wie mein Vater Fauchelevent sagte: Mein Gewissen ... die Pflicht ... Das muß sich auf die Politik bezogen haben. Das kann ich nicht erlauben. Schon am zweiten Tage von Staats- und gelehrten Sachen zu sprechen, schickt sich nicht. Das ist eine Unliebenswürdigkeit gegen mich.«
»Du irrst Dich, Cosette,« betheuerte Marius. »Wir besprachen eine geschäftliche Angelegenheit. Wir beriethen nämlich, wie Deine sechshundert tausend Franken am besten angelegt werden könnten.«
»Das ist alles nichts!« unterbrach ihn Cosette. »Ich bin gekommen, um zu fragen, ob ich hier bleiben darf.«
Mit diesen Worten machte sie die Thür ganz auf und trat entschlossen in den Salon. Sie trug einen weiten, weißen Peignoir mit langen Aermeln, der ihr vom Halse bis zu den Füßen herniederwallte. Dieses Kleid erinnerte an die niedlichen, sackartigen Gewänder, mit denen die an den gothischen Kirchendecken auf goldnem Hintergrunde abgemalten Engel bekleidet sind.
Sie betrachtete sich von Kopf bis zu Fuß in einem großen Spiegel und rief dann plötzlich mit unbeschreiblicher Fröhlichkeit:
»Es war einmal ein König und eine Königin. O wie glücklich ich bin!«
Hierauf wandte sie sich mit einer Verbeugung nach Marius und Jean Valjean und sagte:
»So! Nun will ich bei Euch bleiben und es mir auf einem Lehnstuhl bequem machen. In einer halben Stunde speisen wir zu Mittag und Ihr könnt Euch unterhalten, wie Ihr wollt. Ich weiß ja, daß man die Männer reden lassen muß und verspreche Euch, recht artig zu sein.«
Marius faßte sie beim Arm und sagte in liebreichem Tone:
»Wir sprechen über geschäftliche Sachen.«
»Beiläufig gesagt,« antwortete Cosette, »ich habe mein Fenster aufgemacht. Es sind eben eine große Menge Spatzen in den Garten geflogen.«
»Ich versichre Dich, liebes Engelchen, daß wir über geschäftliche Dinge verhandeln. Bitte, lasse uns einen Augenblick allein. Nichts als Zahlen. Du würdest Dich langweilen.«
»Du hast heute eine sehr hübsche Kravatte um, Marius. Das hätte ich nicht gedacht, daß mein ernsthafter Herr Gemahl solch ein Gigerl wäre. Aber sei unbesorgt, Euer Gespräch wird mich keineswegs langweilen.«
»Doch, doch, liebe Cosette.«
»Bewahre, da Ihr es seid. Ich werde wohl nicht verstehen, was Ihr sagt; werde aber Euch zuhören. Wenn man die Stimmen Derer, die man lieb hat hört, so braucht man nicht die Worte zu verstehen, die sie sagen. Bei Euch bleiben, weiter will ich nichts. Verstanden, mein Herr Gemahl?«
»Meine innigst geliebte Cosette, es geht nicht.«
»Es geht nicht?«
»Nein.«
»Gut,« entgegnete Cosette. »Ich hätte Euch viele interessante Neuigkeiten erzählt. Ich hätte Euch gesagt, daß Großvater noch schläft, daß die Tante nach der Kirche gegangen ist, daß der Kamin in Vater Fauchelevents Zimmer raucht, daß Nicolette den Schornsteinfeger bestellt hat, daß Toussaint und Nicolette sich schon gezankt haben, daß Nicolette die Toussaint wegen ihres Gestotters zum Besten hält. Jetzt sollt Ihr zur Strafe garnichts hören. Also, es geht nicht? Na warten Sie, mein Herr Gemahl, ich werde auch mal sagen: ›Es geht nicht‹. Dann werden wir ja sehen, wer den meisten Schaden haben wird. Bitte, bitte, lieber Marius, laß mich bei Euch bleiben.«
»Ich schwöre Dir, liebe Cosette, es ist kein Gespräch, wo Jemand zugegen sein darf.«
»Bin ich denn ein Jemand?«
Währenddessen hatte Jean Valjean kein Wort gesprochen. Jetzt nahm Cosette ihn sich ins Gebet:
»Was soll denn das heißen, Vater, daß Du mir keinen Kuß giebst. Was stehst Du da, und sagst nichts und hilfst mir nicht? Wer hat mir einen solchen Vater gegeben? Du siehst doch, was ich für eine unglückliche Frau bin. Mein Mann haut mich. Vorwärts, gieb mir sofort einen Kuß.«
Jean Valjean ging auf sie zu.
Cosette drehte sich nach Marius um und sagte:
»Von Dir will ich nichts wissen.«
Darauf hielt sie Jean Valjean die Stirn hin. Als aber dieser an sie herantrat, wich sie plötzlich zurück.
