Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Zweiter Band
Victor Hugo

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Siebentes Buch.

1. Es ist gefährlich, sein Geheimnis einer Ziege anzuvertrauen.

Mehrere Wochen waren verflossen. Es war in den ersten Tagen des März. Die Sonne, welche Dubartas, dieser klassische Vorfahr der Umschreibung, noch nicht »den Großherzog unter den Lichtern« genannt hatte, war deswegen nicht weniger freudig und strahlend. Es war einer von den Frühlingstagen, die so mild und schön sind, daß ganz Paris sie auf Plätzen und Spaziergängen wie Sonntage feiert. An solchen hellen, warmen und heitern Tagen ist es vorzüglich eine bestimmte Stunde, wo man das Portal von Notre-Dame bewundern muß. Es ist der Augenblick, wo die schon zum Untergange sich neigende Sonne der Kathedrale gerade gegenüber steht. Ihre immer wagrechter fallenden Strahlen entfernen sich allmählich vom Pflaster des Platzes und steigen senkrecht längs der Façade in die Höhe, wo sie die unzähligen runden Erhöhungen aus ihrem Schatten hervortreten lassen, während die große Mittelrosette wie ein im Wiederscheine der Schmiedeesse glühendes Cyklopenauge flammt.

Es war um jene Stunde.

Gegenüber der hohen, vom Abendstrahle gerötheten Kathedrale, auf dem steinernen Balkone, der über der Thürhalle eines reichen gothischen Hauses, das die Ecke des Platzes und der Domhofstraße bildete, angebracht war, saßen lachend und allerlei Scherz treibend mehrere hübsche, junge Mädchen. An der Länge des Schleiers, welcher von der Spitze der perlenumwundenen Haube bis auf die Hacken fiel, an der Feinheit des gestickten Hemdchens, welches ihre Schultern bedeckte, und nach der einnehmenden Mode von damals die Rundung des jungfräulich schönen Busens erkennen ließ; an dem Reichthume ihrer Unterkleider, welche (merkwürdiger Geschmack!) noch kostbarer waren, als das Oberkleid, an der Gaze, Seide, dem Sammet, mit dem alles ausstaffirt war, – vor allem aber an der Weiße ihrer Hände, welche ein müßiges und arbeitsloses Dasein bezeugten, war es leicht, adlige und reiche Erbinnen zu errathen. In der That war es Fräulein Fleur-de-Lys von Gondelaurier und ihre Gespielinnen: Diane von Christeuil, Amelotte von Montmichel, Colombe von Gaillefontaine und die Kleine von Champchevrier, – alles Mädchen aus gutem Hause, die in diesem Augenblicke bei der verwitweten Frau von Gondelaurier versammelt waren, des durchlauchtigen Herrn von Beaujeu und seiner Frau Gemahlin wegen, die im Monate April nach Paris kommen und hier ein Ehrengeleit für die Frau Kronprinzessin Margarethe auswählen sollten, da man diese in der Picardie aus den Händen der Flamländer in Empfang nehmen mußte. Nun bewarben sich alle Krautjunker auf dreißig Meilen in der Runde um diese Ehre für ihre Töchter, und eine große Zahl von ihnen hatte dieselben schon nach Paris gebracht oder geschickt. Diese hier waren von ihren Eltern der vorsichtigen und treuen Obhut der Frau Aloïse von Gondelaurier anvertraut worden, der Witwe eines frühern Hauptmanns der königlichen Bogenschützen, die sich mit ihrer einzigen Tochter in ihr Haus am Domplatze von Notre-Dame in Paris zurückgezogen hatte.

Der Balkon, wo sich die jungen Mädchen befanden, öffnete sich auf ein Zimmer, das mit gelbfarbigem, goldgepreßten flandrischen Leder reich tapezirt war. Die Deckenbalken, welche parallel neben einander herliefen, ergötzten das Auge durch ihre tausend seltsamen, farbigen und vergoldeten Schnitzereien. An den geschnitzten Truhen schillerten hier und da glänzende Stücke Email; ein Eberkopf aus Fayence krönte einen prachtvollen Schenktisch, dessen zwiefache Stufen anzeigten, daß die Besitzerin des Hauses Gemahlin oder Witwe eines Ritters aus des Königs Heerbann wäre. Im Hintergrunde, zur Seite eines wappengeschmückten und von oben bis unten mit Schildereien bedeckten Kamins, saß in einem reichen, rothsammetnen Lehnstuhle Frau von Gondelaurier, deren fünfzig Jahre an ihrem Anzuge sowohl, wie auf ihrem Antlitze erkennbar waren. Neben ihr stand ein junger Mann von ziemlich stolzem Aussehen, wenn auch ein wenig eitel und großprahlerisch: einer von den hübschen jungen Herren, über die alle Frauen einig sind, wiewohl erfahrene Männer und Menschenkenner die Achseln über sie zucken. Der junge Mann trug das glänzende Gewand eines Ordonnanz-Hauptmanns der königlichen Bogenschützen, welches dem Costüme Jupiters, wie wir es schon im ersten Buche dieser Geschichte kennen gelernt haben, zu ähnlich sah, als daß wir den Leser mit einer zweiten Beschreibung desselben langweilen möchten.

