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In dem Augenblick, als Splittericht die Ausgangstür öffnete, um den so viel älteren Herrn Henderson voranzulassen, kam im Sturmschritt der Lehrling Winter angelaufen und bat, der Herr Oberregierungsrat möchte noch einen Augenblick zu Herrn Konsul Lindström kommen ... oben hinauf, nach der Hauptkasse.
Henderson und Splittericht blickten sich an, beide wohl mit demselben Gedanken. Etwas zögernd sagte der Oberregierungsrat:
»Ja ... verehrter Herr Doktor, da werde ich doch wahrscheinlich noch etwas aufgehalten ... Wir können uns ja im Präsidium wieder treffen.«
Der Doktor-Kommissar hatte blitzschnell erwogen, daß die Kenntnis dessen, was der Oberregierungsrat jetzt hören sollte, wahrscheinlich sehr wichtig für ihn selbst sein würde:
»Wenn Sie gestatten, Herr Oberregierungsrat, so warte ich auf Sie.«
Henderson ging hinter dem Lehrling die breite, mit dunkelrotem Plüschläufer belegte Eichenholztreppe hinauf. Er ahnte, daß jetzt der zweite Akt dieser Kriminaltragödie begann.
Im Büro der Hauptkasse saß der Buchhalter Lange hinter dem breiten Zahltisch und arbeitete an der Rechenmaschine. Der Hauptkassierer selbst war nicht hier, und auf die Frage des Oberregierungsrats deutete Lange nach links, wo eine Tür in Reeses Privatkontor führte.
Mit einer wenig angenehmen Empfindung klopfte Henderson an.
»Wollen Sie, bitte, hineingehen, mein Herr«, der Buchhalter zeigte auf die Tür, »die Polsterung hält jedes Geräusch ab.«
Als Henderson in den nicht sehr großen, behaglich eingerichteten Raum eintrat, sah er einen gebrochenen Greis, Totenblässe auf dem Gesicht, in seinem Schreibstuhl mehr liegen als sitzen. Reese hatte die Augen halb geschlossen. Ein Glas Wasser und daneben ein Glasröhrchen mit einem Belebungsmittel zeigten, daß er gezwungen gewesen war, das müde, seinen Dienst aufsagende Herz zu stärken. Man konnte zweifeln, ob er bei vollem Bewußtsein war.
Konsul Lindström hatte seinen Ledersessel dicht neben den des alten Mannes gerückt und sprach mit gedämpfter Stimme beruhigend auf ihn ein.
Als Henderson den Raum betrat, fuhr Reese aus seiner Lethargie auf, bekam ein wenig Blut in die Wangen und fragte zitternd:
»Jetzt soll ich wohl verhaftet werden?«
»Aber um Gottes willen!« Herr Henderson ging auf den Kassierer zu und legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Ich weiß nicht, was Sie Herrn Konsul erzählt haben. Aber das weiß ich bestimmt: Sie haben nichts getan, lieber Herr Reese, wegen dessen man Sie verhaften müßte!«
»Sie sprechen mir aus der Seele, Herr Oberregierungsrat!« Konsul Lindström stand auf und trat an die andere Seite des Hauptkassierers, der sich schwer atmend in seinem Stuhl emporrichtete.
»Nein, bei Gott, ich habe nichts begangen ... ich bin immer ein ehrlicher Mann gewesen ... und habe nur meine Pflicht gekannt ... mein einziges Verbrechen ist meine Schwäche für Willi ... der Junge ist mein Untergang.«
Er sank wieder in sich zusammen und stierte in dumpfer Verzweiflung vor sich hin.
Henderson warf dem Konsul einen fragenden Blick zu. Der nickte und gab ihm seine Zustimmung, daß er das pflichtgemäße Verhör mit dem Hauptkassierer vornehme.
