Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Zweiter Band
Victor Hugo

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4. Steingut und Krystall.

Ein Tag nach dem andern ging dahin.

Nach und nach kehrte die Ruhe in Esmeralda's Seele zurück. Das Uebermaß des Schmerzes, wie das Uebermaß der Freude sind gewaltsame Zustände, die nicht lange dauern. Das Herz des Menschen kann nicht lange in der äußersten Spannung verharren. Die Zigeunerin hatte so viel gelitten, daß ihr nur noch das Staunen darüber übrig blieb.

Mit der Sicherheit war die Hoffnung wieder bei ihr eingekehrt. Sie stand außerhalb der Gesellschaft, außerhalb des Lebens, aber sie ahnte dunkel, daß es vielleicht nicht unmöglich sein würde, in beide zurückzukehren. Sie war einer Verstorbenen ähnlich, die einen Schlüssel zu ihrem Grabe im Vorbehalte haben durfte.

Sie fühlte, wie nach und nach alle die schrecklichen Bilder von ihr wichen, welche sie so lange gequält hatten. Alle scheußlichen Trugbilder, Pierrat Torterue, Jacob Charmolue erloschen in ihrem Geiste, alle, sogar der Priester selbst.

Und dann war Phöbus am Leben; sie war dessen gewiß, sie hatte ihn gesehen. Das Leben von Phöbus war ihr alles. Nach der Reihe von Schicksalsschlägen, die alles in ihrer Seele niedergerissen hatten, hatte sie nur einen Gegenstand, nur eine Empfindung in ihrer Seele unerschüttert wiedergefunden: ihre Liebe zu dem Hauptmanne. Denn die Liebe ist wie ein Baum: sie treibt von selbst, schlägt ihre Wurzeln tief in unser ganzes Wesen, und grünt noch oft auf einem gebrochenen Herzen weiter.

Und was am unerklärlichsten dabei, ist, daß je blinder diese Leidenschaft ist, sie desto beharrlicher sich zeigt. Sie ist niemals standhafter, als wenn keine Befriedigung in ihr ist.

Zweifelsohne dachte die Esmeralda nicht ohne Bitterkeit an den Hauptmann. Es war ohne Zweifel entsetzlich, daß auch er getäuscht worden war, daß er jenes unmögliche Ding hatte glauben, daß er für möglich hatte halten können, der Dolchstich wäre von derjenigen hergekommen, die tausend Leben für ihn gegeben hätte. Aber schließlich durfte sie ihm nicht allzusehr zürnen: hatte sie »ihr Verbrechen« nicht eingestanden? War sie als schwaches Weib nicht der Tortur erlegen? Die ganze Schuld lag auf ihrer Seite. Sie hätte sich eher sollen die Nägel ausreißen, als ein solches Wort abdringen lassen. Wenn sie endlich Phöbus nur ein einziges Mal, nur eine einzige Minute wiedersähe, es sollte nur eines Wortes, eines Blickes bedürfen, um ihn zu ent-täuschen, um ihn zurückzuführen. Sie zweifelte nicht daran. Sie beruhigte sich auch über viele auffällige Umstände, über die zufällige Anwesenheit von Phöbus am Tage der Kirchenbuße, über das junge Mädchen, mit dem sie ihn sah. Es war jedenfalls seine Schwester. Allerdings eine alberne Erklärung, über die sie sich aber beruhigte, weil es ihr Bedürfnis war, zu glauben, daß Phöbus sie immer noch liebte, und nur sie liebte. Hatte er es ihr nicht zugeschworen? Was bedurfte es für sie, naiv und leichtgläubig wie sie war, noch mehr? Und dann, sprachen nicht in dieser ganzen Angelegenheit die Umstände viel mehr gegen sie, als gegen ihn? Sie harrte also; sie hoffte.