Die jungen Mädchen saßen theils im Zimmer, theils auf dem Balkone; die einen auf Polstern von Utrechter Sammet mit goldenen Eckzieraten, die andern auf Fußschemeln aus Eichenholze, die mit Blumen- und Figurenschnitzereien geschmückt waren. Jede von ihnen hielt auf dem Schooße einen Zipfel von einer großen Nadelstickerei, an welcher sie gemeinschaftlich arbeiteten, und von der ein großes Stück auf die Strohmatte hinabfiel, womit der Fußboden bedeckt war.

Sie plauderten unter einander mit der zischelnden Stimme und dem leisen, erstickten Lachen einer Gesellschaft junger Mädchen, in deren Mitte sich ein junger Mann befindet. Der junge Mann, dessen Gegenwart hinreichte, alle weiblichen Eitelkeiten anzuregen, schien sich selbst wenig um sie zu kümmern; und während die hübschen Mädchen überlegten, auf welche er seine Aufmerksamkeit wohl lenken würde, schien er hauptsächlich damit beschäftigt, mit seinem Handschuh von Damhirschleder die Schnalle seines Degengehenkes zu putzen.

Von Zeit zu Zeit richtete die alte Dame ganz leise das Wort an ihn, und er antwortete ihr nach Möglichkeit mit einer gewissen linkischen und erzwungenen Höflichkeit. Am Lächeln, an dem kleinen Zeichen des Einverständnisses, an dem Augenzwinkern, welches Frau Aloïse an ihre Tochter Fleur-de-Lys richtete, während sie leise mit dem Hauptmanne sprach, konnte man leicht ersehen, daß es sich um eine abgeschlossene Verlobung, um eine wahrscheinlich nahe Verheiratung zwischen dem jungen Manne und Fleur-de-Lys handelte. Aber an der angenommenen Gleichgültigkeit des Offiziers konnte man, von seiner Seite wenigstens, leicht ersehen, daß von Liebe keine Rede sein konnte. Sein ganzes Geberdenspiel drückte Verlegenheit und Langeweile aus: ein Etwas, das unsere Garnisonlieutenants von heute eigentümlicherweise mit »Welche Hundelangeweile!« in ihrer Sprache bezeichnen würden.

Die gute Frau, welche von ihrer Tochter so eingenommen war, wie es eine arme Mutter nur sein kann, bemerkte die geringe Begeisterung des Offiziers nicht, und bemühte sich, ihm ganz leise die unendliche Geschicklichkeit bemerklich zu machen, mit welcher Fleur-de-Lys ihre Nadel handhabte und ihre Strähne aufwickelte.

»Sehet, Cousinchen,« sagte sie, indem sie ihn am Aermel zog, um ihm ins Ohr zu flüstern, »betrachtet sie doch, wie sie sich auf die Arbeit bückt.«

»In der That,« antwortete der junge Mann und verfiel wieder in sein zerstreutes und eisiges Schweigen.

Einen Augenblick darauf mußte er sich wieder herunterneigen und Frau Aloïse sagte zu ihm:

»Habt Ihr je ein einnehmenderes und anmuthigeres Wesen gesehen, als Eure Braut? Kann man weißer und blonder sein? Sind ihre Hände nicht tadellos? Und nimmt der Hals da zum Entzücken nicht alle Biegungen des Schwanes an? Wie beneide ich Euch manchmal! Und was seid Ihr glücklich, ein Mann zu sein, kleiner Leichtfuß, Ihr! Ist meine Fleur-de-Lys nicht schön zum anbeten, und seid Ihr nicht sterblich in sie verliebt?«

»Zweifelsohne,« antwortete er und dachte an etwas ganz anderes.

»Aber sprecht doch mit ihr,« sagte plötzlich Frau Aloïse und schob ihn an der Schulter vor, »sagt ihr doch etwas; Ihr seid recht schüchtern geworden.«

Wir können unsern Lesern die Versicherung geben, daß Schüchternheit weder eine Tugend noch ein Fehler des Hauptmanns war. Er versuchte jedoch zu thun, was man von ihm verlangte.

»Schöne Cousine,« sagte er, indem er zu Fleur-de-Lys trat, »was ist der Gegenstand dieser Stickereiarbeit, die Ihr da ausführt?«

»Schöner Vetter,« entgegnete Fleur-de-Lys mit unwilligem Tone, »ich habe es Euch schon dreimal gesagt: es ist die Grotte des Neptunus.«

Offenbar las Fleur-de-Lys viel deutlicher, als ihre Mutter in dem kalten und zerstreuten Betragen des Hauptmanns. Er fühlte die Nothwendigkeit irgend welche Unterhaltung zu beginnen.

»Und für wen ist diese ganze Neptunerei?« fragte er.

»Für die Abtei Saint-Antoine-des-Champs,« sagte Fleur-de-Lys, ohne die Augen aufzuschlagen.

Der Hauptmann faßte einen Zipfel der Stickerei.

