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Der Untersuchungsrichter hatte eine ganze Weile gezögert, ehe er Maaß die Erlaubnis erteilte, seinen früheren Bureaukollegen zu sehen. Und den Ausschlag hatte für Dr. Birkner auch nur die Erwägung gegeben, diese Zusammenkunft würde Maaß vielleicht dazu bringen, eine Unklugheit zu begehen und sich zu verraten.
Er ließ Maaß deshalb hinüberholen ins Kriminalgebäude, wo Marquardt in einem Zimmer wartete, das vom Nebenraum genau zu überblicken war, ebenso wie man darin auch jedes Wort, das nebenan gesprochen wurde, hören konnte.
Heinz war sehr unruhig und er zitterte, als Schritte auf dem Korridor hörbar wurden, die Tür aufging und als man Maaß hineinschob ins Zimmer, dessen Tür sich hinter dem Gefangenen schloß.
Beim Anblick des ehemaligen Kollegen war Marquardt nicht imstande, ein Wort hervorzubringen.
Das war Alfred Maaß? Aber nein, der da hatte ja ganz graue Haare! Die blaue Gefängniskleidung schlotterte um seinen elenden Körper, seine Haltung war gebückt und das Gesicht das eines Greises.
»Um Gotteswillen!«
Das war das erste, was Marquardt leise sagte. All sein Verdacht, sein Zorn, seine Rachsucht, jede bittere Regung wich beim Anblick dieses Unglücklichen, der mit finsterem Blick fern von ihm stehen blieb, und dessen entstelltes, gramzerwühltes Gesicht die schwerste Anklage für Marquardt war!
»Maaß!« sagte Heinz, »Maaß, was ist denn mit Ihnen?«
»Was mit mir ist?« Die Stimme des Gepeinigten klang dumpf und wie längst dem Leben nicht mehr angehörig, »mit mir is gar nichts! ... Ich bin 'n Mörder! ... Hahaha! ...« er lachte, halb schluchzend, auf, »ich habe ja Deine Frau ermordet, Du! ... Weißte denn das nicht? ... Da geh' rein zu dem Untersuchungsrichter! Der wird's Dir sagen: ich bin raufgegangen zu ihr, bin auf sie eingedrungen, sie hat mich zurückgestoßen und da hab ich sie niedergemacht! ... Jawoll, ja! ... Ja, ja, geh man rein zu dem Hund dadrin!« – er zeigte auf die Seitentür, hinter der wirklich Herr Dr. Birkner stand und horchte.
»Maaß!« sagte Heinz, »Maaß, so höre doch.«
Aber der wich zurück.
»Komm mir nicht zu nah!« schrie er, »Du machst Deine Hände an mir blutig! ... Frage doch die Lumpen, ich triefe von unschuldig vergossenem Blut!«
»Ich hab's ja nie geglaubt, daß Du's warst!« murmelte Marquardt, »aber schließlich ... wenn's doch alle sagen ...«
»Ja, ja,« um Maaßens Mund irrte ein verzerrtes Lächeln, »wenn alle 's sagen, dann ist's wahr! ... Dann is man ein Mörder und wird hingerichtet! ... Du Marquardt!« er kam mit gekrümmtem Arm, den ausgestreckten Zeigefinger vorm Gesicht, langsam auf Marquardt zu, »Du bist der einzige, der mich wirklich kennt! ... Wenn ich erst fort bin von der Welt, denn begnadigt werden jetzt keine Mörder mehr! ... Weißt Du, wenn Du erst Deinen Willen hast und ich tot bin, Du ... dann ... dann geh zu meiner Mutter! ... Ich hab an sie geschrieben, aber sie antwortet mir nicht, oder das Gesindel dadrin hat meine Briefe unterschlagen! ... Geh zu ihr, Marquardt, sag ich, ich bitte Dich! Beim Andenken an Trude, die ich lieber gehabt habe als Du, bitt ich Dich, geh' zu meiner Mutter!«
Er faßte mit der linken Hand, laut stöhnend, an seinen Kopf und weinte.