Dazu kam, daß die Kirche, diese mächtige Kirche, welche sie von allen Seiten umgab, welche sie hütete und bewahrte, selbst eine ruhespendende Herrin war. Die feierlichen Linien dieses Baudenkmales, die heilige Haltung aller Gegenstände, welche das junge Mädchen umgaben, die frommen und ruhigen Gedanken, welche gleichsam aus allen Poren dieser Steinmasse entstiegen, wirkten unbewußt auf sie. Das Gebäude hatte seine Festgepränge von solcher Segenswirkung und Erhabenheit, daß sie diese kranke Seele beruhigten. Der eintönige Gesang der Priester, die Erwiderungsgesänge des Volkes an jene, welche bald unvernehmlich, bald donnernd erschallten, das harmonische Zittern der Fenster, die gleich hundert Trompeten schmetternde Orgel, die drei wie mächtige Bienenstöcke summenden Thürme, dieses ganze Orchester, über das eine gigantische und ohne Aufhören vom Volke zum Thurme auf- und absteigende Tonleiter hinbrauste: das alles betäubte ihr Gedächtnis, ihre Einbildungskraft, ihren Schmerz. Vornehmlich die Glocken wiegten sie ein. Es glich einem mächtigen Magnetismus, was dieses gewaltige Gepränge in breiten Fluten über sie ergoß.

Daher fand sie jede aufgehende Sonne ruhiger, wohler und weniger blaß. In dem Maße, wie ihre innern Wunden sich schlossen, erblühten ihre Anmuth und Schönheit, aber voller und frischer, wieder auf ihrem Antlitze. Ihre frühere Gemüthsart kehrte wieder, sogar etwas von ihrer Fröhlichkeit, die reizende Mundgeberde, ihre Liebe zur Ziege, ihre Lust am Gesange, ihre Schamhaftigkeit. Sie trug Sorge, sich am Morgen im Winkel ihres Gemaches anzukleiden, aus Furcht, es möchte irgend ein Insasse der benachbarten Dachwohnungen sie durch das Fensterchen erblicken.

Wenn der Gedanke an Phöbus ihr Zeit dazu ließ, dachte die Zigeunerin zuweilen auch an Quasimodo. Das war das einzige Band, die einzige Verbindung, die einzige Gemeinschaft, welche ihr noch mit den Menschen, mit den Lebenden geblieben war. Die Unglückliche! sie stand in noch höherem Grade außerhalb der Welt, als Quasimodo. Sie wurde aus dem sonderbaren Freunde, den ihr der Zufall gegeben hatte, nicht klug. Oft machte sie sich Vorwürfe, daß sie nicht eine Dankbarkeit besaß, welche mitleidig die Augen zudrückte, aber sie konnte sich entschieden nicht an den Glöckner gewöhnen. Er war zu häßlich.

Sie hatte die Pfeife, welche er ihr gegeben hatte, auf der Erde liegen lassen. Das hinderte Quasimodo nicht, in den ersten Tagen von Zeit zu Zeit wieder zu erscheinen. Sie that ihr Möglichstes, sich nicht mit zu viel Widerstreben von ihm abzuwenden, wenn er erschien und ihr den Korb mit Lebensmitteln oder den Wasserkrug brachte; aber er bemerkte stets die geringste Regung dieser Art, und dann ging er traurig davon. Einmal kam er in dem Augenblicke dazu, wo sie Djali liebkoste. Er blieb einen Augenblick nachdenkend vor dieser anmuthigen Gruppe der Ziege und Zigeunerin stehen; endlich sagte er, seinen plumpen und mißgestalteten Kopf schüttelnd:

»Mein Unglück ist, daß ich noch zu sehr einem Menschen ähnlich sehe. Ich möchte völlig ein Thier, wie diese Ziege sein.«

Sie warf einen erstaunten Blick auf ihn.

Er antwortete auf diesen Blick:

»Ach! ich weiß wohl, warum.« Und dann entfernte er sich.

Ein andermal zeigte er sich an der Thüre der Zelle (in die er niemals eintrat) in dem Augenblicke, wo die Esmeralda eine alte spanische Ballade sang, deren Worte sie nicht verstand, aber welche in ihrem Ohre geblieben war, weil die Zigeunerinnen sie als kleines Kind damit in den Schlaf gesungen hatten. Bei dem Anblicke dieses häßlichen Gesichtes, das plötzlich und unvermuthet inmitten ihres Liedes sich zeigte, brach das junge Mädchen mit einer unfreiwilligen Schreckensgeberde ab. Der unglückliche Glöckner fiel auf der Schwelle der Thür auf die Knien und faltete mit einer flehenden Geberde seine breiten unförmlichen Hände. »Ach!« sagte er in schmerzlichem Tone, »ich beschwöre Euch, fahret fort und jagt mich nicht weg.« Sie wollte ihn nicht kränken und fing, am ganzen Leibe zitternd, ihre Romanze wieder an. Währenddem schwand ihr Schrecken immer mehr, und sie überließ sich ganz dem Eindrucke der schwermüthigen und langsamen Melodie, welche sie sang. Er war auf den Knien liegen geblieben, die Hände wie zum Gebete gefaltet, aufmerksam, kaum athmend und seinen Blick auf die glänzenden Augen der Zigeunerin geheftet. Man hätte meinen sollen, er vernähme ihren Gesang aus ihren Augen.