»Wer ist, meine schöne Cousine, der dicke Gendarm, der mit vollen Backen in eine Trompete bläst?«

»Das ist Triton,« antwortete sie.

Es war immer noch ein schmollender Ton in den kurzen Worten von Fleur-de-Lys. Der junge Mann begriff, daß es unerläßlich wäre, ihr irgend etwas ins Ohr zu flüstern: eine Abgeschmacktheit, eine Galanterie, gleichgiltig was. Er neigte sich also zu ihr; aber er konnte nichts Zarteres und Vertraulicheres in seiner Einbildungskraft finden, als folgendes: »Warum trägt Eure Mutter immer noch ein solches wappengeziertes Rockwunder, wie unsere Großmutter zur Zeit Karls des Siebenten? Sagt ihr doch, schöne Cousine, daß das jetzt nicht mehr geschmackvoll ist, und daß der als Wappen aufs Kleid gestickte Haspen und Lorbeerbaum ihr das Ansehen eines wandelnden Kaminmantels geben. Wahrhaftig, man setzt sich nicht mehr so auf sein Bannerwappen, ich schwöre es Euch.«

Fleur-de-Lys schlug ihre schönen Augen mit dem Ausdrucke des Tadels auf:

»Ist das alles, was Ihr mir schwört?« sagte sie mit leiser Stimme.

Währenddem sagte die gute Frau Aloïse, die beide zu einander geneigt und flüstern sah, während sie mit dem Schließen ihres Gebetbuches spielte:

»Rührendes Bild der Liebe!«

Der Hauptmann, welcher immer verlegener wurde, wendete sich plötzlich nach der Stickerei hin und rief: »Das ist wahrlich eine reizende Arbeit.«

Bei dieser Gelegenheit wagte Colombe von Gaillefontaine, eine andere schöne Blondine mit weißem Teint, die in ein schönes blaues Damastgewand gekleidet war, schüchtern ein Wort an Fleur-de-Lys zu richten, in der Hoffnung, daß der schöne Hauptmann darauf antworten möchte: »Meine liebe Gondelaurier, habt Ihr die Stickereien im Hotel von la Roche-Guyon gesehen?«

»Ist das nicht das Hotel, wo der Garten der Weißzeugaufseherin des Louvre eingeschlossen ist?« fragte lachend Diana von Christeuil, die schöne Zähne hatte und daher bei jeder Gelegenheit lachte.

»Und wo jener große alte Thurm der alten Festungsmauer von Paris ist?« fügte Amelotte von Montmichel hinzu, eine reizende, lockige Brünette, die gewöhnlich, und ohne zu wissen warum, seufzte, während die andern lachten.

»Meine liebe Colombe,« entgegnete Frau Aloïse, »meint Ihr etwa das Hotel, welches zur Zeit Karls des Sechsten dem Herrn von Bacqueville gehörte? Da sind allerdings die köstlichsten Haute-Lice-Stickereien zu sehen.«

»Karl der Sechste! Karl der Sechste!« murmelte der junge Hauptmann und strich sich den Schnurrbart, »mein Gott, an was für alte Geschichten sich die gute Frau erinnert!«

Frau von Gondelaurier fuhr fort: »Schöne Stickereien, in Wahrheit; eine Arbeit, die so hoch geschätzt wird, daß sie für einzig gilt!«

In diesem Augenblicke rief Bérangère von Champchevrier, ein schlankes kleines Mädchen von sieben Jahren, welches durch das Balkongitter auf den Platz hinabsah:

»Ach, sehet, liebe Pathe Fleur-de-Lys! Die hübsche Tänzerin, die da auf der Straße tanzt und mitten unter den Leuten ihr Tamburin schlägt!«

In der That hörte man das dumpfe Rasseln einer baskischen Trommel.

»Irgend eine Zigeunerin aus Böhmen,« sagte Fleur-de-Lys und wandte sich nachlässig nach dem Platze hin.

»Laßt sehen! laßt sehen!« riefen ihre lebhaften Gefährtinnen, und alle eilten sie an den Rand des Balkons, während Fleur-de-Lys, nachdenklich über die Kälte ihres Verlobten, ihnen langsam folgte; dieser aber, froh über diesen Zwischenfall, welcher eine lästige Unterhaltung abschnitt, zog sich mit der befriedigten Miene eines abgelösten Soldaten in den Hintergrund des Zimmers zurück. Es war doch eigentlich ein angenehmer und reizender Dienst, der bei der schönen Fleur-de-Lys, und er war ihm als solcher früher auch erschienen; aber der Hauptmann wurde nach und nach gleichgiltig; die Aussicht auf eine bevorstehende Heirath machte ihn von Tag zu Tag kälter. Uebrigens hatte er ein unruhiges Temperament und – es kann nicht verschwiegen werden – einen etwas gewöhnlichen Geschmack. Obgleich von sehr hoher Geburt, hatte er mit dem Harnisch manche Gewohnheiten des Kriegerstandes angenommen. Das Wirthshausleben gefiel ihm, und was damit zusammenhängt. Er fühlte sich nur wohl bei schlüpfriger Unterhaltung, soldatischen Liebeshändeln, gefälligen Schönen und leichten Eroberungen. Er hatte allerdings von Haus aus eine gewisse Erziehung und Bildung genossen, war aber zu jung eigener Herr geworden, zu jung in das Garnisonleben gekommen, und täglich schwand der edelmännische Schliff mehr unter den Reibungen seines Soldatenwehrgehänges. Wenn er Fleur-de-Lys auch noch zeitweilig und infolge eines Restes von freundlicher Achtung besuchte, so fühlte er sich doppelt befangen bei ihr: einmal weil er sein Liebesgefühl zu sehr an allerlei andern Orten vergeudete, und nur sehr wenig für sie übrig blieb; dann, weil er unter so vielen steifen, eleganten und sittsamen Frauen stets fürchtete, daß sein ans Fluchen gewöhnter Mund plötzlich einmal das Maul recht vollnehmen und ihm Schenkstubenredensarten entwischen möchten. Man denke sich die schöne Wirkung!