»Sagen Sie uns, bitte, alles, lieber Herr Reese, verschweigen Sie nichts. Wir wissen, daß Sie nichts Strafbares getan haben und auch gar nicht imstande sind, etwas Böses und Gesetzwidriges zu tun.«
In halber Apathie nickte der Hauptkassierer:
»Das habe ich doch, Herr Oberregierungsrat. Ich habe etwas begangen ... ein Verbrechen.«
Der Konsul schüttelte den Kopf:
»Keineswegs, liebster Reese. Sie haben etwas unterlassen, aber doch ohne jede böse Absicht!«
»Um ein Strafunrecht zu begehen«, warf Herr Henderson ein, »ist die notwendige und juristische Voraussetzung, daß der Täter das volle Bewußtsein seines Unrechts hat.«
»Das habe ich gehabt«, sagte Reese müde, »ich wußte gestern früh schon, daß die Schlüssel gestohlen sind.«
Henderson horchte auf:
»Welche Schlüssel sind gestohlen, Herr Reese?«
»Die beiden Entreeschlüssel zu dem Eingang vom Harlemer Platz aus. Da bin ich am Sonnabendabend rausgegangen ... Und außerdem« – der Hauptkassierer machte eine bedrückende Pause – »der Tresorschlüssel.«
Henderson hielt einen Moment den Atem an. Aber indem er die Schuld des Hauptkassierers wachsen sah, beschloß er doch, mit weitestgehender Nachsicht alles zu prüfen, was diesen Unglücklichen entlasten konnte.
Der bog sich vornüber, sein Kopf hing über dem Tisch, als wenn er seine nassen Augen verbergen wollte. Dann richtete er sich langsam auf:
»Ja ... wie ich am Sonnabendabend nach Hause kam, hatte ich sowohl den kleinen Tresorschlüssel wie auch den zum Geldschrank und die beiden Eingangsschlüssel zur Bank in der Ledertasche, die,« er öffnete seinen Rock und zeigte sie, »hier eingenäht ist. Ich habe die vier Schlüssel«, er klopfte mit dem Finger auf das Kleidungsstück, »die habe ich am Sonnabendabend um zehn Uhr ebenso wie an jedem anderen Tage, wo ich in der Bank war, in die kleine Kassette auf dem Nachttisch neben meinem Bett gelegt. Ich bin darin wie eine Maschine. Ein Irrtum ist gar nicht möglich. Wenn man dreißig Jahre, und so lange bin ich schon Kassierer hier in der Bank, wenn man Tag für Tag genau dasselbe tut, dann kann man sich nicht mehr irren.«
Er schlug die Hände vors Gesicht und brach in wehes Schluchzen aus:
»Nein, nein, es ist ja nicht möglich! ... Er kann es ja doch nicht gewesen sein! ... Mein Willi, mein armer unglücklicher Junge!«
Henderson sah fragend auf den Konsul, der gab den Blick zurück mit einem kaum merklichen Heben der Schultern.
»Sie haben sich dann niedergelegt und haben geschlafen. Haben Sie die Nacht gut und fest durchgeschlafen?«
Der Kassierer bejahte:
»Das ist das einzige, was mich aufrechthält: ich habe einen festen und sehr gleichmäßigen Schlaf. Ich schlafe immer durch, etwa von zehn Uhr abends bis zum Morgen so um sechs Uhr.«
»Also schön, lieber Herr Reese, den Sonntag über waren Sie zu Hause ... da werden Sie kaum nach den Schlüsseln gesehen haben. Aber am Montag? Was war Montag?«
»Da bin ich aufgestanden wie immer. Habe mich angezogen ... und will fortgehen. Da finde ich mein Schlüsselbund nicht! Krieg 'n Schreck! Sehe nach der Kassette. Da steckt der Schlüssel mit dem Bund im Schloß drin. Mir wurden die Beine ganz schwach, ich mußte mich setzen. Die Kassette war leer.«
»Aber das Schlüsselbund war da?«
Der Hauptkassierer nickte weinend.
»Ist denn die Kassette nicht verschlossen?«
»Doch, Herr Oberregierungsrat, gewiß! ... Gewiß ist sie verschlossen. Der Schlüssel, das ist solch kleiner, ziemlich einfacher Kassettenschlüssel.«
Er griff in die Beinkleidtasche.