»Vater, Du bist blaß. Thut Dir denn Deine Hand so weh?«
»Die ist wieder gesund,« sagte Jean Valjean.
»Hast Du schlecht geschlafen?«
»Nein.«
»Hast Du Kummer?«
»Auch nicht.«
»So gieb mir einen Kuß. Wenn Du gesund bist, gut schläfst und bei guter Laune bist, will ich Dich nicht schelten.«
Und abermals hielt sie ihm ihre engelreine Stirn hin, auf die Jean Valjean einen Kuß drückte.
»Lächle mal.«
Jean Valjean gehorchte. Er lächelte grausig wie ein Gespenst.
»So! Jetzt vertheidige mich gegen meinen Mann.«
»Cosette!« flehte Marius.
»Vater, zeige ihm mal, daß Du böse sein kannst. Sage ihm, daß ich bei Euch bleiben soll. Ihr könnt in meiner Gegenwart reden. Haltet Ihr mich denn für so einfältig? Das muß ja was ungeheuer Großartiges sein, was Ihr da zu besprechen habt. Geschäfte, eine Kapitalanlage, das ist gerade was Rechtes. Diese Geheimnißthuerei der Männer um ein Nichts! Ich bleibe bei Euch. Sieh mal, Marius, wie gut ich heute aussehe.«
Und graziös die Achseln zuckend und mit einer allerliebsten Schmollmiene, sah sie Marius an. Da war es, als wenn eine elektrische Anziehungskraft sie mit elementarer Gewalt zu einander hinriß. Was fragten sie danach ob jemand dabei stand.
»Ich liebe Dich!« rief Marius.
»Ich bete Dich an!« antwortete Cosette.
Und sie stürzten einander in die Arme.
»Jetzt,« sagte Cosette mit verstohlenem Triumphe, indem sie eine Falte ihres Peignoirs in Ordnung brachte, »jetzt bleibe ich.«
»Nein, mein süßes Herz das geht nicht,« sagte Marius mit inständig bittender Betonung. »Wir haben etwas zu beendigen.«
»Noch nicht?«
Marius nahm einen ernsthaften Ton an:
»Ich versichre Dich, Cosette, es ist unmöglich.«
»Aha! Jetzt holt mein Herr Gemahl seine Mannheit vor. Gut. Ich gehe. Du, Vater, bist mir nicht zu Hülfe gekommen. Mein Herr Gemahl, mein Herr Papa, Ihr seid Tyrannen. Das sage ich aber dem Großvater. Wenn Ihr Euch einbildet, ich werde wiederkommen und Euch um den Bart gehen, so irrt Ihr Euch. Ich bin stolz. Jetzt warte ich, bis Ihr zu mir kommt. Ihr sollt sehen, daß Ihr Euch langweilt, wenn ich nicht da bin. Ich gehe. Geschieht Euch ganz recht.«
Sie ging hinaus.
Aber zwei Sekunden darauf ließ sich das frische, rosige Gesichtchen wieder zwischen den beiden Thürflügeln sehen und sie rief:
»Ich bin sehr wüthend.«
Die Thür fiel zu und Trübsal umnachtete wieder die beiden zurückgebliebenen Männer.
Es war, als habe ein verirrter Sonnenstrahl, ohne es zu ahnen, schnell eine dichte Finsterniß durcheilt.
Marius vergewisserte sich, daß die Thür auch wirklich fest zu war.
»Arme Cosette,« murmelte er, »wenn sie erfahren wird . . .«
Als Jean Valjean diese Worte hörte, erbebte er an allen Gliedern. Er richtete einen irren Blick auf Marius.
»Cosette, ja richtig, Sie werden es Cosette sagen. Freilich, daran hatte ich nicht gedacht. Man kann das Eine ertragen, zu Andrem reicht aber die Kraft nicht aus. Herr Baron, ich bitte, ich beschwöre Sie, geben Sie mir Ihr heiligstes Ehrenwort, daß Sie es ihr nicht sagen werden. Ist es nicht genug, daß Sie es wissen? Ich habe es über mich gewonnen, es zu offenbaren, ohne dazu gezwungen zu sein und es wäre mir nicht darauf angekommen, es vor Jedermann, vor der ganzen Welt zu sagen. Aber sie weiß nicht, was es bedeutet; sie würde Schauder davor empfinden. Ein ehemaliger Zuchthäusler! Man müßte es ihr erklären, ihr sagen: Er hat auf den Galeeren gearbeitet. Sie hat eines Tages eine Kette Galeerensklaven an sich vorbeifahren sehen. Barmherziger Gott!«
Er sank auf einen Sessel und verbarg sein Gesicht in beide Hände.
Man hörte es nicht, aber man sah es an den heftigen Bewegungen seiner Schultern, daß er weinte. Stille Thränen, bittre Thränen.
