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Es war eine wundervolle Maiennacht, in der sich Heinz Marquardt auf einer seiner gewöhnlichen Streifereien befand. Er hatte sich heute nach dem Süden der Stadt gewandt und patrouillierte die Wasserläufe der Gegend ab.
Der Mond stand so hell am Himmel, daß die Laternen die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen einzusehen schienen und nur matt schimmerten in dem weißen Licht, das die große Bogenlampe des Firmaments über die schlafende Stadt ausgoß.
Aber der Schlaf der Riesenstadt war auch in dieser Nacht viel weniger fest als sonst. Der Sang der Sprosser, die in den Baumalleen am Kanal schlugen, und die milde Luft lockte alle diejenigen aus den dumpfen Zimmern, deren Herz auch Frühling hatte. Viel Pärchen, Hand in Hand oder eng umschlungen, schlenderten umher und saßen auf den Bänken am Wasser – dem verwaisten Manne tat ihr Anblick wehe, er ging immer weiter, hinaus, wo die Gegend einsam war wie sein Herz.
Auch die letzten Tage hatten ihm, wie so viele der vorhergehenden, nur Enttäuschungen gebracht.
Anfangs der Woche war er wieder einmal bei der Baronesse gewesen, die in ihr luxuriöses Heim seit einiger Zeit zurückgekehrt war.
Aber sie hatte ihn nicht empfangen. Und als ihm am nächsten Tag zum zweiten Male der Bescheid wurde, das gnädige Fräulein sei nicht zu Hause, da sah er ein, daß hier alle fernere Mühe vergeblich sein und sie ihn voraussichtlich überhaupt nicht mehr empfangen würde.
Wußte sie wirklich etwas von dem Bruder? ... Wohl kaum! ... Vielleicht war es ihr unangenehm, daß Marquardt ihn, wenn er auch längst verschollen war, in diese Affäre hineinzog; vielleicht hatte auch Marquardts ganze Geschichte, in ihrem Leben nur eine flüchtige Episode, das Interesse für sie schon verloren und war ihr langweilig geworden.
Und das war der zweite Anhalt für seine Sache, der ihm verloren ging.
Denn jetzt, wo er gar nicht vorwärts kam, hatte er sich auch wieder jenes Mädchens, der Ernestine Augst, erinnert. Am Ende konnte sie ihm doch behilflich sein!
Aber alle seine Nachforschungen nach ihr blieben vergeblich. Sie war wie vom Erdboden verschwunden.
Aus ihrem Quartier im Westen war sie verzogen. Und keine Polizei, kein Einwohnermeldeamt konnte Auskunft geben über ihren Verbleib. Sie war untergetaucht in dieses Menschenmeer, – wer weiß, wann und ob sie jemals wieder an die Oberfläche kommen würde.
So ging Marquardt im weißen Mondschein, der zwischen den Zweigen der knospenden Uferbäume hindurchschien, in trübes Sinnen verloren, dahin.
Das Wasser lag an seiner Rechten im grausilbrigen Spiegelglanz tief unter ihm.
Da, weit noch, verschwommen im unsicheren Licht, kam ein Kahn heran ...
Marquardt legte die Arme auf die Brüstung des Eisengeländers und sah dem Fahrzeug träumerisch entgegen.
Näher, immer näher trieb der Nachen, in dessen Spitze, das sah Marquardt jetzt, ein Mann stand, der ihn mit sachten, gleichmäßigen Schlägen lenkte.
Und Heinz Marquardt dachte an ein Gedicht, in dem vom Tode die Rede war, der als Fährmann die Müden über den breiten Strom ins Vergessen hinabführt.
Nun ließ der Mann sein Ruder sinken, ergriff die lange Stange und zog etwas an den Kahn heran, das im Wasser trieb.
Der Kahn war jetzt gar nicht mehr weit ab, Marquardt konnte deutlich sehen, daß es ein großer Gegenstand war, der dem Manne Mühe machte.
Endlich zog er ihn bis unter den Kahnbord, und wie der Schiffer sich vornüberbeugte, war es Marquardt, als hörte er deutlich ein tiefes »Na! ...« über das Wasser schallen.