Uebrigens verband sich das alles bei ihm mit großen Ansprüchen auf Anmuth, Kleiderpracht und Schönheit. Das vereinige nun ein jeder, wie er kann; ich berichte es nur.

Er hatte sich also, wer weiß mit welchen Gedanken beschäftigt, seit einigen Augenblicken schweigend an die verzierte Kamineinfassung gelehnt, als sich Fleur-de-Lys plötzlich umdrehte und an ihn wandte. Das arme Mädchen schmollte nach alledem nur, weil es seinem Herzen Zwang anthat.

»Schöner Vetter, habt Ihr uns nicht von einer kleinen Zigeunerin erzählt, welche Ihr vor zwei Monaten bei der Nachtronde aus den Händen eines Dutzend Räuber gerettet habt?«

»Ich glaube, ja, schöne Cousine,« sagte der Hauptmann.

»Nun gut!« versetzte sie; »das ist vielleicht diese Zigeunerin, welche da unten auf dem Vorplatze tanzt. Kommt, seht selbst, ob Ihr sie wiedererkennt, schöner Vetter Phöbus.«

Es zeigte sich ein geheimer Wunsch nach Versöhnung in dieser sanften Aufforderung, welche sie an ihn richtete, zu ihr zu kommen, und in der Aufmerksamkeit, mit welcher sie ihn beim Namen rief. Der Hauptmann Phöbus von Châteaupers (denn er ist's, den der Leser seit Anfang dieses Kapitels vor sich sieht) näherte sich langsamen Schrittes dem Balkone. »Da,« sagte Fleur-de-Lys zu ihm und legte sanft ihre Hand auf Phöbus' Arm, »sehet jene Kleine, welche da im Kreise tanzt. Ist das Eure Zigeunerin?«

Phöbus sah hin und sagte:

»Ja, ich erkenne sie an ihrer Ziege wieder.«

»Ach, die hübsche, kleine Ziege, in der That!« sagte Amelotte, indem sie vor Bewunderung die Hände zusammenschlug.

»Sind ihre Hörner wirklich von Gold?« fragte Bérangère.

Ohne sich von ihrem Stuhle zu erheben, nahm Frau Aloïse das Wort: »Ist sie nicht eine von den Zigeunerinnen, welche voriges Jahr durch das Gibard-Thor hereingekommen sind?«

»Liebe Frau Mutter,« sagte Fleur-de-Lys sanft, »dieses Thor heißt jetzt das Höllenthor.«

Fräulein von Gondelaurier wußte, wie sehr der Hauptmann an den veralteten Redeformen ihrer Mutter Anstoß nahm.

In der That begann er höhnisch lachend zwischen den Zähnen zu murmeln: »Gibard-Thor! Gibard-Thor! Wahrscheinlich eins, um König Karl den Sechsten einziehen zu lassen!«

»Pathe,« rief Bérangère, deren immer bewegliche Augen sich auf einmal nach der Spitze der Thürme von Notre-Dame erhoben hatten, »was ist das für ein schwarzer Mann da oben?«

Die jungen Mädchen sahen alle in die Höhe. In der That lehnte ein Mann an dem Dachgeländer des nördlichen Thurmes nach dem Grèveplatze zu. Es war ein Priester. Man unterschied deutlich seine Kleidung und das auf seine beiden Hände gestützte Gesicht. Uebrigens stand er gerade wie eine Bildsäule da. Sein Auge war starr auf den Platz in der Tiefe gerichtet. Er hatte etwas von der Unbeweglichkeit eines Thurmfalken an sich, welcher soeben ein Sperlingsnest entdeckt hat und dasselbe betrachtet.

»Das ist der Herr Archidiaconus von Josas,« sagte Fleur-de-Lys.

»Ihr habt gute Augen, wenn Ihr ihn von hier aus erkennt,« bemerkte die Gaillefontaine.

»Wie er die kleine Tänzerin betrachtet!« entgegnete Diana von Christeuil.