Durch das Schluchzen der Athmungsluft beraubt, wurde er von einer Art Krampf gepackt; er lehnte sich, als wollte er wieder zu Athem kommen, nach hinten an die Lehne des Sessels, indem er die Arme schlaff herabhängen und Marius sein in Thränen gebadetes Gesicht sehen ließ. Und leise, als käme seine Stimme aus einer bodenlosen Tiefe, murmelte er: »O, ich möchte sterben!«
»Seien Sie unbesorgt,« sagte Marius, »ich werde Ihr Geheimniß für mich behalten.«
Und mit weniger Mitleid, als er wohl hätte empfinden sollen, aber seit einer Stunde genöthigt, sich an die schreckliche Wirklichkeit zu gewöhnen, in Herrn Fauchelevent mehr und mehr einen ehemaligen Galeerensklaven zu sehen und auch die Kluft, die zwischen ihm und Jenem entstanden war, zu achten, sagte Marius:
»Ich darf es nicht unterlassen, mit einigen Worten das Geld zu erwähnen, das Sie so gewissenhaft für Cosette aufbewahrt haben. Das ist eine Ehrlichkeit, für die Ihnen eine Belohnung gebührt. Bezeichnen Sie selbst die Ziffer und scheuen Sie Sich nicht, recht hoch zu gehen. Sie sollen bekommen, was Sie verlangen.«
»Ich danke Ihnen, Herr Baron,« antwortete Jean Valjean mit sanfter Stimme.
Er blieb eine Weile in Gedanken versunken, indem er mechanisch mit dem Ende des Zeigefingers über den Daumennagel strich, und sagte dann mit lauterer Stimme:
»Jetzt wäre wohl ziemlich Alles abgemacht. Es bleibt mir nur noch . . .«
»Was?«
Jean Valjean zögerte eine Weile mit der Antwort und sagte dann mit tonloser, matter Stimme:
»Nun Sie alles wissen, glauben Sie, Herr Baron, der Sie zu entscheiden haben, daß ich Cosette nicht wiedersehen darf?«
»Ich glaube, das wäre das Beste,« antwortete Marius kalt.
»Es soll geschehen,« murmelte Jean Valjean und schritt auf die Thür zu.
Er legte die Hand auf die Klinke, der Schloßriegel ging zurück, die Thür öffnete sich weit, daß er hätte hindurchgehen können. Aber dann blieb er eine Sekunde regungslos stehen, machte die Thür wieder zu und wandte sich wieder nach Marius um:
Aus seinem Gesicht war jetzt der letzte Rest Blut gewichen. Er hatte auch keine Thränen mehr in den Augen, aber es flammte darin ein Ausdruck unnennbarer Trauer empor. Seine Stimme klang wieder seltsam ruhig.
»Verzeihen Sie, Herr Baron, wenn Sie's gestatten, werde ich Cosette besuchen. Ich versichere Sie, mir liegt viel daran. Wäre es mir nicht darum zu thun gewesen um sie zu bleiben, so hätte ich Ihnen das Geständnis nicht abgelegt und wäre so fortgegangen; aber da ich in ihrer Nähe sein und mit ihr in Verkehr bleiben wollte, so mußte ich als ehrlicher Mann Ihnen die Wahrheit sagen. Sie sehen ein, warum ich so gehandelt habe, nicht wahr? Es ist ja eine ganz einfache Sache. Sehen Sie, über neun Jahre habe ich sie immer um mich gehabt. Wir wohnten anfangs in dem Gorbeauschen Hause, dann im Kloster, zuletzt nicht weit von dem Jardin du Luxembourg. Da war es, wo Sie ihr zum ersten Mal begegnet sind. Sie erinnern sich wohl noch an ihren blauen Plüschhut. Dann wohnten wir in dem Invalidenviertel in dem Hause mit dem Gitter und dem Garten. In der Rue Plumet. Ich hatte mein Zimmer in dem kleinen Hinterhof, wo ich sie Klavier spielen und singen hörte. So lebte ich. Wir trennten uns nie. Das hat neun Jahre und einige Monate gedauert. Ich war so zu sagen ihr Vater und sie mein Kind. Ich weiß nicht, ob Sie meine Gefühle begreifen, Herr Baron, aber jetzt von ihr gehen, sie nie wieder sehen, nicht mehr mit ihr sprechen, nichts mehr von ihr haben, wäre etwas, das mir recht schwer werden würde. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich von Zeit zu Zeit Cosette besuchen. Ich werde nicht häufig kommen und nicht lange bleiben. Sie können ja sagen, daß sie mich in dem kleinen, niedrigen Saal empfangen soll, im Parterre. Ich würde ganz gern hinten heraufkommen, wo der Eingang für die Dienstboten ist, aber das würde vielleicht den Leuten zu reden geben. Es ist wohl besser, glaube ich, ich komme durch die gewöhnliche Thür. Wirklich, Herr Baron. Ich möchte Cosette wiedersehen. Nur so oft, wie es Ihnen belieben würde. Versetzen Sie sich an meine Stelle; ich habe ja weiter nichts auf der Welt. Ferner müssen Sie noch etwas Andres im Auge behalten. Wenn ich ganz weg bliebe, würde das einen schlechten Eindruck machen, man würde es eigenthümlich finden. Was ich aber möglich machen kann, ist, daß ich des Abends komme, wenn es Dunkel war.«
»Kommen Sie jeden Abend,« sagte Marius. »Cosette soll sie erwarten.«
»Sie sind sehr gütig, Herr Baron,« erwiederte Jean Valjean.
