Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Zweiter Band
Victor Hugo

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5. Die Mutter.

Ich glaube nicht, daß es in der Welt etwas Lieblicheres giebt, als die Gedanken, welche beim Anblicke eines kleinen Schuhes ihres Kindes im Herzen einer Mutter erwachen: vornehmlich wenn es ein Festtagsschuh, etwa für die Sonntage oder für die Taufe ist; ein Schuh, der bis unter die Sohle mit Stickereien bedeckt ist; ein Schuh, mit dem das Kind noch nicht einen Schritt gemacht hat. Dieser Schuh aber ist so reizend und klein, er kann so unmöglich seinen Marsch machen, daß es der Mutter so vorkommt, als ob sie ihr Kind sähe. Sie lacht ihn an, sie küßt ihn, sie spricht mit ihm; sie fragt sich, ob es in Wahrheit möglich ist, daß ein Fuß so klein sei und, wäre das Kind etwa abwesend, so bedarf es nur des kleinen Schuhes, um ihr das süße, zarte Geschöpf vor die Augen zu zaubern. Sie glaubt es zu sehen, sie sieht es, wie es leibt und lebt: munter, fröhlich, mit seinen zarten Händchen, seinem runden Kopfe, seinen reinen Lippen, seinen heitern Augen, in denen das Weiße blau schimmert. Ist es Winter, so ist es da; es kriecht auf dem Teppiche, es klettert mühsam auf eine Fußbank, und die Mutter zittert, daß es dem Feuer zu nahe kommt. Ist es Sommer, so schleicht es im Hofe, im Garten herum, zupft das Gras zwischen den Pflastersteinen heraus, betrachtet unbefangen die großen Hunde, die großen Pferde, ganz ohne Furcht; spielt mit den Muscheln, mit den Blumen, und bringt den Gärtner zum Schelten, wenn er Sand auf den Rabatten und Erde in den Wegen findet. Alles lacht, alles glänzt, alles spielt um es herum, wie es selbst thut, – sogar der Lufthauch und der Sonnenstrahl, die um die Wette in seinen närrischen Haarlocken spielen. Der Schuh zeigt alles das der Mutter und läßt ihr das Herz, wie Feuer eine Wachskugel, schmelzen.

Aber wenn das Kind abhanden gekommen ist, so werden diese tausend Bilder der Freude, des Entzückens, der Zärtlichkeit, die sich um den kleinen, gestickten Schuh zusammendrängen, zu ebenso viel entsetzlichen Dingen. Der reizende, gestickte Schuh ist dann nichts weiter, als ein Marterwerkzeug, das ewig das Herz der Mutter zermalmt. Es ist ja stets dieselbe Herzensfaser, welche zittert, die stärkste und empfindlichste Fiber; aber an Stelle eines Engels, der sie liebkost, ist es ein Teufel, welcher sie peinigt.

Eines Morgens, während die Maisonne an einem dieser tiefblauen Himmel emporstieg, wie ihn Garofolo liebt, um seine Kreuzabnahmen darauf zu malen, hörte die Büßerin im Rolandsthurme einen Lärm von Wagenrädern, Pferden und eisernen Gerätschaften auf dem Grèveplatze. Sie erwachte darüber kurze Zeit aus ihrer Betäubung, knotete ihre Haare über den Ohren zusammen, um sie gegen das Geräusch zu verschließen, und begann wieder den leblosen Gegenstand zu betrachten, den sie, nun seit fünfzehn Jahren auf den Knien liegend, anbetete. Dieser kleine Schuh war, wie wir schon gesagt haben, für sie die Welt. Ihr Denkvermögen war in ihm eingeschlossen und sollte erst mit dem Tode davon ablassen. Was sie an herben Verwünschungen, rührenden Klagen, Gebeten und Seufzern beim Anblicke dieses niedlichen, rothseidenen Schuhes zum Himmel emporgeschleudert, hatte die dunkle Höhle des Rolandsthurmes allein erfahren. Niemals waren mehr hoffnungslose Thränen um einen niedlichern und reizendern Gegenstand vergossen worden. An diesem Morgen jedoch schien ihr Schmerz noch heftiger, als gewöhnlich, hervorzubrechen, und man hörte von draußen mit lauter, einförmiger und herzzerreißender Stimme jammern.