»Wehe der Zigeunerin!« sagte Fleur-de-Lys, »er liebt Aegypten nicht.«

»Es ist sehr schade, daß dieser Mann sie so ansieht,« warf Amelotte von Montmichel ein, »denn sie tanzt zum Entzücken!«

»Schöner Vetter Phöbus,« sagte auf einmal Fleur-de-Lys, »da Ihr die kleine Zigeunerin kennt, gebt ihr doch ein Zeichen heraufzukommen; das wird uns unterhalten.«

»Ach ja!« riefen die jungen Mädchen alle, indem sie in die Hände klatschten.

»Aber das ist ein närrischer Einfall,« antwortete Phöbus. »Sie hat mich gewiß vergessen, und ich weiß nicht einmal ihren Namen. Doch weil ihr es wünscht, werthe Fräulein, will ich's versuchen.« Er beugte sich über die Balustrade des Balkons und begann zu rufen: »Kleine!«

Die Tänzerin schlug in diesem Augenblicke das Tamburin nicht. Sie wandte den Kopf nach der Richtung hin, von wo der Ruf zu ihr kam; ihr glänzender Blick haftete auf Phöbus, und ganz plötzlich hielt sie inne.

»Kleine!« wiederholte der Hauptmann und machte ihr mit dem Finger ein Zeichen, zu kommen.

Das junge Mädchen sah ihn wieder an, dann erröthete sie, als ob ihr eine Flamme in die Wangen gestiegen wäre; und während sie ihr Tamburin unter den Arm nahm, schritt sie mitten durch die verwunderten Zuschauer auf die Thür des Hauses zu, wo Phöbus sie rief; langsam war ihr Schritt und schwankend, ihr Blick verstört, wie der eines Vogels, welcher der Zauberwirkung einer Schlange folgt.

Einen Augenblick darauf hob sich der gestickte Thürvorhang und die Zigeunerin erschien roth, bestürzt, athemlos auf der Schwelle der Thür; ihre großen Augen waren niedergeschlagen; sie wagte keinen Schritt weiter zu thun.

Bérangère klatschte in die Hände.

Währenddem blieb die Tänzerin unbeweglich auf der Thürschwelle stehen. Ihre Erscheinung hatte auf die Gruppe der jungen Mädchen eine sonderbare Wirkung hervorgebracht. Sicher belebte ein undeutlicher und unbestimmter Wunsch, dem schönen Offizier zu gefallen, alle zugleich; gewiß war seine glänzende Uniform das Ziel aller ihrer Koketterien, und ebenso sicher war seit seiner Gegenwart eine gewisse geheime, versteckte Eifersucht bei ihnen vorhanden, welche sie sich selbst kaum zu gestehen wagten, die aber nichts desto weniger alle Augenblicke aus ihren Geberden und Worten hervorleuchtete. Doch, da sie beinahe alle an Schönheit auf derselben Stufe standen, so kämpften sie mit gleichen Waffen, und jede konnte auf Sieg hoffen. Die Ankunft der Zigeunerin störte sofort dieses Gleichgewicht. Sie war von so seltener Schönheit, daß in dem Augenblicke, wo sie am Eingange zum Zimmer erschien, es war, als ob sie da eine Art von ihr ganz eigenem Glanze ausstrahlte. In diesem engen Zimmer, in diesem düstern Rahmen von Tapeten und Wandtäfelungen war sie unvergleichlich schöner und strahlender, als auf dem freien Platze. Sie war wie eine Leuchte, welche soeben Tageshelle in die Dunkelheit gebracht hatte. Die adligen Fräulein wurden widerwillig davon hingerissen. Jede fühlte sich gewissermaßen an ihrer Schönheit verwundet. Daher änderte sich ihr Schlachtplan (man gestatte uns diese Bezeichnung) auf der Stelle, ohne daß sie ein Wort verloren. Aber sie verstanden sich wunderbarerweise. Die Gefühle der Frauen verstehen und entsprechen sich schneller, als der Geist der Männer. Es war für sie eine Feindin gekommen: alle fühlten es, alle verbanden sich. Wie ein Tropfen Wein genügt, um ein Glas Wasser zu röthen, so genügt das Erscheinen einer schönern Frau, um eine ganze Versammlung hübscher Weiber in eine gewisse Stimmung zu versetzen – zumal wenn sich nur ein Mann unter ihnen befindet.

Deshalb war der Empfang, welcher der Zigeunerin bereitet wurde, ein merkwürdig eisiger. Man betrachtete sie von Kopf bis zu Fuß, man sah sich dann unter einander an, und alles war gesagt: sie hatten sich verstanden. Indessen wartete das junge Mädchen, bis man sie anredete; und so bewegt war sie, daß sie nicht wagte die Augen aufzuschlagen.

Der Hauptmann brach das Schweigen zuerst. »Auf mein Wort,« sagte er mit seiner unerschrockenen Albernheit, »das ist ein reizendes Geschöpf! Was meint Ihr dazu, schöne Cousine?«

Diese Bemerkung, welche ein feinfühlenderer Bewunderer wenigstens leise gemacht hätte, war nicht derart, um die Eifersucht der Weiber zu verscheuchen, die vor der Zigeunerin auf der Lauer standen. Fleur-de-Lys antwortete dem Hauptmann mit einem süßlichen, affectirten Tone von Nichtachtung: »Nicht übel.«

Die andern zischelten.