Marius verneigte sich, das Glück geleitete die Verzweiflung bis zur Thür und die beiden Männer schieden von einander,
Marius war außer sich vor Bestürzung.
Jetzt erklärte er sich seine Abneigung gegen den Mann, in dessen Nähe er Cosette weilen sah. Der Mensch hatte in seinem Wesen etwas Räthselhaftes, wovor sein Instinkt ihn stets gewarnt hatte. Dieses Räthsel bestand in der furchtbarsten Schande. Herr Fauchelevent war ein ehemaliger Zuchthaussträfling.
Wenn man unvermuthet mitten in seinem Glück ein solches Geheimniß entdeckt, so gleicht das der Entdeckung eines Skorpions in einem Turteltaubennest.
War Marius und Cosettes Glück fortan zu einer solchen Nachbarschaft verurtheilt? Ließ sich die Sache nicht ändern? War die Duldung dieses Menschen eine Bedingung, die nicht mehr umgangen werden konnte?
Hatte Marius denn den ehemaligen Sträfling mit geheiratet?
Mag man auch mit dem schönsten Glücks- und Freudenkranz gekrönt sein, die süßeste Wonne des Lebens, die glückliche Liebe kosten, eine solche Erschütterung würde selbst einem Erzengel in seiner Verzückung, einem Halbgott in seiner Glorie einen Schauder abnöthigen.
Wie dies immer bei derartigen, plötzlichen Veränderungen geschieht, fragte sich Marius, ob er sich nicht selber Vorwürfe zu machen habe? Hatte er es an Scharfsinn, an Klugheit fehlen lassen? Hatte er sich, ohne mit der gehörigen Vorsicht das Terrain zu rekognosciren, in das Liebesabenteuer gestürzt, das mit seiner Heirat geendet? Er bemerkte – durch dergleichen Entdeckungen bessert uns nach und nach das Leben – er bemerkte den grüblerischen und phantastischen Theil seines geistigen und moralischen Wesens, die Wolke, die sich im Hirn vieler Menschen vorfindet, und die in den Paroxismen der Leidenschaft und des Kummers, durch die höhere Temperatur der Seele ausgedehnt, an Umfang zunimmt und das Denken des Menschen vollständig durchdringt, wodurch das Bewußtsein ein nebelhaftes wird. Wir haben schon öfter diesen charakteristischen Zug von Marius Eigenart erwähnt. Er entsann sich, daß er über seinem Liebesrausch in der Rue Plumet Cosetten gegenüber nicht einmal das Drama im Gorbeauschen Hause erwähnt hatte, dessen Opfer sich während des Kampfes und bei seiner Flucht eines so seltsamen und hartnäckigen Stillschweigens beflissen hatte. Wie kam das bloß? Es lag doch wahrlich nahe genug, von einem so aufregenden Vorfall zu sprechen! Warum hatte er ihr nichts von den Thénardiers erzählt, besonders an jenem Tage, wo er Eponinen begegnet war? Es wurde ihm beinah schwer, sich Rechenschaft über die Gründe seines damaligen Stillschweigens zu geben. Indessen verstand er sie. Er erinnerte sich an die Gemüthsverfassung, in der er sich zu jener Zeit befunden hatte, die Ausschließlichkeit seiner Liebe, die ihn verhindert hatte, etwas Andres zu thun als mit Cosette in höheren Regionen zu schweben, und andrerseits auch an das geringe Quantum Vernunft, das dieser überreizte und angenehme Seelenzustand noch hatte bestehen lassen, an jenen heimlichen Instinkt, der ihn bewog, das schreckliche Abenteuer zu verheimlichen und aus seinem Gedächtniß zu tilgen, in dem er keine Rolle spielen, mit dem er nichts zu thun haben wollte und von dem er nichts erzählen konnte, ohne als Ankläger aufzutreten. Im Uebrigen waren jene wenigen Wochen, wo er Cosette in der Rue Plumet aufzusuchen pflegte, blitzschnell an ihm vorüber gegangen; sie hatten zu nichts Zeit gehabt, als an die Liebe zu denken. Endlich, wenn er alle Umstände genau prüfte und abwog, würde, gesetzt auch er hätte Cosetten den Vorfall im Gorbeauschen Hause erzählt, er hätte von den Thénardiers, welches auch die Folgen gewesen wären, gesprochen, gesetzt auch, er hätte entdeckt, daß Jean Valjean im Zuchthaus gewesen war, würde er, Marius, darum andern Sinnes geworden sein? Oder Cosette? Wäre er zurückgetreten? Hätte er sie weniger geliebt? Hätte er sie nicht geheiratet? Nein. Würde dadurch der Lauf der Dinge geändert worden sein? Nein. Also weg mit der Reue, mit den Vorwürfen! Alles war in Ordnung. Es giebt einen Gott für die Betrunknen, die man Verliebte nennt. In seiner Blindheit hatte Marius den Weg eingeschlagen, den er sehend auch gewählt hätte. Die Liebe hatte ihm die Augen verbunden um ihn ins Paradies zu führen.