Er lehnte sich weit über das Geländer, als könne sein Auge dann die Entfernung im flimmernden Mondlicht besser durchmessen.
Aber der Schiffer kam jetzt näher, er hatte das im Wasser Schwimmende hinten am Heck mit dem Haken festgemacht und legte sich tüchtig in die Riemen.
Da entdeckte Heinz die schmale Steintreppe, die rechts von ihm an der Kaiwand zum Wasser hinabführte, eilte dorthin, und indem er die Treppe hinablief, schrie er dem Schiffer zu:
»Hier! ... Hier müssen Sie anlegen!«
Der Mann nickte nur. Er war einer von den sogenannten Abfischern, die die Stadt anstellt, um die Kanäle von Unrat, Papierfetzen und Kadavern zu säubern.
Marquardt, der unten auf dem Steinbord stand, hielt sich an der Eisenstange fest und fragte, von einer fast körperlichen Neugier getrieben:
»Was haben Sie denn, Schiffer?«
»Ne Leiche!« klang es zurück.
»Ach so! ... Bringen Sie sie hier ran?«
Er suchte dabei mit seinen scharfen Augen die Umrisse des treibenden Körpers zu erkennen, was ihm aber hier im Schatten der Uferböschung nicht gelingen wollte.
Wie der Schiffer mit seinem Kahne heran war, machte er die Kette ganz dicht am Geländer fest. Dann schlang er einen Strick um den im Wasser treibenden Körper, führte ihn um den Kahn herum und stieg, das Tau in den Händen, auf den Stein hinüber.
»Helpen Se mir mal 'n beten!« sagte er.
Und Marquardt faßte gehorsam an den Strick, obwohl ihn schauderte.
Der mit den wassertriefenden Kleidern umhüllte Leichnam war sehr schwer – endlich hatten sie ihn auf dem Trocknen.
»Nu man weiter ruff!« meinte der Schiffer, der mit Worten sehr sparsam schien.
Mit großer Mühe zogen sie den Körper, von dem das Wasser in den Kanal zurückrann, an der Mauer empor und legten ihn auf die Rasenböschung des Ufers nieder. Ein paar Passanten hatten sich zusammengefunden, die ihre Bemerkungen austauschten.
»'t is'n Weib!« sagte einer, »also wahrscheinlich aus Liebesjram! ... Die Frauenzimmer sind ja so verrückt!«
Marquardt versuchte indessen ihre Gesichtszüge zu erkennen. Aber da der Kopf gerade im Schatten lag und er sich nicht entschließen konnte, die Leiche anzufassen, kam er nicht damit zustande.
Der Schiffer war unterdessen gegangen, einen Schutzmann zu holen.
Endlich sagte einer von denen, die dabei standen: »Ick muß doch mal sehn, ob se noch jung is!«
Und er riß ein Streichholz an.
Begierig bückte sich Marquardt, aber mit einem lauten Schrei fuhr er zurück. Er hatte das Gesicht der wohl schon längere Zeit im Wasser liegenden Leiche, das aufgedunsen und wie eine alte, von grüner Patina überzogene Bronze aussah – er hatte es doch erkannt: Die da in halbvermoderten zerrissenen Kleidern, mit verrenkten Gliedmaßen, ertrunken und kaum mehr menschenähnlich auf dem Rasen lag, das war Ernestine Augst!
Und in demselben Moment, wo er sie an der Narbe, die ihren Mund zerschnitt, und an dem schwarzen Haar, das so tief in das runde Gesicht hineinwuchs, wiedererkannte, da wußte er auch: an dieser Frau war ein Verbrechen verübt, sie war beseitigt worden, weil man ihren Verrat fürchtete.
Indem kam der Schiffer mit einem Schutzmann zurück. Der Leichnam wurde mit einem alten Sack bedeckt, und Marquardt hörte, wie der Beamte darüber sprach, daß man die Tote sofort nach der Morgue schaffen würde.
Er selbst machte sich auf den Weg nach dem Polizeipräsidium.
Dort ließ er sich dem Kommissar Bendemann melden. Aber statt seiner empfing ihn Hartmuth, der gerade Nachtdienst hatte.