Endlich sprach Frau Aloïse, die aus Interesse für ihre Tochter nicht weniger eifersüchtig war, zu der Tänzerin: »Tritt näher, Kleine!«

»Tritt näher, Kleine!« wiederholte mit komischer Würde Bérangère, welche ihr vielleicht bis an die Hüfte reichen mochte.

Die Zigeunerin bewegte sich nach der Edelfrau hin.

»Schönes Kind,« sagte Phöbus ausdrucksvoll und that seinerseits einige Schritte nach ihr hin, »ich weiß nicht, ob ich das große Glück habe, von Euch wiedererkannt zu werden . . .«

Sie unterbrach ihn, indem sie ein Lächeln und einen Blick voll unendlicher Lieblichkeit auf ihn richtete. »Oh! ja!« sagte sie.

»Sie hat ein gutes Gedächtnis,« bemerkte Fleur-de-Lys.

»Nun ja,« entgegnete Phöbus, »Ihr seid mir an jenem Abende sehr flink entwischt. Habe ich Euch Furcht eingeflößt?«

»Ach, nein!« sagte die Zigeunerin.

In dem Tone, mit welchem dieses »Ach, nein« nach jenem »Oh, ja« gesagt wurde, lag etwas so Unaussprechliches, daß Fleur-de-Lys davon verletzt wurde.

»Ihr habt mir, meine Theure,« fuhr der Hauptmann fort, dessen Zunge sich im Gespräche mit einem Straßenmädchen löste, »an Eurer Stelle einen ziemlich sauertöpfischen, einäugigen und buckligen Schuft, den Glöckner des Bischofs, wie ich glaube, zurückgelassen. Man hat mir gesagt, er wäre der Bastard eines Archidiaconus und ein Teufel von Geburt an. Er hat einen spaßhaften Namen: er nennt sich Quatember, Palmsonntag, Fastnacht – was weiß ich! – kurzum mit dem Namen eines hohen Festtages. Er nahm sich also heraus, Euch zu entführen, als ob Ihr für Kirchendiener geschaffen wäret! Das ist stark! Was, zum Teufel! wollte denn diese Nachteule von Euch? Wie? sagt doch!«

»Ich weiß nicht,« antwortete sie.

»Begreife man die Frechheit! Ein Glockenläuter ein Mädchen entführen, wie ein Baron! Ein Bauer das Wild der Edelleute wilddieben! Das ist einzig! Uebrigens, er hat es theuer bezahlt! Meister Pierrat Torterue ist der roheste Stallknecht, der jemals einen Schurken gestriegelt hat; und ich kann Euch sagen, wenn's Euch angenehm ist, daß das Fell Eures Glöckners ihm artig durch die Hände gegangen ist.«

»Der arme Mensch,« sagte die Zigeunerin, bei der diese Worte die Erinnerung an die Scene beim Pranger zurückriefen.

Der Hauptmann brach in Lachen aus. »Beim Horne des Teufels! hier wäre Mitleid ebenso angebracht, wie eine Feder am Hintern eines Schweines! Ich will ein Dickbauch sein, wie der Papst, wenn . . .«

Er hielt plötzlich inne. »Verzeihung, meine Damen! Ich glaube, mir ist eine Dummheit entschlüpft.«

»Pfui, Herr!« sagte die Gaillefontaine.

»Er spricht mit diesem Geschöpfe in seiner Sprache,« setzte Fleur-de-Lys, deren Verdruß von Minute zu Minute wuchs, mit halber Stimme hinzu. Dieser Verdruß wurde nicht geringer, als sie sah, wie der Hauptmann, ganz und gar von der Zigeunerin, und namentlich von sich selbst entzückt, sich auf den Hacken herumdrehte und mit dreister, soldatisch-offener Artigkeit wiederholte:

»Ein schönes Mädchen, bei meiner Seele!«

»Nur recht verwildert gekleidet,« sagte Diana von Christeuil mit dem Lächeln, das ihre schönen Zähne zeigte.

Diese Bemerkung war ein Lichtstrahl für die andern. Sie zeigte ihnen die schwache Seite der Zigeunerin: denn weil sie auf ihre Schönheit nicht sticheln konnten, so fielen sie über ihre Kleidung her.

»Das ist freilich wahr, Kleine,« sagte die Montmichel, »wie hast du's über dich gewinnen können, so ohne Hals- und Busentuch durch die Straßen zu ziehen?«

»Dein Rock ist ja erschrecklich kurz,« fügte die Gaillefontaine hinzu.