Aber diesem Paradies war nun etwas Teuflisches beigesellt.
Marius ehemalige Abneigung gegen jenen Menschen, gegen den Fauchelevent, aus dem ein Jean Valjean geworden, war jetzt mit Abscheu verbunden.
Neben diesem Abscheu bestand allerdings noch etwas Mitleid und sogar eine gewisse Verwundrung.
Dieser Dieb, dieser rückfällige Dieb, hatte ihm anvertrautes Geld herausgegeben. Und keine Kleinigkeit! Sechshundert tausend Franken. Er war der Einzige, der um dieses Geld wußte. Er konnte alles behalten und hatte alles ehrlich abgeliefert.
Ferner hatte er aus eignem Antriebe sein Geheimniß offenbart. Nichts zwang ihn zu diesem Schritt. Wenn man wußte, wer er war, so wußte man es durch ihn. Und dieses Geständniß war nicht nur mit einer Demüthigung verbunden, es konnte auch Gefahren nach sich ziehen. Für einen Verurtheilten ist eine Maske mehr als eine Maske: Sie gewährt ihm Schutz vor Verfolgung. Auf diesen Schutz hatte er verzichtet. Ein falscher Name bringt Sicherheit; diesen falschen Namen hatte er von sich geworfen. Er, ein gebrandmarkter Verbrecher, konnte im Schoße einer anständigen Familie eine Zuflucht gewinnen; auch dieser Versuchung hatte er widerstanden. Und aus welchem Grunde? Aus Gewissenhaftigkeit. Das hatte er selbst mit der unwiderstehlichen Logik der Wirklichkeit auseinander gesetzt. Kurz, was für ein Mensch dieser Jean Valjean auch sein mochte, ein moralisches Bewußtsein regte sich in ihm. Es lag hier ein räthselhafter Anfang von Besserung vor und allem Anschein nach war bei diesem Menschen das bessere Ich schon seit längerer Zeit mächtiger, als das schlechtere. Dergleichen Anwandlungen von Rechtsgefühl und Tugend sind aber gemeinen Naturen nicht eigen. Jede Erhebung zu besserer Einsicht beweist Seelengröße.
Jean Valjean war aufrichtig. Diese handgreifliche, unleugbare, durch das Weh, daß sie ihm zufügte, überreichlich bewiesene Aufrichtigkeit machte jede Einziehung von Erkundigungen unnütz, und ließ alles, was der Mann sagte, als zuverlässig erscheinen. Hieraus ergab sich nun für Marius eine absonderliche Umkehrung der Verhältnisse. Hatte er dem unbescholtnen Herrn Fauchelevent Mißtrauen entgegengebracht, so setzte er absolutes Vertrauen in die Worte des Sträflings Jean Valjean.
Indem Marius so das Gute und das Böse an Jean Valjeans Handlungsweise gegeneinander abwog, ermittelte er wohl sein Debet und sein Credit, versuchte aber vergeblich, eine Bilanz zu ziehen. In dem Bestreben, sich von dem moralischen Wesen dieses Menschen eine klare Vorstellung zu machen, indem er so zu sagen in seinem Innern Jean Valjean verfolgte, verlor er ihn aus den Augen und sah seine Gestalt nur undeutlich in einem Nebel wieder.
Die ehrliche Wiedererstattung des ihm anvertrauten Geldes, die Gewissenhaftigkeit des Geständnisses war zu loben, bewirkte eine helle Stelle in der Dunkelheit, aber alles andere blieb schwarz.
So trübe Marius' Erinnerungen auch waren, Einiges konnte er sich doch in's Gedächtnis zurückrufen.
Was hatte es denn schließlich für eine Bewandtniß mit dem Vorfall, der sich in der Jondrette'schen Räuberhöhle abgespielt hatte? Warum war der Mann bei der Ankunft der Polizei entflohen, statt Beschwerde über den Erpressungsversuch zu führen? Auf diese Frage fand Marius die Antwort: Weil der Mann ein Sträfling war, der sich der polizeilichen Aufsicht entzogen hatte.