Ein andermal wieder kam er mit schüchterner und furchtsamer Miene zu ihr. »Höret mich an,« sagte er mit Ueberwindung, »ich will Euch etwas sagen.«

Sie gab ihm ein Zeichen, daß sie ihn höre. Er fing nun an zu seufzen, öffnete seine Lippen, schien einen Augenblick zum Sprechen bereit, sah ihr dann ins Gesicht, machte eine verneinende Bewegung mit dem Kopfe und entfernte sich, die Stirne in die Hand gedrückt, und die Zigeunerin ihrem Staunen überlassend, langsamen Schrittes.

Unter den phantastischen Menschengestalten, die an der Mauer in Stein gebildet waren, befand sich eine, zu der er ganz besonders Zuneigung gewonnen hatte, und mit der er oft brüderliche Blicke auszutauschen schien. Einmal hörte die Zigeunerin, wie er zu ihr sagte:

»Ach! warum bin ich nicht von Stein, wie du!«

Eines Tages endlich, an einem Morgen, war die Esmeralda bis an den Rand des Daches vorgetreten und sah über das spitze Dach von Saint-Jean-le-Rond weg auf den Platz hinunter. Quasimodo war auch da; er stand hinter ihr. Er stellte sich von selbst so hin, um dem jungen Mädchen so viel wie möglich die Unannehmlichkeit, ihn zu sehen, zu ersparen. Plötzlich schrak die Zigeunerin zusammen, eine Thräne und ein Freudenstrahl erglänzte zugleich in ihren Augen, sie sank am Rande des Daches auf die Knien nieder, streckte angstvoll ihre Arme nach dem Platze zu aus und rief: »Phöbus! komm! komm! ein Wort, ein einziges Wort, in des Himmels Namen! Phöbus! Phöbus!« Ihre Stimme, ihr Antlitz, ihre Geberde, ihre ganze Person zeigten den herzzerreißenden Ausdruck eines Schiffbrüchigen, welcher dem fröhlichen Schiffe, das in der Ferne am Horizonte im Sonnenstrahle vorbeisegelt, ein Nothzeichen giebt.

Quasimodo neigte sich auf den Platz hinab und sah, daß der Gegenstand dieser zärtlichen und verzweiflungsvollen Bitte ein junger Mann, ein Hauptmann, ein schöner, ganz in Waffenschmuck strahlender Reiter war, welcher im Hintergrunde des Platzes sein Pferd tummelte und mit dem Helmbusche eine schöne lächelnde Dame auf ihrem Balkon grüßte. Uebrigens hörte der Offizier die Unglückliche, welche ihn rief, nicht; er war zu entfernt.

Aber der arme Taube hörte es wohl. Ein tiefer Seufzer hob seine Brust; er kehrte sich um; sein Herz war von allen Thränen, die er zurückdrängte, zum Zerspringen voll; seine krampfhaft zuckenden Fäuste fuhren nach seinem Kopfe, und als er sie zurückzog, hatte er in jeder Hand einen Büschel rother Haare.

Die Zigeunerin hatte keine Acht auf ihn.

Mit den Zähnen knirschend sagte er halblaut: »Verdammt! So also muß man beschaffen sein! Man braucht nur äußerlich schön zu sein!«

Währenddem war sie auf den Knien liegen geblieben und rief mit höchster Aufregung:

»Oh! das ist er, der vom Pferde steigt! . . . Er will in jenes Haus hineingehen! . . . Phöbus! . . . Phöbus! . . . Er hört mich nicht! . . . Phöbus! . . . Wie schändlich ist dieses Frauenzimmer, daß sie zu gleicher Zeit, wie ich, mit ihm spricht! Phöbus! . . . Phöbus! . . .«

Der Taube betrachtete sie. Er verstand dieses Geberdenspiel. Das Auge des armen Glöckners füllte sich mit Thränen, aber er unterdrückte sie. Plötzlich zog er sie sanft am Saume ihres Aermels. Sie wandte sich um. Er hatte eine ruhige Miene angenommen und sagte zu ihr:

»Wollt Ihr, daß ich ihn Euch hole?«

Sie stieß einen Freudenschrei aus.