»Hier, sehen Sie, das ist er!«
»Und wo liegt das Schlüsselbund in der Nacht, während Sie schlafen?«
»Unter meinem Kopfkissen.«
Hermann Reese rang in stummer Qual die Hände. Er sah seinen Chef an und schüttelte den Kopf:
»Ich überlebe das nicht, Herr Konsul ... das ist mein Ende!«
Herr Lindström nahm die bebenden Hände seines alten Beamten und drückte sie stark:
»Nehmen Sie sich zusammen, Reese, und denken Sie daran, wie wir manche Sache in den dreißig Jahren gemeinsam durchgefochten haben, in dieser langen Zeit, in der Sie mein Vertrauen genießen und in der Sie mich nie enttäuscht haben! ... Jetzt handelt es sich nicht allein um das Leid, das Sie tragen, um Ihren Vaterschmerz – hier steht das Ansehen unserer Bank, der ganzen Firma auf dem Spiel! Soll es etwa heißen, bei dem Millionen-Diebstahl in dem ›Bankhaus Lindström‹ hat auch der alte Reese seine Hand im Spiele gehabt, wo obendrein kein wahres Wort daran ist!? Sie wissen, was für ein Klatsch und was für eine nichtswürdige Verleumdungssucht in der Konkurrenz lebt. Das müssen wir vor allen Dingen bedenken, wenn wir jetzt Entschlüsse fassen. Wenn ich könnte, wie ich wollte, so würde ich die ganze Angelegenheit mit einem Strich saldieren. Aber das geht leider nicht, 's ist ja nicht mein Geld allein, das in Frage kommt! Unsere Aktionäre haben da auch mitzureden. Und wenn wir und die Aktionäre keinen Pfennig einbüßen, so kommt nachher doch die Versicherung, und die läßt auch nicht die kleinste Falte undurchsucht bei solchem Skandal ... Also Sie, liebster Reese, Sie müssen Ihr Herz hier in beide Hände nehmen und müssen die Sache durchfechten! Traurig sein, leiden und meinetwegen weinen können Sie allein, für sich, in Ihrem Haus. Hier sind Sie der erste Kassenbeamte der Bank, hier müssen Sie als Mann auf Ihrem Posten bleiben und dürfen den andern auch nicht mit einem Augenzwinkern verraten, wie's Ihnen ums Herz ist!«
Diese warmen, menschlichen Worte hoben den alten Mann sichtlich empor. Er riß sich zusammen, setzte sich gerade hin und sprach mit fester Stimme:
»Ich will alles sagen, wie es sich zugetragen hat.
Als der Schlüssel mit dem Bund gestern früh in der Kassette steckte, da wußte ich, daß die Bank bestohlen war. Und ich wußte auch ...«, er würgte sein Schluchzen herunter, »ich wußte auch, wer uns bestohlen hat ... Sonntag abend so gegen neun Uhr war Willi zu Hause und bat mich wieder mal um Geld. Ich habe es ihm abgeschlagen. Ich konnte und ich kann ihm nichts mehr geben. Mein Debetsaldo beträgt beinahe dreißigtausend Mark, das ist mehr als mein Jahresgehalt. Herr Konsul weiß, was ich der Bank schuldig bin, und er weiß auch«, des alten Mannes Stimme wurde wieder leise und zitternd, »Herr Konsul weiß auch, was ich ihm außerdem persönlich schulde.«
»Nichts, lieber Reese, Sie schulden mir nichts! Die Hilfe, die ich Ihnen ein- oder zweimal geleistet habe, ist nur ein gerechter Ausgleich für die dauernde und immer gleiche Treue, mit der Sie für mich gearbeitet haben.«
Reese bewegte zustimmend den weißen Kopf:
»Ja, ich war fleißig und ehrlich, und Sie, Herr Konsul, waren der beste Chef und Arbeitgeber, den ich mir wünschen konnte. Ich wäre ein glücklicher Mensch gewesen und wäre es heute noch, wenn ich – wenn ich keinen Sohn hätte ...«
»Was fanden Sie nun in der Kassette?« mischte sich Henderson wieder ein.
»Nichts, Herr Oberregierungsrat ... und ich war so verzweifelt ... so verzweifelt! Hätte ich da eine Waffe gehabt ...«
»Torheit! Man macht eine Rechnung nicht dadurch richtig, daß man sich selber ausstreicht.«
»Jawohl, Herr Konsul, Sie haben ja recht! Und wenn ich es mir nachträglich überlege, das wäre ja das Furchtbarste gewesen, was ich hätte tun können! Wer hätte denn da für meine Ehre und meine Unschuld eintreten sollen?«
»Gewiß«, bestätigte Henderson, »Sie müssen erst mal vor allen Dingen die ganze Geschichte aufklären helfen!«
Der Hauptkassierer sah Henderson dankbar an:
»Ja ... in dem Augenblick, wo ich fast zusammenbrach, da kam der Winter und erzählte mir von dem Einbruch ...«
Er schüttelte den Kopf:
»Wie ich das überstanden habe? ... Nein, daß ich so etwas Furchtbares erleben muß ... ich glaube, das habe ich nicht verdient.«
»Nun, und gestern früh kamen Sie durch den vorderen Eingang in die Bank? Die Schlüssel zum Hintereingang waren fort?«
»Ja, Herr Oberregierungsrat, die Schlüssel waren und sind auch noch fort ... ebenso wie der zum Geldschrank ...«
»Und der zum Tresor?«
Reese öffnete das Seitenschränkchen an seinem Pult:
»Den habe ich hier in dieser Schale gefunden.«
Er nahm die längliche Schale heraus, stellte sie auf den Tisch, und vom Grunde des Schwarzglases hob sich das winzige blanke sichelartige Stahlstück ab, das den Riesengeldschrank öffnete.