Eine andre Frage: Warum hatte sich der Mann den Insurgenten angeschlossen? Denn jetzt, in Folge der heftigen Gemüthserregung tauchte diese Erinnrung wieder in seinem Hirn klar empor, wie ein mit sympathetischer Tinte geschriebner Brief in Folge der Wärme des Feuers lesbar wird. Der Mann hatte hinter der Barrikade gestanden. Was hatte er dort zu suchen? Bei dieser Frage richtete sich vor Marius innrem Auge der Geist eines Toten, Javert, auf und antwortete. Er besann sich jetzt ganz deutlich darauf, wie Jean Valjean den gefesselten Javert weggeschleppt und hörte noch den gräßlichen Pistolenschuß, der in der Rue Mondétour gleich darauf gefallen war. Wahrscheinlich bestand Haß zwischen dem Polizeispion und dem Sträfling. Der Eine war dem Andern im Wege, Jean Valjean war nach der Barrikade gegangen, um sich zu rächen. Er war später als die Andern gekommen, also wußte er wohl, daß Javert dort gefangen gehalten wurde. Die korsische Vendetta ist in gewisse, niedere Volksschichten eingedrungen und ist für sie ein Gesetz; die Idee, die ihr zu Grunde liegt, ist so einfach, daß schlichte Naturen, auch wenn sie sich vom Bösen zum Guten gewendet haben, nicht vor ihr zurückschrecken und daß ein reuiger Verbrecher sehr wohl den Diebstahl meiden, aber zugleich die Rache für gerecht halten kann. Jean Valjean hatte Javert umgebracht. Wenigstens war dies das Wahrscheinlichste.
Endlich eine letzte Frage, aber eine solche, auf die sich keine Antwort finden ließ und die ihn in besonderem Grade peinigte. Wie kam es, daß Jean Valjeans Dasein so lange mit Cosetten Hand in Hand gegangen war? In was für einem sonderbaren Spiel hatte sich die Vorsehung gefallen, daß sie dieses Kind mit diesem Manne in Berührung gebracht hatte? Giebt es denn da oben, wie auf den Galeeren hienieden, Ketten, womit zwei Menschen aneinander geschmiedet werden, und gefällt sich Gott darin, einen Engel an einen Teufel zu fesseln? Können denn Verbrechen und Unschuld in dem dunklen Bagno des Elends Stubenkameraden sein? Was hatte diesem unbegreiflichen Bund die Entstehung geben können? Auf welche Weise, in Folge welches Wunders war die Gemeinsamkeit des Lebens zwischen der himmlischen Kleinen und dem alten Verbrecher zu Stande gekommen? Was hatte das Lamm an den Wolf und umgekehrt, was noch merkwürdiger war, den Wolf an das Lamm gefesselt? Denn der Wolf liebte das Lamm, die gefährliche Bestie betete das schwache Wesen an, der Engel hatte neun Jahre lang an dem Dämon einen Beschützer gehabt. Hier zerfaserten sich gewissermaßen die Fragen in unzählbare Räthsel, ein Abgrund stieß hier an den andern und Marius konnte sich nicht ohne Schwindel über Jean Valjeans Seele neigen. Was war denn das für ein Mensch?
Die zu Anfang der Welt geschaffnen Menschentypen sind ewige; immerdar werden in der menschlichen Gesellschaft, so wie sie jetzt ist, bis zu dem Tage, wie sie sich in Folge höherer Erkenntniß veredeln wird, zwei Arten von Menschen bestehen: solche die zum Licht des Himmels aufblicken, und solche die, im Finstern kriechen; der nach dem Urbild des Guten geformte ist Abel, der Sohn des Bösen ist Kain. Was wär das für ein Bandit, der sich so fromm mit der Anbetung einer Jungfrau beschäftigte, sie erzog, sie hütete, sie in Reinheit hüllte, da er selbst doch unrein war? Seit wann läßt es sich denn die Finsterniß angelegen sein, den Aufgang eines Gestirns vor jedem Schatten, jeder Wolke zu bewahren?
Das wußte nur Jean Valjean und Gott.
Vor diesem Geheimniß wich Marius zurück. Es beruhigte ihn, daß Gottes Mitwirkung hier ebenso augenscheinlich war, wie die Jean Valjeans. Gott bedient sich der Werkzeuge, die er für gut hält und ist dem Menschen nicht verantwortlich. Wissen wir, wie Gott verfährt? Cosette war unzweifelhaft zum Theil Jean Valjeans Werk. Aber was schadete das? Der Arbeiter war ein greulicher Mensch; aber seine Arbeit war bewundernswürdig. Gott bringt seine Wunder so hervor, wie es ihm beliebt. Er hatte die reizende Cosette gebildet und Jean Valjean dabei verwendet. Es hatte ihm nun einmal gefallen, einen so sonderbaren Mitarbeiter heranzuziehen. Dürfen wir Rechenschaft von ihm verlangen? Ist es das erste mal, daß der Mist dem Frühling die Rose machen hilft?