»Auf! auf! gehet! lauf! schnell! Den Hauptmann! den Hauptmann! Bringet ihn mir her! Ich will dich lieb haben!«

Sie umfaßte seine Knien. Er konnte sich nicht enthalten mit schmerzlicher Geberde den Kopf zu schütteln.

»Ich will ihn Euch herbringen,« sagte er mit schwacher Stimme. Dann wandte er den Kopf ab und stürmte, von Schluchzen erstickt, in großen Schritten die Treppe hinunter.

Als er auf dem Platze anlangte, sah er nichts weiter, als das schöne Pferd, das an der Thüre des Hauses Gondelaurier angebunden war; der Hauptmann war eben in dasselbe eingetreten.

Er hob seinen Blick zum Dache der Kirche empor. Die Esmeralda befand sich immer noch dort an demselben Platze, in derselben Stellung. Er machte ihr eine traurige Kopfbewegung; dann lehnte er sich an einen der Ecksteine der Vorhalle am Hause Gondelaurier, entschlossen zu warten, bis der Hauptmann herauskäme.

Im Hause der Familie Gondelaurier fand eine jener Festlichkeiten statt, wie sie der Hochzeit vorherzugehen pflegen. Quasimodo sah viele Leute hineingehen und niemanden wieder herauskommen. Von Zeit zu Zeit sah er nach dem Dache hinauf; die Zigeunerin rührte sich ebenso wenig wie er. Ein Stallknecht kam heraus, band das Pferd los und führte es in den Stall des Hauses. Auf diese Weise ging der ganze Tag dahin. Quasimodo saß am Ecksteine, die Esmeralda auf dem Dache, Phöbus ohne Zweifel zu den Füßen Fleur-de-Lys'. Schließlich kam die Nacht heran: eine mondlose, dunkle Nacht. Quasimodo heftete vergebens seinen Blick auf die Esmeralda; bald war sie nur noch ein weißer Schein in der Dämmerung, dann unerkenntlich. Alles verlosch; alles wurde schwarz.

Quasimodo sah, wie sich die Fenster des Hauses Gondelaurier von oben bis unten an der Vorderseite erleuchteten; er sah auch die andern Fenster des Platzes eins nach dem andern hell werden; dann sah er sie auch bis auf das letzte erlöschen; denn er verharrte den ganzen Abend auf seinem Posten. Der Offizier kam nicht heraus. Als die letzten Wanderer auf den Straßen in ihre Wohnungen zurückgekehrt, als alle Fenster der übrigen Häuser erloschen waren, blieb Quasimodo ganz allein, ganz in Dunkel eingehüllt. Es gab damals noch keine Beleuchtung auf dem Vorhofe von Notre-Dame.

Währenddem waren die Fenster in der Wohnung der Frau Gondelaurier erhellt geblieben, selbst bis nach Mitternacht. Der regungslose und aufmerksame Quasimodo sah hinter den buntfarbigen Fenstern eine Menge lebhafter und tanzender Schatten vorüberschweben. Wenn er nicht taub gewesen wäre, so hätte er, in dem Maße wie der Lärm im schlafenden Paris verschwand, immer deutlicher im Innern des Hauses einen Festlärm, von Lachen und Musik untermischt, vernehmen können.

Gegen ein Uhr morgens begannen die Gäste sich zu entfernen. Quasimodo, in Nacht gehüllt, sah sie alle aus der kerzenerleuchteten Halle heraustreten. Keiner von ihnen war der Hauptmann.

Er war voll trauriger Gedanken; manchmal sah er in die Luft hinaus, wie Leute zu thun pflegen, die Langeweile haben. Große schwarze, schwere, zerrissene Wolken hingen tief wie Hängematten von Flor am gestirnten Nachthimmel. Man hätte sie die Spinneweben an der Himmelsdecke nennen können.