»Meine Liebe,« fuhr Fleur-de-Lys ziemlich bitter fort, »Ihr werdet schuld sein, daß Euch wegen Eures goldenen Gürtels die Häscher von der Zwölferwache aufgreifen.«

»Kleine, Kleine,« bemerkte die Christeuil mit unversöhnlichem Lächeln, »wenn du anständigerweise einen Aermel über deinen Arm zögest, würde er nicht so von der Sonne verbrannt werden.«

Es war sicher ein Schauspiel, das einen verständigern Zuschauer, als Phöbus, verdient hätte: so zu sehen, wie diese hübschen Mädchen mit ihren giftigen und bösen Zungen schlangengleich sich um die Straßentänzerin drehten und wanden; gefühllos und lächelnd suchten und stöberten sie hämisch an ihrem armseligen und närrischen Flitter- und Rauschegoldstaate herum. Das war ein Lachen und Spotten und endloses Demüthigen! Beißende, herablassende Redensarten und boshafte Blicke regnete es förmlich über die Zigeunerin her. Man hätte glauben sollen, jene jungen Römerinnen vor sich zu sehen, welche sich damit ergötzten, goldene Nadeln in den Busen einer schönen Sklavin zu bohren. Man hätte sie mit vornehmen Jagdwindspielen vergleichen mögen, die mit weiten Nüstern und glühenden Augen eine arme Hindin umkreisen, welche zu zerreißen der Blick des Herrn verbietet.

Was war sie denn im Vergleiche mit diesen Töchtern hoher Familien anders, als eine elende, öffentliche Tänzerin? Sie schienen auf ihre Anwesenheit keine Rücksicht zu nehmen, und sprachen von ihr, in ihrer Gegenwart, mit ihr und mit lauter Stimme, wie von etwas ziemlich Unreinlichem, Niedrigem und hinlänglich Ergötzlichem. Die Zigeunerin war gegen diese Nadelstiche nicht unempfindlich. Von Zeit zu Zeit flammte eine Schamröthe, ein Zornfunkeln auf ihren Wangen, in ihren Augen; ein verächtliches Wort schien auf ihren Lippen zu schweben; sie machte jene verächtliche, kleine Grimasse, welche der Leser an ihr kennt; aber sie blieb unbeweglich und heftete einen resignirten, traurigen und sanften Blick auf Phöbus. In diesem Blicke lag zugleich Glück und Zärtlichkeit. Man hätte glauben mögen, daß sie sich mäßigte, aus Furcht hinausgejagt zu werden. Phöbus selbst lachte und nahm mit einer Mischung von Ungezogenheit und Mitleid Partei für die Zigeunerin.

»Laßt sie reden, Kleine!« wiederholte er und ließ seine goldenen Sporen erklingen, »freilich ist Euer Anzug ein wenig ausschweifend und wild; aber was thut das bei einem reizenden Mädchen, wie Ihr seid?«

»Mein Gott!« rief die blonde Gaillefontaine und wandte ihren Schwanenhals mit bitterm Lächeln um, »ich sehe, daß die Herren Bogenschützen vom Commando des Königs an den hübschen Zigeuneraugen leicht Feuer fangen.«

»Warum denn nicht?« sagte Phöbus.

Bei dieser Antwort, die von dem Hauptmanne gleichgiltig, wie ein Steinblock, den man nicht einmal fallen sieht, hingeworfen wurde, fing Colombe, auch Diana und Amelotte und Fleur-de-Lys zu lachen an, welcher zugleich Thränen in die Augen traten.

Die Zigeunerin, welche bei den Worten Colombens von Gaillefontaine den Blick zur Erde gesenkt hatte, hob ihn strahlend vor Freude und Stolz empor und richtete ihn von neuem auf Phöbus. Sie war in diesem Augenblicke sehr schön.

Die alte Dame, welche diese Scene beobachtet hatte, fühlte sich verletzt und fand sie nicht begreiflich.

»Heilige Jungfrau!« schrie sie plötzlich, »was ist denn das da, was mir zwischen die Beine kommt? O weh! das häßliche Thier!«

Die Ziege war es, welche, auf der Suche nach ihrer Herrin, soeben erschienen war, und die auf sie losspringend sich mit ihren Hörnern in der Tuchmasse verwickelt hatte, welche die Kleider der sitzenden Edelfrau zu ihren Füßen am Boden aufthürmten.

Das verursachte eine Ablenkung. Die Zigeunerin befreite sie, ohne ein Wort zu sagen.

»O, das ist die kleine Ziege, welche goldene Füße hat,« rief Bérangère und sprang vor Freude umher.

Die Zigeunerin kauerte auf die Knien nieder und drückte den schmeichelnden Kopf der Ziege an ihre Wange. Man hätte glauben mögen, sie bäte diese um Verzeihung, weil sie sie verlassen hatte.

Währenddessen hatte sich Diana zu Colombe's Ohre geneigt.

»Ach, mein Gott! warum habe ich nicht eher daran gedacht? Es ist die Zigeunerin mit der Ziege. Man sagt, sie sei eine Hexe, und ihre Ziege mache sehr merkwürdige Kunststücke.«

»Nun gut!« sagte Colombe, »die Ziege soll uns jetzt unterhalten und ein Wunder thun.«

Diana und Colombe wandten sich lebhaft an die Zigeunerin:

»Kleine, laß doch deine Ziege ein Wunder thun!«

»Ich weiß nicht, was Ihr sagen wollt,« entgegnete die Zigeunerin.

»Ein Wunder, eine Zauberei, eine Hexerei mit einem Worte.«

»Ich verstehe nicht.« Und sie fing an, ihr niedliches Thier zu liebkosen und rief wiederholt: »Djali! Djali!«

In diesem Augenblicke bemerkte Fleur-de-Lys ein Säckchen aus gesticktem Leder, welches am Halse der Ziege hing. »Was ist das?« fragte sie die Zigeunerin.