Diese Antworten gab sich Marius und erklärte, daß sie die richtigen seien. In Bezug auf alle die angedeuteten Punkte hatte er es nicht gewagt, in Jean Valjean zu dringen, ohne daß er sich selbst diesen Mangel an Muth eingestand. Er betete Cosette an, sie war die Seine, sie war hoch erhaben über allen Verdacht. Das genügte ihm. Welcher Aufklärung hätte er nun noch bedurft? Wozu eine so lichtvolle Gestalt beleuchten? Er hatte Alles; was konnte er noch wünschen? Alles! Ist das nicht genug? Jean Valjeans persönliche Angelegenheiten gingen ihn nichts an. Aus Allem, was der Unglückliche ihm gesagt hatte, griff er sich eine feierliche Erklärung heraus, an die er sich fest anklammerte: »Ich bin nicht mit Cosette verwandt. Vor zehn Jahren wußte ich nicht, daß sie existirte.«
Jean Valjean hatte selber gesagt, daß er in Cosettens Leben nur vorübergehend eingegriffen. Jetzt war seine Rolle ausgespielt. Jetzt war Marius dazu berufen, als ihre Vorsehung aufzutreten. Cosette war zum Aether emporgestiegen und hatte dort ihren Geliebten, ihren Gatten, ihr männliches Gegenbild wiedergefunden. Indem sie ihre Flügel entfaltete, hatte sie, ein lieblicher Schmetterling, ihre häßliche Puppe, Jean Valjean, auf der Erde zurückgelassen.
In welchem Ideenkreise sich Marius auch herumdrehte, er kam immer auf einen gewissen Abscheu zurück, den er Jean Valjean gegenüber empfand. Ein Abscheu, dem Ehrfurcht beigemischt war, denn er fühlte, wie schon angedeutet, daß dieser Mann ein quid divinum barg. Denn mochte er alles drehen und wenden wie er wollte, um es zum Guten auslegen zu können, er mußte doch immer das festhalten, daß Jean Valjean ein Sträfling war, d. h. einer von denen, die auf der Stufenleiter der menschlichen Gesellschaft keine Stelle haben, da sie unter der letzten Sprosse stehen. Der Zuchthäusler kommt erst nach dem Letzten, wird so zu sagen von den Lebenden nicht für Ihresgleichen gehalten. Das Gesetz hat ihn desjenigen Quantums Menschenthum, das es einem Menschen nehmen kann, für verlustig erklärt. Marius aber stand noch, obgleich Demokrat, auf dem alten Standpunkt des unerbittlichen Strafgesetzbuches und hatte über Diejenigen, die das Gesetz bestraft, die Ideeen des Gesetzes. Er stand leider noch nicht in jeder Hinsicht auf der Höhe des Fortschritts. Er war noch nicht so weit, daß er zwischen dem, was vom Menschen und dem was von Gott geschrieben ist, zwischen dem Gesetz und der Gerechtigkeit, hätte einen Unterschied machen können. Er hatte das Recht, das der Mensch sich herausnimmt, eine unwiderrufliche und nicht wieder gut zu machende Entscheidung zu treffen, noch nicht geprüft und gewogen. Das Wort »Ahndung« empörte ihn nicht. Er fand es selbstverständlich, daß auf gewisse Uebertretungen des Gesetzes lebenslängliche Strafen folgen und er billigte die Erklärung in die gesellschaftliche Acht als Civilisationsmittel. Dies war damals sein Standpunkt, denn er war sicher dazu berufen, späterhin weiter vorzuschreiten, da er von Natur gut und in seinem Innersten voll latenten Fortschritts war.