»O meine Tochter,« sprach sie, »meine Tochter! mein armes, liebes, kleines Kind: ich soll dich also nicht mehr sehen! Es ist also vorbei! Immer scheint es mir, als ob es gestern geschehen sei! Mein Gott! mein Gott! um sie mir so schnell wieder zu entreißen, wäre es besser gewesen, du hättest sie mir gar nicht gegeben. Weißt du denn nicht, daß unsere Kinder mit unserem Leibe zusammenhängen, und daß eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, nicht mehr an Gott glaubt? . . . Ach! wie elend bin ich nun, daß ich an jenem Tage das Haus verließ! . . . Herr! Herr! weil du sie mir so entrissen hast, hast du mich niemals mit ihr gesehen, wenn ich sie ganz entzückt an meiner Glut belebte, wenn sie, an meiner Brust liegend, mich anlachte, wenn ich ihre kleinen Füße über meine Brust hin bis zu meinen Lippen hinaufsteigen ließ? Ach! wenn du das gesehen hättest, mein Gott, würdest du Mitleid mit meiner Freude gehabt haben; würdest mir nicht die einzige Liebe genommen haben, die mir im Herzen zurückblieb! War ich denn eine so elende Creatur, Herr, daß du mich nicht ansehen mochtest, ehe du mich verdammtest? . . . Wehe! wehe! da ist der Schuh; der Fuß dazu – wo ist er? Wo ist das Uebrige? Wo ist das Kind? Meine Tochter, meine Tochter! Was haben sie mit dir gemacht? Herr, gieb sie mir wieder! Meine Knien sind wund durch ein fünfzehnjähriges Gebet zu dir, mein Gott! Ist das noch nicht genug? Gieb sie mir wieder, für einen Tag, eine Stunde, eine Minute; für eine Minute, Herr! und dann wirf mich für die Ewigkeit dem Teufel hin! Ach! wenn ich wüßte, wo ein Saum deines Kleides schleppt, ich wollte mich mit meinen beiden Händen daranklammern, und du solltest mir wohl mein Kind wiedergeben! Hier ist ihr kleiner Schuh, – hast du damit kein Erbarmen, Herr? Kannst du eine arme Mutter zu dieser Marter fünfzehn Jahre lang verdammen? Süße Jungfrau! süße Jungfrau im Himmel droben! mein eigenes Jesuskind hat man mir genommen, hat man mir gestohlen, hat man auf einer Haide gefressen; man hat sein Blut getrunken, seine Gebeine zermalmt! Heilige Jungfrau, habe Erbarmen mit mir! Meine Tochter muß ich haben! Was hilft es mir denn, daß es im Paradiese ist? Ich will nichts von deinem Engel wissen, ich will mein Kind! Ich bin eine Löwin, ich will meine kleine Löwin haben . . . Ach, ich will mich auf der Erde wälzen, ich will den Stein mit meiner Stirn zerschmettern, will mich verdammen und will dich verfluchen, Herr! wenn du mir mein Kind vorenthältst! Du siehst ja, daß ich ganz zerfleischte Hände habe, Herr! Hat denn der liebe Gott kein Erbarmen? . . . Ach, gieb mir nur Salz und schwarzes Brot, im Falle ich meine Tochter bekomme, und ich mich an ihr, wie an einer Sonne, erwärmen kann! Ach! Gott mein Herr, ich bin nur eine gemeine Sünderin, aber meine Tochter machte mich fromm und gut. Ich war voll Frömmigkeit aus Liebe zu ihr; und durch ihr Lächeln, mein Gott, blickte ich zu dir, wie durch eine Oeffnung des Himmels . . . Ach! könnte ich nur einmal, noch einmal, ein einziges Mal diesen Schuh an ihr reizendes, rosiges Füßchen stecken, und ich will sterben, süße Jungfrau und dich segnen! . . . Ach! fünfzehn Jahre! Sie würde jetzt groß sein! . . . Unglückliches Kind! wie? es ist also doch wahr: ich soll sie nicht mehr wiedersehen, nicht einmal im Himmel! Denn, ich werde nicht dahin kommen, ich. O welches Elends zu sagen, daß das ihr Schuh ist, und sonst nichts weiter!«

Die Unglückliche hatte sich auf diesen Schuh, ihren Trost und ihre Verzweiflung so viele Jahre hindurch, niedergeworfen, und ihr Herz zerriß vor Jammer, wie am ersten Tage. Denn für eine Mutter, welche ihr Kind verloren hat, bleibt das immer der erste Tag. Dieser Schmerz bleibt ja immer neu. Die Trauergewänder können sich wohl abtragen und verbleichen, das Herz bleibt immer in Trauer.