Während eines dieser Augenblicke sah er, wie sich auf einmal geheimnisvoll die Fensterthür des Balkons öffnete, dessen steinerne Brüstung über seinem Haupte hervorragte. Durch diese schmale Glasthüre traten zwei Personen ins Freie, hinter denen sie sich geräuschlos schloß: es war ein Mann und eine Frauensperson. Nicht ohne Anstrengung vermochte Quasimodo in dem Manne den schönen Hauptmann, in der Frauensperson die junge Dame zu erkennen, welche er am Morgen dem Offiziere den Willkommensgruß von demselben Balkon herab hatte entbieten sehen. Der Platz war völlig dunkel, und ein doppelter, purpurroter Vorhang, der in dem Augenblicke, wo die Thür sich geschlossen hatte, hinter ihr niedergefallen war, ließ das Licht des Zimmers kaum auf den Balkon dringen. Der junge Mann und das junge Mädchen schienen, so weit es unser Tauber, der nicht eins von ihren Worten vernahm, beurtheilen konnte, sich einem sehr zärtlichen Zwiegespräche zu überlassen. Das junge Mädchen schien dem Offiziere erlaubt zu haben, seinen Arm um ihren Leib zu schlingen, und leistete seinem Kusse nur schwachen Widerstand.

Quasimodo wohnte von unten dieser um so reizender anzuschauenden Scene bei, als sie nicht dazu bestimmt war, gesehen zu werden. Er betrachtete dieses Glück, diese Schönheit mit bitterem Gefühle. Die Natur war bei dem armen Teufel überhaupt nicht stumm, und sein Rückgrat, so garstig gekrümmt es sonst war, zitterte ebenso wie ein anderes. Er dachte an das elende Loos, welches die Vorsehung ihm bestimmt hatte; daß das Weib, die Liebe, die Wollust ewig vor seinen Augen vorüberfliehen würden, und daß er niemals etwas anderes erreichen würde, als bei der Glückseligkeit anderer den Zuschauer zu machen. Aber was ihn bei diesem Schauspiele am meisten schmerzte, zu seinem Verdrusse den Unwillen hinzufügte, das war, wenn er daran dachte, was die Zigeunerin leiden müßte, wenn sie das sähe. Freilich war die Nacht sehr dunkel und die Esmeralda, wenn sie an ihrem Platze geblieben wäre (woran er nicht zweifelte), sehr weit entfernt; und allerhöchstens konnte er nur ganz allein die Liebenden auf dem Balkone erkennen. Das tröstete ihn.

Indessen wurde ihre Unterhaltung immer feuriger. Das junge Mädchen schien den Offizier anzuflehen, nichts weiter mehr von ihr zu verlangen. Quasimodo erkannte von dem allen nur die schönen gefalteten Hände, das mit Thränen vereinigte Lachen, die zu den Sternen erhobenen Blicke des jungen Mädchens, und die feurig auf sie gerichteten Augen des Hauptmanns.

Glücklicherweise – denn das junge Mädchen leistete jetzt nur noch schwachen Widerstand – öffnete sich plötzlich die Thüre des Balkons; eine alte Dame zeigte sich: die Schöne schien verwirrt, der Offizier nahm eine ärgerliche Miene an, und alle drei gingen in das Zimmer zurück. Kurze Zeit darauf stampfte ein Pferd unter der Vorhalle, und der glänzende Offizier sprengte, in seinen Nachtmantel gehüllt, eilig an Quasimodo vorüber.

Der Glöckner ließ ihn um die Straßenecke biegen; dann fing er an, mit seiner Affenbehendigkeit hinter ihm herzulaufen und rief:

»Heda! Hauptmann!«

Der Hauptmann hielt sein Roß an.

»Was will der Schurke von mir?« rief er, als er in der Dunkelheit, diese Art lendenlahmer Gestalt bemerkte, die humpelnd auf ihn zulief.

Quasimodo war währenddem bei ihm. angelangt und hatte dreist den Zügel seines Pferdes ergriffen.