»Geh' zu ihr hin und sag' ihr Lebewohl von mir! ... Früher, da hab' ich nicht dran geglaubt, daß nach dem Tode noch was kommt, aber jetzt, jetzt weiß ich's! Wo ich die Menschen kennen gelernt habe, daß sie nichts wie Raubtiere und Bestien sind, da muß noch was andres da sein!«
Er wurde stiller und sagte leise, fast wie mit sich selber redend:
»Die Trude wird auch da sein! ... Und dann ...«
Seine matten Augen schossen plötzlich Blitze, er reckte den Arm gegen Marquardt und schrie kreischend:
»Dann wird sie meine sein! ... meine! ... Und Dir nicht mehr gehören, der nicht mal verstanden hat, sie zu beschützen vor dem Scheusal, das sie ermordet hat!«
»Du bist es also wirklich nicht gewesen?« fragte Marquardt mit zager Stimme.
Und da kam wieder jenes milde, verzeihende Lächeln auf das Antlitz des Gefangenen, er sagte:
»Sieh mich doch an! ... Seh ich denn so aus, als ob ich einen ermorden könnte?! ... Und sie ... gerade sie! ... Hier! So wahr ich hier stehe und so wahr ich Gottes Sonne noch sehe, ich hätte sie mit meinem Leben verteidigt! Ich habe nur eins zu bereuen: daß ich nicht hinaufgegangen bin zu ihr! ... Ich wäre ja dazu gekommen, Marquardt, und hätte es verhindern können! Während ich unten, halb toll vor Sehnsucht, auf und ab gerannt bin, hat sie der Strolch da oben erstochen!«
Sie weinten beide.
Und dann ging Marquardt auf den Kleinen zu und umarmte ihn und küßte ihn mit den Worten:
»Habe keine Angst, daß sie Dir was tun ... ich finde den Mörder« wollte er sagen, da wurde die Seitentür aufgestoßen, der Untersuchungsrichter stürzte herein und sagte, hochrot vor Aerger:
»Daß Sie hier Rührszenen aufführen, Verehrtester, dazu habe ich Ihnen die Erlaubnis nicht erteilt, den Gefangenen zu sehen!«
Er ging an die Korridortür, riß diese auf und rief: »Aufseher, der Gefangene wird sofort abgeführt!«
Der Gefangene sah den Untersuchungsrichter nur an, aber dieser Blick erfüllte den Vertreter der Gerechtigkeit mit tobender Wut:
»Raus!« schrie er, »raus! ... Das wäre ja noch schöner! ... Das wäre ja noch schöner!«
»Was denn?« fragte Marquardt, während er das Lebewohl, das Maaß ihm zunickte, herzlich erwiderte.
»Daß Sie sich hier Uebergriffe erlauben, Sie! ... Sie! ... Daß ...« Herr Dr. Birkner suchte nach Worten.
Aber Marquardt war die falscheste Adresse für solche Radomontade. Seitdem er seine Beamtenkarriere aufgegeben hatte, war die Freiheit und der Stolz mächtig erwacht in seiner Brust.
»Vergessen Sie nicht, wen Sie vor sich haben!« sagte er mit äußerster Ruhe, »ich bin weder ein Gefangener, noch Ihr Untergebener, Herr! ... Und im übrigen bin ich der Ansicht, daß Alfred Maaß vollkommen unschuldig ist!«
»Sie haben gar keiner Ansicht zu sein! ... Sie! ... Verstehen Sie! ...«
»Was?« Marquardt mußte fast lachen, »Sie wollen mir verbieten, eine Ansicht zu haben? ... Na, das wäre ja das allerneueste!«
»Ich will gar nichts!« überschrie ihn der andere, »ich will bloß, daß Sie sich augenblicklich entfernen! ... Hinaus!«
Marquardt ging nach der Tür, auf die der Untersuchungsrichter in maßloser Aufregung deutete.
Aber die Klinke schon in der Hand, drehte sich der ehemalige Bordereauschreiber noch einmal um:
»Vergessen Sie nicht, Herr Untersuchungsrichter, morgen früh die Zeitung zu lesen!«
Damit war er hinaus.
Er hörte noch etwas hinter sich herrufen und Türen klappen, aber mit stolzerhobenem Kopf, ohne seine Schritte im geringsten zu beschleunigen, verließ er das Gerichtsgebäude und begab sich direkt in die Redaktion der »Berliner Nachrichten«, die schon am nächsten Morgen eine detaillierte Schilderung der ganzen Szene brachten.