In diesem Augenblicke zogen frische und fröhliche Kinderstimmen an der Zelle vorüber. Jedesmal, wenn Kinder ihr in die Augen fielen, oder deren Lärm ihr Ohr traf, stürzte die arme Mutter in den finstersten Winkel ihres Grabes, und man hätte behaupten mögen, daß sie ihr Haupt in die Mauer zu verstecken versuchte, um sie nur nicht zu hören. Diesmal richtete sie sich im Gegentheil plötzlich in die Höhe und horchte begierig. Einer der kleinen Knaben hatte eben gesagt:

»Heute wird man eine Zigeunerin hängen.«

Mit dem raschen Sprunge jener Spinne, die wir beim Zittern ihres Netzes sich auf eine Fliege haben stürzen sehen, eilte sie an ihre Luke, die, wie man weiß, auf den Grèveplatz hinausging. In der That war eine Leiter an dem ständigen Galgen aufgerichtet, und der Henker war damit beschäftigt, die vom Regen verrosteten Ketten wieder in Ordnung zu bringen. Ringsherum standen einige Leute als Zuschauer. Der muntere Kinderhaufen war schon in der Ferne. Die Nonne suchte mit den Augen nach einem Vorübergehenden, den sie befragen könnte. Sie wurde dicht neben ihrer Zelle einen Priester gewahr, der sich anscheinend damit beschäftigte, in dem öffentlichen Gebetbuche zu lesen, der aber viel weniger mit dem »eisenvergitterten Andachtsbuche«, als mit dem Galgen beschäftigt war, auf den er von Zeit zu Zeit einen düstern und wilden Blick warf. Sie erkannte den Herrn Archidiaconus von Josas, einen heiligen Mann.

»Mein Vater,« fragte sie, »wen will man da hängen?«

Der Priester sah sie an und antwortete nicht; sie wiederholte ihre Frage. Da sagte er:

»Ich weiß es nicht.«

»Es waren Kinder hier, die da sagten, daß es eine Zigeunerin wäre,« fuhr die Büßerin fort.

»Ich glaube, es ist dem so,« sagte der Priester.

Da brach Paquette la Chantefleurie in ein Hyänenlachen aus.

»Meine Schwester,« sagte der Archidiaconus, »Ihr haßt also wohl die Zigeunerinnen?«

»Ob ich sie hasse!« rief die Büßerin aus; »es sind Hexen, Kinderräuberinnen! Sie haben meine kleine Tochter gefressen, mein Kind, mein einziges Kind! Ich habe kein Herz mehr, sie haben es mir aufgezehrt!«

Sie war schrecklich anzusehen. Der Priester betrachtete sie kaltblütig.

»Vor allem ist es eine von ihnen, die ich hasse, und die ich verflucht habe,« fuhr sie fort; »es ist eine junge, so alt, wie meine Tochter sein würde, wenn ihre Mutter mein Kind nicht gefressen hätte. Jedesmal, wenn diese junge Viper vor meiner Zelle vorbeigeht, bringt sie mir das Blut zum kochen.«

»Nun gut! meine Schwester, freuet Euch,« sagte der Priester eisig wie eine Grabbildsäule, »sie ist es, die Ihr sterben sehen sollt.«

Sein Kopf sank auf seine Brust nieder, und er entfernte sich langsam.

Die Büßerin rang sich die Arme vor Freude. »Ich habe es ihr prophezeit, daß sie da hinaufsteigen würde! Schönen Dank, Priester!« rief sie ihm nach.

Und nun begann sie in großen Schritten hinter den Gitterstäben ihrer Luke auf- und abzugehen, während ihr Haar flog, ihr Auge flammte und sie mit der Schulter an die Mauer stieß. Ihr fahles Antlitz aber hatte den Ausdruck einer Wölfin im Käfig angenommen, die seit langem hungert und merkt, daß die Stunde der Fütterung herankommt.


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