Indem er ihn von diesem Gesichtspunkte aus betrachtete, war Jean Valjean für ihn eine anormale und abstoßende Erscheinung, ein Verworfener, ein »Galeerensklave«. Letzteres Wort war bei ihm gleichbedeutend mit einem Trompetenstoß des jüngsten Gerichts und nachdem er über Jean Valjean lange nachgedacht, wandte er zuletzt das Haupt von ihm ab: »Weiche von mir, Satanas!«
Es muß anerkannt und sogar hervorgehoben werden, daß Marius, obgleich er Jean Valjean mit einigem Nachdruck ausgeforscht hatte, es doch unterließ, zwei oder drei entscheidende Fragen an ihn zu stellen. Nicht als ob sie sich nicht seinem Geiste dargeboten hätten, aber er hatte sich gefürchtet, sie zu äußern. Wie erklärte Jean Valjean sein Verhalten in der Jondrette'schen Räuberhöhle, auf der Barrikade und gegenüber Javert? Wer weiß, wohin die Enthüllung dieser Geheimnisse geführt hätte? Jean Valjean war wohl nicht der Mann, der feige zurückweicht, und wer weiß, ob Marius, nachdem er ihn vorwärts getrieben, nicht gewünscht haben würde, er könnte ihn zurückhalten? Ist es nicht uns Allen in gewissen, entscheidungsvollen Lagen passirt, daß wir eine Frage gethan und uns dann die Ohren zugehalten haben, um die Antwort nicht zu hören? Besonders wenn die Frage Jemand betrifft, den wir lieben, sind derartige Anwandlungen von Feigheit gewöhnlich. Es ist nicht vernünftig, gefährliche Geheimnisse zu gründlich erforschen zu wollen, besonders wenn dadurch die Grundlagen unseres eigenen Glückes erschüttert werden könnten. Wenn Jean Valjean zur Verzweiflung getrieben wurde, so konnte er irgend eine entsetzliche Aufklärung liefern, die vielleicht Cosette selber geschadet hätte. Wer weiß, ob dabei nicht etwas Höllenunflat auf die Stirn des Engels gespritzt worden wäre? Geht doch das Schicksal bisweilen solidarisch vor gegen das Verbrechen und die Unschuld und an dem Reinsten kann etwas haften bleiben, wenn er lange mit dem Gemeinen in Berührung gewesen ist. Mit Recht oder Unrecht also war Marius der Sache nicht auf den Grund gegangen. Er wußte ohnehin schon zu viel und es war ihm mehr daran gelegen, sich zu betäuben, als klar zu sehen. Erschrocken wie er war, rettete er bloß seine Cosette und lenkte von Jean Valjean seinen Blick ab.
Bei dieser Gemüthsverfassung verursachte Marius der Gedanke, daß solch ein Mensch zu Cosette in irgend welchen Beziehungen stehen sollte, große Verlegenheit und Pein. Jetzt machte er sich beinahe Vorwürfe, weil er nicht jene gefährlichen Fragen gestellt hatte, vor denen er zurückgewichen war und die ihm vielleicht Anlaß gegeben hätten, eine schroffe und definitive Entscheidung zu treffen. Er fand, daß er zu gut, zu milde, ja gerade herausgesagt, zu schwach gewesen sei. Diese Schwäche hatte ihn zu einem unklugen Zugeständniß verleitet. Er hatte sich erweichen lassen und das war eine Thorheit. Es wäre besser gewesen, er hätte Jean Valjeans Bitte einfach abgelehnt. Wie man einen Theil eines brennenden Hauses dem Feuer überläßt und seine Kräfte auf die Rettung des andern Theiles konzentrirt, so hätte er Jean Valjean opfern, ihn sich vom Halse schaffen sollen. Er war ärgerlich über sich, er zürnte den Empfindungen, die so plötzlich auf ihn eingestürmt waren, daß sie ihn betäubt, geblendet und ihn in ihrem Wirbel mit sich fortgerissen hatten. Kurz, er war unzufrieden mit sich selber.
Was sollte er jetzt thun? Jean Valjeans Besuche waren ihm im Grunde der Seele zuwider. Was konnte dabei Gutes herauskommen? In Bezug auf diesen Punkt betrog er sich selber und hütete sich geflissentlich das moralische Problem zu prüfen und in die Tiefen seines Innern zu blicken. Er hatte sich ein Versprechen abdringen lassen, aber Jean Valjean hatte doch nun einmal sein Wort und selbst wenn man einem Galeerensklaven, ja besonders wenn man einem Galeerensklaven sein Wort gegeben hat, soll man es halten. Indessen gingen seine Pflichten gegen Cosette vor. In der Hauptsache aber bestimmte ihn die Abneigung gegen Jean Valjean.
Alle diese Gedanken gelangten ihm nur unklar ins Bewußtsein, lösten sich gegenseitig ab und erregten ihn gleich heftig, so daß er sich stark beunruhigt fühlte. Diese Gemüthsaufregung vor Cosette zu verbergen fiel ihm nicht leicht, aber die Liebe ist eine gute Lehrerin und Marius brachte es fertig.
Im Uebrigen fragte er noch, ohne Absicht merken zu lassen, Cosette aus, die nichts ahnte und ihm unbefangen, unschuldsvoll wie ein Täubchen antwortete; er veranlaßte sie, ihm alles Mögliche über ihre Vergangenheit zu erzählen und überzeugte sich mehr und mehr, daß der ehemalige Insasse des Zuchthauses in jeder Hinsicht liebevoll, väterlich und ehrenhaft an ihr gehandelt hatte. Alles, was Marius geahnt und vorausgesetzt hatte, erwies sich als wirklich. Die häßliche Nessel hatte die Lilie geliebt und beschützt.