»Folget mir, Hauptmann; es ist jemand hier, der mit Euch sprechen will.«

»Beim Horne des Teufels!« murmelte Phöbus, »das ist ein häßlicher, struppiger Vogel, den ich, wie mir scheint, irgendwo gesehen habe. Holla! Meister, willst du wohl den Zügel meines Pferdes loslassen?«

»Hauptmann,« antwortete der Taube, »fragt Ihr mich nicht, wer es ist?«

»Ich sage dir, du sollst mein Pferd loslassen,« antwortete Phöbus ungeduldig geworden. »Was will dieser Kerl, daß er sich an den Stirnriemen meines Schlachtrosses hängt? Hältst du etwa mein Pferd für einen Galgen?«

Quasimodo, weit entfernt, den Zügel des Pferdes los zu lassen, schickte sich an, es zur Umkehr zu bringen. Weil er sich das Widerstreben des Hauptmannes nicht erklären konnte, so sagte er eilig zu ihm:

»Kommt, Hauptmann, es ist ein Weib, welches Euch erwartet.« Er fügte mit Anstrengung hinzu: »Ein Weib, welches Euch liebt.«

»Ein sonderbarer Wicht!« sagte der Hauptmann, »der da glaubt, ich sei verpflichtet, zu allen Weibern zu kommen, die mich lieben, oder es vorgeben . . . Und wenn sie zufällig dir ähnlich sieht, du Nachteulengesicht? . . . Sage derjenigen, die dich schickt, daß ich mich verheirathen will, und daß sie sich zum Teufel scheren möge!«

»Höret an,« rief Quasimodo, der mit einem Worte sein Zögern zu besiegen glaubte, »kommet, gnädiger Herr! Es ist die Zigeunerin, die Ihr kennt!«

Dieses Wort machte in der That einen gewaltigen Eindruck auf Phöbus, jedoch nicht denjenigen, welchen der Taube davon erwartete. Man wird sich erinnern, daß unser galanter Offizier sich mit Fleur-de-Lys einige Augenblicke vorher zurückgezogen hatte, ehe Quasimodo die Verurteilte aus den Händen Charmolue's errettete. Seitdem hatte er sich bei allen Besuchen im Hause der Frau Gondelaurier wohl gehütet, wieder von diesem Frauenzimmer zu sprechen, an die zu denken ihm, allem zufolge, peinlich war; und Fleur-de-Lys hatte es ihrerseits nicht für weltklug gehalten, ihm zu sagen, daß die Zigeunerin am Leben wäre. Phöbus hielt also die arme »Similar« für todt, und daß seitdem schon ein oder zwei Monate vergangen seien. Dazu kam, daß der Hauptmann seit einigen Augenblicken an die tiefe Dunkelheit der Nacht, an die übernatürliche Häßlichkeit, an die Grabesstimme des seltsamen Boten dachte; daß Mitternacht vorüber, die Straße öde war, wie an dem Abende, wo der gespenstige Mönch ihn angeredet hatte, und daß sein Pferd schnob, als es Quasimodo erblickte.

»Die Zigeunerin!« rief er fast entsetzt. »Nun denn, kommst du aus der andern Welt?«

Bei diesen Worten legte er die Hand an das Gefäß seines Degens.

»Schnell! schnell!« sagte der Taube, indem er versuchte, das Pferd fortzuziehen, »hierhin!«

Phöbus versetzte ihm einen kräftigen Fußtritt auf die Brust.

Quasimodo's Auge funkelte. Er machte eine Bewegung, als ob er sich auf den Hauptmann stürzen wollte. Dann sagte er an sich haltend:

»Ach! wie glücklich seid Ihr, daß Ihr jemanden habt, der Euch liebt!«

Er sprach das Wort »jemanden« mit Nachdruck, ließ den Zügel des Pferdes fahren und rief:

»Hinweg mit Euch!«

Phöbus gab seinem Pferde fluchend die Sporen. Quasimodo sah ihn im Dunkel der Straße verschwinden.

»Ach!« sagte der arme Taube ganz leise, »so etwas auszuschlagen!«

Er kehrte nach Notre-Dame zurück, zündete seine Lampe an und stieg den Thurm wieder in die Höhe. Wie er gedacht hatte, so fand er die Zigeunerin immer noch auf derselben Stelle. Sobald sie ihn nur in der Ferne bemerkte, lief sie auf ihn zu.

»Allein!« rief sie, indem sie schmerzerfüllt ihre schönen Hände zusammenschlug.

»Ich habe ihn nicht wiederfinden können,« sagte Quasimodo kalt.

»Du hättest die ganze Nacht auf ihn warten sollen,« versetzte sie mit Heftigkeit.

Er sah ihre zornige Geberde, und verstand den Vorwurf.

»Ich will ihm ein andermal besser nachspüren,« sagte er den Kopf neigend.

»Hinweg mit dir!« sagte sie zu ihm.