Herr Henderson sah sich diesen merkwürdig geformten Schlüssel an:
»Also den hat der Täter wieder da reingelegt ... die anderen hat er mitgenommen und wahrscheinlich weggeworfen.«
Konsul Lindström meinte zustimmend:
»Ja ... obwohl mir der Zweck, den er damit verfolgt hat, nicht recht klar ist ... Warum geht er, der Täter, meine ich – warum geht der nochmal hierher in Reeses Büro und legt den Schlüssel in die Schale?«
»Er wird nicht gewußt haben,« mutmaßte Henderson, »daß der Generaldirektor ebenfalls einen Tresorschlüssel besitzt. Und er wollte vielleicht damit, daß er diesen da hier wieder reinlegte, eine gewisse Rücksicht zeigen gegen den Hauptkassierer.«
Hermann Reese sagte ganz leise:
»Ja ... wenn es mein Sohn ist ... aber nein,« schrie er laut auf, »es kann ja nicht Willi sein! Wenn ich ihm auch noch das zutrauen wollte, daß er stiehlt und einbricht ... ein Mord! Nein, weiß Gott, dazu ist Willi nicht fähig! Gemordet hat er nicht!«
Der alte Mann sank mit dem Kopf auf die Tischplatte, wie im Krampf von seinem Schmerz geschüttelt.
Die beiden anderen Herren blickten sich an, selber ratlos, aber doch von der Schuldlosigkeit Willi Reeses gar nicht überzeugt.
»Und die Stellziffer?« sagte der Konsul endlich.
»Das ist mein zweites Verbrechen.«
Der Kassierer hob den Kopf mit dem verwirrten weißen Haar und sah die beiden anderen aus todtraurigen Augen an:
»Ich hätte es ja Herrn Konsul längst sagen müssen, daß mein Gedächtnis mich schon seit längerer Zeit im Stich läßt. So konnte ich die Stellziffer auf dem Buchstabenschloß nicht mehr recht im Kopf behalten. Ich habe sie mir jedesmal auf ein kleines Kartonblättchen geschrieben, das ich dann in die Kassette gelegt habe.«
»Da hat es der Täter natürlich leicht gehabt«, lächelte Herr Henderson.
»Ja, und auch das ist mein Verschulden ...«
Der Konsul verneinte:
»Nein, lieber Reese, denn ich will Ihnen bei der Gelegenheit eingestehen, daß ich ebenfalls seit langer Zeit schon die gleiche Praxis befolge. Kein normaler Mensch kann – besonders wenn sie alle acht Tage ausgewechselt wird – eine sechsstellige Ziffer dauernd im Kopf behalten. In der Hinsicht sind wir also Unglückskollegen, das hätte mir auch passieren können. Ich bitte Sie nochmals, lieber Reese, seien Sie ein Mann! Jeder hat sein Schicksal, das er ohne Widerrede tragen muß. Keiner kann's ihm abnehmen, mir nicht und Ihnen nicht. Glauben Sie mir, wir werden uns auch da durchbeißen! Wer weiß, wie alles noch kommt. Willi ist seitdem verschwunden, ja?«
»Er ist seit Sonntag abend nicht nach Hause gekommen.«
»Also wird es die erste Aufgabe der Kriminalpolizei sein, seinen Aufenthaltsort auszukundschaften.«
Reese zuckte zusammen.
Der Konsul klopfte ihm auf die Schulter:
»Was geschehen muß, muß geschehen. Wer weiß, es kann ihm ja auch selbst etwas zugestoßen sein.«
An diese letzte Möglichkeit, die weder der Konsul noch Herr Henderson irgendwie in Betracht zog, klammerte sich das blutende Herz des Vaters. Er dachte: Ja, es kann ihm ... auch etwas passiert sein, er kann ja ... Und plötzlich rang sich aus der gequälten Brust des alten Mannes ein wilder Aufschrei:
»Vielleicht ist er tot ... ach, wenn er tot wäre!«