Die Zigeunerin richtete ihre großen Augen auf sie und antwortete ernst: »Das ist mein Geheimnis.«

»Ich möchte wohl wissen, was dein Geheimnis ist,« dachte Fleur-de-Lys.

Währenddessen war die alte Frau ärgerlich aufgestanden.

»Nun denn, Zigeunerin! wenn du und deine Ziege uns nichts vortanzen wollt, was macht ihr denn hier?«

Die Zigeunerin ging, ohne ein Wort zu sagen, langsam nach der Thüre hin. Aber je mehr sie sich ihr näherte, desto mehr zögerte ihr Schritt. Ein unwiderstehlicher Magnet schien sie zurückzuhalten. Plötzlich richtete sie ihre thränenfeuchten Augen auf Phöbus und blieb stehen.

»Wahrhaftiger Gott!« rief der Hauptmann, »so geht man nicht weg. Kehrt um und tanzt uns etwas vor. Doch, meine Schöne, wie heißt Ihr denn?«

»Die Esmeralda,« sagte die Zigeunerin, ohne den Blick von ihm zu wenden.

Bei diesem fremdklingenden Namen erscholl ein tolles Gelächter unter den jungen Mädchen.

»Höre einer,« sagte Diana, »was das für ein schrecklicher Name für ein Mädchen ist.«

»Ihr sehet also,« entgegnete Amelotte, »daß es eine Tänzerin ist.«

»Meine Liebe,« rief Frau Aloïse feierlich, »Eure Eltern haben diesen Namen da nicht aus dem Becken des Taufsteines aufgefischt.«

Seit einigen Minuten, und ohne daß jemand es beachtete, hatte Bérengère unterdessen die Ziege mit etwas Marzipan in einen Winkel des Zimmers gelockt. In einem Augenblicke waren alle beide gute Freundinnen geworden. Das neugierige Kind hatte das am Halse der Ziege hängende Säckchen losgemacht, es geöffnet und seinen Inhalt auf die Strohmatte des Bodens ausgeleert: es war ein Alphabet, von dem jeder Buchstabe auf ein kleines Buchsbaumtäfelchen besonders eingeritzt war. Kaum war dieses Spielzeug auf der Matte ausgekramt, als das Kind mit Erstaunen sah, wie die Ziege, zu deren »Wundern« es wahrscheinlich gehörte, mit ihrem vergoldeten Fuße gewisse Buchstaben herauszog, sie vertheilte und nach bestimmter Ordnung leise zusammenschob. Nach Verlauf eines Augenblickes entstand ein Wort, das zu bilden die Ziege geübt schien, so wenig stockte sie, es zusammenzustellen, und Bérangère rief plötzlich, indem sie die Hände vor Bewunderung zusammenschlug:

»Pathe Fleur-de-Lys, sehet nur, was die Ziege soeben gemacht hat!«

Fleur-de-Lys eilte hinzu und bebte zusammen. Die auf dem Fußboden aneinander gereihten Buchstaben bildeten das Wort:

Phöbus.

»Ist es die Ziege, die das geschrieben hat?« fragte sie mit erregter Stimme.

»Ja, Pathe,« antwortete Bérangère.

Es war unmöglich, daran zu zweifeln; das Kind konnte nicht schreiben.

»Das also ist das Geheimnis!« dachte Fleur-de-Lys.

Indessen war auf den Schrei des Kindes alles herbeigeeilt: die Mutter, die jungen Mädchen, die Zigeunerin und der Offizier.

Die Zigeunerin sah den Streich, welchen ihr die Ziege soeben gespielt hatte. Sie wurde roth, dann blaß und fing an wie eine Schuldige vor dem Hauptmanne zu zittern, der sie mit einem Lächeln der Zufriedenheit und des Staunens betrachtete.

»Phöbus!« zischelten die jungen Mädchen erstaunt, »das ist der Name des Hauptmanns!«

»Ihr habt ein bewundernswertes Gedächtnis!« sagte Fleur-de-Lys zu der versteinerten Zigeunerin. Dann brach sie in Schluchzen aus. »Ach!« klagte sie schmerzbewegt und verbarg ihr Gesicht in ihren schönen Händen, »sie ist eine Zauberin!« Und in der Tiefe ihres Herzens vernahm sie eine noch schrecklichere Stimme, welche ihr sagte: sie ist eine Nebenbuhlerin!

Sie brach ohnmächtig zusammen.

»Meine Tochter! meine Tochter!« schrie die entsetzte Mutter. »Hinaus, höllische Zigeunerin!«

Die Esmeralda raffte in einem Augenblicke die unheilvollen Buchstaben zusammen, gab Djali ein Zeichen und ging durch die eine Thür davon, während man Fleur-de-Lys durch die andere hinaustrug.

Der Hauptmann Phöbus, der allein zurückgeblieben war, stand einen Augenblick unschlüssig zwischen beiden Thüren; – dann folgte er der Zigeunerin.


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