»Na, haben Sie wieder was abgekriegt?« fragte der Kommissar lachend.
Heinz Marquardt, noch ganz verstört von dem schauerlichen Bild, das er soeben gesehen, verstand den Kriminalbeamten anfänglich nicht.
»Wieso? ... Ich? ...« Dann fiel ihm das nächtliche Renkontre in der Kaschemme ein, er sagte ruhig:
»Nein, ich glaube vielmehr eine Entdeckung gemacht zu haben.«
»So, eine Entdeckung!« höhnte der Kommissar, »wohl wieder wegen dem Mörder, was?«
»Ja, wegen des Mörders!« Marquardt zog die Stirne kraus!
»Er hat nämlich jetzt schon den zweiten Mord begangen!«
»Ach nee?« Dieser Aufruf des Erstaunens aus dem Munde des Kommissars war echt.
Marquardt nickte.
»Das Opfer ist eben aus dem Kanal gelandet worden!«
»Ach so, eine Ertrunkene!« meinte der Kommissar, sehr viel kühler, »woher wollen Sie denn wissen, daß die Person ... wer ist es denn überhaupt?«
»Ernestine Augst.«
»Donnerwetter!!«
Der Kommissar rannte ein paarmal im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er vor Marquardt stehen:
»Und Sie meinen, das Frauenzimmer ist beseitigt, weil es eventuell etwas hätte verraten können? ... Ja, so sagen Sie mal, sieht man denn irgendwo an der Leiche Stiche oder vielleicht Hiebwunden oder Strangulationsmarken? Ja? ...«
Marquardt hob die Schultern:
»Wir, ein Fischer und ich, wir haben sie eben, vor einer halben Stunde, bei Mondlicht geborgen. Da war überhaupt nicht viel zu sehn. Außerdem hat sie auch wohl schon ziemlich lange im Wasser gelegen ...«
»So ...« sagte der Kommissar gedehnt, »na, dann kann se sich ja ooch ebensojut selbstjemordet haben!«
Marquardt zuckte wieder mit den Achseln.
»Möglich ... aber nicht sehr wahrscheinlich! ...«
Hartmuth machte ein sehr unangenehmes Gesicht. Er schien etwas erwidern zu wollen, besann sich aber und sagte:
»Die ganze Geschichte erscheint mir ziemlich belanglos ..., daß prostituierte Frauenzimmer ins Wasser gehn, kommt alle Tage vor ... und im übrigen sind wir, wie Ihnen ja auch wohl durch die Zeitungen bekannt ist, hier alle der Ansicht, daß der Mörder Ihrer Frau in Alfred Maaß bereits gefunden ist.«
»Maaß ist unschuldig!«
Marquardt hatte das mit einer so kühlen Ruhe gesagt, daß Hartmuth anfangs ganz starr war.
Dann begehrte er auf:
»Wie können Sie sich erdreisten, sowas zu behaupten? ... Was?«
Marquardt lächelte.
»Wie können Sie sich erdreisten, in einem derartigen Tone mit mir zu reden, wie? ... Ich behaupte, was ich will. Und ich sage Ihnen nochmal, Alfred Maaß ist unschuldig! ... Was ich Ihnen übrigens auch ohne polizeiliche Hilfe beweisen werde!«
»So ... so ... das werden Sie! ... Sie ... na jedenfalls habe ich keine Zeit, mich mit Ihnen über solchen Unsinn zu unterhalten ... adieu!«
»Adieu!« sagte Marquardt und ging.
Am nächsten Morgen machte er eine Eingabe an die Staatsanwaltschaft, ging auch zu den »Berliner Nachrichten« und veranlaßte dort einen Bericht über die Auffindung der Wasserleiche. Aber das Resultat war nur die Obduktion der Toten, in der man auch behördlicherseits die Prostituierte Augst erkannt hatte. Und die Leichenöffnung ergab keine bestimmten Anhaltspunkte für einen Mord: die Verwundungen, die man an dem bereits in Zersetzung befindlichen Körper festgestellt hatte, könnten ebensogut von den Schrauben der die Fundstelle häufig passierenden Dampfer oder von den Bootshaken der Schiffer herrühren.