Er verließ sie. Sie war unzufrieden mit ihm. Er hätte lieber von ihr gemißhandelt sein wollen, als sie betrüben mögen. Er hatte den ganzen Schmerz für sich behalten.

Von diesem Tage an sah ihn die Zigeunerin nicht mehr. Er vermied es, in ihre Zelle zu kommen. Höchstens sah sie bisweilen auf der Spitze eines Thurmes das Gesicht des Glöckners, das schwermüthig auf sie gerichtet war. Aber sobald sie ihn erblickte, verschwand er. Wir müssen sagen, daß sie wenig über diese freiwillige Abwesenheit des armen Buckligen betrübt war. Im Grunde ihres Herzens wußte sie ihm deshalb Dank. Uebrigens gab sich Quasimodo in dieser Hinsicht keiner Täuschung hin.

Sie sah ihn nicht mehr, aber sie fühlte die Gegenwart eines guten Geistes in ihrer Nähe. Ihre Mundvorräthe wurden von einer unsichtbaren Hand, während ihres Schlafes, erneuert. Eines Morgens fand sie an ihrem Fenster einen Käfig voll Vögel. Ueber ihrer Zelle befand sich ein Bildhauerwerk, welches ihr Furcht einflößte. Sie hatte es mehr als einmal vor Quasimodo geäußert. Eines Morgens (denn alle diese Dinge geschahen nachts) sah sie es nicht mehr; man hatte es abgebrochen. Derjenige, welcher bis zu jenem Bildhauerwerke geklettert war, hatte sein Leben wagen müssen.

Bisweilen hörte sie des Abends von einer Stimme, die unter dem Wetterdache des Thurmes verborgen war, ein trauriges und sonderbares Lied erklingen, als ob man sie in den Schlaf singen wollte. Es waren reimlose Verse, wie ein Tauber sie machen kann:

Sieh auf das Gesicht nicht,
Junges Mädchen, sieh aufs Herz.

Häßlich ist oft eines schönen Mannes Herz.
Herzen giebt es, wo die Lieb' nicht treu verharrt.

Schön ist nicht die Tanne, junges Mädchen,
Ist so schön nicht wie die Pappel,
Aber sie bewahrt im Winter ihre Blätter.

Ach! was kann es helfen, das zu sagen?
Was nicht schön ist, hat kein Recht zu sein;
Schönheit liebt allein nur Schönheit,
Dem April zeigt Januar den Rücken.

Nur die Schönheit ist vollkommen,
Schönheit nur allein kann alles.
Schönheit ist das Ding allein, das nicht halb vermag zu sein!

Nur am Tage fliegt der Rabe,
Nur die Eule fliegt bei Nacht;
Tag und Nacht doch fliegt der Schwan.

Eines Morgens sah sie, als sie erwachte, in ihrem Fenster zwei Vasen mit Blumen gefüllt. Die eine war eine sehr schöne und sehr glänzende Vase, aber gesprungen. Sie hatte das Wasser, mit dem sie gefüllt war, herausrinnen lassen, und die Blumen, welche sie enthielt, waren verwelkt. Die andere war ein Gefäß aus Steingut, plump und gewöhnlich, aber welches sein ganzes Wasser behalten hatte, und dessen Blumen frisch und hochroth geblieben waren.

Ich weiß nicht, ob es absichtlich geschah: genug, die Esmeralda nahm den verwelkten Strauß und trug ihn den ganzen Tag an ihrem Busen.

An diesem Tage hörte sie die Stimme aus dem Thurme nicht singen.

Sie machte sich nur geringe Sorgen darum. Sie verbrachte ihre Tage damit, Djali zu liebkosen, die Thüre zum Hause der Frau Gondelaurier zu beobachten, sich ganz leise mit Phöbus zu unterhalten und den Schwalben Brotkrumen hinzustreuen.

Uebrigens hatte sie völlig darauf verzichtet, Quasimodo zu hören und zu sehen. Der arme Glöckner schien aus der Kirche verschwunden zu sein. Eines Nachts jedoch, als sie nicht schlief und an ihren schönen Hauptmann dachte, hörte sie neben ihrer Zelle etwas seufzen. Erschrocken stand sie auf und sah beim Scheine des Mondes eine unförmliche Masse, welche quer vor ihrer Thüre lag. Es war Quasimodo, welcher dort auf dem Steinboden schlief.


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